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Band 12 der image

Beryl Fletcher

Pixels Ahnen

Roman

Aus dem Englischen von Almuth Carstens
Mit einem Nachwort von Silke Weniger

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© 2012 image
Verlag Silke Weniger, Gräfelfing /Hamburg
herausgegeben von Karen Nölle

ISBN 978-3-942374-637

Inhalt

1ALICE

2JOY

3ALICE

4JOY

5ALICE

6ISOBEL

7JOY

8ALICE

9JOY

10ISOBEL

11JOY

12ALICE

13JOY

14ALICE

Dank

AUF DER SUCHE NACH DEM EIGENEN LEBEN

Die Autorin

Die Übersetzerin

Bisher bei uns erschienen

Für MG

»… Die Tafel wird zur Seite wird zum Bildschirm wird zu
einer Welt, einer virtuellen Welt. Überall und nirgends, ein Ort,
wo nichts vergessen wird und sich dennoch alles ändert.«

Aus der Einleitung zu Cyberspace: First Steps,
Hrsg. von Michael Benedikt, The IT Press

1ALICE

Das erste Problem ist der Kassettenrekorder. Das Mädchen kriegt ihn nicht richtig in Gang. Sie fummelt daran herum, bittet mich, langsam in das Mikrofon zu sprechen, dann spult sie zurück und drückt auf Wiedergabe. Nichts. Sie versucht es erneut. »Geboren wurde ich als Alice Nellie Smallacomb …«

Meine Stimme klingt komisch. Ich hätte gedacht, sie würde mit dem Alter tiefer, voller. Aber sie quiekt und krächzt wie bei einem Jungen in der Pubertät, und die Worte kommen anders heraus, als sie sich in meinem Kopf anhören. Vielleicht lebe ich schon zu lange in diesem warmen Inselwind. Tiefe Furchen in meiner Haut – und dann dieses dünne Tremolo. Ich hätte nie geglaubt, dass es mit meiner Stimme eher vorbei sein würde als mit mir.

Ich setzte den Kessel auf, als sie kam. Sie trank zwei Tassen Tee und aß ein gebuttertes pikelet. Aber ich merkte, dass sie es kaum abwarten konnte anzufangen. Sie ist ein hübsches Mädchen, sehr schick in ihren kleinen Schnallenschuhen und mit den feinen silbernen Tupfern in ihren schwarzen Strümpfen.

Sie erzählt mir, dass sie die Lebensgeschichten alter Frauen sammelt, die in den dreißiger Jahren aus Großbritannien hierher gekommen sind. »Hier ist Ihr Geld, Alice«, sagt sie. »In bar, und jedes Mal, wenn Sie in den Kassettenrekorder sprechen, gebe ich Ihnen weitere fünfhundert.«

Ich hätte mir nie träumen lassen, dass meine gesprochenen Worte irgendeinen Wert haben. Zehn Fünfzigdollarscheine, jeder mit einem Glitzerfaden. Ich falte sie sorgfältig, voller Ehrfurcht. Dann bekomme ich Angst. Ich giere nach diesem Geld. Es gibt so viele Dinge, die ich brauche. Ich werde versuchen, meine Lebensgeschichte so weit wie möglich auszuspinnen. Aber was ist, wenn ich ihr nicht gebe, was sie will? Was, wenn sie meine Geschichte langweilig findet?

Das Mädchen gibt dem Kassettenrekorder einen Klaps, dann spricht sie Datum und Uhrzeit ins Mikrofon. Und es schallt zurück, klar wie eine Glocke. Ihre Stimme klingt jung und frisch. Sie ist eins von diesen selbstbewussten, gebildeten Mädchen. Angst haben die vor gar nichts.

»Werden Sie mir Fragen stellen?«, will ich wissen.

»So wenige wie möglich. Ich möchte Ihre Geschichte in Ihren eigenen Worten hören. Vielleicht könnten wir mit Erinnerungen an Ihre Kindheit beginnen.«

Wie kann ich ihr meine frühen Jahre verständlich machen? Ich bin seit fünfundsiebzig Jahren am Leben. Es ist, als schaute man über einen gewaltigen, düsteren Ozean hinweg auf eine einzelne Kerze, die am Rande des Horizonts eben flackernd ausgehen will. Tote Zeit, erstarrt in Geschichte. So zumindest wird es ihr erscheinen. Ich weiß nicht, ob sie mir glauben kann, dass ich das absolute Gedächtnis für jedes wichtige Gespräch und Ereignis in meinem Leben habe. Es ist noch zu früh, ihr von meinem System zur Speicherung von Erinnerungen zu erzählen. Womöglich hält sie mich für verrückt mit meinem Gerede über Glasperlen und Kaleidoskope und chiffrierte Farben, Rot für Leben, Weiß für Tod, Schwarz für Erneuerung.

»Wo soll ich anfangen?«

»Am Anfang, wo Sie geboren wurden und so weiter.«

»Geboren wurde ich als Alice Nellie Smallacomb. Meine Mutter war bei meiner Geburt erst fünfzehn, und ich weiß auch, wer mein Vater ist. Er war auch erst fünfzehn und hieß Nigel Warrington. Später wurde er ein berühmter Rechtsanwalt, dann Richter. Sie war nicht mit ihm verheiratet, das erlaubten seine Eltern nicht. Sie fanden, sie sei von zu niederer Herkunft. Mit elf Jahren war sie bei ihnen als Küchenmädchen in Stellung gegangen. Also waren meine Großeltern ihr Herr und ihre Herrin. Mein Vater war ihr einziger Sohn, damals ein Schuljunge. Meine Mutter durfte bleiben, als sie versprach, nie jemandem zu erzählen, wessen Kind ich war. Sie musste ein Dokument unterschreiben, in dem stand, sie sei beim Maitanz von einem Fremden verführt worden.«

»Das muss hart für Sie gewesen sein.«

»In mancher Hinsicht war es meine glücklichste Zeit. Meine Mutter vergötterte mich und Mrs Warrington versorgte mich mit Kleidung. Sie suchte Kleider und Schürzen und die am wenigsten abgetragenen Stiefel aus dem Zeug heraus, das sie für ihre diversen Wohltätigkeitsvereine sammelte. Einmal schenkte sie mir einen kleinen Muff aus echtem Pelz, der mir an einer Lederschnur um den Hals hing.

Mrs Warrington schaute mir gern beim Spielen zu, ohne mich merken zu lassen, dass sie da war. Aber das Rascheln ihrer langen Röcke verriet sie. Ich drehte mich dann ganz plötzlich um und versuchte, sie zu erwischen. Ich dachte, es wäre eine Art Spiel, das Damen mit kleinen Mädchen spielen. Als ich älter war, wurde ich manchmal in ihr privates Wohnzimmer gebracht und durfte mit einigen ihrer Schätze spielen. Ich erinnere mich an einen Satz schwarz lackierter Kästchen, die ineinander passten, ein Kaleidoskop, das unendliche Netze aus Glasfäden spann, und einen Kristallanhänger, der winzige Punkte blendender Farbe aufblitzen ließ. Sie saß währenddessen kerzengerade in ihrem hochlehnigen Sessel und guckte mich an, ohne zu sprechen. Ich erinnere mich ganz deutlich an ihre blassblauen Augen. Sie hatte solche großen, irgendwie zitternden Augen, mit denen sie immer aussah, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.«

»Hat sie sich jemals zu Ihnen bekannt?«

»Nur einmal. Sie war sehr fromm und kultiviert und legte großen Wert auf gute Manieren. Guten Morgen, Alice, pflegte sie zu sagen. Ich bete dafür, dass du dich benimmst. Ich musste einen kleinen Knicks vor ihr machen, meine Unterröcke und Röcke so von mir weghalten und mich verbeugen. Sie muss furchtbar gelitten haben, als ihr klarwurde, dass ihr einziger Sohn meine Mutter in Schwierigkeiten gebracht hatte. Aber ich erinnere mich, dass ich das Gefühl hatte, ihr ziemlich wichtig zu sein. Manchmal holte sie mir zusätzliche Leckerbissen aus der Küche. Die Köchin billigte das gar nicht. Sie wartete immer, bis die Herrin gegangen war, und fragte dann das Küchenmädchen in spitzem Ton, warum eine gewisse junge Dame wohl so bevorzugt wurde. Obwohl ich zu klein war, um zu verstehen, was sie meinte, schämte ich mich und fühlte mich schmutzig. Ich wusste, dass ich etwas Schlimmes angestellt hatte, nur wusste ich nicht, was.

Meine Lieblingsleckerei waren Marmeladentaschen, die aus übrig gebliebenem Mürbeteig gemacht wurden. Die Herrin hob sie, knusprig und heiß und samt auslaufender Erdbeermarmelade, mit einer Silberzange vom Blech. Sie drohte mir mit dem Finger und flüsterte: Erzähl deiner Mutter nichts. Oh, dieser warme, süße Geschmack, der mir dann in den Mund lief.

Die Erinnerung daran, wie ich in ihrem Wohnzimmer spielte, verfolgte mich noch lange. Die fragilen Fäden des Kaleidoskops setzten sich in meinem Kopf zu einem bestimmten Muster zusammen. Diagonale Umrisse ausgefüllt von Glasperlen in der Form bunter Tränen. Dieses Muster sollte für all das stehen, was mir bald schon versagt sein würde, die Gegenstände und Gefühle, die mit ihrem wunderschönen Haus verknüpft waren: die Wärme des Kaminfeuers, ihre raschelnden Seidenkleider, die Sicherheit, genau zu wissen, was ich zu tun hatte. Jedes Ding an seinem Platz, ein Platz für jedes Ding.

In den kommenden verzweifelten Jahren beschwor ich ein Bild des Kaleidoskopmusters herauf, wann immer ich glaubte, vor Verlangen zu vergehen, und sang lautlos: Ich habe es gesehen, ich habe es wirklich gesehen …

Es war eine gute Zeit dort, in dem großen Haus bei den Warringtons. Das Licht hatte etwas Wunderbares, es veränderte sich mit der Tageszeit. Morgens war es Kerzenschein. Die Zimmer der Dienstboten hatten kein elektrisches Licht. Ich sehe heute noch, wie meiner Mutter das lange, feine Haar über den molligen Rücken fiel, während sie sich in der Porzellanschüssel das Gesicht wusch und ihren zitternden Körper mit kaltem Wasser bespritzte. Die Flamme flackerte auf ihrem rosigen Gesicht. Sie war so stark und gesund. Ich lag im warmen Bett und schaute zu, wie sie ihre Uniform anzog. Alles war schwarz-weiß, eine Rüschenschürze, ein gestärktes Häubchen und schwarze Schnürschuhe. Ich fand sie sehr schön.

An nebligen Morgen dann der Geruch der Schwefelhölzer, die meine Mutter an dem Eisenrost rieb, um das Kohlenfeuer im Herd zu entzünden, der grüne Schein der Kohlenanzünder, die gelbe Pfütze unter der Lampe, die an einer langen Schnur über dem geschrubbten Küchentisch hing. Ich erinnere mich an die glänzende Schale der Äpfel, die das Küchenmädchen in langen, lockigen Spiralen abschälte, die gelben Eier, die in die sahnige Butter und den Zucker in der Rührschüssel geschlagen wurden, den zu dicken, hohen Laibern gekneteten Teig und die glasierten Brötchen, die von Rosinen und Orangeat strotzten.

Abends, nachdem der Tisch ein letztes Mal geschrubbt worden war und meine Mutter das Feuer für den Morgen angelegt hatte, kam sie in unser Zimmer und zündete die Kerze für uns an. Ich durfte sie nie selbst anzünden. Meine Mutter sagte, sie hätte mich nicht auf die Welt gebracht, damit ich bei lebendigem Leib verbrannte. So lag ich stundenlang im Dunkeln, furchtlos, und dachte an sie.

Das einzige echte Problem war der Herr. Ich hatte schreckliche Angst vor ihm und achtete darauf, möglichst nicht in sein Blickfeld zu geraten. Er war groß und hatte eine dröhnende Stimme. Er war das, was man früher einen Gentleman nannte, sehr reich dank einer Erbschaft.«

»Wie haben die Herrschaften Ihre Mutter behandelt?«

»Sie hat sich nie beklagt. Sie hat immer gesagt: Wir haben Glück, solches Glück. Erst später habe ich gemerkt, wie recht sie hatte.«

»Was ist passiert?«

»Die Herrin wurde sehr krank, wir erfuhren nie, was ihr fehlte. Sie hatte monatelang furchtbare Schmerzen. Meine arme Mutter war völlig erschöpft davon, sie neben all ihren anderen Pflichten versorgen zu müssen. Eines Abends quälte sich die Herrin die Treppe in den Keller herunter, wo meine Mutter und ich uns ein Bett teilten. Meine Mutter war oben in der Küche beschäftigt, und ich war ganz allein. Die alte Dame tauchte neben meinem Bett auf, wo ich bibbernd unter den Decken lag. Es war eine frostkalte Nacht mitten im Winter.

Sie packte mich mit ihren dürren Händen und bedeckte mein Gesicht mit Küssen. Ihr Atem roch nach Veilchenpastillen. Sie erschreckte mich mit ihren starren Augen und dem hageren Gesicht. Ich sagte: Gehen Sie wieder nach oben, bitte, bitte, Madam, ich werde Ihnen helfen. Und dann sagte sie: Vergiss deine Omi nicht, vergiss mich nicht …

Ich war entsetzt. Ich dachte, meine Omi sei die alte Dame, zu der meine Mutter mich manchmal mitnahm. Sie lebte in einem uralten Gebäude voll alter Frauen und feuchter, saurer Gerüche. Ich hatte ein bisschen Angst vor ihr. Manchmal gab sie mir einen Kuss, schaute mich eindringlich an und nannte mich ihre Süße. Andere Male sprach sie scharf mit mir und schalt mich eine kleine Plage. Aber meine Mutter ging immer wieder hin. Viel später fand ich heraus, dass die alte Dame in Wirklichkeit meine Urgroßmutter und die einzige Verwandte meiner Mutter war, die noch mit ihr redete, nachdem sie in Schwierigkeiten geraten war.«

»Wo wohnte sie?«

»In einem grässlichen Haus, Ziegel und geschwärzter Stein, winzige Zimmer im Erdgeschoss, jedes mit einem kleinen vergitterten Fenster und einer Holztür. Da saßen die alten Damen dann vor diesen grünen Türen auf Küchenstühlen, jede für sich, die starren weißen Gesichter himmelwärts gerichtet …«

Ich halte inne. Draußen vor meiner Wohnanlage fällt sachter Frühlingsregen. Der Rasen, den meine Tochter Joy letzte Woche ausgesät hat, zeigt sich bereits als spärlicher grüner Flaum. Ich habe Angst, vor dieser sicher auftretenden Fremden in Tränen auszubrechen. Es ist doch lächerlich, dass ich um jene alte Frau, die schon so lange tot ist, immer noch weinen kann. Ich biete dem Mädchen noch eine Tasse Tee an. Sie sagt nein danke und schaut auf ihre Armbanduhr. Ich verstehe den Wink. Ich bin an Gäste gewöhnt, die es eilig haben.

»Müssen Sie schon gehen?«

»Ich habe gleich noch einen Termin.«

»Hoffentlich sind Sie nicht allzu enttäuscht von meiner Geschichte.«

Das Mädchen lächelt. »Sie ist genau das, wonach ich gesucht habe.«

Ich zögere. »Ist sie das Geld wert, das Sie mir gezahlt haben?«

»Ja, und es wartet noch viel mehr auf Sie. Erzählen Sie mir noch die Geschichte über den Abend zu Ende, als Mrs Warrington sich Ihnen offenbarte?«

»Wo war ich?«

»Sie kam in Ihr Zimmer.«

»Ach ja. Ich erschrak, weil sie mich abküsste. Das war noch nie vorgekommen. Aber obwohl ich erst fünf Jahre alt war, gelang es mir, ihr die geschwungene Holztreppe hoch nach oben in ihr Krankenbett zu helfen. Auf einem kleinen Tisch daneben standen lauter Fläschchen mit Pillen und Tinkturen. Es roch merkwürdig. Sie bat mich, ihr die Stirn mit einem in Essigwasser getränkten Schwamm abzuwischen. Das tat ich, und sie lag mit geschlossenen Augen auf dem Bett und murmelte: Danke, mein Liebes, danke.

Als ich eben ihre Decke glättete, kam der Herr herein und sagte kalt wie Eis: Schaff die Kreatur sofort raus. Oder ich lasse sie verprügeln.

Meine Mutter erschien in der Tür und schalt mich, weil ich es gewagt hatte, in dieses verbotene Stockwerk zu kommen.

Ich weinte über die Ungerechtigkeit und versuchte zu erklären, dass die Herrin mich gebeten hatte, ihr nach oben zu helfen. Doch er weigerte sich, mir zuzuhören. Meine Mutter glaubte mir schließlich, das weiß ich. Aber wir hatten bald schlimmere Sorgen. Meine Großmutter starb noch in derselben Nacht, und innerhalb von zwei Tagen erhielten wir unseren Marschbefehl. Wir wurden buchstäblich auf die Straße gesetzt, in den Schnee, und hockten mit unseren Bündeln im Rinnstein. Meine Mutter warf sich ihren Umhang über den Kopf und wiegte sich weinend hin und her, stundenlang. Ich saß einfach da wie gelähmt, fühlte überhaupt nichts. Ich hatte sie noch nie so schluchzen hören. Als es fast schon dunkel war, kam die Köchin die Kellertreppe hochgeschlichen, flüsterte meiner Mutter etwas zu und gab ihr ein Päckchen. Dann sagte sie laut: Ihr müsst jetzt gehen, sonst ruft der Herr den Constable, damit er euch mit Gewalt fortschafft. Ihr stört die Ruhe im Trauerhaus.

Zu meiner Überraschung trocknete meine Mutter ihre Tränen und sah beinahe fröhlich aus. Sie sagte: Steh auf, wir müssen ein Zimmer für die Nacht suchen. Sie reichte mir eine kleine Provianttasche aus Tuch, die ich über der Schulter tragen konnte, und steckte meine eiskalten Hände in meinen Muff.

Es kam mir vor, als ob wir uns stundenlang dahinschleppten, bis wir in einer Straße mit lauter gleich schmalen Häusern auf eines mit einem Schild stießen, das hinter die Spitzengardine im Vorderzimmer geklemmt war. Meine Mutter las laut vor, was darauf stand: Zimmer zu vermieten, Nur an berufstätigen Mann, Alkohol verboten. Ach wirklich, sagte sie, das wollen wir doch mal sehen.

Sie marschierte zur Haustür und schlug mit dem Klopfer an die Metallplatte, rattatata. Bald kam eine winzige Frau an die Tür. Sie hatte einen Buckel und war nicht viel größer als ich. Nach einem kurzen Gespräch, in dessen Verlauf meine Mutter das Päckchen von der Köchin öffnete und einen Fünfpfundschein hervorzog, machte die kleine Dame die Haustür auf und wir gingen hinein. Der zu vermietende Raum erwies sich als das schönste nach vorn gelegene Schlafzimmer. Oh, welche Erleichterung, welche Wärme. Auf dem hohen Doppelbett lag eine braune Samtdecke. Das dunkle Holz von Bett und Kleiderschrank war poliert und glänzte. In der Ecke stand ein Sessel mit Armlehnen und einem Sesselschoner aus Spitze. Die Kommode, eine elegante Ausführung mit Namen Prinzessin, hatte einen rosa Volant, unter dem sich die Schubladen verbargen.

Unsere neue Vermieterin Mrs Pickens brachte uns ein Tablett mit Tee aufs Zimmer. Meine Mutter sagte: Das ist mal eine Abwechslung, dass uns jemand bedient. Und sie ließ mich die Milch in meinen Tee gießen und gab mir ein Stück Zucker zum Lutschen. Doch nachdem wir unsere nassen Sachen ausgezogen hatten und zu Bett gegangen waren, hörte ich sie wieder weinen, leise, damit sie mich nicht störte.«

»Sind Sie lange dort geblieben?«

»Bis das Geld alle war.«

»Aus dem Päckchen?«

»Ja. Es waren viele Fünfpfundscheine darin. Und meine Mutter verdiente ab und zu kleine Beträge.«

»Haben Sie je herausgekriegt, wer Ihnen geholfen hat?«

»Meine Mutter wollte es mir nicht sagen, aber ich stelle mir gern vor, dass es mein Vater Nigel gewesen ist. Vielleicht empfand er noch etwas für sie.«

»Es könnte auch von Mr Warrington gewesen sein. Vielleicht hat er Ihre Mutter bezahlt, damit sie nichts verriet.«

Ich ärgere mich ziemlich über die Wendung des Gesprächs. Ich möchte lieber glauben, dass das Geld von Nigel Warrington stammte, nicht von dem verhassten Herrn. Ich beschließe, das Thema zu wechseln. »Gucken Sie Coronation Street

Das Mädchen schüttelt den Kopf.

»Dann wüssten Sie nämlich, wie das Haus aussah, in das wir einzogen. Es war eins von diesen Reihenhäusern. Die waren damals viel schäbiger als heute. So breit wie ein Raum. Ein Schlafzimmer über dem Vorderzimmer, ein Treppenabsatz, ein kleinerer Raum hinten über der Küche, der Dachboden mit einer steilen, schmalen Treppe, ein Keller mit Lehmfußboden und ein paar Steinstufen, die von der Küche hinunterführten. Durch die Hintertür gelangte man in einen Anbau, der die Spülküche beherbergte, und von dort in einen gepflasterten Innenhof, den sich alle Häuser in der Reihe teilten. Sie waren um einen Platz herum angeordnet, wo es einen Wasserhahn gab und einen Abort, den wir alle gemeinsam nutzten.«

»Sie erinnern sich sehr deutlich daran.«

»Ich fand es wunderbar dort. So gemütlich nach den großen Räumen bei den Warringtons. Die Vermieterin war streng, aber gutherzig. Ich durfte drinnen keinen Lärm machen und auch nicht herumtollen, aber Mrs Pickens meinte, sie genieße meine Gesellschaft. War sie doch, wie sie es nannte, eine Witwe ohne Anhang. Ich pflegte stundenlang bei ihr zu sitzen, während sie mir Sticken und Nähen beibrachte, Zierdeckchen, Tischgarnituren, Sie wissen schon.«

»Wie lange haben Sie da gewohnt?«

»Ungefähr zwei Jahre. Zuerst bekam meine Mutter Arbeit in einer Kosmetikfabrik, wo sie Seife und Schminkzeug verpackte, aber sie wurde entlassen und musste dann wieder im Haushalt arbeiten. Sie versuchte es als Putzfrau, doch das schadete ihrer Gesundheit und war sehr schlecht bezahlt. Meinetwegen kriegte sie keine Stelle mit Wohnung am Arbeitsplatz. Dann, nachdem wir ein paar Monate dort gewesen waren, fing sie an, sich zu verändern.«

»In welcher Hinsicht?«

»Sie versuchte nicht mehr, anständig zu wirken. Manchmal blieb sie bis spät nachts weg und kam betrunken nach Hause. Sie schnitt sich das Haar kurz und trug knallroten Lippenstift, den sie am Tag ihrer Entlassung in der Fabrik gestohlen hatte. Sie hatte eine ganze Schachtel voller Siebensachen, die oben auf unserem Kleiderschrank versteckt war. Ausschuss, sagte sie, Sachen, die weggeworfen worden wären, wenn sie sie nicht mitgenommen hätte. Gesichtspuder und eine Lammfellquaste mit silbernem Griff und Tiegel mit Salben und Flaschen mit Rosenwasser und Talkumpuder in geblümten Dosen mit perforierten Metalldeckeln. Es gefiel mir zu gut, wie sie roch.

Dann, an einem Herbstabend, starb Mrs Pickens. Sie hatte im Vorderzimmer zum ersten Mal Feuer angezündet und mich gebeten, in den Keller hinunterzugehen und ein paar Stücke Kohle zu holen. Ich mühte mich mit dem Kohleneimer die Treppe hinauf so schnell ich konnte. Der Keller war finster und voller Spinnen, und nach Einbruch der Dunkelheit fürchtete ich mich dort. Als ich ins Vorderzimmer zurückkehrte, war sie in ihrem Sessel gestorben. Ich dachte, sie sei eingeschlafen, und nutzte die Gelegenheit, um mit dem Schürhaken herumzuspielen. Das war streng verboten. Sie sagte, das Feuer gehe aus, wenn ich die Kohle zu dünn verstreute. Eine üble, leichtfertige Verschwendung. Und sie hatte Recht, ich verteilte Kohlenstaub und Papierstreifen und Kohlenanzünder so weit, dass das Feuer aufflackerte und erlosch. Ich drehte mich um, starr vor Schreck, sie würde mit mir schimpfen oder gar drohen, meiner Mutter zu berichten, was ich getan hatte.

Sie war ganz still. Ich schaffte es nicht, sie aufzuwecken. Ich rannte nach nebenan, hämmerte an die Haustür und die dicke, rotbäckige Frau, die dort wohnte, sagte: Deine Mutter müsste man auspeitschen dafür, dass sie dich ganz allein auf diesen Krüppel aufpassen lässt.

Kurz danach kam meine Mutter nach Hause, fröhlich und lachend und rot im Gesicht, bis sie die Nachbarsfrauen sah, die sich im Vorderzimmer schweigend um den Leichnam sammelten. Sie saß stundenlang neben der Leiche, Tränen liefen ihr übers Gesicht. Das war das zweite Mal, dass ich meine Mutter so haltlos weinen sah, und ich konnte es nicht ertragen. Mir war nicht klar, dass sie eher unseretwegen als um Mrs Pickens weinte.

Mrs Pickens hatte einen Neffen, der sie einmal in der Woche zum Tee besuchte. Er kam immer allein. Er trug einen marineblauen Anzug und hatte öliges, in der Mitte gescheiteltes Haar und falsche Zähne, die klickten, wenn er aß. Mrs Pickens nannte ihn eines der Verhängnisse in ihrem Leben. Aber, Alice, sagte sie, er ist das Einzige, was mir als Erinnerung an meine Schwester bleibt, und Blut ist dicker als Wasser. Er ist nun mal ein Kreuz, das ich tragen muss.

Sie hinterließ ihm ihr kleines Haus, und er zog gleich nach der Beerdigung ein. Meine Mutter musste ihn von vorn bis hinten bedienen. Nach ein, zwei Wochen bot sie ihm die Stirn und sagte, er solle sich seine Mahlzeiten selbst zubereiten. Er behauptete, sie schulde seiner Tante noch dreißig Pfund Miete, und hetzte ihr die Polizei auf den Hals, so dass wir bei Nacht und Nebel ausziehen mussten. Meine Mutter versuchte, es als Abenteuer hinzustellen, aber ich spürte, dass sie furchtbar unter Druck stand.

Stellen Sie sich das vor, eine junge Frau Anfang zwanzig mit einem siebenjährigen Kind, die nirgends hinkonnte, kein Geld hatte und keine Sozialhilfe, nicht in der Zeit damals, nicht für eine wie sie. Ich hasste sie für das, was sie mir antat. Heute weiß ich, dass sie keine Wahl hatte, doch damals war das eine andere Geschichte. Sie brachte mich an einen schrecklichen Ort, in ein Waisenhaus, und für mich begann ein Alptraum.«

»Sie hat Sie also im Stich gelassen?«

»So ist es mir damals vorgekommen.«

»Haben Sie sie je wiedergesehen?«

»O ja, wesentlich später. Hier, in Neuseeland.«

»Sie ist also tatsächlich hergekommen? Das ist ja großartig.«

Ich bin erstaunt über ihre Reaktion und äußere das auch. Sie fragt mich, ob meine Mutter noch lebt, und ich blaffe sie an. »Natürlich nicht.«

Ziemlich defensiv sagt sie: »Na ja, es könnte doch sein. Schließlich gibt es Menschen, die neunzig werden.«

Ich wundere mich, dass sie weiß, wie alt ich bin, dann fällt mir ein, dass sie sich mein Alter und Geburtsdatum aufgeschrieben hat, bevor sie den Kassettenrekorder einschaltete. Und ich habe ihr gesagt, dass meine Mutter mich mit fünfzehn zur Welt brachte. Trotzdem, das hat sie schlau ausgeknobelt. Ich frage mich, warum es sie so interessiert.

Ich möchte ihr heute nichts mehr erzählen. Hoffentlich habe ich das Richtige getan. Was wird Joy sagen, wenn sie herausfindet, dass ich einer Fremden unsere Familiengeheimnisse verraten habe? »Sie spielen das doch niemandem vor?«, frage ich nervös.

Das Mädchen packt den Kassettenrekorder ein. »Ich verspreche, dass ich Ihnen alles zeige, was ich schreibe, ehe es veröffentlicht wird. Und ich werde Ihren richtigen Namen nicht ohne Ihre Erlaubnis preisgeben.«

Ich bin erleichtert über ihre Antwort. Vom vorderen Fenster aus schaue ich zu, wie sie ins Auto steigt. Sie spricht einige Momente lang in ihr Handy, fährt dann den Hügel hinauf. Der Regen hat aufgehört. In einer von Westen aufkommenden Brise rascheln die Frühlingstriebe an dem einzigen Baum in meinem Garten. Mein ganzer Stolz, mein kleine Eiche. Joy hatte mich inständig gebeten, den Baum nicht mitten auf meinen Rasen zu pflanzen. Er wird deine Wohnung verdunkeln, Mutter (so nennt sie mich immer, wenn sie böse auf mich ist), und es wird ein Heidengeld kosten, ihn fällen zu lassen.

Schon jetzt ist die Eiche einen Meter achtzig groß, genau wie Joy. Wann wohl die erste Eichel fällt? Ich hoffe, es werden noch viele Eicheln fallen, bevor ich sterbe. Mit den kleinen braunen Pfeifen für die Gartenfeen, wie wir früher sagten. In der alten Heimat hat jeder Baum seinen Kobold oder sein Laubteufelchen, ebenso, wie jeder Teich und Fluss seine Wassernixe hat. Ob meine Eiche wohl einen Geist aus dem Norden herlockt? Ob Feen wohl südwärts über schwankende grüne Meere und die heißen Winde der Tropen reisen können, ohne ihre wahre Natur zu verlieren?

Der Baum steht in gerader Linie vor meiner Haustür. Die Tür hat eine Milchglasscheibe, so dass Licht eindringen kann, von draußen aber nur Schatten sichtbar sind. Zum Schutz Ihrer Privatsphäre und zur Sicherheit, sagen sie mir. Besonders für jemanden in Ihrer Situation, für eine verwundbare alte Dame, die allein lebt.

Lebt? An manchen Tagen, wenn der Regen heftig trommelnd von den Hügeln im Westen heranfegt, der graue Himmel sich immer weiter nach unten schraubt und ich die neueste Episode der Treulosigkeit meines Körpers zu spüren bekomme, würde ich die Tür am liebsten umkehren, so dass mein Licht nach draußen strömt und die Schatten aus dem Haus verbannt sind.

Ich mag das Glas nicht. Ich hätte lieber eine Holztür, doch dieses Haus ist nur gemietet und gehört dem Staat. Und man erlaubt den Mietern nicht, grundsätzliche bauliche Veränderungen vorzunehmen. Anstrich und Tapete dürfen ausgewechselt werden, aber nichts Wichtiges, nichts Substanzielles.

Ich setze den Kessel auf und mache noch eine Tasse Tee. Die pikelets sehen reichlich verloren aus. Ich habe zu viele davon mit Butter bestrichen und jetzt werden sie sicher matschig, bevor ich sie essen kann. Ich sollte nach nebenan gehen und dem armen Wilf welche abgeben, aber ich fühle mich ihm im Moment nicht gewachsen. Er wiederholt sich ständig. Ich weiß, dass er das nicht absichtlich tut, aber es geht mir furchtbar auf die Nerven.

Wenn er Hausmannskost sieht, legt er wieder los mit Geschichten über seine tote Frau in der blitzblanken Küche in ihrem Farmhaus in Te Awamutu, wo man vom Fußboden hätte essen können. Über all die Preise, die sie Jahr für Jahr bei den Landwirtschaftsausstellungen mit ihren Broten und Marmeladen und Gewürzgurken gewonnen hat. Wilf zufolge konnte niemand ihren Backwaren und Rostbraten und gekochten Obstpuddings das Wasser reichen. Offenbar hat sie ihn fünfzig Jahre lang Tag und Nacht mit Essen vollgestopft.

Manchmal schaue ich auf seinen gebrechlichen Körper und die fleckige Haut, höre seinen öden Monologen zu und denke: Wozu all die Schinderei und all das Geschlinge? Dann habe ich Schuldgefühle, weil ich so denke. Jedes Leben hat seinen Zweck, sogar das eines traurigen alten Langweilers, der unaufhörlich über längst vergangene Festmähler spricht.

Ich fühle mich verunsichert. Mit einer Fremden zu reden bringt frischen Wind in alte Vorstellungen. Jedes Mal, wenn ich von früheren Zeiten spreche, verändert sich die Erinnerung daran ein wenig. Es besteht die Gefahr, dass zu viel Reden sie bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

Was das Mädchen wohl von mir denken wird, wenn sie das nächste Mal kommt? Joy meint, ich zöge mich zurück in die Düsternis meiner Waisenhausgeschichten, sie sagt, sie gehörten nicht in dieses Jahrhundert. Ich läse zu viele Romane und entnähme die Realität meines Lebens der Literatur. Aber das stimmt nicht.

Ich war ein Opfer der sogenannten Tugendhaften, die dachten, der Glaube an Gott könne einem Kind eingeprügelt werden. Es ist nicht meine Schuld, dass ich zeitweise in eine Hölle gestürzt wurde, in der es die größte Sünde war, ein Kind der Armut zu sein.

Ich bin Alice Nellie Winter, geborene Smallacomb, Kind, Mutter, alte Frau und würdige Bewohnerin des zwanzigsten Jahrhunderts. Und ich kann es beweisen.

2JOY

Heute ist alles in Unordnung. Selbst der Wind ist verwirrt. Die Weiden unten am Bach sehen aus wie Tänzer, die ihr langes grünes Haar wild hin und her schleudern. In der einen Minute regnet es hart und klar auf das Blechdach, in der nächsten rasen die Wolken davon, und von der Teerdecke steigen Vorhänge aus Dampf zur Sonne auf.

Der schmale Streifen Straße vor meinem Haus fungiert als Stimmungsbarometer. Blass und schimmernd vor Hitze an Sommertagen, dunkelgrau, beinahe schwarz, mit braunen Flüssen, die in den Gräben entlanglaufen, wenn es regnet. Das kommt oft vor an dieser tosenden Küste, wo die steilen Hügel die dahinjagenden Regenwolken auseinanderreißen. Alles wird in den Strudel dieses westlichen Hafens gesogen, Orkas, Delfine, Kahawai, Treibholz, Tang, Wale und Windsurfer, Leichen ertrunkener Fischer.

Ich fühle mich heute so erschöpft und träge. Ich kann mich nicht aufraffen, das Geschirr von gestern Abend abzuwaschen. Ich möchte den ganzen Tag im Bett bleiben, dem Meer lauschen, lesen, schlafen. Aus Erfahrung weiß ich jedoch, dass es mir dann nur noch schlechter geht. Ich verfluche meine Erziehung, die mir Schuldgefühle verursacht, wenn ich herumliege und nichts tue. Ich versuche mein Verlangen nach Faulheit zu rechtfertigen, indem ich mir einrede, ich hätte Kopfweh oder Halsschmerzen, aber es klappt nicht.

Der Besuch bei meiner Mutter in Auckland war verstörend. Die Straßen meiner Kindheit gingen mir diesmal richtig unter die Haut. Diese schmucken Häuser mit den sauber gestrichenen Holzschindeln und den dicht mit Flechten bewachsenen Ziegeldächern. Ich wurde zurückkatapultiert in die Jahre, in denen ich immer dieselben öden Gehwege entlangspazierte, uniformiert als Lehrling für eine Zukunft, wie sie von den tratschenden Frauen in den Küchen und Wohnzimmern meiner Straße für mich bereits genau geplant war.

Ich hätte früher nach Raglan zurückkehren sollen, aber ich dachte, wenn ich ein, zwei Tage länger bliebe, fände ich vielleicht heraus, woher Alice neuerdings so viel Geld hat. Natürlich habe ich sie gefragt, doch sie tat so, als hätte sie mich nicht gehört. Sie zog diese Weggetretene-alte-Frau-Nummer ab, die mich rasend macht. Das weiß sie genau.

Wir sind immer eine Familie gewesen, in der offen über Geld gesprochen wird. Das heißt nicht, dass es zwischen uns keine Geheimnisse gäbe. Ganz und gar nicht. Es gibt sexuelle Geheimnisse, Ausflüchte, was die Zeitspanne zwischen Hochzeiten und Geburten betrifft. Aber nie finanzielle. Das reicht bis in unsere Kindertage in Sandringham zurück. Damals sahen wir zu, wie Alice die Münzen stapelte, die sie unserem Vater an Zahltagen aus den Taschen stibitzt hatte, wenn er abends, nach Schnaps stinkend und schnarchend, auf der Küchenbank lag. Sie hielt die Münzen hoch und küsste sie. Wie viel hast du ergattert, Mum?, flüsterten wir, während sie ihre Beute an einem Platz versteckte, wo er nie nachschauen würde: in ihrem Lebensmittelschrank, hinter unschuldigen Gefäßen mit Reis, Gerste und Mehl, lauter beruhigende Töpfe voll mit braunen Zehn-Shilling-Scheinen und silbernen Half-Crowns.

Sie sagte uns stets genau, wie viel alles kostete, und wie viel sie ausgeben konnte. Als ich in eurem Alter war, meinte sie, hat nämlich keiner über Geldmangel geredet, so dass ich schreckliche Angst davor bekam. Ich dachte immer, wir stünden kurz vorm Verhungern. Ich möchte nicht, dass ihr dasselbe durchmacht wie ich.

Sie machte ein Spiel daraus und ließ uns an den Spielregeln teilhaben. Nie zu viel nehmen, sonst schöpft er Verdacht. An den Zahltagsabenden ist er so betrunken, dass er sich nicht mehr erinnert, wie viel er in der Kneipe ausgegeben hat. Nie um einen Vorschuss aufs Haushaltsgeld bitten. Gutes hausfrauliches Wirtschaften demonstrieren. Dieser Topf ist für Essen, dieser für Miete, dieser für Sonderausgaben. Sobald Geld in einem Topf angespart ist, darf es für nichts anderes verbraucht werden. Niemals Peter berauben, um Paul zu bezahlen.

Sogar heute weiß ich, was mein Bruder Morry an Arbeitslosenhilfe kriegt, und wie viel er unter der Hand verdient. Er hat mir sein Wochenbudget gezeigt. Ich war beeindruckt von seiner Sparsamkeit. Dann zeigte er mir seinen Extra-Topf, vollgestopft mit Zwanzigdollarscheinen. Nichts Illegales, Schwesterchen, sagte er. Nur brave körperliche Arbeit. Jäten, mähen, die Gärten der Glücklichen pflegen, die immer noch einen Job haben.

Ich weiß genau, wie viel Alice alle vierzehn Tage an Rente bekommt, und ich sehe immer ihre Rechnungen und Kontoauszüge durch. Ich gebe ihr Ratschläge für den Umgang mit der komplizierten Bürokratie, die unser Leben beherrscht. Alice hat jahrelang nicht bekommen, was ihr zusteht. Das habe ich herausgefunden und ihr geholfen, ein amtliches Formular auszufüllen, mit dem sie den Zuschuss für Alleinstehende kriegt.

Was für eine Schmach, was für ein Versagen, alleine zu leben. Aber bei mir klingt es noch schlimmer. Die paar Groschen, die ich jede Woche zusätzlich bekomme, nennen sich tatsächlich Beihilfe für die allein stehende Frau. Was für Worte! Allein stehende Frau. Ich werde durch einen Mangel definiert, eine Abwesenheit; kein Kind, keinen Mann, keine Freunde, niemanden, der mich unterhält.

Trotzdem, das Geld wandert pünktlich einmal pro Woche auf mein Sparkonto. Und ich bin die Einzige, die darüber verfügen kann. Ich gebe es aus, wie es mir gefällt, ich bin niemandem gegenüber verantwortlich. Es hat Zeiten gegeben, in denen das gleichbedeutend mit einem Leben im Paradies gewesen wäre. Besonders, als ich mit Dennis, dem Spieler, verheiratet war.

Ich mache mir Sorgen um Alice. Sie benimmt sich sehr merkwürdig. Ich fragte sie nach den Preisen ihrer neuen »Spielzeuge«, wie sie sie nennt, doch sie kniff die Lippen zusammen und weigerte sich zu antworten.

Es ist nicht so, dass ich dir die Sachen missgönne, sagte ich. Ich bin froh, dass du einen neuen Staubsauger hast und eine neue elektrische Bratpfanne und einen Wasserkocher. Aber mach nicht wieder Schulden, denk dran, wie lange ich gebraucht habe, um deine Angelegenheiten zu regeln. Bitte mute mir das nicht noch mal zu.

Alice hat sich in den letzten Jahren verändert. Manchmal gibt sie unnötig Geld aus und hat dann nicht mehr genug übrig, um ihre Stromrechnung oder die Miete zu bezahlen. Himmelweit entfernt von der umsichtigen Hausfrau meiner Kinderjahre, die Geld beiseitelegte, bevor eine Rechnung fällig war.

Gestern auf dem Heimweg habe ich bei Morry vorbeigeschaut. Gelegentlich ärgere ich mich, dass er mir die ganze Sorge um Alice überlässt. Er will keinerlei Verantwortung übernehmen. Ich habe beschlossen, das Thema auf jeden Fall anzusprechen und ihn dazu zu bringen, seine Verpflichtung anzuerkennen. Er hat sich auch um sie zu kümmern.

Sein Haus sieht noch heruntergekommener aus als sonst. Der Anstrich blättert von den Fensterrahmen ab und der Garten ist ein einziges Tohuwabohu. Früher entschuldigte er sich damit, dass er, wenn er nicht gerade auf kalten Bahnsteigen oder in Zügen herumhing, mitten am Tag zu schlafen versuchen musste, wenn die Nachbarskinder hinten im Hof kreischten. Keine Zeit, sich mit Haus oder Garten zu beschäftigen. Er ist seit zwei Jahren arbeitslos. Ich frage mich, welche Ausflüchte er jetzt benutzt. Wahrscheinlich die, dass er schon Gartenarbeit verrichtet, um zu überleben, und deshalb zu müde ist, um sie bei sich selbst zu erledigen.

Er saß vor dem Fernseher und guckte sich ein Kricketspiel an. Ich trat durch die offene Schiebetür ins Zimmer und verhedderte mich kurz in den sich aufblähenden Netzgardinen.

»Tag, Joy, willst du ein Bier?«

»Nein. Ich will mit dir über Alice reden.«

Seine Augen nahmen ihren vertrauten glasigen Ausdruck an. »Was hat sie denn diesmal angestellt?«

»Ich weiß nicht.«

»Ja! Noch ein Treffer, bleib dran!«

»Morry, hör mir zu.«

Er stellte mit der Fernbedienung den Ton ab, schaute aber nach wie vor auf den Bildschirm. »Willst du wirklich kein Bier?«

Ich gab nach. »Okay, eins.«

»Bonita!«, rief er. »Komm und halt einen Plausch mit Schwesterchen. Und bring noch ein paar Biere mit.«

Ich wünschte, er würde mich nicht Schwesterchen nennen. Und ich wünschte, er würde Bonita nicht so herumkommandieren. Nicht dass es ihr etwas auszumachen scheint. Sie ist eine große, birnenförmige Frau mit Hüften, die vorspringen wie Regale. Sie nennt sie ihre Liebeshenkel.

Bonita kam mit drei Dosen Bier ins Zimmer. Morry kniff sie in ihr dralles Hinterteil. Sie reagierte, indem sie ihn mit dem Ringverschluss der Bierdose in den Arm piekte. Obgleich Morry gern meint, er habe das Sagen, trifft Bonita alle Entscheidungen. Sie bestand damals darauf, sich mit seiner Abfindung dieses Haus in Te Kowhai zu kaufen. Er hätte gern einen Fish-and-Chips-Laden gehabt. In diesem Fall ergriff ich ihre Partei. Ich mag meinen Bruder, aber er ist kein Wunderknabe, und ein eigenes Geschäft zu führen läge ihm definitiv nicht.

Ich freute mich, als sie in dieses Haus zogen. Einmal wöchentlich fahre ich nach Auckland und übernachte bei Alice und auf dem Rückweg komme ich durch Te Kowhai. Das bedeutet, dass ich reinschauen und ihnen das Neueste von ihr berichten kann, ohne noch einmal extra hinfahren zu müssen. Ich mache mir zwar keine Illusionen über Morry, aber ich liebe ihn wirklich. Er ist fünf Jahre jünger als ich. Nie werde ich den Tag vergessen, an dem ich ihn zum ersten Mal sah. Sein winziges rosa Gesicht und der verschwommene Blick, sein Geruch nach Milch. Ich dachte, Alice hätte ihn speziell für mich aus dem Kinderheim geholt. Ich wollte, dass Alice nach Morry noch mehr Kinder kriegte, doch sie weigerte sich. Ich habe meine beiden Täubchen, sagte sie, ich habe getan, was ich mir vorgenommen hatte. Außerdem ist es kein Zuckerschlecken, das wirst du eines Tages verstehen.

Wenn mein Vater Jack kein Säufer gewesen wäre und sie mehr Geld gehabt hätten, hätten sich die Dinge womöglich anders entwickelt. Vielleicht wäre ich dann nicht so versessen darauf gewesen, schwanger zu werden, und die Beziehung zu meiner Mutter wäre entspannter, als sie es ist. Obwohl ich versuche, mir die Sittenstrenge der fünfziger Jahre vor Augen zu halten, fällt es mir schwer, ihr zu verzeihen. Auch nach vierzig Jahren noch.

Ich trank also Bier mit meinem Bruder und Bonita. Sie behandelt ihn genauso, wie Alice meinen Vater behandelt hat. Als arbeitenden Mann, ein kostbares Juwel, als Retter der Familie. Er muss um jeden Preis am Leben und gesund bleiben. Alice gab Jack stets das beste Stück Fleisch und ließ ihn als Ersten baden, ehe wir das heiße Wasser mit unserem Schmutz und unseren blauen Flecken trübten. Sie schirmte ihn ab von dem Lärm, der Unordnung und der ungebändigten Emotionalität, die sich im täglichen Leben mit Kindern ständig Bahn bricht.

Bonitas drei Kinder sind alle schon längst ausgezogen und über die ganze Welt verstreut; zwei verheiratete Töchter in Australien, ihr einziger Sohn reist irgendwo in Europa umher. Sie und Morry sind beide fünfzig. Sie kriegen Sozialhilfe für Ehepaare. Die eine Hälfte des Geldes wird auf ihr Konto eingezahlt, die andere auf seins. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist sie Morry gleichgestellt. Trotzdem behandelt sie ihn so, als wäre er noch immer Eisenbahner und der einzige Ernährer seiner Familie, der während der langen Nachtschichten Dieselschwaden einatmet und seine Gesundheit riskiert, damit seine Angehörigen es warm und gemütlich und immer reichlich zu essen haben.

Kontrolle. Das ist Bonitas Masche, erbarmungslos. Sie sagt Morry, was er anziehen, was er essen, wann er sich ausruhen soll. Er steht unter permanenter Aufsicht. Mich würde das wahnsinnig machen.

Aber obgleich Bonita ihn von vorne bis hinten bedient, ist sie verbal nie unterwürfig. Sie lacht ihm offen ins Gesicht, nennt ihn einen albernen Scheißer, einen Trottel, einen Wichser. Er erwidert ihr Lachen einfach und neckt sie schonungslos.

Ihre Interaktionen haben einen Unterton von Gewalttätigkeit, bei dem ich mich unwohl fühle. Ich habe mal versucht, mit Morry darüber zu sprechen, aber er runzelte nur die Stirn und meinte: Du weißt unseren Humor eben nicht zu schätzen. Und, falls ich das sagen darf, wenn du gelernt hättest, ein bisschen heiterer zu sein, würdest du vielleicht in deinem Alter nicht ganz allein in so einer Bruchbude leben.

Ich trank mein Bier aus und versuchte noch einmal, Morry dazu zu bewegen, mir wegen Alice zuzuhören. Er spitzte die Ohren, als ich erwähnte, dass sie mit Geld um sich wirft. Er weiß, dass ich mich um ihre Finanzen kümmere. Konnte das Sozialamt ihr zu viel gezahlt haben? Nein? Ein Geschenk?

Ich sagte, ich sei sämtliche Möglichkeiten mit ihr durchgegangen. Alice deutete vage an, sie habe an Lebensmitteln und Benzin gespart. Neue Geschäfte in der St. Luke’s Mall, gerade eröffnet. Da fahre sie jeden Tag hin. So billig, Joy, du glaubst es nicht! Das war alles, was ich aus ihr rauskriegte.

Morry zuckte bloß die Achseln. »Du machst dir zu viele Sorgen.«

Ich explodierte. »Und du willst keine Verantwortung übernehmen!«

Bonita eilte zu seiner Verteidigung. »Er tut, was er kann.«

»Zum Beispiel?«

»Er ruft sie an.«

»Na toll.«

»Jedenfalls braucht sie nicht so viel Hilfe, wie du denkst«, sagte Morry.

»Was meinst du damit?«

»Nichts«, murmelte er.

»Nein, Morry«, sagte ich. »So kommst du mir nicht davon.«

Bonita platzte damit heraus. »Wir finden, du behandelst sie wie ein Kind.«

Was für eine Ironie, dass ausgerechnet Bonita mir das sagte!

»Die Sache ist die«, sagte Morry, »Mum fährt noch Auto und erledigt ihre Hausarbeit und Einkäufe selbst. Sie könnte sich auch selbst um ihr Geld kümmern.«

»Blödsinn! Alles war das reinste Chaos, bevor ich es übernommen habe.«

»Sie lässt dich nur ihre Finanzen regeln, damit du glaubst, du wirst gebraucht.«

Jetzt war ich wütend. »Warum zum Teufel sollte ich das wollen?«

»Aus Schuldgefühl. Darüber, was sie deinetwegen durchgemacht hat, als du jung warst.«

Ich wusste wirklich nicht, wie lange er diese absurde Vorstellung schon hatte. Dabei ist Alice diejenige, die sich schämen sollte. Sie war immer überzeugt davon, das Richtige getan zu haben, und ist jetzt, mit fünfundsiebzig, vermutlich zu alt, um ihre Meinung zu ändern.

Ich konnte Morry nicht antworten. Das übernahm Bonita für mich. »Du hast ein loses Mundwerk, Morry, manchmal gehst du zu weit.«

Innerhalb von Sekunden hatten sie sich in den Haaren, tauschten Beleidigungen aus, warfen sich gegenseitig Verleumdungen über ihre sexuelle Unzulänglichkeit an den Kopf, über Körperteile, zu viel hiervon, zu wenig davon …

Ich überließ sie ihrem Streit und düste in Richtung Küste. Es war fast dunkel, als ich in Raglan ankam. Trotzdem fuhr ich nicht gleich zu meinem Haus, sondern zum Strand von Wainamu, um die steigende Flut und die ungestümen Wogen zu beobachten, die in den felsigen Rachen der Sandbank grollten und donnerten. Schlag auf Schlag, das Geräusch einer tiefen Salztrommel. Ich setzte mich in die Dünen und ließ meine Wut ins Meer sickern.

Später brach der Mond durch die hohe, dünne Wolkendecke, der Wind legte sich und die Wasseroberfläche wurde glatt und fast milchig von dem Licht. Der Drache Taniwha, der auf dem überschwemmten Schlickboden zwischen der Ortschaft und den gegenüberliegenden Hügeln lebt, schlief ein.

Ich beruhigte mich ebenfalls. Ich konnte Morry keine Vorwürfe machen. Sein Leben lang haben ihm Frauen gesagt, was er glauben soll. Alice hat ihm vom Augenblick seiner Geburt an Dummheiten eingeflüstert. Und an Bonita ist er durch eine ununterbrochene Kette Sucht erzeugender, beleidigender Worte gefesselt, die sich als Liebe ausgeben.

Nach meiner Heimkehr rief Morry mich an. »Ich wollte diesen Quatsch aus der Vergangenheit gar nicht ansprechen. Tut mir leid, Schwesterchen.«

Ich dankte ihm für seine Entschuldigung, obwohl ich mir sicher war, dass Bonita neben ihm stand und ihm buchstäblich den Arm umdrehte.

Irgendwann im Laufe der Nacht kam wieder Wind auf, diesmal von Süden, ein kalter, freudloser Wind; die Gezeiten schlugen um, und der Regen prasselte auf mein Blechdach. Dann das Morgenlicht, ausgewaschen und fahl, die Weiden, die hin und her wehen, und der Regen, der alle fünf Minuten aufhört und wieder anfängt.

Ich mache eine Kanne Tee und starre aus dem Fenster im Obergeschoss. Ich kann meine Nachbarin Rangi sehen, die an der Niedrigwassermarke nach pipis, essbaren Muscheln, sucht. Sie trägt ein langes schwarzes Kleid und hat einen roten Plastikeimer in der Hand. Sonst ist niemand am Strand zu sehen. Der schmale Streifen Sand am Fuß der Böschung ist dunkel vom Regen. Die verlassenen Zelte und Wohnwagen auf der anderen Seite der Flussmündung sind fest verrammelt. Eine Gruppe von Austernfischern steht in ungeordneter Formation mit dem Rücken zum Wind.

Ich verspüre eine irrationale Wut auf das Wetter. Es ist nicht so, dass mir Regen etwas ausmacht. Ich wäre nie in dieses Cottage an der Westküste gezogen, wenn ich Nässe nicht ertragen könnte. Aber heute ist das Wetter so unentschlossen. Sonne in der einen Minute, Regen und Wind in der nächsten. Unentschiedenheit. Sie überträgt sich auf mich. Ich weiß nicht, was ich mit meinem Tag anfangen soll. Mich bedrohen Ballons voller sich ausdehnender Zeit, die sinnvoll gefüllt werden wollen. Je mehr ich über die leeren Stunden nachdenke, die sich vor mir erstrecken, desto länger und öder werden sie.

Rangi scheint das Wetter nicht zu kümmern. Sie fährt unverdrossen fort, sich ihr Essen aus dem Meer zu holen. Wie ich sieht sie aus wie eine Frau mittleren Alters. Da endet die Ähnlichkeit aber auch schon. Ich habe mich sehr bemüht, freundlich zu sein, doch sie will mein Haus nicht betreten. Ich habe sie eingeladen, einen Kaffee mit mir zu trinken, aber sie sagt, vielleicht ein andermal. Wenn ich nicht so beschäftigt bin. Sie lächelt und winkt mir zu, sie legt mir Früchte aus ihrem Garten auf die hintere Veranda, aber außer zu einem kurzen Gruß bleibt sie nie stehen. Immer fleißig dabei, zu putzen, zu jäten, zu angeln, ihre Tiere zu versorgen. Ich weiß wenig über sie, nur, dass sie eine sehr alte Person pflegt. Manchmal trägt sie diese Person, eingewickelt wie ein Baby, auf die Veranda und legt sie dort aufs Sofa. Ich kann nicht erkennen, ob das Bündel einen Mann enthält oder eine Frau.

Sie hat viele Verwandte und Freunde, die in verblüffenden Konstellationen und zu den seltsamsten Tages- und Nachtzeiten kommen und gehen. Gelächter, Krach, uralte Kombis und teure Schlitten voller Kinder und Hunde und alter Leute, Kartons mit Essen, Festlichkeiten. Dann verschwinden sie und es ist wieder still bis auf das leise Meckern ihrer Ziegen und den steten Lärm des Windes und der Gezeiten.

Ich fürchte die Geräusche der ankommenden Wagen. Es wäre nicht so schlimm, wenn sie zu einer annehmbaren Zeit wieder abführen. Aber ich höre die ganze Nacht hindurch Gitarrenspiel. Und die Kinder stürzen sich sofort auf die Videospiele, die Rangi hinten auf ihrer Veranda hat installieren lassen. Ohne Unterlass Gewinsel und Gepiepse und das Knallen elektronischer Pistolenschüsse. Geistloser mechanischer Lärm. Ich hasse ihn.

Der Regen trommelt herab, dicht und schwer. Rangi kommt auf unsere Straße zu, den Kopf gesenkt, fast unsichtbar in einem Vorhang aus Wasser.