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Band 15 der image

Erika Burkart
Grundwasserstrom

Aufzeichnungen

Mit einem Nachwort von Kirsten Gleinig

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Neuausgabe 2012

ISBN 978-3-942374-62-0

»Je peins les choses
derrière les choses.«

Jacques Prévert

»Etwas nennen heißt
es einem universalen
Sinn einschließen.«

Bruno Schulz

»Wer des Feuers bedarf,
such’s unter der Asche.«

Goethe

»Ihm war, als würde er
ein besserer Mensch,
wenn er ein Blatt aufhob.«

Alberto Nessi

Tiefes Licht

Sichtbar werden

Die Landschaft in der Zeit

Tiefes Licht

In der Schrift wird das aus der Gedankenpuppe befreite Wort selbständig, der Falter setzt sich ab, hebt sich weg. Der Preis der Freiheit ist Ausgesetztheit. Beim Freischälen von Erinnerungen stoße ich in Dunkelkammern auf Negative, die zu entwickeln ich das schriftliche Wort benötige. Im Prozedere der Niederschrift präzisieren sich die Bilder. Falls Vergessen und Verschweigen natürliche, nicht durch Krankheit bewirkte Vorgänge sind, haben Vergessenes und Verschwiegenes ihre eigene Dichte und teil an der Fülle der Existenz.

Rosebud hieß der Kinderschlitten des Citizen Kane. Auf dem unsrigen stand Davos, ein magisches Wort, das eingelöst wurde. Als ich, 40 Jahre später, den Ort und seine Region kennen lernte, die Davoser Landschaft, war ich nicht enttäuscht. (Die Zauberwörter unserer Kindheit, verbindlich nur für den Gedenkenden, der kraft ihrer persönliche, nur entfernt mitteilbare Erinnerungen abrufen kann. »Du ahnst nicht, was mir das bedeutete.«)

»Des Menschen Alter, von innen gesehen, ist ewige Jugend.«

Hugo von Hofmannsthal

Die Kunst, Oberflächen zu lesen.

»Wir müssen lernen, unerkannt zu leben.«

Ernst Halter, Irrlicht

Die Wolken zogen weiter, die Schatten blieben.

An den Menschen, der man gewesen ist, wie an einen Toten denken. »Von Klippe zu Klippe geworfen«, nähern wir uns dem Meer.

Das weiße und das schwarze Segel. In den späten Lebensjahren erscheint das Weiße grau. Schatten vom Andern Ufer fallen darauf.

Von der Landschaft, die ich liebe, stelle ich kein Foto auf. Lebendiger anwesend ist sie im Bild eines Malers. Eine sogenannte »Kunstkarte« vom Format einer simplen Postkarte enthält einen Sektor Welt, der in der Umsetzung durch den Künstler Teil eines Ganzen wird, oder: ein Kunstwerk von Rang suggeriert das Ganze, davon es ein Teil ist. (Die Landschaft im Moment, da sie einen Aspekt der Schöpfung darstellt.) In seiner Komposition zeigt der Maler Substanz an einer Oberfläche, die als Palimpsest gelesen sein will. Eine Fotografie erreicht selten die Vielschichtigkeit eines Dokuments. Die gemalte, untermalte, übermalte, weg- und umgemalte ist eine die Zeit integrierende, zeitlose, unverwechselbare, weil durch ein bestimmtes Auge wahrgenommene intime Landschaft.

Der Prozeß des Entstehens kann durchaus ein spontaner sein. Auch ein einmaliger manueller Akt holt Gestaffeltes und Gestuftes in die Oberfläche. (Was sich nur marginal auf die Verfremdungseffekte der malerischen Perspektive bezieht.) Auf eine Bildfläche übertragene innere Dimensionen erweitern und vertiefen diese zum unabsehbaren Feld.

Der Künstler selbst ist das Palimpsest. – Die immateriellen Werkpläne gewisser Meister. – Summa: Ernst Ludwig Kirchners Bild zeigt nicht die reale Landschaft, sondern Ansichten dessen, was sie ihm bedeutet.

Schriftliche Monologe als Dialoge mit definitiv Abwesenden.

Vorzüglich im Gedicht lassen Worte ihr unbeschränktes Umfeld ahnen.

»Wenn es um eine poetische Komposition geht, muß man die Existenz, ja sogar das Primat dessen in Rechnung stellen, was Wordsworth ›das großartige elementare Prinzip der Freude‹ nannte – und diese Freude rührt von der Versprachlichung bestimmter Dinge her.«

Seamus Heaney

»Man sieht sich nicht mehr, trifft sich nicht mehr. Nur ist da eben etwas, was nicht aufhören will und worüber man keine Macht hat.«

Peter von Matt, Liebesverrat

Auf dem Brunnenrand der gemauerten, laubüberdachten alten Zisterne finden sich folgende zu einem Stilleben angeordnete Gegenstände: zwei Tannzapfen, ein großes und ein kleines Schneckenhaus, vier leere Nußschalen, zwei Mörtelbrocken.

Das der Obhut des Betrachters überlassene Sinn-Bild aus objets trouvés hat die anspruchslose Eindringlichkeit eines anonymen Kunstwerks; Gabe eines Kindes. Solange man sie betrachtet, solange der Blick auf ihr ruht, scheint gerettet, wofür wir uns in Unruhe abquälen. Was? Die letzte Insel? Ein Funken der Energie, die die Welt »im Innersten zusammenhält«? Das Signet einer mehr denn je verborgenen Instanz?

Anschauungsmaterial der Hoffnung. Die vier rahmenden Kiesel plazierte der vierjährige Junge zuletzt: »Die Steine sind die Wächter, sie wachen, daß niemand kaputtmacht oder wegnimmt, was ich dir schenke, mein Schatz.«

Für Robin

Gefunden im Gras unter einem Baum der Wilden Hecke ein bis auf ein kleines Hackloch intaktes längliches (»oblonges« hätte mein Vater gesagt), haselnußbraun und meergrün gesprenkeltes Vogelei, evozierend das sehnliche Grün des Meeres, auf welchem, von Botticelli gemalt, die Muschel schwimmt, die Aphrodite an Land trägt.

Formal erinnert das Ei an den Kopf eines afrikanischen Idols. Ein gefundenes Vogelei ist ein Idol.

Drösle ich nachts mein Lebensgarn auf, weil ich nicht schlafen kann, oder kann ich nicht schlafen, weil die Überprüfung der einzelnen Fäden und Fasern (Abschnitte, Knoten, Risse) nicht zu umgehen ist, soll der dunkle Rest des Knäuels sich nicht verwirren. – Der Kern, um den das Garn gewunden war, wird erst sichtbar, wenn dieses bis auf ein Netz abgewickelt ist.

Die Gestirne im April. Nachts hypnotisches Mond-, am Tag irr grelles Sonnenlicht. Die Luft knistert von Wachstums-Energien. Fühlen Knospen die Spannung im wachsenden Zellgewebe? – Stille, sobald das, was sie enthielten, als grüner Schleier ausliegt. Indem er verhüllt, bringt der einem lichtgrünen Nebel ähnliche Flor die Bäume einander näher. – Kahle Bäume sind Solitäre. (Die Einsamkeit des toten Baums, dem keine Blätter mehr sprießen.)

21. Mai 94

Von Südwesten schiebt sich eine Warmluftschicht über einen Kaltluftbereich aus Nordwesten. Vier Tage, vier Nächte Dauerregen.

Die Felder des Muri-Mooses sind lokal überschwemmt. In den im Tageslicht kaum wahrnehmbaren Senken der schwarzen Äcker und grünen Weiden haben sich Regenpfützen und Grundwasserlachen zu Weihern erweitert, erinnernd die Teiche im Torfland von einst. In ihnen spiegelt sich der strichweise leergeregnete Abendhimmel, primelgelb, trübrot, silbergrau, während ich am Fenster stehe, von welchem aus das Kind auf die Moorteiche hinunterschaute.

Die brennenden Wasser verlöschen zu weißen Augen, die noch lange offenstehn. Von entgegengesetzten Seiten kommend, halten der Nachtgänger und die Abendgängerin im Moor draußen aufeinander zu, berühren sich, gehn Seite an Seite über einen Torfacker (wie der damals federte unter unsern jungen Füßen), entfernen sich über das Wasser.

Es sind die Schatten, die wir nicht sehen wollten, die uns einholen.

Der Verschollene. In der Kunst der Selbstverflüchtigung kam ihm niemand gleich. Mich begleitete ein grauer, blauer, grüner Schatten, spürbar als Lufthauch an der linken Schläfe, falls er neben mir ging; trat er hinter mich, fröstelte es mich im Nacken –, lautlos weht es mich an, kein Wortwechsel, Hermes schweigt. Seine Mission ist das Geleit über Wege, die er selbst nicht kennt. Weniger denn je in diesem Jahrhundert der Schmach.

Hermes. Seine nicht beflügelten Schuhe tippen den Boden an, er rollt die Sohle nicht ab, tritt nicht auf. Ein Zehenspitzengänger, der sachte abhebt und streckenweise in der Luft geht, eine Spanne Leerraum unter sich? Oder schrumpft er ein, bleibt er zurück, ist er voraus? – Plötzlich fehlt auch der Schatten; an seiner Stelle eine Figur aus Glas, ein Profil, durchsichtig auf jede Umgebung, jeden Hintergrund, deren Farben und Strukturen er automatisch annimmt bis zur Unkenntlichkeit, Unsichtbarkeit seiner selbst. Legt sich eine Tarnkappe zu, wer sich in der Kindheit kleinmachen lernte, wer zum Seepferdchen wurde? einem Wesen, das Arme und Beine versteckt im Körper? Bloß keine Tentakel. Fühler sind verletzlich.

Jäger oder Wild? Seiner Anwesenheit versuchte ich mich zu versichern, indem ich mich nach der Seite wandte, wo er zu gehen pflegte: Niemand, nahezu niemand. Geblieben waren die Augen, Angst war darin, Unruhe, eine schwarze zuckende Ader spaltete die Stirn.

Wenn ein Wort fällt – Worte fallen, wie Steine die einen, andere wie Samen –, hat es Mühe, nicht verlorenzugehn in der Zone des Schweigens, in die schon das Kind sich zurückzog, mit Schnecken spielend, Kartenhäuser bauend, die sie dir zerstörten, die du zerstören lerntest, Architekt von Türmen aus Wolken und Wind.

2. Juni 94

Depressiver abnehmender Drittelmond zwischen 3 und 4 Uhr nachts im bleichen Osten. Globale Stille einer Welt, in der die Menschen nicht schlafen, sondern tot sind.

Impuls. Von der einen zentralen Erschütterung gehen die Bewegungen aus, die das Ganze erregen. – Oder: ein Stein schlägt in eine Scheibe. Die Risse bilden eine Spinne, einen bizarren Stern, der sich über die Einschlagfläche verzweigt. – Gehen unentrinnbare Lebensmuster auf Einschläge zurück?

»… ist es nicht bloß ein Wahn unsrer Natur, daß wir dann, wenn vieles Unglück zusammentrifft, uns vorbilden, das Beste sei nah?«

Goethe, Das Märchen

Unter dem Schnee. Nie haben wir herausgefunden, woraus die vulkanartige Ausstülpung im Weidehang oberhalb des Wanderweges bestand. Unter hohem, in tiefem Schnee verbarg sich ein Körper, dessen durch die weiche Ummantelung entschärfte Form sich mehrdeutig abhob von den Höcker und Dellen ausgleichenden Schneedecken auf der Kuhtrift. Schnee auf Schnee. Eine verharschte kam unter eine weiche Decke zu liegen, bis auch letztere so hart wurde, daß ein Reh, ohne einzusinken, entfliehen konnte in Sprüngen, die im Kristall der Landschaft noch eine Weile sichtbar blieben als nachschwingende Wellenlinie.

So hätte er ausgesehen, der Vulkan des Kleinen Prinzen, wäre je Schnee gefallen auf dem Planeten, wo es die Rose zu schützen und die Streusaat des sternsprengenden Giganten auszureuten galt. Keine zum eisigen Todessymbol erstarrte Schneeplastik, sondern ein über alle Maßen vollkommenes, von anfühlsamem Stoff verhülltes Objekt: Erdaufschüttung, Stein- oder Dunghaufen, ein Pneuring (Salzlecke der Kühe), ein Bottich oder ein altertümliches, uns nicht mehr bekanntes Gerät, das im Herbst infolge überraschenden Schneefalls liegengeblieben war? – Verpackungsmagier Schnee.

Der lavendelblaue Morgenschatten füllte die weiche Gipfelmulde, die durch ihn erst eigentlich in Erscheinung trat und durch den violetten Abendschatten zum Krater vertieft wurde.

Fern lag der Gedanke, sich durchzugraben, durchzuschaufeln. Einem sakralen Mal in Weiß tritt man nicht nahe. Schon eine Spur darauf zu wäre einer Verletzung gleichgekommen. Heiliges sähe man gerne von einer dem Zutritt entzogenen Zone geschützt.

Wer durch einen Krieg gegangen ist, sieht anderes unter dem Schnee. Jeder sieht, was er kennt oder zu kennen glaubt. Manche sehen gar nichts.

»Die Regel schreibt den Bergasketen vor, nichts von dem, was den Zauber dieser Berge ausmacht, anderen zu verraten. Dieser will auch ich mich fügen: ich lege meinen Pinsel nieder und berichte nicht weiter …«

Bashô

Gartenparadies. Zeuge sein, wie der anonymgraue Fliegenschnäpper den lichtgelben, heraldisch mit blauen und roten Insignien geschmückten Schwalbenschwanz, den einzigen in diesem Revier, schnappt und zerhackt.

In die offensichtlichen Muster des Lebensteppichs sind die geheimen so eingewoben, daß sie nur erkennt, wer an ihnen teilhat. – Vorkommnisse, die dem Vergessen nicht anheimfallen, weil sie das Leben im Verlauf mit Reimen und Assonanzen bestätigt.

Aus einem polit. Essay. »… Wölfe kriechen als Lämmer unter dem Sessel des gestürzten Diktators hervor.«

Der Abenteurer. Bei einem Abendgang vom Reitwald herkommend, vernahmen wir im Hochmoor auf der Moräne Gepaff und Gebrüll. Offenbar spielte, getarnt vom undurchdringlichen Gebüsch, das sich in der sumpfigen Senke zum Urwald verdichtet hatte, eine Bande von Jungens einen Fernseher-Western. Synchron mit dem Knallen der Kapselrevolver erschallten pausenlos Schreie. Schreck-, Angst- und Todesschreie dämonisierten das stille, sonst nur von Naturstimmen belebte Gehölz. Die Naturschutzzone war zu einem Distrikt roher Gewalt verkommen, und knöcherner starrte das Bleiweiß der toten Birkenstämme im Weidendschungel. Als wir an der Weide vorüber waren, in deren strahlig sich verzweigendes Geäst die untergehende Sonne jeweils ein Loch brennt, gewahrten wir einen Steinwurf von uns entfernt einen halbwüchsigen Jungen. Auch auf Distanz ließ sich ausmachen, wie peinlich es ihm war, Zeugen seines Kampfes mit imaginären Gegnern aufkreuzen zu sehn. Fraglos hatte sich der Bandit / Rächer / Töter / Tote / Held allein, vormärzlich sonntäglich einsam geglaubt in einem Wildgestrüpp in Arizona oder Mexiko. Mit hängenden Schultern trollte er sich nicht in die Büsche, sondern durch gelbes Riedgras ins offene Feld. Die Verlorenheit des Kindes war die kläglichste. Verlegenheit und Scham, zielloses Staken in fahlem Gras. Einmal schaute er zurück, vermutlich um sich zu vergewissern, daß niemand ihm folgte, niemand ihn verfolgte.

Gerne wäre ich dem traurigen Jungen nachgegangen. Warum, hätte ich ihn gefragt, dieses Einmanngefecht? – Auf wen hatte er gezielt? Wem hatte er aufgelauert – und wer hatte ihn gereizt, verletzt, verwundet, fertiggemacht? Wer hatte wen und warum getötet? – Vermutlich hätte das Kind die Antwort verweigert. – Aus Verstocktheit? – Der Bub wäre die Antwort schuldig geblieben, weil, mit 13, die Worte fehlen, die einen Jugendlichen aus der Mördergrube seiner selbst befreien, in die er, wir wissen nicht wovor, floh.

»The heart is a lonely hunter.« Das Herz ist ein einsamer Jäger.

Carson McCullers

Die zu Quadern gepreßten und verschnürten Strohballen der Gerste stellen im nackten heftigen, flache Felder überschwemmenden Hochsommerabendlicht (die Sonne ein Rad) goldene Koffer dar. Hundert verheißungsvolle Koffer auf goldenem Stoppelfeld. Die können allesamt fliegen.

Sätze, die keines Kontexts bedürfen, aus sich selbst leuchtende, auch in der Isolation des Zitats selbständige Gebilde. (»Der Wind schien hartnäckig seinen Willen durchsetzen und Ljewin in seinem Lauf hemmen zu wollen; Blätter und Blüten von den Lindenbäumen reißend und in schauriger Weise die weißen Äste der Birken entblößend, bog er alles nach einer Seite hin: die Akazien, die Blumen, die Klettenblätter, das Wiesengras und die Baumwipfel.« Tolstoi, Anna Karenina.)

Andere Wortgefüge wiederum ergeben erst einen Sinn in Verbindung mit den angrenzenden Sätzen oder Abschnitten. – Und da gibt es den Satz, dessen umfassende, ein Gesamtes sowie Einzelheiten erhellende Bedeutung nur versteht, wer das ganze Buch kennt. Der herausgeschälte Kern-Satz; Formel, Essenz und Illuminator.

Die Mattscheibe Zauberspiegel aktueller Torheiten.

Wider besseres Wissen erscheinen einem in der Depression Sätze und Worte auf den Tod bezogen, die, unter anderen Umständen, keinerlei Assoziationen in jener Richtung wecken. Wir fokussiern falsch. Dunkler, sich alles angleichender Sammelpunkt.

August 94.

In Windstille jährt sich der Todestag. Die ersten gelben Blätter lösen sich ab, fallen, der Schwerkraft gehorchend. Schwüle Hitze. Mich friert. Im Windbruch, wo sie früher die toten Tiere verscharrten, spiegeln Tollkirschen den weißen glanzlosen Himmel über dem von dürftigen Jungtannen durchsetzten Wasengrund wider. Feuchtigkeit, Schatten; Dünste, doch keine Knochen, kein Geruch mehr außer jenem der Pilze und des moderverbrämenden Mooses.

»Owê muoter.«

Inschrift Wolframs in einer Fensterlaibung der Ruine Wildenburg. Odenwald

Todestag meiner Mutter.

20. Aug. 1972

Im Wald. Schmerzlicher Zorn, der einen überkommt beim Anblick von Zerstörungen (Kahlschlag, brutales Niedermachen von alten gesunden [!] Königsbäumen im »Trend« einer einzig auf Gewinn und Nutzen ausgerichteten Forstwirtschaft) organischer Verbände, die für jenen, der mit ihnen lebt, sakralen Charakter haben. Bereits Störungen erwecken Unmut. – Die meisten Waldgänger beobachten, sehen und ahnen wenig. Weshalb ihnen denn auch nichts geschieht. Weder werden sie der eigenen Vergänglichkeit inne angesichts von Jahrhundert-bäumen, noch beunruhigt sie das Glück, von einem Schläfe oder Schulter streifenden Zweig angerührt zu werden, gleichsam von »langer Hand«, wissen wir doch nicht, wessen Gegenwart sich mitteilt durch die Berührung einer vegetabilischen Instanz.

»… Da werden Sie den Alten (Baum) doch nicht um Ihrer Blumenbeete willen einfach umlegen, sondern Ihre Beete so anordnen, daß sie sich sogar den Baum selbst nach Möglichkeit zunütze machen.«

Tolstoi, Anna Karenina

Taunacht. Der Weg unter den Bäumen führt zum offenen Tor. Der Eindruck, draußen erwarteten uns die Sterne, geht in die Kindheit zurück.

Wer ist das? – Mich hat es stets beeindruckt, einem Menschen nachzublicken, einem Einzelgänger entgegenzusehn, der, ab von der Straße, über Grasland, Ackerland, Sand, Fels oder Schnee geht, kommt, weglos; seine Erscheinung verändert das Gelände, sein Gehen ist sein Weg.

Die Quelle einer unversieglichen Trauer. Nahrung, die nicht stillt, Wunde, die nicht heilt. Nie hat es aufgehört zu bluten. – Sterben und Tod der Mutter, Abgang und Wegtauchen von Menschen, die man sich nahe glaubte (»wähnte«). Mit Verspätung, meist zu spät, erkennen wir das Wesen zwiegesichtiger Naturen. Wer ist er, der dir stets die helle Seite zukehrt? Nur Engel und Dämonen werfen keinen Schatten. – Die Zeit löst Rätsel, indes das Geheimnis sich mehr und mehr verpuppt.

Mondlicht. Grünes ergraut, ein Stein, ein Stuhl, Birkenstämme und blaßrosa blühende Büsche abstrahieren sich zu extraterrestrischen Fremdkörpern. Mit perlgrauer Holzasche ist die Straße bestreut und führt anderswohin als bei Tag.

Tiefe Schatten liegen auf den Stufen, die weiterführen.

Die Stätten von Sagen wie auch die Plätze persönlicher Lebensmythen unterscheiden sich gründlich von geschichts- und geschichtenlosem Land, sind sie doch magisch aufgeladen bis in ihre Erdbrocken und Steine hinein.

Die aus diesen von verschiedenen Generationen bedachten, vielleicht gefürchteten, vielleicht verehrten animistisch besetzten Orten hervorgehenden Pflanzen zeigen sich Menschen, die sich zur richtigen Stunde einfinden, in einem andern Licht. Dies betrifft nicht nur sogenannte »Heilige Bäume«, sondern auch Efeu und Nesseln. Beide verwachsen sie mit der Substanz, die sie zudecken. Ihr dunkles Grün scheint für Prozesse nicht nur organischer Art zu zeugen. Eine Täuschung, gewiß, aus poetischem Bezug. Bald sehen wir zu viel, bald zu wenig.

An P. M.

Der mit dem aufrechten Gang

bricht auf

geht vorwärts

geht zu weit

fällt

erhebt sich

geht im Kreis

bleibt stehn

sieht um sich

sieht sich um

setzt sich

sitzt

legt sich nieder

liegt darnieder

bleibt liegen

steht nicht mehr auf

einige sagen

er steht wieder auf

aufersteht

geht

geht fort

geht allein

weiß keiner wohin

»Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen …«

Apostelwort

»Der Zug überquerte gegen Ende des zweiten Tages die Beresina – die Sonne sank granatrot in verwunschener Langsamkeit schräg zwischen den Ästen hindurch und tauchte die Gewässer, die Wälder und weiten Ebenen, noch immer von Waffen- und Fahrzeugtrümmern übersät, in ein blutrotes Licht.«

Primo Levi, Die Atempause,

ein Buch über die Würde des Menschen im äußersten Elend

Die Begebenheiten (»es begab sich …« lesen wir im Märchen) im Leben, die eines Tages »schon bald nicht mehr wahr sind«; die andern, die immer wahrer werden. Jahrzehnte nach seiner Rückkehr aus Auschwitz starb Primo Levi 1987 durch Freitod in Turin.

Leid höhlt Stollen bis ins Urleid, geboren zu sein, bis in die Urangst, sterben zu müssen. Unser Teil, Partikel einer Staubwolke und zugleich einsame Gestalt zu sein.

In der inhumanen menschlichen Welt ist der Kosmos der Kunst die Gegenwelt.

»Unaufrichtig nenne ich Dinge, die gemacht werden, um Aufsehen zu erregen, und auch diejenigen – beachten Sie das wohl, es ist wichtig –, die nicht eine fundamentale metaphysische Idee enthalten, das heißt, durch die nicht, wenn auch nur wie ein Windhauch, eine Ahnung von Ernst und Geheimnis des Lebens hindurchgeht.«

Fernando Pessoa, aus einem Brief

»… Als Sá-Carneiro in Paris eine große geistige Krise durchmachte, die ihn zum Selbstmord führen sollte, habe ich die Krise hier gespürt, ist über mich eine plötzliche, von außen kommende Depression hereingebrochen, die ich in jenem Augenblick mir nicht zu erklären vermochte.«

Fernando Pessoa, aus einem Brief

Irritation. Obwohl er sich in einem Gespräch befand, hatte der Unbekannte, der einem Freund aus einer vergangenen Lebensepoche bestürzend ähnlich sah, mich gegrüßt. Der Gruß des Fremden, auswärts in einem nicht heimischen Haus, irritierte mich so sehr, daß ich ihn weder mit Nicken noch mit Lächeln beantwortete. Im Moment der Begegnung von Auge zu Auge hatte ich den jungen Mann in einer blitzkurzen Fahndung nach Bildern identifiziert mit dem Andern, der er nicht war.

Es vergingen einige Tage, bis das Gesicht des Zwillings in mir verblaßte, verging in der Art, wie in Science-fiction-Filmen die Figuren verschwinden: einmal Teil- um Teilstück sich entziehend, ein andermal erlöschend wie eine Wolke, aus der die Sonne weicht; zurück bleibt der Leichnam einer Wolke, ein toter Fisch.

Der verwirrende Vergleich zwischen den Mienen zweier Menschen, die, wie mit größter Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, nicht von der Existenz des Doppelgängers wußten, erschöpfte sich in der unbeantwortbaren Frage nach dem Stellenwert einer solchen Konfrontation. Bedeutete sie etwas für mein Leben oder gar nichts?

Indem Bekanntes, scheinbar halb Vergessenes (in uns) auf verwandtes Fremdes anspricht, von diesem angesprochen wird – und dies wörtlich –, bekundet es seine fortwirkende geistige Existenz. – Dem höflichen Fremden muß mein widernatürliches, mit dem Blick nicht übereinstimmendes Verhalten unerklärlich gewesen sein.

Die Schwierigkeit, an einen Menschen zu denken, dessen Aussehen man erinnert, indes Stimme und Name unbekannt sind. Ausgestattet mit einem Namen, verwandelt sich das Phantom in eine Person. Namenlose Mienen neigen zur Verflüchtigung. Dem widersprechen zwei bis drei Gesichter von Fremden, die ich nie vergessen habe, obwohl ihre Träger nur kurz, nur erscheinungshaft in mein Gesichtsfeld traten: das wunderschöne schwarzhaarige blauäugige Mädchen bei der Fontana Trevi, der »arabische Prinz« in Z., aus einer Trambahn steigend.

Wie hieß er nur, der Autor, der es ausgesprochen hat:

»Seele, geborgen

im Entzücken des Leibes – «?

Blaue Winden. (Pharbitis.) Ein azurnes Wunder, wenn sie in der Morgenfrische am Blätterturm aufgehn, sozusagen vom Himmel gefallen, mit dem sie, sobald der leichte Septembernebel sich verflüchtigt hat, farblich korrespondieren.

An der von Jungfernreben überwachsenen Südfassade des Hauses schlingt sich die Blaue Prunkwinde im Skelett eines Bambusastes, dessen Zweigspitzen mit Fäden verbunden sind (ein Geisterschiff) bis hinauf ins erste Stockwerk, wo vier Kelche sich vor dem Südostfenster geöffnet haben. – »Was schaut denn da Blaues herein?«

Zwei bis zwanzig bis sechzig Knospen, weißliche, eingedrehte Schirmchen, wickeln sich zwischen sieben und neun Uhr auf, entfalten sich zu kultischen Kelchen, an deren Grund ein goldenes Auge aus einem milchig weißen Stern schaut, ein Auge, das mich, die Schauende, nicht sieht. Schwer faßbar, daß die Blumen, unsere Augenweide, uns nicht sehen, da keine Sehzellen eingebettet sind in ihre Augensterne, augenhaften Zentren. Die Blüte hat, zieht man die Funktion ihrer Bestandteile in Betracht, sowohl gesicht- wie schoßartigen Charakter.

Fünf purpurrote Linien segmentieren bei Feuchtigkeit den Kelch; nicht alle zum Blühen vorbereiteten Knospen können sich öffnen: die tückische Windung einer Ranke, ein beengendes Blatt, ein Schattenwurf verhindern die Entrollung des Schirmchens, dem jede weitere Chance verwehrt ist.

An einem sonnig warmen Tag beginnt die Welke schon vor Mittag. Über dem zur bleichen Hülse eingeschrumpften Kelch krallt sich dessen Rand zu einem Wulst von kranker, blauroter Farbe ein, Wunden erinnernd, Vergängnis des Fleisches, von fatalem Föhnlicht vergiftete Wolkenfische.

Jeden Morgen finden wir uns ein, stellen wir uns an, Ernst und ich, um die Blauen Blumen zu betrachten, ein Ritual, bei welchem Bashô anwesend ist, der fernöstliche Dichter und Wanderer, der über das Herbstmeer schaut und unter Tausenden von dunklen Wellen die eine, die Lichtwelle, ausmacht.

Für Ernst

Chrysos heißt Gold. Die Ur-Chrysantheme ist golden, also gelb, goldgelb.

Im eigenen Arm liegen.

Die Schwärze der Mücke. Der Knister-, Knirsch-Laut der durch Druck oder Schlag von belebtem in toten Stoff mutierenden Materie. Die zu einer amorphen Masse zerquetschte Gestalt. Das Wunder dieser Gestalt wissend, versucht der vom Tag erschöpfte Mensch sich der nächtlichen, der nicht zu verscheuchenden Quälerin zu erwehren. Wir ertragen es nicht, daß sich jemand, etwas, wer oder was es auch sei, an unserm Blut gütlich tue. Beim unentrinnbar sich nähernden Sirren einer Nachtmücke, das mich aus dem Vorschlummer schreckt in ein ohnehin durch die kurze Absenz getrübtes Bewußtsein von nervöser Empfindlichkeit (Depression, Absinken des Blutzuckers), graut mir weniger vor den zu erwartenden Stichen als dem Gedanken, aus Notwehr töten zu müssen.

Älter werden: besser umgehen lernen mit den innern und äußern Unordnungen, Unruhen? Oder vielmehr: ganz und gar nicht mehr damit zurechtkommen? Das Ende ein blinder Spiegel.

Ein neuer Stil, geben Literaturforscher zu bedenken, fördere (fordere?) neue Inhalte.

Sprachwerdung: aus der Lust am Laut, aus Nachahmungstrieb, Kontaktbedürfnis, Einsamkeit (das In-sich-verschlossen-Sein des Tauben), aus Überfluß, als Weltbewältigungsversuch, Weltbenennungszwang. Die Vokale entdeckend, äußert das Kleinkind Wohlbefinden, Unbehagen, Weh. Jede Silbe ein An-, ein Aufruf – oder selbstgenügsames Spiel im ersten Umgang mit den eigenen Organen.

Namen und Worte, erfundene und nachgesprochene, dienen zur Orientierung im Chaos. Wir lernen sprechen im instinktiven Wunsch nach Teilhabe an einem Geheimnis, in welchem ausschließlich Sprechende, einer Sprache Mächtige, bewußt leben.

Sprechen, um die Gespenster zu vertreiben, die im Schweigen herumlauern. Damit sie ihrer selbst deutlicher inne werden, sprechen Kinder oft durchdringend laut. Für sie ist das Sprechen ein Akt der Selbstbestätigung. Ich höre meine Stimme, also bin ich.

Sprechen als Medium der Verständigung. Wenn uns die Sprache durch einen Schock oder eine organische Krankheit abhanden kommt, vereinsamen wir zum Tier, dann zum Stein. Das Bedürfnis, sich mitzuteilen, nimmt ab mit dem Wissen von den Grenzen der Sprache. Vorwiegend im Gedicht fähig zu transzendieren, transportiert sie, was, entzückend und entsetzend, dem Lauschenden, Lesenden hilft, indem es ihn existentiell verwandelt. Dichtung, weder Trost noch Zuspruch, versteht sich als Gegengewicht von Lasten, die zu tragen der Verstand allein nicht ausreicht.

Wenn du drei Tage und Nächte keinen Menschen siehst, beginnst du mit dir selbst zu sprechen.

Die Augen Gehörloser.

Die Gebärden der Stummen.

Juni, vom November aus gesehen: kühles Silberlicht, schweifend am hohen Himmel (Wolkengefieder, Zirren), der den Blick weit weg führt; das glasige Grün der unter dem Windstrich rhythmisch auffunkelnden Ährenflur.

X.: »Für Penelope ist das Wort Ulisse etwas geworden, das kein Mensch mehr einlösen kann.«

Regenbogen zeigen sich jedem Betrachter anders. Von seinem Standpunkt aus sieht jeder einen andern, seinen Bogen.

Ein Mensch, der sich wahrnimmt im Sechsersystem der Schneeflocke, die Freundin im Zeichen des Pentagramms sieht und dem Freund den vierzackigen vierstrahligen Stern, die kosmische Wind-Rose, zuerkennt.

Altes, sepiabraunes Foto, mehr dämmerig als schummrig, mit Ballungen amorpher Dunkelnebel, mit grau-, vielmehr rauchgelben Zonen, ausgebleicht zu Leeren und Lücken; die Menschen sind gekleidet wie Menschen im Traum, die Bäume tachieren als ungegliederte Kleckse den Hintergrund, ein permanenter, vom Smog der Zeit gegilbter Kältedunst versiegelt den Himmel. (Mutters Bilder von irischen Knechten und Herren, im Park, vor dem Cottage am Rand des Moors, Vaters Fotos brasilianischer Sumpfreiherkolonien.)

Pinus silvestris. Die Baumkronen lassen sich vom Wind biegen, bis die Krümmungsspannung im Stamm stärker wird als die Windkraft; ist dies erreicht, pendeln sie in Gegenrichtung.

Der dunkle Selbsttrost, es sei das, was man sucht, selbst auf der Suche. Auf einen zu? von einem weg? Von einem weg auf einen zu? – Der nicht immer ertragreiche Umweg. Die uns zu spät erreichen, finden einen andern, finden niemanden mehr vor.

Zwei, die zusammen eine unauffindbare Höhle bilden.

Der Schluß eines Textes sei kein Riegel, sondern eine lautlos geschlossene, nicht verschlossene Tür.

Flurnamen sind geologische, natur- und kulturhistorische Sagen-Fragmente. Dem Lokalhistoriker dienen sie als Leitfossilien. In den nach Tieren benannten Waldzonen, Fluren, Gründen wissen alte Leute noch vom Tier zu erzählen, das den Namen der Örtlichkeit bestimmte. Flurnamen sind Zauberworte, die Zeit heraufbeschwören, Zeiten, ihre Flora und Fauna. Aus den wie über Wasser uns zugerufenen Namen schließen wir auf die Lebensformen der Menschen, die diese Gegend bewohnten. Jäger, Köhler, Bauern, Handwerker. Kraft der Namen sehen wir sie Hand anlegen, haben wir Umgang mit ihnen, gehen sie um. Flurnamen sind dauerhafter als Grabsteininschriften. Solange sie nicht verlorengehn, bleibt der von uns bewohnten Landschaft (sosehr sie verändert sein mag) die 4. Dimension erhalten. Immer wieder geschlagen oder von Stürmen niedergemacht, wächst der Wald durch die Zeit.

»Wenn man zwei Spiegel einander zukehrt, entsteht eine unendliche Reihe, ein grenzenloser Raum. Jeder Spiegel wirft mit dem Abbild seines Gegenübers auch sein eigenes, von diesem gerahmtes Spiegelbild zurück«: obiges Phänomen erfuhr ich früh, stand ich im Elternschlafzimmer zwischen Waschtischkommode und Spiegelschrank, betroffen über die vielen, in unabsehbaren Räumen gnomenhaft sowohl präsenten wie absenten Ferngestalten meiner selbst, die winkten, wenn ich winkte, die, alle mit hängenden Schultern und barfuß, siechten, weil ich siech war, für immer verstümmelt, wie das kleine Mädchen im Nachthemd fürchtete, dessen Gesicht und Körper von den Blasen der »Wilden Blattern« (Windpocken) entstellt waren. Allein zwischen den elterlichen Spiegeln stehend, muß es, vielleicht zum erstenmal schmerzlich bewußt, empfunden haben, daß jeder Ort, auch der heimatlichste, zu einem Unort, einer Dunkelstelle, einer Zelle des Ungeheuerlichen werden kann.

Um leben zu können, muß man einen Traum haben vom Leben.

Durch das windstille Lindengezweig Fall eines kupferroten Blatts: Taumelflug eines Falters; großer Fuchs im Nebel.

Das Bedauern, daß optische Eindrücke vergehn; verbleichen wie alte Fotos, bis nur noch ein Nebel zu sehen ist, indes man doch weiß: da war ein Gesicht, das mich fesselte. – Die Zone im Hirn, die es speichert und zuweilen freigibt. (Innere Topographie.)

Im Verlauf des Tages das Erkennen der vom Traum verfremdeten Gesichter. Auf einmal weißt du: aber das war doch …, wenn auch klein, wenn auch blond.

Licht erleuchtet die Materie bis zur Intensität einer Erscheinung; zieht es sich zurück, gehen die Farben in sich. An langen Abenden dauert ein Rot, ein Weiß aus: Projektionspunkte; in die von der Dämmerung getrübten Farben und Formen sehen wir hinein, was Gedanke und Vorstellung eingeben. Erlischt im Fenster die Landschaft bis zur Veraschung, sind die im eindunkelnden Zimmer weilenden Menschen einbezogen in die graduelle Verschattung. Lemuren; dein Gesicht aus Lehm, die Wurzelfasern meiner Haare.

Der Fremdkörper. Karotten zu Münzen scheibeln, Fenchelschalen ablösen, Fenchelherzen teilen, Zwiebeln schneiden, Hackfleisch würzen, Wasser in die Pfanne fließen lassen, Gemüse in Gitter einfüllen, Deckel aufsetzen, Herd einschalten. In der erglühenden kreisrunden Herdplatte eine Untergangssonne sehn, während der junge Sichelmond glänzt im Genadel der alten Tanne. Über die Tauwiesen möchte ich auf das Segment zugehn.

Hinter dem Küchentisch stehend, kann ich sein Sinken von Ast zu Ast verfolgen wie auch die träge West-Ost-Verschiebung der Wolken über den Wäldern des Lindenbergs. Ich versichere mich des Zettelblocks in der Kellen- und Raffel-Schublade. Weder eine Liste zu bestellender Speisevorräte noch Kochrezepte. Leere Blätter, weiße Seiten. Der Bleistift neben der Küchenbrille ist noch nicht so stumpf, daß er die Schrift verfremdete. (Ein Hausgeist, der heimlich Bleistifte spitzte … Auch in der Küche.) Bevor das Wasser zu singen beginnt, notiere ich, stehend, einen Satz, den ich zu Papier bringe, um ihn momentan vergessen zu dürfen, um ihn zu retten für die Stunde, da er kein Störfaktor ist. Wobei man natürlich nie weiß, ob er noch etwas taugt, sobald er sich, Artverwandtem eingegliedert, zu bewähren hat. Als Fremdkörper hat er es leicht, Geheimnisträger zu sein. Der isolierte Satz strahlt aus, saugt an. (Der Nimbus des Solitärs.)

»… das schwindelerregende Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit.«

Dieter E. Zimmer

Woran man nur selten eindringlich denken darf, weil es weh tut in jener Schicht, wo Verletzungen unheilbare Leiden zeitigen: an den Schmerz, den geliebte Menschen uns antaten. Unsere Regenerationskräfte sind beschränkt. Haut wächst nach, ein Herz nicht.

Die Krümel einer Liebe zusammenkehren. Da war doch einst dieses Brot des Lebens …

»Des Meeres und der Liebe Wellen.« Das Meer, seine Tiefe –, sein Schaum, die Sirenen. – Ebbe und Flut. Meeresstille. Leviathan. Maelstrom. Das versunkene Schiff, das Opfer der kleinen Meerjungfrau, Undines Rückkehr. Tote Fische und Spiegelungen.

Atmosphäre. Der menschliche Körper als Instrument der Jahreszeiten. Die herbstlichen Laubstürme rütteln an den eigenen Wurzeln. Die Fackeln von Birke und Pappel werden ausgeblasen. Dann Nebel, tagaus nachtein, der bis in die Knochen geht. Dem Auge ein Mysterium, dem Leib ein graues Tuch, ein »Totenlaken«, der Phantasie eine Verheißung.

»Einsam tret ich auf den Weg, den leeren,

Der durch Nebel leise schimmernd bricht,

Seh die Leere still mit Gott verkehren

Und wie jeder Stern mit Sternen spricht.«

Lermontow, übersetzt von Rilke

Der Föhn, der fernste, sonst nie sichtbare Berge ins Blickfeld rückt, beschert im Spätherbst Märztage von schmerzlicher Luzidität, an welchen man auf langen, Arzneipackungen beigegebenen Zetteln das eigene Körperbefinden nachlesen kann.

Über dem nahen Besenbürer-Wald zeigt sich, nicht zu fassen und zum erstenmal bewußt registriert mittels Kartenmessungen, der ferne Feldberg, den wir kennen aus J. P. Hebels Alemannischen Gedichten. Am Feldberg begegnet das Sonntagskind dem Feurigen Mann Puhuk und dem dengelnden Engel, der irdisches Gras mähen will für himmlische Tiere. Der Engel: »Siehsch dört selle Stern … dört wachst kei Gras, dört wachse numme Rosinli … und Milch und Hunig rieslen in Bäche. Aber s Vieh isch semper, s will alli Morge si Gras ha …«

Der Falter auf dem Felsen. Allegorie der Zeit; Faltergenerationen / der eine Stein. Die ewig Jungen, die ewig Alten.

Es ist die Parenthese, die oft den Schlüssel enthält, oder: die Klammer schützt Zentrales vor zu raschem Zugriff.

Was wir lieben, wird zum Geheimnis.

Diese Barocktüre, mein Herr, ist unverkäuflich. Durch diese Türe kamen und gingen Menschen, die ich liebte. Durch diese Türe tritt meine verstorbene Mutter herein.

Einen Menschen finden, den man konfrontieren darf mit dem eigenen Dunkel.

Versuche, Erinnertes und Gegenwärtiges in einem Licht zu sehen, das beide gleichzeitig erhellt, wodurch sich neue Zusammenhänge ergeben. Der Rückbezug findet Begebenheiten und Orte, die, von heute aus betrachtet, erkennbar werden als Ausgangspunkte langer Brücken und dunkler Stollen ins existentiell Jetzige.

Auf den Vorwurf, er prunke mit dem »Pfauenschweif des Leids«, entgegnete der Autor: »Es müssen jene den Fächer aufschlagen, die noch Federn haben.«

»Der Augenaufschlag des Nichts«: vier Worte aus einem Text von Jürgen Egyptien. Aspekt, Bild und Vision. Der Raum als Vakuum, das sich außerhalb der Leere hält, die auch als Fülle bezeichnet wird. Sinn-Bild, welches »tragende« Bilder absaugt gleich einem schwarzen Loch; ausschweifender Gedanke, dem der Grund weicht, auch der geistige, daran man sich zu halten pflegt mit ohnehin wenig zähen Fasern. – Was, wie geschieht uns gegenüber der trüben Weißheit eines ungeheuren lidlosen augensternlosen Blicks? Im Tod verdrehten Auges, das nichts sieht, das das Nichts sieht? (Optik der Verzweiflung.) – Dies ist kein Aufschauen (etwa zu den Bergen, vielleicht auch Wolken, wie dunkel die auch sein mögen), sondern ein motorisch automatischer Vorgang innerhalb der Materie und ihrer vom Leben verlassenen Ohnmacht.

Der absoluten Verwaisung (= condition humaine) bewußt, steht es uns frei, in der abweisenden Weißheit des entwesten »Augenaufschlags« den Ausdruck einer Klage zu sehn, der Klage, daß Leben zurückgenommen wird in einen Zustand, den wir nicht begreifen. Der Tod ist unfaßbar und das Tote fremd, weil es keines oder eines so andern Geistes ist oder harrt, daß der Versuch einer Verständigung von Ufer zu Ufer sich reduziert auf Lügen, Klagen und unbeantwortbare Fragen.

Wie immer dem sei: da ist keine Stelle, die dich anschaut. Auch so mußt du, angesichts dessen, was nicht ist, »dein Leben ändern«.

Für J. E.

Die Trauer des Nichts, nicht das zu sein, was es verneint.

»Gemeint habe ich immer nur dich.«

Arthur Schnitzler, zitiert von Peter von Matt in Liebesverrat

Kein reineres Lächeln, Lachen als das, zu welchem uns Possierlichkeit, Anmut und Witz junger Tiere animieren.

Für tote Hunde und Katzen mußt du nicht beten. Ihnen ist, falls es ein solches geben sollte, das Paradies sicher.

Für Mimosa

Abendwolken. Die metaphysischen Durst weckenden roten Wolkenvögel, die nur abends fliegen, wenn meine Kräfte versiegt sind wie ein Gewässer, aus dem zu viele tranken. Zugleich bewirkt der Anblick der lilaroten Vögel einen dem Taufall verwandten Vorgang: die Halme scheinen erfrischt, die Wurzel darbt. Im Versuch, die müden Glieder zu dehnen, greifen mir die raumgewinnenden Wolkenflügel ein Atemholenlang unter die Arme.

Da die Zipfel einer Wolke den obern Teil der nicht mehr ganz vollen Scheibe überlappten, glich der Mond in jener Novembernacht einer Krone. Das leuchtende Relikt konnte auch als Seerose gesehen werden. Eine Wolke zerschnitt sie: auf meiner Bettdecke lagen zwei gelbe Blätter. Fenster und Vorfenster irisierten. Als die Blumenkrone sich freigeschwommen hatte und, am Rand des Vordachs zögernd, wieder der abnehmende Mond war, schimmerten die Lichtblätter matter, blieben aber, obwohl das Gestirn hinterm Dach verschwunden war, zu meinem Erstaunen – wachte ich, schlief ich? – noch eine unbestimmt kurze Weile auf der Decke liegen und gehörten zu jenen Dingen, die nicht berührt werden wollen.

Nachdem man raschen Schrittes auf Sichtbares zuging, geht man mit langsamen kleinen Schritten auf Unsichtbares zu: schwarzes Loch oder transzendentes Licht? Auch der physische Tod ist ein astronomischer Vorgang.

Der Schnee, von dem ich erzähle, ist nicht der Touristen- und Sportler-, Lawinen- und Pistenschnee. Die Rede ist von der Saaten und Wurzeln schützenden Decke des bäuerlichen Winters, vom Leben hegenden Flaum, an den wir uns erinnern, wenn wir der Schneefrühen unserer Kindheit gedenken.

Reden vom Schnee schließt Schweigen mit ein, Stille, in der wir die Flocken fallen hören, die fernläutenden des Erinnerns und die größern, langsamen des Vergessens. Vieles würde für immer zugeschneit, erinnerte sich nicht das schriftliche Wort.

10. Dez. 94

Advent. Ankunft. Wachgehalten vom ruhlos klagenden, quengelnden Nachtwind, der den Anbruch einer neuen Jahreszeit einleitet, erinnern wir uns eines gewissen Briefes, eines bestimmten Fotos. Vom Halbvergessen, Nicht-mehr-dran-Denken verschattete Bezirke erhellen sich, denn fast jede uns persönlich zugedachte schriftliche Botschaft, jedes uns geschenkte Bild hatte einst ein Ambiente. Es bezeugte das (damals) Gemeinsame. Daß es ein Gemeinsames auf Zeit war, ahnte man nicht.

In der langen Dezembernacht stellt sich das Umfeld wieder her. Als hätte das einst Verbindliche, das Unauflösliche, wie es schien, sich erhalten, unverletzt von Ressentiments, strahlungskräftig, isoliert unerreichbar vom Vergessen, das abräumt, um Platz für Neues zu schaffen. – Geologie des menschlichen Wesens. Nunatak, Einschlüsse, Schichten, Höhlen, Grundwasser, Ströme, Moränen, Sedimente, Versteinerungen, Kristalle, Uran. Neue und alte Gesteine, Feen- und Totenreiche, Goldadern, Eruptivgestein, Sickerwasser, Brackwasser, Wadis, Karrenfelder, Schluchten, Schollen, Gletschereis, Spalten; Kreide, Salz, Torf und Kohle und Edelsteine; usf. In Sachbezeichnungen für die Physis der Erde erkennt sich, metaphorisch, die menschliche Psyche.

»Die gehört mir«, sagte der junge Friedhofgärtner nach dem Besuch bei seiner alten Großtante. »Die weiße Nase gefällt mir nicht.« – Ein paar Tage später hob er ihr Grab aus.

Die Geschichte hätte auch anders verlaufen können. Sieht (fühlt) ein Friedhofgärtner sich als König seines Totengartens? Hades? Von ihm hatte, dafür steh ich ein, der Betreffende noch nie was gehört. – Mythen erneuern sich de profundo. Der »einfache« Mensch lebt sie, tradiert sie, nicht bewußt ihrer Herkunft und kontinuierlichen Existenz.