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Zum Buch

Als ihre Eltern bei einem Feuer auf dem Kreuzfahrtschiff Lakonia ums Leben kommen, gerät die Welt der 19-jährigen Judith aus den Fugen. Um dem Schmerz zu entkommen und zugleich um der Vergangenheit der Eltern nachzuspüren, tritt sie einen Sommerjob in Spanien an. Hier, als Fremde, stürzt sie sich in den Exzess: Sie feiert die Nächte durch, hat zahllose Affären mit Männern. Doch Judith spürt schon bald, dass sie vor der Realität nicht fliehen kann – auch nicht davor, dass sie sich von Frauen angezogen fühlt … Die wahre Geschichte einer Reise, die am Ende vor allem zur eigenen Person führt, sensibel und humorvoll erzählt.

Zur Autorin

Judith Barrington wurde 1944 in Brighton geboren und lebt seit 1976 als Dichterin, Biografin und Buchkritikerin in Portland, Oregon. Sie hat drei Gedichtbände veröffentlicht sowie das vielgepriesene Sachbuch »Erinnerungen und Autobiografie schreiben« (2004). Ihr Erinnerungsband »Wiederbelebung« (»Lifesaving«, 2000) wurde mit dem Lambda Literary Award ausgezeichnet und war auf der Shortlist des PEN/Martha Albrand Award for the Art of the Memoir.

Judith Barrington

Wiederbelebung

Erinnerungen

Aus dem Englischen von Ebba D. Drolshagen

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Band 22 der image

Deutsche Erstausgabe 2014

© 2014 image
Verlag Silke Weniger, Gräfelfing/Hamburg
herausgegeben von Karen Nölle

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Übersetzung: Ebba Drolshagen

Titel der Originalausgabe Lifesaving: A Memoir, erschienen 2000 bei
Eighth Mountain Press, Portland, Oregon, USA

© 2000 Judith Barrington
© Nachwort Ebba Drolshagen

Lektorat Sophia Jungmann
Gestaltung und Satz Kathleen Bernsdorf, Berlin

www.editionfuenf.de

Prolog

Nabelschnur

Erster Teil

Kein Entkommen

Die Straße nach Perelada

Initiation

Pacos Mutter

Señor Serras Romanze

Ausatmen

Traumzeit

Männergeschichten

El Cordobés

Der große Regen

Zweiter Teil

Wellen schlagen

Steine

Epilog

Leben retten

Danksagung

Nachwort

Prolog

Nabelschnur

Ich war ungefähr zwölf Jahre alt, als mein Vater, meine Mutter und ich an der Segelregatta von Shoreham nach Littlehampton teilnahmen. Ich bin diese Regatta mehrmals gesegelt, hier aber geht es um das einzige Mal, als meine Mutter mitkam – jenes Mal, das zu einer regelrechten Familienlegende wurde.

Meiner Meinung nach handelt diese Geschichte von der panischen Angst, die meine Mutter zeit ihres Lebens vor dem Meer hatte, und der Sturheit meines Vaters. Vielleicht auch von dem absurden Würdebegriff der britischen Mittelschicht, vor allem dem ihrer männlichen Vertreter, demzufolge man stets und um jeden Preis das Gesicht wahren muss. Die Geschichte mag sich tatsächlich um genau diesen Preis drehen, den manche von uns zahlen mussten, um ebenjenes Gesicht zu wahren. Sie mag auch von der lebenslangen Sehnsucht eines Kindes handeln, seine Mutter zu retten. Aber wenn ich jetzt zu erzählen beginne, was an jenem Tag der Regatta geschah, dann handelt meine Erzählung nicht zuletzt davon, wie Mythen entstehen und wie unzuverlässig Erinnerungen sind. Erinnerungen, die im Schatten von Mythen verborgen liegen, kurz davor, im Dunkeln zu verschwinden.

Es hätte eine einfache Tagestour werden sollen: vom Jachtclub direkt den Fluss hinunter, durch den Hafen, wo schon die Dünung des Meeres zu spüren war, vorbei an Hafenmauer, Startlinie und Startschussanlage, und dann auf gerader Strecke westwärts nach Littlehampton. Aber die Schwierigkeiten begannen schon am frühen Morgen, noch bevor wir das Boot von unserem Liegeplatz in die Flussströmung manövriert hatten. Meine Mutter war ungewöhnlich still, sie hatte große Angst, seekrank zu werden. Als mein Vater und ich ihr vom Steg in das kleine Schlauchboot hinabhalfen, um zum Segelboot hinauszurudern, missachtete sie unsere Anweisungen. Statt auf die Bodenbretter trat sie fest auf den blauen Kunststoff, woraufhin das Schlauchboot sich um ihre Beine zusammenfaltete und mit ihr in den Schlamm sank.

Sie fuhr nach Hause, um sich umzuziehen, und ich fragte mich, ob sie wiederkommen würde. Sie hatte seit Tagen über die Regatta geklagt, eine lange Liste von Dingen heruntergebetet, die sie erledigen müsse, und gesagt, es sei wirklich albern, all diese Mühen auf sich zu nehmen, nur um ein paar Meilen an einer geraden Küste entlangzusegeln. Außerdem, so betonte sie mehrfach, würde niemand, der noch recht bei Trost war, nach Littlehampton fahren, um dort zu übernachten. Ich wusste, dass hinter alledem echte Panik steckte; ich wusste es, weil sie mir einmal gesagt hatte, dass sie ganz sicher sei, sie werde eines Tages auf See sterben, und ich hatte ihr geglaubt. Ich weiß nicht mehr, wo oder unter welchen Umständen sie mir dieses entscheidende Detail erzählt hat, aber ich erinnere mich gut an spätere Hinweise auf den Wahrheitsgehalt, den diese Aussage für sie barg: dass sie das Kino verlassen musste, sobald stürmische See gezeigt wurde; wie sie selbst bei den ruhigsten Fährfahrten zwischen Dover und Calais immer totenbleich wurde. Ich hätte ihr deshalb kaum Vorwürfe gemacht, wenn sie den Zwischenfall mit dem Schlauchboot als Entschuldigung benutzt hätte, um nicht an der Littlehampton-Regatta teilzunehmen, aber eine Art Ehrgefühl, möglicherweise auch eine unausgesprochene Drohung vonseiten meines Vaters, ließen sie eine Stunde später zurückkehren, und wir konnten gerade noch rechtzeitig für den Start der Regatta ablegen.

Während wir unter Motor den Fluss hinuntertuckerten und der Benzingeruch vom Innenbordmotor aufstieg, konnte ich zusehen, wie meine Mutter immer bleicher wurde. Ich drehte mich weg und versuchte dabei, das grelle Gelb zu ignorieren, in dem mein Vater das 28-Fuß-Boot gestrichen und das er darüber hinaus Guapa getauft hatte, spanisch für schön. Ich fand dieses Gelb überhaupt nicht schön, ich war für Nachtblau gewesen, meine damalige Lieblingsfarbe. Meine Mutter, die erdliebende Gärtnerin, hatte für Grün votiert. Mein Vater aber, der unbedingt mit seinen kümmerlichen nautischen Kenntnissen prahlen musste, beharrte auf Gelb. Diese Farbe, sagte er, falle auf dem Meer am meisten auf, daher auch gelbe Schwimmwesten. In jener Phase des Hasses auf meinen Vater – eine Phase, die sehr lange andauerte – starrte ich den gleißend gelben Anstrich an und fand ihn einfach nur peinlich. Allerdings fand ich damals im Grunde alles peinlich, vor allem, wenn ich mit meinen Eltern zusammen war. Wenn Gelb am sichersten war, hätten doch alle Jachten gelb gestrichen sein müssen, aber keine war es, weder im Jachtclub noch auf dem Fluss. Niemand sonst war idiotisch genug, auf einem schwimmenden Eidotter herumzusegeln.

Sobald wir die Hafenmauer hinter uns gelassen hatten, setzten wir die Segel und nahmen Kurs auf Worthing. Wenig später flaute der Wind ab, also holten wir das Vorsegel ein und zogen die größere Genua auf, um mit den schnittigeren Jachten mithalten zu können, die ihre Spinnaker setzten. Ohne den Lärm und den Gestank des Motors war meine Mutter etwas munterer, blieb aber weiterhin reglos neben meinem Vater sitzen, der das Ruder hielt und entschlossen nach vorn blickte. Wenn ich nicht gerade angebrüllt wurde, ein bestimmtes Segel zu reffen oder eine Wende vorzubereiten, lag ich auf dem Kajütendach und schaute am Mast vorbei zum dicht bewölkten Himmel hinauf, in dem hin und wieder ein blaues Fleckchen aufblitzte. In einiger Entfernung ragte schon die Pier von Worthing ins Meer, wo, noch allerdings nicht zu sehen, Touristen am glänzenden Wasser entlangpromenierten, klebrige rosa Zuckerwatte in den Händen, und alte Leute, die den überwiegenden Teil von Worthings Bevölkerung stellten, Ellbogen an Ellbogen in gestreiften Liegestühlen saßen. Auf unserem Boot gab es dagegen nur die Segel, die rhythmisch gegen den Metallmast schlugen, das dunkelgrüne Wasser, das gelegentlich an die Bordwand schmatzte, das Kreischen der Möwen, die unablässig ans Schiff heranflogen und sich wieder abfallen ließen.

Etwas später ging ich in die Kajüte, um einen Pullover überzuziehen. Die Wolken schienen jetzt tiefer zu hängen, mein Vater klopfte auf seinen neuen Kompass mit kardanischer Aufhängung. Als ich wieder nach oben kam, herrschte um uns herum dichter Nebel: von der Pier keine Spur. Ich blickte zum Strand hinüber, er war ebenso verschwunden wie der Wind. Wassertropfen setzten sich auf mein Haar, als mein Vater den Motor startete und ein wenig aufs Meer hinaustuckerte. »Um die Pier machen wir einen schönen großen Bogen«, sagte er. Meine Mutter saß stocksteif da, die Hände verkrampft, und schwieg.

Eine Stunde später saß ich auf dem Bug und aß Kartoffelchips aus der Tüte, nachdem ich begriffen hatte, dass meine Mutter, die langsam grünlich wurde, sie nicht in ihrer Nähe haben wollte. Das Meer war fast glatt und der Nebel inzwischen so dicht, dass sogar mein Vater am Ruder zu verschwimmen begann. In mir brodelte regelrechter Hass auf, als der Motor gleichmäßig tuckerte und mein Vater laufend fröhliche Kommentare abgab: »Ein Glück, dass ich so viel Benzin mitgenommen habe« oder »Bei diesem Tempo kann es nicht lang dauern«. Ab und zu beugte er sich über den neuen Kompass, drehte oder studierte ihn mit seitlich geneigtem Kopf. Ich wusste genau, dass er keine Ahnung hatte, wie er funktionierte.

Weil wir unser Vorankommen nicht am Land abschätzen konnten und das ruhige Wasser auf unsere Vorwärtsbewegung kaum reagierte, hatten wir bald das Gefühl, uns gar nicht zu bewegen. Gerade als es den Anschein hatte, wir würden ewig nur auf ein und derselben Stelle herumtuckern, gab es einen erheblichen Ruck, gefolgt von einer unverkennbaren Vorwärtsdrehung. Wir waren auf einen Felsen aufgelaufen.

»Was war das? Was ist passiert?«, piepste meine Mutter mit einer Stimme, die sie kaum unter Kontrolle hatte.

»Wir sind auf einen Felsen aufgelaufen«, antwortete mein Vater, nachdem er den Motor abgestellt hatte. »Wir sind auf einen Felsen aufgelaufen.«

»Das weiß ich«, sagte meine Mutter in jenem scharfen Ton, der, wie ich wusste, ihre Panik kaschierte. »Selbst nach diesem grauenhaften Morgen habe ich den Verstand noch nicht ganz verloren. Ich will wissen, was du jetzt zu tun gedenkst.«

Mein Vater wirkte nervös. Er stand auf, setzte sich wieder. Schließlich aber stand er mit dem Gestus der Entschlossenheit auf und straffte gleichsam den ganzen Körper, wie er es zu tun pflegte, wenn er etwas Bedeutendes in Angriff zu nehmen gedachte. Er stieg in die Kajüte hinab und breitete auf dem Tisch eine Seekarte aus. »Ich versuche, den Felsen zu finden«, rief er uns zu, als wir ungläubig hinunterspähten.

»Nun sei nicht albern, Rex«, fauchte meine Mutter. »Was soll das bringen. Es ist offensichtlich ein Felsen, und wir sitzen offensichtlich darauf fest. Es ist egal, wo er ist. Sieh zu, dass du uns freibekommst.« Einen Augenblick lang zitterte ihr Kinn, als würde sie gleich weinen. Das hatte ich in meinem Leben erst zwei Mal zuvor gesehen. Mein Vater bekam davon nichts mit.

»Also«, sagte mein Vater, »wenn es nicht noch ebbt, können wir es vielleicht freiziehen.« Er holte das Beiboot heraus, faltete es wieder aus, befestigte es an einem langen Tau und legte den Anker hinein. Dann sagte er, ich solle hineinsteigen und vom Heck wegrudern, bis er mir Bescheid gebe, dass ich anhalten und den Anker ins Wasser werfen solle.

Keine drei Meter vom Boot entfernt hatte mich der Nebel völlig verschluckt. Ich war in meiner eigenen grauen Welt, losgelöst von allem, abgesehen von dem Tau, das sich wie eine lange Nabelschnur zu den Stimmen meiner Eltern hin streckte, die auf einmal bedenklich laut wurden. »Du holst sie augenblicklich zurück«, sagte meine Mutter, unter die Wut in ihrer Stimme mischte sich ein leichtes Zittern. »Hörst du, ich dulde das nicht!« Kurz darauf begann auch mein Vater zu schreien. »Herrgott, Violet, jetzt werde nicht hysterisch. Das Mädchen ist in absoluter Sicherheit, siehst du nicht, dass sie an diesem Tau hängt?«

Ich ruderte stetig weiter und fragte mich, ob ich träumte, ob ich jemals zur Jacht zurückkehren müsste oder ob ich hier, auf diesem watteweichen Fleckchen, nicht einfach sitzen bleiben könnte, bis die Stimmen verebbten. In einem Anflug von wütender Schadenfreude konstatierte ich, dass ich die Guapa trotz ihres gelben Anstrichs im Nebel nicht sehen konnte. So viel dazu! Ich glitt gerade in einen angenehmen Schwebezustand zurück, da rief mein Vater mir zu, ich solle den Anker werfen.

Als ich wieder sicher an Bord war, warf er den Motor an und legte den Rückwärtsgang ein, während wir alle drei am Ankertau zogen, um die Guapa von ihrem felsigen Untergrund zu befreien. Sie bewegte sich keinen Millimeter. »Ich schätze, das Wasser läuft noch ab«, sagte er. »Wir müssen hier warten, bis die Flut kommt und uns anhebt.«

»Und wann genau wird das sein?«, wollte meine Mutter wissen.

»Ach, in ein paar Stunden«, sagte er leichthin.

Meine Mutter und ich sahen uns an. Er hatte offensichtlich keine Ahnung.

Sieben Jahre später ertranken meine Eltern. Diesmal war es nicht eindeutig mein Vater, der die Sache vermasselte, außer man möchte es Vermasseln nennen, wenn jemand einen Menschen zu einer Kreuzfahrt überredet, ja nötigt, der das Meer panisch fürchtet. Denn es war schließlich der Schiffseigner, der es mit der vorgeschriebenen Sicherheitsinspektion nicht so genau nahm und das Kreuzfahrtschiff Lakonia mit einer Neuverkabelung in See stechen ließ, die später einen Brand auslöste; es war die Schiffsbesatzung, die in Panik geriet und mehrere voll besetzte Rettungsboote so zu Wasser ließ, dass sie kenterten, es war der Kapitän des Schiffes, der zuließ, dass die verbleibenden Rettungsbote nur halb gefüllt herabgelassen wurden. Trotz alledem konnten 905 Passagiere gerettet werden, wobei meine Eltern zu den nur 131 Menschen gehörten, die ertranken. Hier gab es durchaus Spielraum für Vermasseln, und ich fragte mich immer wieder: War es einfach Zufall gewesen, oder mussten in den Momenten davor weitreichende Entscheidungen getroffen werden? Hatten sich meine Eltern gestritten? – Ich konnte mir leicht vorstellen, dass sich meine Mutter schlichtweg weigerte, in ein Rettungsboot zu steigen, nachdem sie die Schreie derer gehört hatte, die ins Meer gestürzt waren. Und hatte mein Vater so getan, als wüsste er, was er tat, bis zum bitteren Ende, bis sie schließlich keine andere Wahl mehr hatten, als über eine Leiter von dem brennenden Schiff hinab ins Meer zu steigen?

Ich weiß zu wenig, um erzählen zu können, was auf diesem Kreuzfahrtschiff passierte, darum erzähle ich lieber die andere Geschichte weiter, die lustige. Diese Geschichte ist von so vielen meiner Verwandten so oft erzählt worden, dass alle Fakten klar, allerdings nicht unbedingt korrekt sind. Doch obwohl die Geschichte so oft erzählt und wiedererzählt wurde, dass sie einem wirklichen Erinnern völlig entrückt ist, spüre ich immer noch den klammen Nebel auf dem Gesicht, sehe die Wassertropfen an der gelben Farbe herunterlaufen. Und selbst wenn ich dazu meine Phantasie bemühen muss, kann ich auch meine Eltern sehen: Pa mit der blauen Baskenmütze, mit der er auf geradezu absurde Weise weder einem französischen Fischer noch einen Maler ähnelte; er sah vielmehr aus, als müsste er eigentlich einen jener blauen Blazer mit Messingknöpfen tragen, den alle Hobbysegler trugen – jedenfalls die, die in meiner Vorstellung gerade in Littlehampton Whiskey tranken, während wir irgendwo vor der Südküste Englands auf unserem Felsen festsaßen. Und meine Mutter? Ich erinnere mich an die massige Erscheinung ihres zusammengekauerten Körpers, ihren angespannten Blick, der die Stirn zwischen den Augenbrauen furchte. Diese Furche wurde umso tiefer, als wir die ersten Nebelhörner großer Schiffe hörten. Ich erinnere mich an die körperliche Gestalt, die ihre Besorgnis annahm, eine Besorgnis, die in meiner Magengrube immer ein Gefühl der Panik und den Wunsch auslöste, sie vor allem zu retten.

Was ich nicht in den Fokus bekomme, ist die Tochter. Die Zwölfjährige mit mürrischem Gesichtsausdruck, die ihre Füße provokant über das körnige Kajütendach zieht, als man sie bittet, zum Bug zu gehen und Ausschau zu halten. Sie kann nicht nur von schlichtem Hass auf ihren Vater angetrieben gewesen sein, aber nur an ihn erinnere ich mich. Es muss damals noch etwas anderes gegeben haben, aber trotzdem ist dieser Zorn alles, was haftengeblieben ist – die einzige Erinnerung, die auch sieben Jahre später noch existierte, als der Vater die Mutter erneut mit aufs Meer nahm. Und die Tochter nicht dabei war, um jemanden zu retten.

Die Nebelhörner zerrten wirklich an den Nerven. Wir alle wussten, dass der Ärmelkanal von bedeutenden Schifffahrtswegen durchzogen war. Meine Mutter und ich waren absolut sicher, dass mein Vater von der Bedienung des Kompasses keine Ahnung hatte, und uns war klar, dass wir möglicherweise aufs offene Meer hinausgetrieben waren, nachdem wir das Ufer aus dem Blick verloren hatten. Der Gedanke an den Bug eines Öltankers, der plötzlich wie eine Wand aus dem Nebel auftauchte und uns zerquetschte, ließ sich nur schwer verdrängen. Unser einziger Trost war tatsächlich der Felsen. »Alle Schiffe kennen diesen Felsen, da gibt es keinen Zweifel«, sagte mein Vater, als er unsere Angst schließlich begriff. »Die machen einen großen Bogen um uns.«

»Vorausgesetzt, sie wissen, wie ihr Kompass funktioniert«, murmelte ich leise.

Meine Mutter und ich versuchten es mit Spielen. »Ich sehe was, was du nicht siehst« war allerdings kein Erfolg, wir sahen ja nichts außer der kleinen Schüssel, auf der wir nach wie vor saßen, da wir keinesfalls unter Deck gehen und die Illusion aufgeben wollten, dass wir an unserem Schicksal mitwirkten. Aber auch das gute alte Spiel »Zwanzig Fragen« ging zäh voran und endete schließlich, als wir uns nicht einigen konnten, ob der Felsen unter unserem Kiel wohl mineralisch war, wie meine Mutter meinte, oder tierisch, entsprechend meiner doch sehr unwahrscheinlichen Behauptung, es könne sich um ein Korallenriff oder einen Berg Muschelschalen handeln. Eine Zeit lang trommelten wir den Rhythmus von Musicalliedern, was aber meinem Vater, der so unmusikalisch war wie nur möglich, stark auf die Nerven ging. Als ich auf dem Kajütendach eine gelungene zweihändige Interpretation von The Surrey with the Fringe on Top hinlegte, polterte er schließlich: »Jetzt hör mit diesem Krach auf, Judith. Ich versuche zu hören, ob die Flut schon zurückkommt«. Also hörte ich auf, ging unter Deck und las in dem fleckigen Sherlock Holmes, der seit meiner ersten Nacht auf der Guapa in einem der Schränke lag.

Dort unten las ich, als ich irgendwann meine Mutter mit angespannter Stimme sagen hörte: »Was ist das?«

»Was ist was?«, fragte mein Vater. »Wo?«

»Da. Da drüben. Rechts vom Mast. Siehst du das nicht?«

Ich kletterte die Treppe hoch und starrte in den Nebel. Da war wirklich etwas Verschwommenes zu sehen; vielleicht eine Möwe, aber es bewegte sich kaum. Ich fokussierte es wie ein Objekt, das zwanzig oder dreißig Meter entfernt war, aber es schien weder ein Schiff noch ein Segelboot zu sein. Eine Markierungsboje vielleicht?

Plötzlich und sehr zu unserem Schrecken sortierte sich das dunkle Etwas zu einer menschlichen Gestalt. Ein Hund kam bellend aus dem weißen Nichts gerannt. Keine sechs Meter von uns entfernt ging dort ein Mann auf weichem Sand mit seinem Hund spazieren. Uns allen, sogar meinem Vater, verschlug es eine Minute lang die Sprache. Dann winkte der Mann und rief gut gelaunt: »Ahoi!«

Mein Vater sammelte sich rasch. »Guten Tag«, sagte er, fast in Habachtstellung. »Könnten Sie uns freundlicherweise sagen, wo wir sind? Dieser Nebel hat uns etwas durcheinandergebracht, Sie verstehen.«

»O je«, sagte der Mann. »Dies ist der Strand von Angmering. Sie wissen, wo das ist?«

»Selbstverständlich«, sagte mein Vater. »Aber wo genau liegt Littlehampton?«

An diesem Punkt hätte ich eigentlich laut losprusten müssen. Vielleicht tat ich es auch, vielleicht gluckste sogar meine Mutter in den Kragen ihres Regenmantels. Das ist das Problem mit der Erinnerung. Die lachende Zwölfjährige, der die Absurdität ihres Vaters möglicherweise gar gefiel, ist der wütenden Tochter des sturen Vaters gewichen. Die immer wieder erzählte Geschichte – oder vielleicht die nie erzählte spätere Geschichte – hat die echten Erinnerungen geschluckt.

»Nun«, sagte der Mann freundlich, »es liegt geradeaus in diese Richtung«, und er deutete in die Richtung, aus der er gekommen war. »Aber ich vermute, es wird noch ein paar Stunden dauern, bis Sie genug Wasser unter dem Kiel haben, um freizukommen. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«

»Nein, nein, vielen Dank, sehr freundlich«, sagte mein Vater. »Alles bestens. Aber schon sehr lästig, dieser Nebel.« Und der Mann schlenderte daraufhin in sein Leben zurück, das ihn vermutlich nur wenige Meter jenseits unserer Sichtweite erwartete.

Wir verbrachten schließlich die Nacht an Bord der Guapa, und zwar ankerten wir an der Hafeneinfahrt von Littlehampton, weil es zu dunkel und zu neblig war, um die Bojen zu erkennen, die uns die Fahrrinne zwischen den Sandbänken angezeigt hätten. Wir waren tatsächlich mit der Flut von dem Felsen freigekommen und hatten festgestellt, dass unser Rumpf keinen Schaden genommen hatte. Trotzdem war nun der Versuch, dort draußen zu schlafen, mit all den klagenden Nebelhörnern und einer Nacht, die so langsam dahinkroch, als dauerte sie die ganzen Sommerferien, noch viel schlimmer, als auf dem Felsen festzusitzen. Wir waren nun viel näher an den großen Schifffahrtsrouten, als wir es am Strand von Angmering gewesen waren.

Mein Vater schlief. Tatsächlich schnarchte er fast die ganze Nacht. Wenn er nicht schlief, lag er auf dem Rücken, einen Arm unter den Kopf geschoben, und schien nachzudenken. Würde es mir heute helfen, wenn ich wüsste, was er damals dachte? Würde es die Wut zerstreuen oder nur weiter anfachen? Würde es dabei helfen, die zweite Geschichte zusammenzufügen – die Geschichte des anderen Schiffs, der Lakonia, in jener anderen dunklen Nacht?

Meine Mutter lag ruhig, schlief aber nicht, und vielleicht waren ihre Gedanken bereits eine Generalprobe für das große Ereignis. Sieben Jahre später, irgendwo nördlich der Kanarischen Inseln, würde sie erneut zu viel Zeit zum Warten und Nachdenken haben, um sie herum nichts als der Ozean, von dem sie immer gewusst hatte, dass er sie am Ende holen würde.

Und ich? Was war mit mir? Ich erinnere mich an einige Fakten – dass mein Vater an keiner Stelle zu meiner Mutter sagte: »Mach dir keine Sorgen«, außer mit einer Gereiztheit, die eigentlich »Halt endlich die Klappe« bedeutete; dass meine Mutter kein einziges Mal den Arm um mich legte. Niemand räumte ein, dass wir in Gefahr waren. Niemand gestand seine Angst ein. Niemand gab zu erkennen, dass es ungewöhnlich war, irgendwo vor dem Hafen von Littlehampton zu übernachten. Gefühle aber sind flüchtiger als Fakten. So schwierig es ist, heute noch die Zwölfjährige zu sehen, die auf ihrer Koje die Knie eng umschlungen hält oder aus dem Bullauge auf das silbrige Wasser blickt, so sicher weiß ich, dass sie sich damals wünschte, sie könne etwas Heldenhaftes tun, um ihre Mutter zu retten. Normalerweise kannte sie solche Impulse nur in Abwesenheit ihres Vaters, und hier war er alles andere als abwesend. Er müsste hier der Held sein, dachte sie. Es war fraglos seine Aufgabe, ihre Mutter zu retten; und wenn man bedenkt, dass sie, nachdem der Tag klar und sonnig angebrochen war, in den Hafen einliefen, nur um dort festzustellen, dass alle anderen nach Hause gesegelt waren, aufgegeben und somit ihnen den Regattasieg überlassen hatten, und dass sie dort eins der besten Frühstücke ihres Lebens bekamen, nun, dann musste sie zugeben, dass er, dank schieren Glücks, seine Aufgabe erfüllt hatte. Dieses Mal.

Aber als sieben Jahre später jemand – und in ihrem tiefsten Inneren wusste sie einfach, dass dieser Jemand ihr Vater war – es wirklich vermasselte, als es weder in Littlehampton noch sonstwo Frühstück gab, da wusste die Zwölfjährige, die inzwischen eine Neunzehnjährige war, dass es doch von jeher ihre Aufgabe gewesen war. Sie hätte da sein müssen, daran hatte sie nicht den geringsten Zweifel.

Erster Teil

Kein Entkommen

Hubschrauber kreisten über dem Schiff, aber angesichts der Hitze und der dichten Rauchschwaden konnten sie nicht tief genug gehen, um jene hochzuziehen, die nach Ablegen aller Rettungsboote noch an Bord des Dampfers festsaßen. Rundum versammelte sich eine ganze Flotte von Schiffen, aber auch sie musste Distanz halten, weil das Wasser von Menschen wimmelte, die in lecken Booten herumtrieben, sich an Möbelstücke klammerten oder in Rettungswesten zwischen verkohlten Wrackteilen schwammen. Die Welt sah Fernsehbilder des Schiffs, dessen Rauchwolke wie ein Leichentuch über den Atlantik wehte, bis schließlich kurz vor Morgengrauen alle an Bord verbliebenen Passagiere über eine Strickleiter ins Meer hinabstiegen. Ein Schiff der britischen Marine barg die Leichen meiner Eltern, sie wurden nach Gibraltar gebracht und dort zusammen mit etwa einem Duzend weiterer britischer und deutscher Passagiere beigesetzt.

Einige Monate davor, im Herbst 1963, war ich von zu Hause ausgezogen in eine riesige Wohnung in Kensington, die ich mit drei anderen jungen Frauen teilte. Trotzdem fuhr ich fast jedes Wochenende nach Hause, und im Gepäck hatte ich neben meiner schmutzigen Wäsche auch diverse Geschichten über meine neue Stelle bei der BBC und einen explosionsartig wachsenden Kreis von Bekannten, die ich als Freunde bezeichnete. Ich spielte unabhängig sein, ein Spiel, das ich mit neunzehn noch nicht wirklich gut beherrschte, und meine Eltern schienen willens, mir Zeit zu lassen. Sie halfen mir aus der Klemme, wenn ich pleite war; sie holten mich Freitagabend vom Bahnhof ab und fuhren mich Sonntagabend wieder hin. Ich kehrte nach London zurück, erholt nach einem Wochenende mit viel Schlaf und richtigen Mahlzeiten – beides Seltenheiten in der Kensingtoner Wohnung.

Mein Bruder und meine Schwester, fünfzehn und elf Jahre älter als ich, hatten die Familienbande, auf die ich mich noch verließ, schon lange gekappt. Beide waren verheiratet und hatten kleine Kinder, und hin und wieder statteten sie meinen Eltern in Brighton einen Sonntagsbesuch ab, aber die zwei Familien kamen selten gleichzeitig. Große Familientreffen waren nicht unsere Sache, ich vermute, dass niemand allzu lange so viele kleine Kinder unter einem Dach haben wollte.

In jenem Winter hatte es Streit um die Frage gegeben, wo wir Weihnachten feiern sollten. Bisher hatte immer meine Mutter zu Truthahn und Christmas Pudding eingeladen, in jenem Jahr aber protestierte meine Schwester Ruth, oder vielleicht war es auch mein Bruder John, ich weiß es nicht mehr, dagegen, dass wir uns wieder bei unseren Eltern trafen. Es gab eine Reihe angespannter Telefongespräche, und schließlich verkündeten meine Eltern mit deutlich trotzigem Unterton, dass sie über Weihnachten verreisen würden (und also niemand auf sie Rücksicht nehmen müsse). Mir persönlich war das ziemlich egal. Der Dezember quoll förmlich über vor Partyeinladungen, einige von Leuten, deren Namen ich nicht einmal kannte, und ich wollte einfach so lange wie irgend möglich in London bleiben. So saß ich auch an Heiligabend in der Regent Street beim Friseur, als John mich aufspürte. Er rief an, um mir mitzuteilen, dass das Schiff in Flammen stehe.

Später fiel mir wieder ein, dass ich die Nachricht schon gelesen hatte, als ich auf dem Weg zu meinem Friseurtermin die Piccadilly entlanghetzte: »Kreuzfahrtschiff Lakonia in Flammen!« war auf die Reklametafeln der Evening Standard-Verkäufer gekritzelt, die die Information zudem im gelangweilten Singsang eines tausendmal wiederholten Slogans riefen. Ich hatte dem keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt, ich wusste ja nicht einmal, wie das Schiff hieß, das meine Eltern gebucht hatten.

»Welches Schiff?«, fragte ich deshalb dämlich.

»Das Kreuzfahrtschiff«, sagte er. Ich stand an der Theke des Friseursalons und blickte auf eine Vitrine voller Haarspraydosen. »Auf dem Ma und Pa sind. Komm heute Abend her, die anderen sind schon unterwegs.«

Wir verständigten uns darauf, einmal pro Stunde die Nummer der Greek Line anzurufen, wofür wir der Reihe nach in das stickige Kämmerchen unter der Treppe gingen, um die Tonbandaufnahme der Namen anzuhören. Derer, die man lebend aus dem Meer gezogen hatte. Und derer, die tot geborgen und identifiziert worden waren. Unter der Schräge, an die mit Bleistift Telefonnummern von Babysittern und Handwerkern gekritzelt waren, stand ich nun am kühlen Nachmittag in meinem ausgeleierten blauen Pullover und nachts im Flanell-Pyjama. Das Band begann nicht immer bei A: Sobald die Verbindung hergestellt war, kam man in das laufende Band hinein. Manchmal war es gerade bei C oder D, dann mussten wir das ganze Band bis B anhören, nur um herauszufinden, dass seit unserem letzten Anruf weder mein Vater noch meine Mutter hinzugefügt worden waren. In den Stunden dazwischen veranstalteten wir für die Kinder Weihnachten: Geschenke unterm Baum, Truthahn und Christmas Pudding, abends am 26. eine Weihnachtspantomime (vermutlich Dick Whittington und seine Katze), und während all dessen lief uns Erwachsenen unablässig die alphabetische Liste durch den Kopf, wie ein Mantra. Wenn wir zu den Nachrichten zusammenkamen und hörten, dass Unmengen schwarzen Rauchs aus dem Schiff quollen, witzelten wir, dass unser Vater, wenn es sonst nichts gab, ein Floß bauen würde. Einmal rief meine Schwester die Putzfrau meiner Eltern an und trug ihr auf, Decken zum Aufwärmen in den Trockenschrank zu legen.

An einem dieser Tage stand ich am Fenster des Gästezimmers und blickte auf den reifbedeckten Rasen, wo Spatzen sich um Kuchenreste zankten. Ich hörte die Tür aufgehen, John kam herein. Ich hörte, wie er sich räusperte und sagte: »Sie haben Pa gefunden. Ihn geborgen. Er ist tot.« Dann hörte ich, wie die Tür ins Schloss gezogen wurde, und wartete darauf, dass er zu mir kam. Ich fühlte mich kalt und weiß wie der Reif, aber irgendwo in mir flackerte etwas Warmes für meinen Bruder, ich sehnte mich danach, dass er bei mir war. Ich wollte mich an ihn lehnen. Mein Kopf sollte seine Schulter berühren.

Wenig später drehte ich mich um. Der Raum war leer. Das Geräusch der Tür, die sich schloss, war das Geräusch von John gewesen, der ging. Ich komme schon klar, hätte ich sicher gedacht, wenn Denken möglich gewesen wäre. Ich kann allein auf mich aufpassen. Aber mein Gehirn war eisig, und der kleine warme Fleck in mir erfroren.

Nach den Feiertagen kehrte ich in meine Wohnung und zu meiner Arbeit zurück. Es gab immer noch keine Nachricht von meiner Mutter, obwohl man viele Leichen geborgen hatte, die noch nicht identifiziert waren. Dabei handelte es sich vor allem um Frauen, die meisten Männer hatten eine Brieftasche dabei. John flog nach Gibraltar und entdeckte die Leiche meiner Mutter, er fuhr dorthin, ohne es mir zu sagen, und er organisierte auch, dass unsere Eltern dort beigesetzt wurden, auf dem Fels von Gibraltar. Hätte er mich gefragt, ich hätte vermutlich gesagt: »Es ist mir egal. Mach, was du für richtig hältst.«

Oh hear us when we cry to Thee for those in peril on the sea