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VERLAGSTEXT

Im Zentrum des Romans steht der Autor Stephen Crane, eine Art «James Dean» der amerikanischen Literatur Ende des 19. Jhdts. Sein kraftvoller Naturalismus respektierte keine Tabus, weder in der Literatur noch im Leben: Wegen seiner Liaison mit einer Prostituierten musste Crane Amerika verlassen. Im fernen England, im Endstadium der Tuberkulose, diktiert er ihr seinen letzten Roman: die Geschichte Elliotts, eines Straßenjungen aus New York. In diesem fiktiven Roman inszeniert Edmund White eine faszinierende homosexuelle Unterwelt des prüde-puritanischen Amerikas. White lässt zudem Hamlin Garland, Henry James, Joseph Conrad und andere Persönlichkeiten der Geschichte an Cranes Krankenbett erscheinen, ihre Porträts sind kleine Meisterwerke voller Liebe und Bosheit.

«Der geschminkte Junge» nennt Crane seinen «Roman im Roman», in dem er als heterosexueller Autor die Liebesgeschichte zwischem dem biederen Bankangestellten Theodore und dem Straßenjungen Elliott erzählt: eine Geschichte, die White kunstvoll mit der Stephen Cranes verwebt. Zu Beginn vernichtet Crane das Manuskript auf Anraten seines Freundes Garland, weil der es für nicht druckbar hielt. Dann nimmt er einen zweiten Anlauf und diktiert es auf dem Sterbebett seiner Frau. Am Ende erzählt White, wie Henry James das Manuskript nach Cranes Tod ins Feuer wirft. Vor diesem Hintergrund wird aus dem Erzählen dieser wunderbaren Liebesgechichte auch ein kraftvolles Statement für die Unvoreingenommenheit des literarischen Blicks auf die Verhältnisse.

Edmund White

Hotel de Dream

Ein New-York-Roman

Aus dem Amerikanischen
von Joachim Bartholomae

Männerschwarm Verlag
Hamburg 2015

IMPRESSUM

Titel der Originalausgabe: Hotel de Dream

© Edmund White 2007

Die Originalausgabe erschien bei Ecco – HarperCollins, New York.

Diese Übersetzung wurde aus Mitteln des
Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet die Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte
bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.

Edmund White

Hotel de Dream

Ein New-York-Roman

Aus dem Amerikanischen von Joachim Bartholomae

© Männerschwarm Verlag, Hamburg 2015

Umschlaggestaltung: Carsten Kudlik, Bremen, unter
Verwendung des Fotos «The Newsboy» (1931) von G. W. French

Druck: Finidr s. r. o., Tschechien
1. Auflage 2015

ISBN der Printausgabe 978-3-86300-188-9

ISBN der Ebook-Ausgabe 978-3-86300-196-4

Männerschwarm Verlag

Steindamm 105 – 20099 Hamburg

www.maennerschwarm.de

WWW.MAENNERSCHWARM.DE

WIDMUNG

FÜR PATRICK RYAN

MOTTI

Der Geist meines Mannes kommt nicht zur Ruhe. Im Traum durchlebt er sein Leben noch einmal und redet dabei laut vor sich hin.

Mrs Stephen Crane an Morton Frewen
am Abend vor Cranes Tod

Ich muss immerzu verschwinden, abtauchen und mich auflösen. Das ist mein wichtigster Charakterzug.

Crane 1896 in einem Brief an Ripley Hitchcock

Bei McClure traf ich Stephen Crane, den wundervollen Jungen, dessen frühe Werke ich 1891/92 kennenlernte und förderte. Er ist gerade aus Havanna zurückgekehrt und wirkt schmutzig und nikotingegerbt, aber geistig rege und wie immer voll verrückter Ideen. Er macht auf mich wie auch früher schon einen kränklichen Eindruck – nicht der Typ, der alt wird. Seine Kleidung vernachlässigt er neuerdings stark … Er war nicht besonders begeistert, mich wiederzusehen. Seine Haut war gelb und sein Blick unsicher. Seine Haltung mir gegenüber hatte sich irgendwie geändert.

Hamlin Garland, 29. Dezember 1898

EINS

CORA GLAUBTE KEINEN MOMENT DARAN, DASS IHR junger Ehemann sterben könnte. Andere glaubten es – besonders der teure Spezialist, der aus London gekommen war und einen Tag lang seine lange Nase in alle Ecken von Brede Place steckte und dann fünfzig Pfund von ihr verlangte! Er flüsterte, Stevies Lungen seien so schlecht, sein Körper so schmächtig und sein Fieber so hartnäckig, dass er nicht mehr lange zu leben habe. Doch dann widersprach er sich selbst und sagte, wenn in den nächsten drei Wochen ein erneuter Blutsturz verhindert würde, könnte sein Zustand sich bessern.

Allerdings war sie schon erschrocken, als sie Stephen vor ein paar Tagen von Kopf bis Fuß badete; sein Körper in der Wanne sah aus wie ein Skelett für den Schulunterricht. Unter der straffen Haut trat die Wölbung des Beckens wie eine Kesselpauke hervor. Um ihn waschen zu können, musste sie ihn stets mit einer Hand festhalten.

Und so heiß – er war immer heiß und trocken. Er selbst sagte, er sei «ein trockener Zweig am Rand des Lagerfeuers.»

«Runter da, Tolstoi, stör’ ihn nicht», schimpfte Cora. Die räudige Promenadenmischung glitt vom Sofa hinunter und trottete zu ihr hinüber, den flusigen Schwanz hoch erhoben wie die weiße Flagge einer zerlumpten Kompanie. Sie streichelte ihn gedankenverloren hinter den seidigen Ohren und er sah zu ihr auf, überrascht von der unverhofften Freundlichkeit.

Die Zeitungen brachten unter Verschiedenes noch immer kleine Meldungen mit Überschriften wie «Stephen Crane, der amerikanische Autor, schwer erkrankt.» Am nächsten Tag verkündeten sie, dem amerikanischen Autor gehe es besser. Das Vögelchen, das ihnen das Liedchen über die verbesserte Gesundheit gezwitschert hatte, war Cora gewesen.

Armer Stephen – sie betrachtete seinen Kopf, der auf dem Kissen nach Luft rang. Sie wusste, dass seinen Kopf selbst im Traum tiefe, schöne Gedanken bevölkerten, und kein angelesenes Wissen! Was für große Weisheiten über das Herz des Menschen hatte er gefunden. Und er kleidete seine Gedanken in so schöne Gewänder.

Dieser kleine Raum über der Haustür aus schwerer Eiche war sein Arbeitszimmer, und dort lag er nun apathisch im Halbschlaf auf seinem Sofa und keuchte. Der Raum roch nach Schmutz und nach Hund. Die eine Seite des Fußbodens, unter dem Sofa und Stephens Schreibtisch, war von einem abgetretenen Perserteppich aus verblasster Seide bedeckt, den ein großer Teefleck mit dem Umriss von Borneo verunstaltete. Auf der anderen Seite hatte Stephen aus einer Laune heraus ein paar Binsenmatten auf den Boden geworfen, wie ein alter Kauz mit einer Vorliebe für mittelalterlich-schlichte Größe. Auch im Erdgeschoss lagen überall Binsen, Reet und Heu auf dem Boden, weshalb Tolstoi und Spongie, zwei ihrer drei Hunde, in ihrer Verwirrung meinten, sie wären draußen, und hin und wieder ihre gute Kinderstube vergaßen.

Unter Stephens Bett hatte die Dienstmagd, ein altes abergläubisches Ding, einen kleinen Becher mit Teer gestellt. Ob sie wohl glaubte, er würde die bösen Geister einfangen, oder Gespenster verscheuchen, die in Brede Place spuken wollten?

Ja, Stephen hatte alle Symptome dessen, was die Ärzte «Diäthese» oder die Symptome der Auszehrung nennen: fast durchsichtige Haut, durch die man die blauen Venen pulsieren sah, ein hageres Gesicht und das Keuchen aus eingefallener Brust. Sein Haar war so glatt und brüchig wie die Fransen an einem alten Lampenschirm, seine Stimme heiser vom vielen Husten; manchmal klang sie wie der Schrei einer alten Eule aus den hintersten Gewölben eines tiefen Grabes. Er klagte über ein Summen im Ohr und manchmal sogar über Taubheit, was für einen «Sozialisten» wie ihn, den geselligsten Mann der Welt, sehr beunruhigend sein musste. (Diese sehr spezielle, scherzhafte Bedeutung des Wortes Sozialist stammte von Coras Freundin, der untadeligen, aber etwas beschränkten Mrs Ruedy.) Cora fragte sich, ob Mrs Ruedy wohl schon zurück in Amerika war – sie war eine der Ratten, die das sinkende Schiff verließen.

Unter Stephens Hemd fiel Cora ein Stück hellgelber Haut ins Auge und sie sah es sich genauer an – oh!, der Arzt hatte seinen Brustkorb auf der rechten Seite mit Jod eingerieben. Immerhin bekam er keine Schröpfköpfe. Sie erinnerte sich, dass eins der «Mädchen» aus ihrem Etablissement, dem Hotel de Dream in Jacksonville, auf Rücken und Busen heiße Näpfe aufgesetzt bekam, die schmerzhafte Blasen hervorbrachten, doch ohne den gewünschten Erfolg. Sie war nicht mehr zu retten gewesen.

«Hey, Imogene», flüsterte Stephen; seine pinkfarbenen Lider flatterten. Sein Lächeln war nur ein schwaches Echo seiner üblichen Verspieltheit. Er nannte sie gern «Imogene Carter», bei dem Pseudonym, das sie sich als Kriegsberichterstatterin in Griechenland zugelegt hatte und mit dem sie immer noch die Artikel über Klatsch und Mode unterzeichnete, die sie an amerikanische Zeitungen schickte.

«Was gibt’s, Stevie?», fragte sie und kuschelte sich an ihn.

«Sag, ist die Wahrheit lieblich, oder brennt sie wie Feuer?»

Sie dachte: Oh. Er zitiert sich selbst. Eins seiner Gedichte. Vielleicht so etwas wie ein Kompliment, denn soweit sie sich erinnerte, ging es in der nächsten Strophe um die Geliebte, die in seinem Herzen lebte. Vielleicht war es auch vollkommen sinnlos, und er redete einfach irgendetwas daher, damit sie bei ihm blieb.

«Wie ich sehe», er flüsterte so leise, dass sie den Kopf noch näher zu seinen Lippen beugen musste, «wie ich sehe, lüftest du die Haare.» Er mokierte sich über ihre Gewohnheit, ihr langes goldenes Haar jeden Tag für zwei oder drei Stunden zu lösen und über ihre Schultern fluten zu lassen. Man hatte ihr gesagt, wie entsetzt Arnold Bennett über den Anblick ihres unfrisierten Haares gewesen war, als er eines Tages unangemeldet zum Lunch vorbeikam. Er hatte Mrs Conrad erzählt (die den Klatsch unfreundlicherweise weitergegeben hatte), Cora habe in griechischen Sandalen, mit ihrem durchsichtigen Morgenrock, den sie wie einen Chiton um sich geschlungen hatte, und gelöstem Haar «ganz furchtbar» ausgesehen, «wie eine Schauspielerin beim Frühstück». Mr Bennetts eigenes Haar war nicht sehr voll, sicher hatte er nie Grund gehabt, darauf stolz zu sein. Wirklich stolz sein konnte er nur auf seine Prosa, und auch das nur manchmal.

Nein, Cora glaubte fest daran, dass eine Frau ihr Haar jeden Tag ein Weilchen frei fließen lassen muss, damit es kräftig und glänzend bleibt. (Sie hatte gehört, dass Sarah Bernhardt es genauso machte, und sie sah mit sechzig aus wie dreißig.)

«Ja», antwortete Cora. Sie wollte hinzufügen, «Wir müssen alle mal Luft holen», aber sie zensierte sich selbst – dem keuchenden Mann gegenüber wäre das allzu grausam gewesen.

In ihrer Verlegenheit platzte sie heraus, «Wir fahren nach Deutschland, Stephen.» Eigentlich hatte sie ihm von ihrem neuesten Plan zu seiner Heilung noch nichts erzählen wollen, aber jetzt musste sie fortfahren. «In den Schwarzwald.» Sie mochte den Klang dieses Wortes, es war der Name ihrer Lieblingstorte – und außerdem das dunkle und ernste Szenario eines grausamen Märchens, in dem es um Kinder ging und den Tod im Ofen. «Wir müssen dich aus diesem feuchten Land fortbringen, dem kalten Regen und dem stürmischen Wind.»

«Oh Cora, Cora, ich mag, wie du redest», sagte Stevie. Er streckte den Finger aus und berührte die zarte Haut ihrer Wange mit etwas, das so trocken und steif war wie der Flügel einer Möwe, den man nach einem langen Winter am Strand findet.

Er deutete mit einer Augenbewegung auf die grüne Landschaft von Sussex vor ihrem Fenster: ein lieblicher Aufruhr wilder Blumen.

«Jetzt ist es schön», sagte sie, «aber bis zum Abend erlebst du alle vier Jahreszeiten.»

Sie fragte ihn, was er von der Reise nach Deutschland hielt. Sie wusste, dass er mit ihr normalerweise nicht gern über seine angegriffene Gesundheit sprach. Einmal hatte sie mitbekommen, wie er jemanden zurechtwies, der ihr mit Fragen zugesetzt hatte, wie sie sich ihre Zukunft nach seinem Tod vorstellte. «Mach Cora nicht verrückt», hatte Stevie gesagt, «sie ist ein merkwürdiges Weibsbild, aber ich glaube, sie mag mich.»

Jetzt erzählte sie ihm, das deutsche Sanatorium gelte als das beste der Welt. Derselbe Dr. Koch, der vor zehn oder fünfzehn Jahren die Tuberkulosekeime isoliert hatte, leitete dieses Krankenhaus in Badenweiler am Rand des Schwarzwalds inmitten blühender Obstbäume. Und überhaupt, die Deutschen wussten, was in solchen Fällen zu tun war, alle anderen waren doch nur Amateure.

Stevie äffte ihre sehr französische Aussprache von Amateur nach. Sie wusste, dass er sich gern über ausländische Allüren der amerikanischen Auswanderer lustig machte, besonders über ihre sprachlichen Manieriertheiten. Je mehr Henry James wie eine englische Matrone schwadronierte, desto mehr versuchte Stevie in seiner Gegenwart so zu klingen wie Daniel Boone oder Andrew Jackson. Diese Albernheiten hatten allerdings einen ernsthaften Hintergrund; es machte ihm große Sorgen, er könne die echte amerikanische Aussprache vergessen und reden wie ein Tommy, oder noch anders. Das wäre das Schlimmste: ein sprachliches Niemandsland.

ZWEI

DAS LETZTE GUTE BUCH, DAS ICH GESCHRIEBEN HA-be, habe ich auf Hamlin Garlands Rat vernichtet. Ich frage mich, ob ich jetzt auch über mein eigenes Leben schreiben könnte. Das hab’ ich noch nie gemacht. Was würde ich schreiben? Was gibt es über mich zu sagen?

Wenn Cora nur endlich aufhören würde, über meine Gesundheit zu reden. Das wird nichts mehr! Eigentlich ist es mir egal, wie es mit mir weitergeht, ich wollte ohnehin nicht älter als dreißig werden – aber bis dahin sind es noch zwei Jahre … Auch Keats und Byron waren jung, als sie gingen.

Mein Kopf ist voller Geldsorgen, zwanzig Pfund hier und fünfzig Pfund da – die enormen Beträge, die ich manchen schulde, und die kleinen Rechnungen, die ich begleichen muss –, ich kann keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen. Und auch keinen schlüpfrigen, für dieses alberne Buch, Der Feuerkopf. Irgendwie muss das noch fertig werden. Falls ich sterbe, muss sich Cora um die letzten Feinheiten kümmern. Okay, ich sterbe nicht, aber die verfluchte Reise zu diesem geheimnisvollen deutschen Sanatorium, die Cora geplant hat, wird mich vielleicht für ein paar Monate außer Gefecht setzen.

Arbeiten sie in Deutschland nicht mit Pneumothorax? So nennen sie das, wenn sie die Lunge punktieren, damit sie ganz zusammenfällt.

Diese Kurpfuscher wissen doch gar nicht, was sie tun, auch die Deutschen nicht. Ein Bazillus, na gut, aber wie soll man ihn töten? Ihre Behandlungen sind nichts anderes, als wenn sie versuchen würden, eine Fliege mit einer Steinschleuder zu treffen. Sie wollen, dass ich wenn möglich draußen schlafe, selbst im Winter, und wenn das nicht geht, soll ich den Kopf aus dem Fenster strecken. Oder sie verlangen, dass ich ein zweites Frühstück runterwürge. Oder unter einem Windschirm schlafe, als ob kalte Stürme und gefrorenes Wasser jede Krankheit heilen könnten. Keine Musik, keine Liebe, keine Unterhaltungen, außer mit dummen alten Frauen, als wäre jede Anregung tödlich. Sie sind Scharlatane, allesamt. Vor kurzem hat jemand zu mir gesagt – war das Wells? –, am Blutsturz würde ich garantiert nicht sterben, er selbst hätte auch vor einem Jahr Blut gespuckt. Allerdings trainiert er regelmäßig auf dem Fahrrad mit dem großen Vorderrad, das er erfunden hat, oder macht Liegestütze über seiner reizenden jungen Frau, die ihm so verfallen ist, dass sie seinetwegen ihren Vornamen geändert hat! Sie heißt eigentlich nicht Jane, sondern Amy. Aber Wells gefiel Amy nicht. Verdammt anständig von ihm, mir das zu sagen, über meine Aussichten; an trüben Tagen kann man Aufmunterung gebrauchen.

Wenn Cora endlich ihren Mann finden würde und sich scheiden ließe, würde ich sie heiraten (wir sagen allen, dass wir verheiratet sind, aber das stimmt nicht), und sie würde meine zukünftigen Tantiemen erben, falls es welche gibt. Aber warum eigentlich nicht? Die rote Tapferkeitsmedaille taugt was. Ja, da bin ich mir sicher. Es verkauft sich noch immer. Die Leute wollten einfach nicht glauben, dass ich damals noch nicht mal von weitem eine Schlacht gesehen hatte. Die Medaille war vor meinen Kriegen in Kuba, in Griechenland – na, als ich in meine Kriege zog, stellte sich heraus, dass die gute Medaille was taugte. Und mein kleiner Hurenroman, der ist so echt, dass er überleben wird. Auch den hab’ ich geschrieben, bevor ich Reporter in den Arme-Leute-Vierteln wurde.

Ein paar vernünftige Sachen habe ich in letzter Zeit geschrieben. Mein Märchen vom Wilden Westen war gut: solide. Na ja, das war auch schon alles. Der Rest ist hauptsächlich Geschwafel. Jetzt sagen die Kritiker, ich hätte noch nie gewusst, was ich tat; die guten Sachen – Die rote Tapferkeitsmedaille, Im Rettungsboot, Die Braut kam nach Yellow Sky, Das blaue Hotel – sollen nur Zufallstreffer gewesen sein. Diese Mistkerle! Ich habe sechs Wochen gebraucht, um Das blaue Hotel zu schreiben. Ich wusste ganz genau, dass der Schwede fest daran glaubte, ihm sei vorherbestimmt, an diesem Tag sterben zu müssen, so fest, dass er von Todesangst geschüttelt wurde, obwohl er in Wirklichkeit nichts und niemanden zu fürchten brauchte; am Ende war er es selbst, der die Gewalt provozierte. Selbst zu Coras Zeitungskolumnen habe ich hier und da ein gutes Wort beigesteuert oder zwei – etwas Frisches, Verrücktes. Das meiste, was geschrieben wird, sind Selbstdiktate: Meterware. Ich war der Einzige aus meiner Generation, der hier eine Nuance hinzugefügt und dort ein bisschen weggenommen hat. In der Musik nennt man das Rubato, das hat mir Huneker erklärt.

Als ich vierzig Seiten am Buch über den Hurenjungen geschrieben hatte, las Garland das Manuskript und sagte voller Wiskonsin-Feierlichkeit mit dieser Stimme, die Stahl durchschneiden könnte, «Das ist das Beste, was du je geschrieben hast, und wenn du es nicht zerreißt, Seite für Seite, ist deine Karriere beendet.» Er gab mir das Manuskript zurück und fragte, «Keine Abschriften? Ist dies die einzige Fassung?»

«Dies ist die einzige», sagte ich.

«Dann musst du sie gleich hier ins Feuer werfen», sagte er, denn wir saßen im Foyer eines noblen Hotels an der Mercer Street und warteten, dass ein Freund herunterkam, der hier wohnte. Ein kleines Feuer brannte nur einen Meter von unseren Stiefeln entfernt.

Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Hamlin mich um diese Seiten beneidete. Er hatte noch nie etwas so Unverblümtes und Neues geschrieben, etwas so Modernes, Städtisches. Nein, er erzählte in rollenden Satzgebilden Legenden von seinem Vater, der sein Leben als Siedler in Dakota vergeudete, aber meine Sätze hätte er nicht schreiben können. Nicht Hamlin mit diesen weißen Lippen, die aussahen, als hätte er einen Schneemann geküsst, und die in der Umrahmung durch den flaumigen, hellbraunen Bart noch weißer wirkten. Seine Augen funkelten wie Feuerstein und er wirkte so selbstsicher. Natürlich waren es abscheuliche Dinge, über die ich geschrieben hatte, auch wenn Elliott nur ein Kind war und kein verdorbenes Fleisch wie Wilde – obwohl, hier in England sagen viele Leute, dass sie Wilde kannten und zu ihm halten. Jetzt ist er für sie der Größte, aber während der Gerichtsverhandlung hat ihn keiner verteidigt. Außer Yeats hat keiner etwas Vernünftiges über Wilde gesagt. Wildes Gerichtsverhandlung und die Veröffentlichung der Roten Tapferkeitsmedaille fielen beide ins gleiche Jahr, 1895. Doch er verkörperte ein altes Europa, verfault und nach Verwesung stinkend, dagegen ist die Medaille eine solide Sache, sauber und klar.

Ich habe die vierzig Seiten ins Feuer geworfen. Mir wurde fast schlecht dabei. Eine Perle, mehr wert als all mein Volk. Und die ganze Zeit während des Essens, bei Austern und Filet, dachte ich, dass das Salz der Austern von meinen Tränen stammte, und dass das Blut, das auf den silbernen Servierplatten schwamm, mein Blut wäre. Ich bekam kaum einen Bissen hinunter und konnte dem Gespräch kaum folgen, dieser Reporter-Fachsimpelei über New Yorker Intrigen. Natürlich hasste Hamlin meinen geschminkten Jungen; er schrieb gerade an seinen Jugendjahren in der Prärie in all seiner banalen Anständigkeit. Ich hatte nicht im Traum daran gedacht, meinen kleinen Elliott zu verteidigen, aber ich wusste, dass seine Geschichte schmerzhaft war und nicht schlüpfrig.

Meine Güte, was rede ich da für dummes Zeug über Blut und Tränen und meine Abneigung gegen den alten Ham. Hamlin hat mir immerhin die fünfzehn Dollar gegeben, um die zweite Hälfte der Medaille mit der Schreibmaschine abschreiben zu lassen. Er hat daran geglaubt, dass ich Großes vollbringen kann, und William Dean Howells meine Maggie gegeben; und mit Howells begann mein Erfolg. Trotz all der Etiketten, die sie mir aufkleben wollten – angeblich war ich «Impressionist», dann sprach Garland von «Naturalismus» und Howell von «Realismus» –, trotz ihres Engagements für die nüchterne Wahrheit, meine Wahrheit, wollten sie die Wahrheit über den kleinen Elliott nicht wissen.

Hamlin war scharf kritisiert worden, weil er in einem seiner Bücher geschrieben hatte, ein Schaffner habe einen weiblichen Fahrgast «wie ein Sexsüchtiger» angestarrt. Das reichte aus, um in ganz Amerika zensiert zu werden. Kein ungebührliches Verhalten – nur das Wort «Sexsüchtiger», und schon wurde man mit dem zersetzenden Zola höchstpersönlich auf eine Stufe gestellt. Ja, er gilt als der Lehrjunge des Teufels – seine Helden schwitzen, tragen keine Socken und essen kalten Heidelbeerkuchen …

Der Einzige, der meinen Elliott mochte, war dieser verrückte Säufer, Schwätzer und Besserwisser Jim Huneker. Jim konnte siebzehn Bier an einem Abend trinken und merkte gar nichts. Am Konservatorium hinter der 17th Street unterrichtete er Klavier vor einer Klasse aus lauter Negern, und dann ging er zurück in sein möbliertes Zimmer und liebte eine verheiratete Frau namens Josephine.

Huneker sagte, ihr Ehemann, ein polnischer Kaufmann, würde sie nicht anrühren. Er starrte nur gebannt auf ihr enges Korsett, bekam einen roten Kopf und begann, unter Zuckungen heimlich zu masturbieren. Huneker brauchte diese unglückliche Frau nur anzufassen, um sie zu verführen. Zum ersten Mal berührte ein Mann ihre perfekten Brüste. Er war ziemlich umtriebig – einmal hat er seine drei Ex-Frauen gemeinsam zum Essen eingeladen. Er hatte eine lange, gerade römische Nase, auf die er so stolz war, dass er seinem Gegenüber beim Reden oft das Profil zuwandte, was ziemlich verwirrend sein konnte. Über seinen weißen Augenbrauen wirkte das rabenschwarze krause Haar wie eine schlechte Perücke; einmal wollte er, dass ich daran zog, um zu beweisen, dass es echt war.

Huneker war solch ein Frauenheld! Über ihn könnte ich in meinen Lebenserinnerungen schreiben. Als Musikkritiker ermunterte er hoffnungsvolle Sängerinnen, ihn durch Anwendung der «horizontalen Methode», wie er das nannte, hinsichtlich der Beurteilung ihres Gesangs milde zu stimmen. Außerdem zeigte Huneker ein beinahe wissenschaftliches Interesse an Invertierten. Meistens hatte er nur Verachtung für sie übrig. Er verurteilte Grashalme als die «Bibel des dritten Geschlechts». Anfangs konnte er den exzentrischen, effeminierten Pianisten Vladimir de Pachmann nicht ausstehen; er befürchtete, Pachmanns Albernheiten während seiner Auftritte könnten in den Augen des aus Philistern bestehenden amerikanischen Publikums das Ansehen seriöser Musiker beschädigen. Es kam vor, dass Pachmann das Konzert unterbrach und zu einer Frau in der ersten Reihe sagte, «Madam, Sie schlagen mit Ihrem Fächer einen Zweidritteltakt, ich spiele aber sieben Achtel.» Oder er unterbrach das Spiel ohne ersichtlichen Grund, griff in die Hosentasche und zog eine Handvoll Diamanten heraus, die er dann von einer Hand in die andere gleiten ließ. Wegen dieses affigen Benehmens nannte Huneker ihn «Chopinse». Als sie sich bei Luchow zum ersten Mal begegneten, bombardierten sie sich gegenseitig mit Beleidigungen und leerten Bierkrüge über dem Kopf des anderen. Nach einem Jahr vertrugen sie sich dann und Pachmann kam zu Huneker zum Dinner und spielte für ihn bis drei Uhr morgens Klavier.

Mit Tschaikowski hatte Huneker ebenfalls Probleme, weil der sich nicht für Frauen interessierte. Besonders irritierte ihn die Geschichte, dass Tschaikowski und Saint-Saëns, der Komponist von Samson und Delilah, zusammen in Frauenkleidern die Tarantella getanzt haben sollen. Als Tschaikowski starb, sagte Huneker, er sei «der interessanteste, wenn nicht der größte Komponist seiner Zeit»; er verteidigte auch Oscar Wilde und sagte, die Engländer seien verrückt, ihn zu verteufeln, nachdem sie ihn jahrelang umschwärmt hatten.

An einem Wintertag ging ich mit Huneker die Bowery entlang. Wir hatten gerade bei Mouquin am Fulton Market zu Mittag gegessen und wurden von einem heftigen Wind durchgepustet, der einem selbst in der Palisadenfestung Manhattan kleine Eisnadeln ins Gesicht schleuderte. Nach der Seezunge Müllerin im roten Plüschsalon waren wir nun den Elementen ausgeliefert. Manchmal bekomme ich in New York wochenlang gar nicht mit, ob es heiß oder kalt, heiter oder wolkig ist – und dann zieht an einem stinkend heißen Tag der Mief der Mietskasernen flussaufwärts, oder die Götter beschließen, zwei Meter Schnee auf die geschäftigste Metropole der Welt fallen zu lassen. Dann verwandelt der Schnee New York in ein uriges Dorf.

Das schwache Sonnenlicht sickerte zwischen den Gleisen der Hochbahn hindurch und alle paar Minuten ratterte ein Zug langsam über unseren Köpfen vorbei wie eine schwerfällige Hand über der Tastatur. Neben uns, zwischen den Stelzen der Hochbahn, zogen Pferde mit Scheuklappen Kutschen die Straße entlang. Ihre zottigen Körper und ihr kondensierter Atem waren im seitlich heranwirbelnden Schnee kaum zu erkennen. Die schmutzig weißen Markisen vor den Gebäuden wurden vom Gewicht des Schnees hinabgedrückt. Die armen Prostituierten in ihrer dünnen Kleidung klopften mit den Fingernägeln gegen die Fensterscheiben, um die Kunden auf sich aufmerksam zu machen. Ein elendes Mädchen mit dürrem Genick und vortretenden Rippen sprang in einen Hauseingang und öffnete den Mantel, um mir ihre tiefgefrorene Ware zu zeigen. Huneker mit seinen drei drallen Ehefrauen und den horizontalen Sopranistinnen würde sich kaum herablassen, auch nur mit seiner langen römischen Nase an solchen knochigen Desperados zu schnüffeln. Wir gingen weiter und weiter, bis wir genug hatten von den eisigen Tattoos, mit denen der Wind unsere Gesichter überzog. Wir beschlossen, uns im Everett House an der Ecke 17th Street und 4th Avenue aufzuwärmen.

Im Hauseingang stand ein schlaksiger Junge mit schmalem Gesicht und tief violetten Augen, die dicht beieinander standen und ein wenig schielten. Er konnte nicht älter als fünfzehn sein und hatte schon Ringe unter den Augen. Beim Lächeln entblößte er kurze, schlechte Zähne, von denen jeder durch den Verfall eine individuelle Form angenommen hatte. Er kam auf uns zu, und wir dachten natürlich, er wollte betteln, aber dann sah ich, dass sein Gesicht geschminkt war – die Lippen gerötet und die Brauen geschwärzt (die dunklen Ringe, die mir aufgefallen waren, war nur vom Schnee verschmierte Wimperntusche).

Der Junge stolperte, und ich griff mit meiner knochigen Pranke nach seiner kalten kleinen Hand; er fiel in Ohnmacht. Ich bin heute so klapprig wie der Junge damals, aber zu jener Zeit war ich fit. Ich trug ihn ins Everett House.

Er war so leicht, dass ich mich fragte, ob er seine Jacke und Hose gar nicht wegen der Kälte mit Zeitungen ausgestopft hatte, sondern um weniger dünn zu wirken. Er roch ein wenig nach billigem Parfum für Frauen, und so, wie ich ihn hielt, roch ich außerdem den Gestank von schmutzigem, öligem Haar, in dem noch der Zigarettenqualm der letzten Nacht hing.

Ich schämte mich dafür, dass es mir peinlich war, diesen merkwürdigen kleinen Hurenbengel in ein Hotel voll gut genährter, laut redender Männer zu tragen, über deren Köpfen Mr Edisons neuer Kronleuchter mit einhundert Glühbirnen erstrahlte. Der Türsteher kam einen Schritt auf uns zu, so erregt, dass die goldenen Fransen seiner Epauletten zitterten; er hob die weiß behandschuhte Hand. Absurderweise sagte ich, «Schon in Ordnung, er gehört zu mir», und der gute alte Huneker, dessen Gesicht man dort kannte, ergänzte, «Meine Güte, Mann, der Junge ist ohnmächtig geworden und wir wollen ihm etwas heiße Suppe einflößen. So was braucht er jetzt, heiße Suppe. Bestellen Sie heiße Suppe für uns!» Huneker redete die ganze Zeit über Suppe, als ob damit alle Fragen des Anstands aus der Welt geräumt wären.

Es gab einen freien Tisch, und der Oberkellner warf dem Manager einen Blick zu – doch er konnte uns nicht aufhalten. Wir gingen direkt auf den Tisch zu; er war so abgelegen wie Sibirien, direkt bei den Schwingtüren zur Küche. Ich setzte meine zerbrechliche Last auf einen Stuhl, und um jede Befangenheit abzuschütteln schnippte ich mit den Fingern und bestellte heiße Suppe und Tee. Der Oberkellner wedelte mit den riesigen Speisekarten herum wie beim Fächertanz, bis er sich schließlich beruhigte und sie uns reichte. Die Geschäftsleute an den anderen Tischen hörten nach und nach auf, uns anzustarren, und nahmen ihre Gespräche wieder auf. Der Name des Jungen war Elliott, wie ich später erfuhr. Vielleicht nahm ich deshalb so großen Anteil an seinem Schicksal – ich hatte ihn durch ein Meer der Feindseligkeit getragen.

Als ich sein geschminktes Gesicht betrachtete, wurde mir beinah schlecht. Huneker beobachtete mich und lächelte ironisch, als stellte er sich vor, dass mein Unbehagen heute Abend eine gute Geschichte abgeben würde, wenn er Josephine, der Enggeschnürten, die Aufwartung machte. «Stephen tut so, als sei ihm nichts Menschliches fremd», das würde er, stellte ich mir vor, bald sagen, «aber er ist der Sohn eines Methodistenpredigers und einer Temperenzler-Mutter und ist nun mal im finstersten New Jersey aufgewachsen, und wenn er sich auch mit Scharen von Freudenmädchen verbrüdert hat, so ist er doch noch nie solch einem kleinen Ganymed, solch einem tuntigen Rosettenlümmel begegnet, der arme Stephen – du hättest sein Gesicht sehen sollen, er hätte sich beinah übergeben, als der Oberkellner verkündete, «Wir servieren den Braten um fünf.»

Soll er lachen. Und noch etwas habe ich an Elliott gemocht: Der Junge hat mich vergöttert, auch wenn ich ihn schließlich nicht retten konnte.

DREI

ALS CORA MIT DEM TEE-TABLETT ZURÜCKKAM, WAR Stephen wach und fieberhaft erregt. Sein großer Schnurrbart, der seit Monaten schlapp, schief und unfrisiert hinunterhing, schien vor Elektrizität zu knistern. Seine Augen funkelten, als wollten sie aus seinem schmalen, hageren Gesicht hervorspringen.

«Cora», flüsterte er, «ich möchte dir etwas diktieren.»

«Oh ja, mein Lieber, wir müssen mit dem Feuerkopf vorankommen. Wenn wir noch einmal zehntausend Wörter abliefern, zahlt uns Mr Pinker vielleicht noch einen Vorschuss von fünfzig Pfund. Der Gerichtsvollzieher will einen Haftbefehl erwirken, um mich in London festzunehmen, und der Schlachter von Brede liefert uns keinen Braten, bevor wir die Schulden begleichen. Er hat heute Morgen richtig Krawall geschlagen, und die Küchenhilfe wirft mir vorwurfsvolle Blicke zu, als ob Armut ein Charakterfehler wäre. Jede der beiden Krankenschwestern kostet pro Woche zwei Pfund, vier Schilling und Sixpence – und Dr. MacLaughlin sogar fünfzig Pfund. Das war bestimmt eine gute Investition, ermutigend, wie er war, aber ich habe die Sache selbst in die Hand genommen und Mr Garneson, dem Londoner Agenten von Lippincott, geschrieben und ihn um die erforderlichen fünfzig Pfund gebeten. Ich habe gerade heraus gesagt, ‹Sie werden kaum Bedenken haben zu zahlen, denn es geht für Stephen Crane um Leben und Tod.› Glaub mir, das hat gewirkt! Immerhin ist Stephen Crane ein nationaler Schatz.»

Cora plapperte weiter, redete über ihr häusliches Erwerbsmodell mit Namen Stephen Crane, doch Stephen schwebte hinauf zur Gardinenstange und glitt auf den langen, schrägen Sonnenstrahlen, die durch das schmutzige Fenster fielen, wieder hinab.

Cora wechselte das Thema. Jetzt tratschte sie über ihre Reise nach Paris, die sie neulich zusammen mit Stephens Nichte unternommen hatte, und dass dort alle Frauen grün trugen, nur grün. Sein Geist schaltete ab, und plötzlich sagte sie, die Nachrichten über seine Gesundheit wetteiferten mit dem Burenkrieg und dem Präsidentschaftswahlkampf um den besten Platz auf den Titelseiten. Absurd, aber Cora übertrieb nun mal gern. Er war sich nie sicher, wie berühmt er war, wie sehr man ihn über- oder unterschätzte. Die meisten Leute, die er traf, hatten anscheinend noch nie von ihm gehört, es sei denn, sie waren selbst Schriftsteller, aber er konnte sich gut vorstellen, dass Cora recht hatte, als sie taktlos bemerkte, er sei berühmter als seine Bücher.

Sie hatten vorgehabt, den Ort von Napoleons Exil und Tod zu besuchen, die Insel St. Helena, irgendwo zwischen Brasilien und Afrika, denn dort befand sich ein englisches Gefängnis, wo Buren gefangen gehalten wurden, weit weg von englischen Gesetzen und englischen Augen. Sie konnten die Feinde dort ungestört foltern und ihnen Geständnisse entlocken, ohne sich jemals vor einem zivilen oder militärischen Gericht verantworten zu müssen. Stephen sollte für das Journal in New York über die Burenfrage schreiben – aber St. Helena war zweitausend Kilometer weit weg, deshalb musste die Reise erst einmal warten. Er fragte sich, ob die Engländer die Buren nur zu ihrem Vergnügen folterten. Cora sagte, die Seeluft würde ihm guttun.

Vielleicht lag er tatsächlich im Sterben, denn das Leid der Buren, und dass Pariserinnen grüne Kleider trugen, kümmerte ihn nur wenig. Cora marschierte im Zimmer auf und ab und schlug mit seiner Reitpeitsche auf ihr Kleid, doch selbst der Anblick der Peitsche weckte in ihm nicht die Lust auf einen Ausritt. Selbst als er am Tag nach Weihnachten einen Blutsturz gehabt hatte, hatte er es genossen, über die Hügel von Sussex bis nach Rye und zu Henry James’ Haus zu reiten; er hatte sich eingeredet, wenn er sich in seinen Sattel pflanzte und große Schlucke kalter Luft einatmete, könnte er die Krankheit vielleicht «einfrieren» und so am Wachsen hindern. Vielleicht täte ihm sogar das schlüpfrige, abwegige Gerede von Mr James gut.

Er schlief ein und träumte davon, wie er mit Elliott über Land ritt. Der Sattel bereitete ihm furchtbare Schmerzen und er wachte auf und begriff, dass die Schmerzen von seiner Analfistel verursacht wurden. In den letzten Wochen musste er furchtbar leiden, wenn er zu scheißen versuchte oder sich einfach nur hinsetzte. Wells, der «zickige, verdorbene kleine Künstler», wie James ihn nannte, hatte auch die Fistel wegzulachen versucht und ihm erzählt, dass kein geringerer als Ludwig XIV dieselbe Krankheit gehabt und sich der grande opération unterzogen habe. Dutzende von Höflingen in Versailles hatten vorgegeben, ebenfalls eine Fistel zu haben, um sich operieren zu lassen und durch die Nachahmung Eindruck zu schinden. Crane musste lachen – aber selbst das tat weh.

Cora sah zu, wie er wegdämmerte. Sobald das Feuer in seinen Augen erlosch, war sein Gesicht aschfahl, wie die weiße, seidige Asche auf einem verkohlten Holzscheit, die im Luftzug davon weht. Sie wollte, dass Stevie nach unten gebracht wurde, in den Raum neben der Haustür, damit er sich an heiteren Tagen zu einem Liegestuhl im Garten schleppen konnte (in Anbetracht des hiesigen Klimas, genauer gesagt in heiteren Stunden). Er war schon immer dünn gewesen und auf seinen Rippen konnte man Klavier spielen, aber jetzt war sein Gesicht so eingefallen, dass sein Gebiss unter den Wangen hervortrat wie eine Faust unter einem Laken. Er schwitzte. Jeden Tag bekam er für eine Stunde oder zwei einen Rückfall seines Havanna-Fiebers.

Beim Stichwort Havanna fiel ihr ein, wie er sich einen ganzen Monat in dieser Stadt versteckt hatte, vor ihr und vor allen. Sie hatten schon viel zusammen erlebt – ihre erste Begegnung in Florida am 4. Dezember 1896, den Krieg in Griechenland, über den sie beide als Reporter berichtet hatten, das Leben in England. Im Frühjahr 1898 war er nach Kuba gereist, und im Herbst tauchte er unter – einen Monat lang hörte sie nicht das Geringste von ihm. Er lebte in Havanna. Sie wartete verzweifelt auf Nachrichten – und auf Geld! Morton hatte ihr gerade dieses Haus vermietet, Brede Place, und sie musste den Umzug nach Sussex bezahlen und ein paar geeignete Möbel kaufen, und dann war da noch das Personal – aber sie hatte kein Geld, Stevie war verschwunden! Er hatte gesagt, dass er sie liebte und dass er sie heiraten wollte, und dann verschwand er. Ihr waren Zweifel gekommen – liebte er sie wirklich?

Gegen Ende des Spanisch-Amerikanischen Kriegs hatte er Blut gespuckt und sollte in Typhus-Quarantäne per Schiff nach Key West gebracht werden. Aber wie immer hatte er genug Energie, um einen neuen Job anzunehmen. Er sagte, man muss dem alten Gaul nur die Sporen geben. Er floh vom Schiff und machte sich auf nach Ponce, zum Krieg in Puerto Rico, der nach drei Wochen vorbei war.

Danach kehrte er heimlich nach Havanna zurück und sammelte Geschichten über diese alte, sündige, heruntergekommene Stadt. Im Hafen lagen nur vier Kanonenboote und das ausgeweidete Wrack des Kreuzers Alfonso XII, ohne Motor und Kanonen. In den Straßen, die nach verfaulenden Guaven und offenen Senkgruben stanken, fiel es nicht weiter auf, dass er vor Fieber abwechselnd schwitzte und Schüttelfrost bekam. Er konnte noch schreiben, aber seine Hand zitterte so sehr, dass einige Wörter nicht zu entziffern waren. Ein verrückter Kubaner hatte ihm bei einer Tanzveranstaltung in die Hand gestochen. Cora hatte einen seiner handschriftlichen Briefe gesehen; er war nicht an sie gerichtet.

Warum hatte er sie fallen lassen?

Seinetwegen hatte sie furchtbar gelitten. Sie schickte sogar ein Telegramm an Verteidigungsminister Alger und bat ihn um Auskunft über Crane. Sie verfolgte seine Spur bis zum Hotel Pasaje in Havanna, aber er war verschwunden. Alger antwortete nicht. Später, sehr viel später erfuhr sie, dass das Journal seine Rechnungen nicht mehr bezahlte, weil er keine Artikel ablieferte – und das Pasaje war das beste und teuerste Hotel der Stadt. Sie war verrückt vor Eifersucht und glaubte, Stevie lebe mit einer jüngeren, schöneren Frau zusammen. Sie versuchte sogar, ihn über William Randolph Hearst persönlich zu erreichen, aber Stevie antwortete nicht. Sie hatte Brede Place gemietet und hatte kein Geld! Nicht einmal, um zu essen, geschweige denn, um Lieferanten zu bezahlen.

Schließlich dachte sie, sie müsse nach Havanna segeln und Stevie vor dieser verführerischen Señorita retten, wer immer sie auch sein mochte.

Stevie war vom 6. September, als er gezwungen wurde, das Pasaje zu verlassen, bis zum 4. Oktober verschwunden; erst dann schickte er Cora ein Telegramm. Was hatte er die ganze Zeit nur getan? Sie nahm an, dass er seine verletzte Hand pflegte, die sich entzündet hatte, aber warum hatte er den Kontakt zu ihr abgebrochen? Er kam nicht auf die Idee, ihr zu antworten. Er schrieb auch keine Artikel – allenfalls ein paar Gedichte.

Cora war sich bewusst, dass er glaubte, sein Talent verraten zu haben und sich im alltäglichen Klein-Klein zu verausgaben, aber daran waren sie beide schuld. Jahr für Jahr hatte sie für die Freier Champagner gekühlt und ihnen die kubanischen Zigarren angezündet, damals im Hotel de Dream (das nach der vorigen Besitzerin benannt war, Mrs Dreme, aber Cora hatte die Schreibweise ein wenig aufpoliert). Hier in England wollte sie endlich zurück zur Bühne. Ihr Weihnachtsstück Das Gespenst war in der ganzen Grafschaft eine Sensation gewesen, die Dorfbewohner schwärmten vor Begeisterung, und selbst der Pfarrer, der sich wegen Erkältung entschuldigen ließ, übermittelte seine Glückwünsche. James, Conrad, Wells und natürlich Stevie waren an den Vorbereitungen beteiligt gewesen. Noch nie hatten so viele Genies an einem so schlichten Stück mitgearbeitet. Freunde waren beschenkt worden, und es hatte Drinks für alle gegeben. Stevie trank, bis ihm schlecht wurde; der Preis für diese Ausschweifung war ein weiterer Blutsturz gewesen.

Es hatte böses Gerede gegeben, weil sie mit Stevies Nichte nach Paris gefahren war, als Stevie krank war und Pflege benötigte, aber mit den Artikeln über Mode, die sie an ein Dutzend amerikanische Zeitungen verkaufte, verdiente sie einen großen Teil ihres Einkommens – und außerdem hatte Stevie seinem Bruder, dem Richter, versprochen, seiner Tochter alle wichtigen Sehenswürdigkeiten Europas zu zeigen. Und überhaupt, wie hätten sie sonst wohl vom «Phänomen Grün» erfahren?