Ulrich Schultz-Venrath

Lehrbuch Mentalisieren

Psychotherapien wirksam gestalten

unter Mitarbeit von Peter Döring

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Impressum

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-94544-7

E-Book: ISBN 978-3-608-10455-4

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20101-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

Dank

1 Einleitung

2 Theoretische Grundlagen

2.1 Zur Entwicklungsgeschichte des Mentalisierungsmodells und der mentalisierungsbasierten Therapie

2.1.1 Der Zeitgeist und die psychoanalytische Situation

2.1.2 Für wen sind welche Psychotherapien wirksam?

2.1.3 Intersubjektivität – eine neue Perspektive für die Psychotherapien

2.1.4 Sind Deutungen als zentrales Behandlungskonzept noch zeitgemäß?

2.2 Schibboleths in der Psychoanalyse

2.2.1 Wo ist der Trieb?.

2.2.2 Implizite Hierarchien – die Deutung des Unbewussten als Königsweg zur »wahren Psychoanalyse«

2.2.3 Bestimmen theoretische Überlegungen die therapeutische Praxis?

2.3 Das Mentalisierungsmodell – ein neues Paradigma?

2.4 Psychoanalyse und Mentalisierungsmodell – Gemeinsamkeiten und Unterschiede

2.5 Mentalisieren

2.5.1 Zur Einschätzung der Mentalisierungsniveaus

2.5.2 Äquivalenzmodus

2.5.3 Als-ob-Modus

2.5.4 Teleologischer Modus

2.5.5 Spezifische Störungen der Fähigkeit zu mentalisieren: Hypo- und Hypermentalisieren

2.5.6 Missbrauch von Mentalisieren

2.6 Zur Bedeutung der Bindung für die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit

2.7 Affektregulation und Repräsentanzenentwicklung

2.8 Neurobiologische Grundlagen des Mentalisierungsmodells

3 Anwendungen, therapeutische Haltung, Interventionen und Ausbildung

3.1 Allgemeine Aspekte mentalisierungsbasierter Interventionen

3.2 Zur Bedeutung des Gesichts für das Mentalisieren

3.3 Zur Bedeutung von Bildern, Metaphern und Wörtern für das Mentalisieren

3.4 Mentalisieren und therapeutische Haltung

3.5 MBT-Kompetenzen des Therapeuten

3.6 Mentalisierungsbasiertes Erstgespräch

3.7 Mentalisierungsbasierte Einzeltherapie

3.8 Mentalisieren und Gruppe

3.9 Mentalisierungsbasierte Psychoedukation

3.10 Mentalisierungsbasierte Gruppenpsychotherapie (MBGT)

3.10.1 Historische Vorläufer

3.10.2 Stationäre, tagesklinische und ambulante Gruppenpsychotherapien für Patienten mit Persönlichkeitsstörungen

3.10.3 MBGT – Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur psychodynamischen Gruppenpsychotherapie

3.10.4 Wie kann man Mentalisieren in der Gruppe erforschen?

3.10.5 Zum Problem der Indikation – welche Gruppe für wen?

3.11 Mentalisierungsfördernde Interventionen in der Gruppe

3.11.1 »Playing with reality« – die Rolle des Witzes, des Humors und des Lachens

3.12 Mentalisierungshemmende Interventionen

3.12.1 Schweigen zu Beginn oder während einer Gruppensitzung

3.12.2 »Blitzlicht«-Wünsche oder »An-der-Reihe-Sein«

3.13 Mentalisieren in der psychoanalytischen und psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildung sowie in Supervisionen

3.14 Fehlentwicklungen

3.15 Wer ist als Therapeut geeignet?

4 Ausgewählte spezielle Anwendungen

4.1 Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)

4.1.1 Ätiopathogenetische Aspekte

4.1.2 Therapeutische Ansätze

4.2 Borderline-Persönlichkeitsstörungen (BPS)

4.2.1 Das Problem der Diagnostik

4.2.2 Neurobiologische Grundlagen

4.2.3 Therapeutische Ansätze – Gemeinsamkeiten und Unterschiede

4.2.4 MBT- und MBGT-spezifische Kompetenzen

4.3 Generalisierte Angststörungen, Phobien und Panikattacken

4.3.1 Diagnostische Probleme

4.3.2 Ätiopathogenese und Psychodynamik

4.3.3 Mentalisierungsbasierte Gesprächsführung und Therapie.

4.3.4 Psychopharmaka und Mentalisieren

4.4 Depressionen

4.4.1 Diagnostische Probleme

4.4.2 Psychodynamisch-psychosomatische Aspekte

4.4.3 Psychotherapien bei Depressionen

4.4.4 Mentalisierung und Theory of Mind (ToM) bei Depressionen

4.4.5 MBT- und MBGT-spezifische Kompetenzen (»Skills«)

4.5 Somatoforme Störungen oder »Bodily Distress Disorders« (BDD)

4.5.1 Historische Aspekte

4.5.2 Ätiopathogenetische Aspekte

4.5.3 MBT- und MBGT-spezifische Kompetenzen

4.6 Psychometrische Instrumente zur Bestimmung der Mentalisierungsfähigkeit

4.6.1 Reflexive Funktions-/Reflexive-Kompetenz-Skala (RFS/RKS)

4.6.2 »Reading the Mind in the Eyes«-Test – revised version (RMET).

4.6.3 Movie for the Assessment of Social Cognition (MASC)

4.6.4 Levels of Emotional Awareness Scale (LEAS), Version A

4.6.5 YONI

5 Mentalisierungsbasiertes Management (von Peter Döring)

5.1 Mentalisierende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

5.2 Gesundheitsreform als Dauerzustand: Bewältigen von Unsicherheit als zentrale Aufgabe

5.3 Ein Netzwerkmodell als Grundlage für Führung und Zusammenarbeit in einer Klinik.

5.3.1 Zur Notwendigkeit von Führung in Netzwerken

5.3.2 Personalführung verbindet Mitarbeiter und Organisation . . .

5.3.3 Zusammenarbeit an der Spitze der Organisation

5.3.4 Weitere Beziehungen im Netzwerk

5.3.5 Was ist Management?

5.3.6 Ertragsorientierung und Prozessorientierung: Zwei grundsätzlich unterschiedliche Methoden zu managen

5.3.6.1 Ertragsorientierung bei General Motors

5.3.6.2 Prozessorientierung bei Toyota

5.3.7 Eine Klinik ist keine Familie

5.4 Führung und mentalisierungsbasiertes Management (MBM).

5.4.1 Die primäre Aufgabe klären

5.4.2 Ressourcen prüfen und mit Motiven abgleichen

5.4.3 Abläufe beschreiben und optimieren

5.4.4 Strukturen überprüfen und anpassen

5.5 Fazit und Zusammenfassung

Literatur

Personenregister

Sachregister

Dank

Die Entstehung dieses Buchs hat – wie bei anderen Büchern auch – zahlreiche Helfer, Freunde und Unterstützer und natürlich seine eigene Geschichte: 1995 lernte ich Peter Fonagy als Organisator des ersten psychoanalytischen Summer School Research Trainings in London kennen, das von der International Psychoanalytic Association (IPA) gefördert wurde. Dieses Forschungstraining, an dem etwa 20 frisch ausgebildete Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker teilnahmen, machte mich nicht nur mit den verschiedenen Methoden psychoanalytischer Forschung vertraut, sondern auch mit einer offeneren Haltung gegenüber theoretischen Irrtümern und praktischen Fehlern, die uns Psychotherapeuten – mehr als uns lieb sein kann – ständig passieren. Peter Fonagy, den damaligen Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern, Dozenten, Mentoren und Wissenschaftlern – Wilma Bucci, Bob Emde, Sverre Varvin, Horst Kächele, Erhard Mergenthaler, Rudi Vermote und Folkert Beenen, um nur einige zu nennen – möchte ich deshalb an allererster Stelle danken. Sie und viele andere haben durch ihr Engagement etwa 400 Psychoanalytikern dieses Research Training ermöglicht, wodurch eine gewisse Hoffnung geweckt wurde, dass die Psychoanalyse an den Universitäten vielleicht doch wieder Anschluss finden könnte.

Nur wenige Jahre später hatte Anthony Bateman die mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) in seiner Londoner Tagesklinik entwickelt und in Kooperation mit Peter Fonagy die ersten MBT-Workshops im Anna Freud Center (London) eingeführt. Jeder, der sich über Internet schnell genug anmeldete, konnte drei- bis viermal im Jahr in wertschätzender, unkonventioneller und humorvoller Atmosphäre diese Behandlungsmethode für Patienten mit schweren strukturellen Störungen, insbesondere Borderline-Patienten, kennenlernen. Wichtiger aber noch war der intensive gegenseitige Austausch darüber, mit welchen therapeutischen Interventionen überhaupt Veränderungen bei diesen Patienten zu induzieren sind. Anthony Bateman, Peter Fonagy und Mary Target sind die Pioniere des Mentalisierungsmodells; sie haben jederzeit ihre klinischen Erfahrungen und theoretischen Entwicklungen zur Verfügung gestellt, wofür ich ihnen mehr als dankbar bin.

Ohne die späteren Implikationen für das Mentalisierungsmodell zu erahnen, hatte ich mich über die von Lukas Michael Moeller organisierten Gruppenanalytischen Seminare (GRAS) zunehmend mit der gruppenanalytischen Psychotherapie identifiziert. Sie wurde mir im psychotherapeutischen Alltag der Klinik und Tagesklinik ähnlich wichtig und bedeutsam wie MBT, weil sich mehr und mehr offenbarte, wie viel Mentalisieren in analytischer Gruppenpsychotherapie steckt. Die Verbindung von MBT und Gruppenanalyse als mentalisierungsbasierte Gruppenpsychotherapie eröffnete einen völlig neuen und zugleich sehr wirkungsvollen Ansatz, mit dem das Problem der Zunahme psychischer Störungen gesundheitspolitisch vielversprechend zu lösen wäre. Insofern gilt ein besonderer Dank all jenen Patientinnen und Patienten, die mit ihren Reaktionen und kritischen Kommentaren stets für die eine oder andere Korrektur mentalisierungsbasierter Interventionen gut waren und damit für eine kontinuierliche Verbesserung dieses Behandlungsansatzes sorgten.

Kurz nach Abschluss meiner gruppenanalytischen Ausbildung sollte es nicht lange dauern, bis ich über das berufspolitische Interesse, wie die Ausbildung in Gruppenanalyse in Deutschland besser zu organisieren sei, Peter Döring kennenlernte, der nicht nur aufgrund seiner mentalen Stärke in Krisensituationen zu einem meiner besten Freunde wurde. Er erfasste schneller als Andere die historische Bedeutung des Mentalisierungsmodells und unterstützte mich bei jeder Tag- und Nachtzeit freundschaftlich-kritisch mit Rat und Tat, insbesondere wenn wieder mal die Literaturdatenbank streikte. Peter Döring hat die Höhen und Tiefen der Entstehung dieses Buchs am intensivsten miterlebt; freundlicherweise hat er nicht nur immer wieder kritisch Korrektur gelesen, sondern auch Kapitel 5 über mentalisierungsbasiertes Management verfasst, das die Rahmenbedingungen für erfolgreiches psychotherapeutisches Arbeiten in Kliniken und Tageskliniken bereitstellt. Diese Großzügigkeit ist nur unter Freunden möglich; dafür möchte ich ihm von Herzen danken.

Nicht wenige haben durch ihre kritischen Beiträge in den gemeinsam mit Peter Döring durchgeführten MBT-Workshops, beim Lesen der Manuskript-Teile und in zahllosen Diskussionen auf ihre Art und Weise geholfen, dass sich die Buchstaben zu einem lesbaren Text entwickelten. Danken möchte ich deshalb Mechthilde Kütemeyer, Sebastian Euler, Ludger M. Hermanns und Edna Baumblatt-Hermanns. Besonderer Dank gilt auch allen Mitarbeitern meiner Klinik, die mit ihrem kritischen Geist manche Herausforderung an mich stellten, allen voran Zeynep Günes-Atik, Julia Knecht, Elisabeth Büchner-Lammers, Ingmar Niecke, Max Aly und Gernot Holtz; Ansgar Cordes verdanke ich die kontinuierlichen Hinweise, dass es eine Reihe von Überschneidungen zwischen MBT und systemischer Therapie gibt. Nicht weniger sei unseren Psychologinnen Elke Barzynski, Tanja Brand, Sarah Fuhrländer, Dagmar Hecke gedankt, die sich im Rahmen eines Forschungsprojekts zu mentalisierungsbasierter Gruppenpsychotherapie in unserer Tagesklinik zusammen mit den Teammitgliedern mit großer Sorgfalt und großem Engagement der Frage stellen, wie und woran man Mentalisieren im therapeutischen Prozess überhaupt messen kann. Großer Dank gebührt nicht zuletzt Heinz Beyer von Klett-Cotta, der immer an der Idee dieses Buches festhielt, und Thomas Reichert für sein umsichtiges und geduldiges Lektorat.

Der größte Dank gilt meiner Frau Dorothee Venrath und meinen Töchtern Lenka Staun, Tabea und Laetitia Venrath, weshalb ich ihnen dieses Werk gerne in Liebe widme. Sie alle haben die inneren Prozesse und die Belastungen, die ein solches Projekt neben der Leitung einer Klinik und anderen Verpflichtungen mit sich bringt, mentalisierend mitgetragen. Es wäre zu wünschen, dass der Inhalt des Buchs ihnen etwas davon zurückgibt, worauf sie während der Entstehung leider verschiedentlich verzichten mussten.

1 Einleitung

»Tradition ist nicht das Halten der Asche,
sondern das Weitergeben der Flamme.«

Thomas Morus

Angesichts von etwa 250 unterschiedlichen Psychotherapien und sicher mehr als 100 000 Büchern im deutschsprachigen Raum und im englischsprachigen Ausland hat es etwas Entmutigendes, dem bunten Blumenstrauß ein weiteres Buch zum Thema »Psychotherapie« hinzufügen zu wollen. Das einzige Gegenargument könnte sein: Vielleicht macht dieses Buch endlich die Fülle der bisherigen Ansätze überflüssig, weil das hier beschriebene Mentalisierungsmodell so viele Ansätze zu integrieren vermag. Ein solches Argument ist natürlich idealistisch, wird doch dabei übersehen, dass jede (neue) Entwicklung auch ein Geschäftsmodell ist. Eine Vielzahl der Autoren möchte, wenn sich schon kein Geld mit ihrem jeweiligen therapeutischen Konzept verdienen lässt, wenigstens nicht auf den narzisstischen Gewinn durch dessen Verbreitung verzichten. Der Autor kann nicht versprechen, anders zu sein, will es aber gerne. Auch respektiert er jede Vielfalt, denn Mentalisieren kommt in fast jeder Psychotherapie vor, wenn sie wirksam ist. Lassen Sie sich also als Leser einfach überraschen. Wo aus gesundheitsökonomischen Gründen die Zahl der Psychotherapeuten nicht wachsen darf, sollten wir Psychotherapeuten wenigstens an einer Verbesserung der Qualität unserer Arbeit interessiert sein.

Psychische Störungen sind in Europa zur größten gesundheitspolitischen Herausforderung des 21. Jahrhunderts geworden. In einer erstmaligen Analyse aller 27 europäischen Länder wurden dramatische Missstände in der Versorgung festgestellt: Weniger als ein Drittel aller Betroffenen wird überhaupt nur behandelt, und wenn, meist nicht nach den Richtlinien der Fachgesellschaften oder nach den minimalen Anforderungen an eine adäquate Therapie. 38,2% aller Einwohner der EU (das entspricht 164,8 Millionen Menschen) leiden mindestens einmal im Jahr unter einer klinisch bedeutsamen psychischen Störung. Als häufigste Erkrankungen gelten Angststörungen (14%), Schlafstörungen (7%), unipolare Depressionen (6,9%), psychosomatische Erkrankungen (6,3%), Alkohol- und Drogenabhängigkeit (> 4%), Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen (5%) und Demenzen (1 bis 30% je nach Altersdekade) (Wittchen et al. 2011).

Trotz dieser dramatisch anmutenden Prävalenzen haben psychische Störungen in den letzten Jahren wahrscheinlich nicht an Häufigkeit zugenommen. Der wahrgenommene Anstieg wird eher auf ein verändertes Hilfesuch- und Therapieverhalten der Betroffenen bzw. der Behandlungseinrichtungen zurückgeführt. Die Behandlungen beginnen dennoch meist erst Jahre nach Krankheitsbeginn, was zusätzlich enorme gesellschaftliche Belastungen mit sich bringt. Psychische Störungen sind, volkswirtschaftlich mit dem »disability-adjusted life years (DALYs)«-Indikator der WHO gemessen, bedeutsamer als irgendeine andere Krankheitsgruppe (wie z. B. Krebs, Herzerkrankungen etc.). So errechneten Wittchen und Kollegen (2011) für die EU, dass psychische Störungen für 26,6% der volkswirtschaftlichen Gesamtbelastung durch Krankheiten in der EU verantwortlich sind.

Als Faktoren, die für diesen Status quo entscheidend mitverantwortlich sind und die im Hinblick auf eine verbesserte Forschung und Versorgung verändert werden müssten, wird ein weitverbreitetes Nichtwissen in der Bevölkerung und in der Gesundheitspolitik bezüglich der verschiedenen Formen psychischer Störungen, ihrer Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten angesehen. Man könnte – sofern nicht ökonomische Begrenzungen die eigentliche Ursache sind – auch von einem kollektiven Mentalisierungsversagen ausgehen, wenn das immense Ausmaß an Unter-, Fehl- und Mangelversorgung für die meisten psychischen Störungen weder wahrgenommen noch adäquat angegangen wird.

Da den Forderungen, dass psychische Störungen früher und schneller nach ihrem erstmaligen Auftreten behandelt werden müssten, da sie in der Regel früh im Leben beginnen und – unbehandelt – massive negative Langzeiteffekte auf alle Lebensbereiche der Betroffenen haben, kaum sichtbare gesundheitspolitische Maßnahmen folgen, bleibt Psychotherapeuten aller Fachrichtungen jedenfalls nur die Möglichkeit, ihre Behandlungsqualität weiter zu verbessern und so ihren Beitrag zu mehr psychischer Gesundheit zu leisten. Das Mentalisierungsmodell und die mentalisierungsbasierte Einzel- und Gruppenpsychotherapie als eine spezielle Weiterentwicklung der psychodynamischen Verfahren stellen wenigstens für einen Teil der Patienten mit Persönlichkeitsstörungen, aber auch mit Somatisierungs- und Angststörungen sowie Depressionen eine verbesserte Behandlungsqualität in Aussicht.

Die Psychoanalyse mit den von ihr abgeleiteten psychodynamischen Psychotherapien ist inzwischen mehr als 100 Jahre alt und trotzdem eine noch eher junge Wissenschaft. Psychodynamische Psychotherapien haben ihre Wirksamkeit bei den verschiedensten psychischen und psychosomatischen Erkrankungen weitaus besser empirisch belegen können, als ihnen von ihren Kritikern gerne immer wieder unterstellt wird (Shedler 2010, 2011; Knekt et al. 2011), insbesondere auch bei den meisten Formen der Persönlichkeitsstörungen (Leichsenring 2010). Dabei zielen die psychodynamischen Psychotherapien nicht nur auf die Linderung akuter Symptome, sondern auch auf die Entwicklung innerer Kapazitäten und Ressourcen, die häufig in sogenannten Outcome-Studien gar nicht untersucht werden.

Neurowissenschaftler, biologisch orientierte Psychiater und kognitiv orientierte Verhaltenstherapeuten kommen inzwischen nicht mehr umhin, sich mit psychoanalytischen und psychodynamischen Überlegungen auseinanderzusetzen. Sie akzeptieren, dass ein großer Teil der Emotionen nicht bewusst ist und »nur einige dieser Vorgänge in ihrer Endstrecke als Gefühle – und zumeist auch nur für eine kurze Zeit – bewusst werden« (Mertens 2011 b, S. 51). Sie bedienen sich aber der Psychoanalyse häufig im Sinne eines Steinbruchs, ohne die psychoanalytische Herkunft ihrer Überlegungen anzuerkennen, wobei sie die Psychoanalyse als Grundlagenwissenschaft häufig noch entwerten. Autoren wie Carhart-Harris und Friston (2010), die Freuds Annahme des Dualismus der Kognition (Primärversus Sekundärprozess als Funktionen von Es und Ich) mit den aktuellen Daten aus Neuropsychologie, Neuroimaging und Psychopharmakologie wertschätzend in eine Verbindung bringen, sind leider eher die Ausnahme.

Umgekehrt haben die Neurowissenschaft(en) – insbesondere mit ihrem Schwerpunkt der sozialen Kognition –, die Bindungs- und Säuglingsforschung, die Affekt- und Emotionsforschung und sogar Genetik und Epigenetik in den letzten Jahrzehnten eine immense Fülle von Erkenntnissen hervorgebracht, die Teile der psychoanalytischen Theorie als nicht haltbar erscheinen lassen. Infolgedessen sind die Psychoanalyse wie die von ihr abgeleiteten psychodynamischen Therapien mehr als je zuvor gefordert, ihre Vorstellungen von der menschlichen Entwicklung zu überprüfen und abzugleichen, wollen sie nicht nur als historisches Mauerblümchen des 20. Jahrhunderts abgetan werden. So haben die präverbalen Entwicklungsphasen der Emotions- und Affektregulation in den ersten zwei bis drei Lebensjahren – und möglicherweise sogar schon pränatal – für die Entwicklung des Selbst, bzw. der psychischen Struktur des Menschen, eine sehr viel umfassendere bzw. weiter gefasste Bedeutung, als dies bisher in den psychodynamischen Theorien ausgearbeitet wurde.

Im klinischen Alltag der psychotherapeutischen Praxis spielt die Intersubjektivität mit dem »Lesen« der Gefühle, der Intentionen und Gedanken, die das Gegenüber hegt, die zentrale Rolle. Kommunikationsstile und -prozesse, Varianten der Intersubjektivität, entscheiden im Wesentlichen darüber, ob sich Patient und Therapeut eher verstehen, missverstehen oder letztlich gar nicht zueinander finden. Die Arbeitsgruppe um Allen et al. (2008, 2011) hat Kliniker aller Fachrichtungen mit einer gewissen Dreistigkeit dazu eingeladen, Mentalisieren als Grundlage jeder psychotherapeutischen Behandlung anzusehen, da dies die eigentliche menschliche Fähigkeit ist, die eigenen wie die fremden psychischen Befindlichkeiten zu begreifen. Es ist eine wahrscheinlich durchaus berechtigte Annahme, dass »dysfunktionales Mentalisieren« in unterschiedlicher Ausprägung und mit unterschiedlichem Schweregrad bei den meisten psychischen Störungen zu beobachten ist, die eine Überweisung zu einer Psychotherapie rechtfertigen, und jede Psychotherapie nutzt die Mentalisierungsfähigkeit, unabhängig davon, ob sie explizit oder implizit konzeptualisiert wurde (Fonagy et al. 2012, S. 3).

Unabhängig von der psychischen Störung ist jedoch jeder Kommunikationsstil als Teil der Intersubjektivität ebenso von verschiedenen Vorerfahrungen wie von sinnlich-körperlichen Gegenwartserfahrungen abhängig. Er ist u. a. wesentlich davon abhängig, welche Selbst- und Objekt-Repräsentanzen sich auf beiden Seiten durch frühe Bindungserfahrungen gebildet haben. Wenig bewusst ist für den Beteiligten die Komplexität der damit verbundenen Kommunikationsprozesse, nicht zuletzt, weil diese überwiegend nonverbal stattfinden. Die Sprache und die in ihr gewählten Worte sind nur die Spitze des kommunikativen und informativen »Eisbergs«; sie unterscheidet uns am meisten von den Primaten, während all das, was unausgesprochen unter Wasser liegt, uns mit ihnen eher verbindet.

Mit diesen Problemen der Intersubjektivität haben sich schon zahlreiche Autoren des analytischen wie nicht-analytischen Lagers beschäftigt, wobei durchaus Unterschiede zwischen Säuglingsbeobachtern und Entwicklungspsychologen einerseits, wie z. B. Stern (2007 a), oder Klinikern andererseits, wie z. B. der Pariser Psychosomatischen Schule (Marty 1991), auszumachen sind. Letztere hatten bei Patienten mit Somatisierungsstörungen und mit einer Borderline-Pathologie beobachtet, dass für diese eine andere »Gesprächskunst« erforderlich sei: »Um im Patienten das Interesse am Denkprozess zu wecken, muss man mit ihm zusammen denken und ihn in den Prozess einbeziehen. Wir würden sogar von einer Art ›Verführung‹ sprechen, die dem Patienten zu der Erkenntnis verhilft, dass es niemanden gibt, der ›nichts zu sagen‹ hat, dass es kein Leben ohne seine Geschichte und keine Geschichte ohne ihre Wörter, ihren Inhaltsreichtum, ihren Kummer gibt. Es muss alles getan werden, um die Arbeit des Vorbewussten zu unterstützen und anzuregen und den Patienten zur Seite zu stehen, damit sie die Freude am Aufbau emotionaler Erfahrung via Sprache entdecken und teilen können« (Aisenstein & Smadja 2011, S. 63).

Stern fokussierte als Säuglingsforscher und Entwicklungspsychologe auf die Intersubjektivität als »Matrix« – ein Begriff von Siegmund Heinrich Foulkes, dem Begründer der Gruppenanalyse – in einer Zwei-Personen-Psychologie und verstand das Begegnungsmoment zwischen den Beteiligten als eine emotional gelebte Geschichte, die »nicht lediglich artikuliert, sondern physisch, emotional und implizit geteilt« wird (Stern 2007 a, S. 17). Demgegenüber ist die Formulierung von Aisenstein und Smadja für psychoanalytische Psychosomatiker erstaunlich kognitiv auf Sprache und Denken und weniger auf den Körper bezogen. Dies mag ein erster Hinweis darauf sein, wie unterschiedlich das Mentalisierungsmodell inzwischen von angelsächsischen, amerikanischen, französischen und deutschen Autoren verstanden und genutzt wird. Mentalisierungskonzept und mentalisierungsbasierte Therapie haben die verschiedenen Psychoanalyse(n) enorm bereichert und im akademisch-wissenschaftlichen Diskurs wieder anschlussfähig gemacht. Nach der interaktionellen Wende, eingeleitet durch die relationale Psychoanalyse (Mitchell 2003), finden inzwischen auch der Körper und seine verschiedenen Sinne nicht nur im Mentalisierungsmodell in neuer Weise Berücksichtigung, sondern ebenso in Theorie und Praxis der psychodynamischen Psychotherapien (Scharff 2010). Leider gibt es allerdings auch erste Hinweise, dass das Mentalisierungsmodell nicht nur von anderen Therapiemethoden mehr schlecht als recht »abgekupfert«, sondern auch noch falsch oder missbräuchlich eingesetzt wird (Schultz-Venrath 2011 c). Unabhängig davon nimmt es durch die Integration neurowissenschaftlicher, entwicklungspsychologischer und psychoanalytischer Erkenntnisse eine Zwischenstellung zwischen den Disziplinen des Unbewussten im Sinne psychodynamischer und psychoanalytischer Psychotherapien und den behavioralen Ansätzen ein.

Neue Entwicklungen, die eigenartig leicht einer Idealisierung unterliegen, sollten regelmäßig kritisch geprüft werden, inwiefern sie wirklich einen Vorteil oder Fortschritt versprechen. Ein Praktiker handelt, wenn er effektiv sein will, so, als wären gewisse Prinzipien und Theorien gültig. Aber wir wissen noch sehr wenig über die subjektiven Theorien, die hinter den Interventionen stehen. Da Psychotherapeuten unabhängig von ihrer theoretischen Herkunft trotzdem die Tendenz haben, sich von der erfolgreichen Anwendung einer Theorie beeindrucken zu lassen, besteht grundsätzlich die Gefahr, dass größeres Vertrauen in eine Theorie gesetzt wird, als durch die Tatsachen gerechtfertigt erscheinen mag.

Die Warnung, eigene innovative Entwicklungen nicht zu überschätzen, kann gar nicht genug gewürdigt werden und sollte immer wieder zu Bescheidenheit anregen. Gerade die fehlende Selbstkritik wie das Fehlen einer solchen Bescheidenheit lassen manche Kritik an bestimmten Entwicklungen der Psychoanalyse als sehr berechtigt erscheinen. Andererseits ist man erstaunt, wenn sich die Kritik der Vertreter der kognitiven Psychologie oder der biologischen Psychiatrie auf theoretische Positionen der Psychoanalyse(n) bezieht, die 25 bis 50 Jahre alt oder gar noch älter sind.

Es ist erfreulich, dass das Mentalisierungsmodell für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik bezüglich der zukünftigen Diagnostik der Persönlichkeitsstörungen im DSM-V Einfluss genommen hat: Kernbegriffe sind der Theorie des Mentalisierens entlehnt. Persönlichkeitsstörungen werden dort inzwischen primär als Störungen des Erlebens und des Denkens über das Selbst und Andere definiert, mit unterschiedlich schwer gestörter Integration des Selbstkonzepts, des Selbstwerts und der Qualität der Selbst-Repräsentanz bei gleichzeitig vorliegenden interpersonellen Defiziten bezüglich Empathie, Intimität und der Integration der Repräsentanzen Anderer. Eine solch umfassende Taxonomie könnte durchaus für alle psychischen Störungen – bei unterschiedlicher Gewichtung der zugrunde liegenden Mentalisierungsstörung – Anwendung finden.

Mentalisieren als Prozess integriert Denken und Fühlen im Sinne einer reflexiven Kompetenz und ist als Konzept eine Abwendung von der Annahme, der Geist könne sich selbst erkennen, eine Vorstellung, die seit Descartes die wissenschaftliche Welt immer wieder in pro und contra teilte. Die mentalisierungsbasierte Therapie wurde in den letzten Jahren für Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung im Rahmen eines tagesklinischen Settings in London als kombinierte Einzel- und Gruppenpsychotherapie entwickelt (Bateman & Fonagy 2004 b, 2008 c). Die beeindruckenden Behandlungsergebnisse veranlassten die APA (American Psychiatric Association), die mentalisierungsbasierte Psychotherapie in die »guidelines« zur Behandlung von Persönlichkeitsstörungen aufzunehmen (Bateman & Fonagy 1999, S. 99; 2001; 2008 a). Inzwischen liegen ähnlich positive Ergebnisse für eine wesentlich größere Fallzahl auch bei der ambulanten Behandlung vor (Bateman & Fonagy 2009). Es gibt erste Hinweise, dass eine mentalisierungsbasierte Einzel- und Gruppenpsychotherapie ebenso für erwachsene wie für jugendliche Patienten mit anderen psychischen Störungen, wie z. B. antisozialen Persönlichkeitsstörungen, aber auch Angststörungen und Depressionen sowie Somatisierungsstörungen, einschließlich chronischen Unterbauchbeschwerden, und für forensische Patienten hilfreich sein kann (Verheugt-Pleiter et al. 2008; Sharp et al. 2009, 2011; Staun et al. 2010; Rudden et al. 2008; Bateman & Fonagy 2008 b).

Wir vermuten, dass das Konzept der mentalisierungsbasierten Therapie (MBT) zurzeit einen so großen Zulauf hat, weil es ein theoretisches und praktisches Konzept zur Verfügung stellt, an dem sich das therapeutische Handeln weniger theoriegeleitet orientieren kann und bei dem die Selbstentwicklung des Patienten in den Vordergrund gestellt wird. In Tageskliniken und Kliniken können sich alle Teammitglieder daran konzeptionell orientieren, mit dem wechselseitigen Stimulus: Wie könnten wir die PatientInnen noch besser (be)fragen, um Mentalisieren zu fördern? Eine solche Orientierung ist erforderlich, um die stationäre oder teilstationäre Therapie, insbesondere von Patientinnen und Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen, therapeutisch wirksamer und effizienter organisieren zu können. Dies ist in Bezug auf die Gesundheit der Patienten, aber auch der Mitarbeiter von Kliniken, Tageskliniken und anderen Organisationen ebenso sinnvoll und notwendig wie die Berücksichtigung der Begrenzung ökonomischer Ressourcen.

Andererseits sind »Mentalization-Based Treatment (MBT)«, »Mentalisierung« und »Mentalisieren« seit geraumer Zeit theoretische Begriffe, die aufgrund ihrer Attraktivität Gefahr laufen, sich als modische Schlagwörter in die Theorie-Sprache von Psychoanalytikern, Psychosomatikern und Gruppenanalytikern sowie anderen Therapeuten einzuschleichen. Neue theoretische Begriffe – zu denen »Mentalisieren« als noch sehr junge Wortschöpfung seit einigen Jahren gehört – können jedoch trotz ihrer anfänglichen »Sperrigkeit« nützlich sein, um neue klinische Erkenntnisse »in Worte zu fassen«. »Neue theoretische Begriffe zu prägen, ist verlockend und riskant zugleich; eines der Risiken besteht darin, dass die Wortschöpfung die eigene Unfähigkeit verbirgt, sich in neues Denken so gründlich einzuarbeiten, dass man es wirklich versteht und in der allgemein gebräuchlichen Sprache formulieren kann« (Poland 2009, S. 20). Die Aufgabe, diese mit der bisherigen, allgemein gebräuchlichen Sprache zu vernetzen, ist weiter zu bearbeiten. In diesem Zusammenhang sehen wir dieses Buch und die Publikationen, die in jüngerer Zeit im englischen und deutschen Sprachraum zum Mentalisierungsmodell wie zur mentalisierungsbasierten Therapie entstanden sind. Leider werden neue Theorien und Psychotherapien nicht selten idealisiert und überbewertet, bis die methodischen Grenzen klarer erkannt und theoretisch formuliert sind. Unser Anliegen ist die weitere Spezifizierung und praktische Umsetzung des Mentalisierungsmodells und nicht die Förderung der Idealisierung der neuen Methode.

Die Kognitions- und die Emotionspsychologie, die sich wissenschaftlich um die Erforschung der Bereiche Denken und Fühlen bemühen, wirkten in den letzten Jahrzehnten wenig aufeinander bezogen und schienen weit auseinanderzuliegen. Durch die jüngeren Entwicklungen wurde ein hoffnungsvoller Prozess angestoßen, durch den sich die Spannung zwischen »Ich denke, also bin ich« und »Ich fühle, also bin ich« zu verringern scheint und zu der integrativen Formulierung: »Ich fühle und denke, also bin ich«, hin entwickelt. Trotzdem besteht das Risiko, dass die neue Wortschöpfung »Mentalisieren« zu wenig Verbindendes abbildet und eigenes Unvermögen verbirgt, neues Denken in der anerkannten und öffentlichen Sprache zu formulieren.

Peter Fonagy und seine Arbeitsgruppe entwickelten das Mentalisierungskonzept in der Tradition des Philosophen Franz Clemens Brentano (1838 – 1917) (Brentano 1874 [2008]) und des amerikanischen Wissenschaftstheoretikers Daniel C. Dennett (1987). Nach deren beider Verständnis sind menschliches Denken und Handeln, bzw. alle psychischen Phänomene, ausschließlich in Begriffen von »intentionalen« Zuständen (»intentional stance«) zu deuten und zu verstehen. Physikalische Phänomene besäßen dagegen keine Intentionalität (Dennett 1978, S. XVII). Intentionalität hat sich als zentraler Begriff in der Konzeption und Theorie der reflexiven Kompetenz entwickelt. Sie kann nach heutigem Kenntnisstand in mindestens vier Varianten zu beobachten sein, die wahrscheinlich aber hierarchisch miteinander verbunden sind:

Unser Sehen ist immer Sehen von etwas (Intentionalität von Wahrnehmungsakten), unser Denken immer Denken an etwas, unser Sprechen ein Sprechen über etwas (Perler 2002), was Dennett »aboutness« nennt: »Intentionalität im philosophischen Sinne ist lediglich Bezugnahme. Etwas zeigt Intentionalität, wenn seine Kompetenz in irgendeiner Weise auf etwas anderes bezogen ist« (Dennett 1996, S. 35).

Sowohl die Theorie wie die sich daraus ergebende Behandlungstechnik sind trotz oder gerade wegen der vielen Publikationen keinesfalls als abgeschlossen, sondern eher als »work in progress« anzusehen. Insbesondere sind Wege zu finden, wie das Mentalisieren in den verschiedenen Behandlungssettings (ambulant, tagesklinisch, stationär, forensisch) bis hin zur Organisationsebene von Kliniken differenziert gefördert werden kann. Welche Formen der Zusammenarbeit in Teams, welche konkreten Interventionen und welche weiteren therapeutischen Vorgehensweisen sind nützlich? Ist das Mentalisierungsmodell eventuell auch für die Anwendung in nicht-klinischen Organisationen, insbesondere in der Führung sinnvoll? Welche Mechanismen in therapeutischen Teams und Organisationsstrukturen wirken sich eher hemmend auf das Mentalisieren aus?

Die besondere Attraktivität des Mentalisierungsmodells liegt für uns darin, dass verschiedene theoretische Entwicklungslinien der Psychoanalyse und der gruppenanalytischen Psychotherapie, der Neurowissenschaften und der Bindungsforschung auf eine konsistente Weise integriert werden können. Klinischtheoretisch basiert das Mentalisierungsmodell auf den Erkenntnissen der frühen französischen wie neueren Alexithymie- und Autismus-Forschung sowie auf der Entdeckung der neurobiologischen Bedeutung der Spiegelneuronen und damit verwandter Prozesse. Wir gehen davon aus, dass von der Epigenetik und den neurohumoralen Faktoren noch überraschende Erkenntnisse für die Zukunft zu erwarten sind, auf welche Weise das Mentalisieren gefördert und gehemmt werden kann.

Für Kliniker, Psychotherapie-Interessierte, Supervisoren und Ausbildungskandidaten stellt MBT ein Modell zur Verfügung, das es erlaubt, vom Einfachen zum Komplexen vorzugehen. So wird ein besserer Umgang mit einem Grundproblem psychoanalytischer Didaktik möglich. Dieses besteht nach unserer Erfahrung darin, dass das Erlernen psychoanalytischer Konzepte mit dem Überwinden hoher »Einstiegshürden« verbunden ist, die aus der Komplexität der pluralen psychoanalytischen Theoriewelt resultiert. Sie hat leider nur noch für eine immer kleiner werdende Schar von Ausbildungskandidaten der Psychoanalyse (Koenen & Martin 2012) eine (zuweilen idealisierte) Attraktivität, die sich den behavioralen Vereinfachungen zu entziehen suchen.

Darüber hinaus ermöglicht das Mentalisierungsmodell, indem es sich gleichermaßen auf die Dyade wie auf das Gruppensetting beziehen lässt, ein anderes Verständnis von Organisation, was möglicherweise präventiv gegen die von Kernberg (2012) vermutete Suizidalität psychoanalytischer Institutionen wirken könnte (vgl. Kap. 2.1.1). Wo in der Welt der Wissenschaft gibt es noch das Phänomen, dass man als »Kleinianer«, »Postkleinianer«, »Lacanianer« oder »Kernbergianer« und zukünftig vielleicht als »Fonagyianer« eingestuft wird? Ist nicht diese Idolisierung zugleich eine massive Einschränkung auf eine einzige Behandlungstheorie, die jegliche Weiterentwicklung hemmt? Die Personalisierung mit dem Bezug auf einen einzigen Pionier, dessen Verehrung nicht in Frage gestellt werden soll, anstelle einer wissenschaftlichen Entwicklung von Theorie und Praxis birgt die Gefahr eines traditionsbezogenen Stillstands.

Für Kliniken, aber auch für Organisationen aller Art sind die Förderung und das Aufrechterhalten des Mentalisierens bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine wichtige Voraussetzung für eine funktionale Zusammenarbeit innerhalb der Behandlungsteams. Das Mentalisierungsmodell bietet einen neuen und hilfreichen Fokus für die Gestaltung dieser Zusammenarbeit. In Deutschland kann dabei auf eine Theorie- und Anwendungsgeschichte stationärer Psychotherapie zurückgegriffen werden, die es in Großbritannien in dieser Form nicht gibt.

2 Theoretische Grundlagen

2.1 Zur Entwicklungsgeschichte des Mentalisierungsmodells und der mentalisierungsbasierten Therapie

Die mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) ist als Modifikation psychoanalytischer Psychotherapie entwickelt worden, nachdem sich Beobachtungen häuften, dass Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) entweder ihre psychoanalytische Psychotherapie gar nicht antraten, frühzeitig abbrachen oder von der Therapie nicht profitieren konnten (Gunderson et al. 1989; Stern 1945). Als Gründe wurden Enttäuschung über die Behandlung, ein Mangel an sozialer Unterstützung und Schwierigkeiten, Termine einzuhalten, angeführt. Zur Erkrankung an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung gehört, dass Patienten am selben Tag drängend um eine Behandlung bitten, um sie kurz darauf ebenso engagiert wieder zu verwerfen. Diese – manchmal über Jahrzehnte anhaltende – Ambivalenz von BPS-Patienten gegenüber Psychotherapien aller Art konnte umfassend erst durch die Bindungsforschung verstanden werden, die als zentraler Baustein des Mentalisierungsmodells anzusehen ist: Das Behandlungsangebot oder die Behandlung selbst aktiviert das Bindungssystem, wodurch das Selbsterleben brüchig wird, weil eine sichere Bindung diesen Patienten kaum vertraut ist und als stabile Repräsentanz nicht ausreichend zur Verfügung steht. Dadurch verstärken sich in der Regel rigide Abwehrmodi, die mit einer verminderten Mentalisierungsfähigkeit einhergehen.

Das Mentalisierungsmodell fußt auf verschiedenen konzeptuellen Wurzeln, die – als »work in progress« – Einfluss auf die Theorie und psychotherapeutische Technik ausüben (Holmes 2005, 2009):

Die Londoner Arbeitsgruppe um Bateman und Fonagy (Fonagy et al. 2004) entwickelte mit MBT eine psychodynamische Behandlung für Borderline-Patienten im Rahmen eines tagesklinischen (Bateman & Fonagy 2004a; Bateman & Fonagy 2008 a) und später ambulanten Settings (Bateman & Fonagy 2009). Inzwischen wird MBT in niederfrequenten analytischen Psychotherapien (Schultz-Venrath 2008 a), in Kurztherapien (Allen et al. 2011), in höherfrequenten Langzeit-Psychoanalysen, in Gruppenpsychotherapien (Bolm 2009a; Schultz-Venrath 2008 b; Karterud & Bateman 2012), in kinderanalytischen Psychotherapien (Zevalkink et al. 2012), in den Tanz- und Körpertherapien (Fiedler et al. 2011) sowie in Familientherapien (Asen & Fonagy 2012) eingesetzt. Dabei betonen die Autoren in britischer Bescheidenheit, dass sie keine neue Therapie erfunden, sondern sich nur auf einen neuen Fokus konzentriert hätten. Außer bei Patienten mit BPS wird MBT inzwischen auch in der Behandlung von antisozialen Persönlichkeitsstörungen, generalisierten Angststörungen und Panikattacken, depressiven und psychosomatischen Erkrankungen, einschließlich Essstörungen und chronischen Unterbauchbeschwerden angewendet (Skarderud 2007 a, b, c; Skarderud & Fonagy 2012; Bateman & Fonagy 2008b; Fischer-Kern et al. 2008; Leithner-Dziubas et al. 2010; Rudden et al. 2008; Staun et al. 2010; Subic-Wrana et al. 2010; Taubner et al. 2011).

Die verschiedenen objektbeziehungstheoretischen Ansätze und insbesondere die jüngeren Beiträge zur Intersubjektivität sind für die Entwicklung von MBT und das ihm zugrunde liegende Mentalisierungsmodell von besonderer Bedeutung. Gleichzeitig erheben aber auch die Vertreter der behavioralen Therapien den Anspruch, dass »Bindung und Mentalisierung […] keine Begriffe bleiben« können, »die für die psychodynamischen Therapien reserviert sind« (Sulz & Milch 2012, S. 5). Die Psychoanalyse hat sich allerdings mit ihren zahlreichen Abkömmlingen gründlicher und länger als andere Psychotherapien der systematischen Erforschung menschlicher Entwicklung, speziell auch den Persönlichkeitsstörungen, gewidmet, die vor dem Mentalisierungsmodell in die von Kernberg und Mitarbeitern (2008) entwickelte übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP, Transference Focussed Psychotherapy) mündete. Insofern entbehrt es nicht einer gewissen Paradoxie, dass aus verschiedenen Gründen (s. u.) aktuell eine Marginalisierung der Psychoanalyse in den Human- und Naturwissenschaften zu beobachten ist, die in weiten Teilen der psychoanalytischen Gemeinschaft als Krise wahrgenommen wird.

Dabei sind die einen der Überzeugung, dass die Krise der Psychoanalyse so alt sei wie die Psychoanalyse selbst, weswegen sie unter (den meist älteren) Psychoanalytikern manchmal nur noch ein gleichgültiges Achselzucken und die Annahme auslöst, »es sei noch immer gut gegangen«. Andere, wie z. B. Amati Mehler (2012), vertreten die Ansicht, nicht die Psychoanalyse, sondern die Psychoanalytiker seien in der Krise, weil ihr Vertrauen in die Validität ihrer Praxis geschwunden sei, was auch mit Ängsten gegenüber strukturell schwer gestörten Patienten einherginge. Nicht zuletzt wird ein zentraler Mangel darin gesehen, dass die Außenwelt – und damit das Tempo der Globalisierung – nicht mehr gebührend Eingang in die psychoanalytische Theoriebildung fand (Fonagy & Target 2007). Dies habe auch Auswirkungen auf die psychotherapeutische Ausbildung und Praxis: Entweder arbeiteten Psychoanalytiker – wie übrigens auch nicht-analytisch orientierte Psychotherapeuten – heimlich anders, als es der institutionelle »Mainstream« vorgebe, oder die immer kleiner werdende Nische werde elitär als etwas ganz Besonderes idealisiert, auch wenn es dafür immer weniger Interessenten gebe. Die bisher weniger erfolgreichen Versuche der Anpassung psychoanalytischer Behandlungstechnik an wissenschaftliche, psychosoziale und kulturelle Erfordernisse bestätigen jedoch Castoriadis’ (1978, S. 78) These: »Die Analytiker mögen das Soziale ignorieren, aber das Soziale ignoriert sie nicht«.

Im Laufe der über 100-jährigen Geschichte der Psychoanalyse haben sich sehr unterschiedliche Richtungen herausgebildet, weshalb wir im Folgenden nicht von der Psychoanalyse, sondern von den Psychoanalysen sprechen. Deren Krisen sind – in den Kreisen ihrer Vertreter wie in denen ihrer Kritiker – immer wieder Gesprächsthema, mit der Folge, dass eine einheitliche Definition von Psychoanalyse und deren Abgrenzung von nicht-analytischen Psychotherapien (Blass 2010) offensichtlich schwerer zu realisieren ist als gewünscht. Unzählig sind die Impulse zur Veränderung von Theorie und Technik, die es seit der Begründung der Psychoanalyse durch Freud immer wieder gegeben hat, bis dahin, dass Freud selbst mit seinen therapeutischen Empfehlungen zur Notwendigkeit von realen Konfrontationen bei Angststörungen schon spätere Essentials der Verhaltenstherapie vorweggenommen hat.

So wenig dies in psychotherapeutischen Kreisen anerkannt wird, so wenig scheint auch eine Konvergenz der verschiedenen Psychotherapierichtungen wahrgenommen zu werden, wobei die Richtlinienverfahren nicht nur allesamt eine gute Wirksamkeit demonstriert haben, sondern auch große Überschneidungen untereinander aufweisen, so dass keine Psychotherapieform mehr in Reinkultur konzeptualisiert und schon gar nicht praktiziert wird. Da die Kriterien für eine erfolgreiche und wirksame therapeutische Beziehung noch immer wenig bekannt sind – wir wissen recht wenig darüber, »wie« Psychotherapie wirkt –, wurde schon vor über 50 Jahren vermutet, dass die Wirksamkeit verschiedener Psychotherapien eher auf gemeinsame als auf differente Merkmale zurückzuführen sei (Frank 1961, S. 232). Das Gemeinsame aller Psychotherapien besteht in der Exposition gegenüber neuen oder angstfördernden Stimuli, Ideen und Gefühlen, in der Bemühung, problematische Denkstrukturen, Affekte und Verhaltensweisen zu verstehen und zu bearbeiten. Nicht zuletzt findet sich eine Gemeinsamkeit darin, dass der Patient mit einer anderen Person oder einer Gruppe von Menschen interagiert. Die meisten Psychotherapien stellen eine Sicherheit vermittelnde Umgebung bereit, in welcher der Therapeut auf eine Weise handelt, die vergangene Erwartungen über Beziehungen nicht erfüllt und neue Interaktionsmöglichkeiten anbietet (Westen 2005, S. 443). So wird unter Verhaltenstherapeuten bei weitem nicht mehr nur Verhaltenstherapie, sondern vieles aus Tiefenpsychologie und Psychoanalyse angeboten, was sich praktisch bewährt hat, und zuweilen unter dem »Label« integrativer Psychotherapie von modern aufgestellten Ausbildungsinstituten angeboten wird. Umgekehrt bedienen sich psychodynamische Psychotherapien verhaltenstherapeutischer Konzepte, etwa des Angst-Expositionstrainings in tagesklinischen und klinischen Einrichtungen. Was aber ist das Neue an der Krise der Psychoanalyse zu Beginn des 21. Jahrhunderts?

Mit seinem Buch vom Zeitalter des Narzissmus hatte Christopher Lasch (1979) gegen Ende des 20. Jahrhunderts auf eine diagnostische Wende hingewiesen. Die Psychoanalyse hatte bis zu dieser Zeit ihren theoretischen Schwerpunkt im klassischen Trieb-Konflikt-Paradigma und in einer Behandlungstechnik, die im Rahmen der Übertragungsbeziehung auf Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten fokussierte. Verstärkt auftretende Identitätsstörungen (z. B. narzisstische, paranoide und Borderline-Persönlichkeitsstörungen) ließen sich mit dieser Konzeptualisierung theoretisch wie therapeutisch nur unzureichend erfassen. In der Folge wurden entwicklungsbezogene Modifikationen entwickelt, um mit diesen Störungen therapeutisch besser arbeiten zu können. Exemplarisch seien hier genannt: die Selbstpsychologie Kohuts, die übertragungsfokussierte Psychotherapie Kernbergs, die relationale Psychoanalyse Mitchells und die psychoanalytisch-interaktionelle Methode nach dem Göttinger Modell, die international allerdings weitgehend unrezipiert geblieben ist. Die mentalisierungsbasierte Therapie (MBT), eine spezielle Anwendung des Mentalisierungsmodells, ist die jüngste Weiterentwicklung und kann als empirisch am besten fundierte Entwicklung der Intersubjektivitätstheorie angesehen werden (Schultz-Venrath 2013).