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Hans Christ

Der Apfel fällt
nicht weit vom
Pferd

Weitere Episoden aus dem Leben
eines Landtierarztes

V. F. SAMMLER

Umschlaggestaltung: DSR – Werbeagentur Rypka/Thomas Hofer, A-8143-Dobl/Graz
Titelillustration: Hans Christ, Thomas Aldrian/DSR – Werbeagentur Rypka
Die im Buch abgebildeten Illustrationen stammen vom Autor.

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V. F. SAMMLER
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ISBN 978-3-85365-252-7
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© Copyright by V. F. SAMMLER, Graz 2012
Layout: Klaudia Aschbacher, A-8111 Judendorf-Straßengel
Gesamtherstellung: XXX

Inhalt

Vorwort in eigener Sache

SOS am Oktoberfest

Ronnie, der Glücksschinken

Münchhausen auf vier Pfoten

Eine blutige Geschichte!

Tierärztliche Arbeit kann Ihre Gesundheit gefährden

Krümels Leiden

Händel mit dem Händler

Alle meine Hunde

Chinesisch auf Tirolerisch

Der halbe Hugo

Hans von Assisi

Freiheit für Waschbären!

Zu Besuch beim Dalai Lama

Der Herr der Steine

Den Nagel auf den Kopf getroffen

Abschiede

Max kam nicht bis Aiderbichl

Das Leben ist ungerecht

Schuster, bleib bei deinem Leisten!

Fragen Sie den Tierarzt Ihres Apothekers!

Von Kühen und Tanten

Der Wolf und die bösen Geißlein

Der Apfel fällt nicht weit vom Pferd

Vorwort in eigener Sache

Als ebenso unberechenbar wie die Medizin und die Tiere allgemein erweisen sich manchmal auch die Tiermediziner!

Getreu dem Grundsatz „Aller guten Dinge sind drei“ wollte ich eigentlich nach den „Hühnern“ Schluß machen, um nicht das sprichwörtliche erfolgreiche Pferd zu Tode zu reiten.

Erstaunlicherweise setzen jedoch noch viele Leute Vertrauen in meine schriftstellerischen Jockey-Künste, denn im Laufe der Zeit häuften sich die Anfragen, wann denn endlich das nächste Buch herauskäme! Da begann es mich wieder zu jucken, und Juckreiz kann, wie wir alle wissen, unerträglich werden!

Tröstlich dabei ist der James-Bond-Film „Sag niemals nie“, dessen Titel ironisch darauf anspielt, daß Sean Connery vorher auch einmal erklärt hatte, nie wieder die Rolle des 007 zu übernehmen. Und wenn schon ein Superagent schwach werden kann, wieviel mehr ein kleiner Landtierarzt!

Das Ergebnis liegt nun in gedruckter Form vor und verhilft hoffentlich zu weiteren heiteren Momenten!

Für Ihre Treue bedankt sich ganz herzlich

Hans Christ

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SOS am Oktoberfest

Mehr als dreißig Jahre lang rief der Begriff „Münchner Oktoberfest“ bei mir die gleiche Reaktion hervor wie das Wort „Tortenschlacht“!

Ich registrierte, daß so etwas veranstaltet wird, nahm erstaunt zur Kenntnis, daß sich eine ganze Menge Leute dabei offenbar amüsieren können, und dachte nie im Traum daran, jemals selbst an dem einen oder anderen teilzunehmen.

Nicht etwa, weil ich Alkoholgenuß, auch fallweise übermäßigem, abhold wäre, wie sämtliche meiner guten Bekannten unter Eid bekräftigen können.

Aber diese ritualisierte Fröhlichkeit mit ihrer allgemeinen Pseudotrachtenverkleidung, den überfüllten Bierzelten, wo man sich die Seele aus dem Leib brüllen muß, um die penetranten Sauf- und Wiesenhits der Kapellen zu übertönen, den enthemmten Bierzeltbesuchern, bei denen man sich nicht sicher sein kann, ob sie noch auf den Bänken schunkeln oder nur noch unschlüssig sind, auf welche Seite sie wegkippen sollen, samt den unappetitlichen Begleiterscheinungen im Freien war nichts für einen altmodischen Pfeifenraucher wie mich, der zu einem guten Bier ein gutes Gespräch mit guten Freunden schätzt! Das hat nun nichts mit der leider zum „guten“ Ton in Österreich gehörigen Germanophobie zu tun, auch die wesentlich bescheideneren heimischen Feuerwehrfeste genossen bei mir aus dem gleichen Grund die gleiche Beliebtheit.

Diese zugegebenermaßen misanthropische Einstellung änderte sich schlagartig, als ich der Süddeutschen Zeitung, die ich mir aus Zeitgründen stets nur samstags gönne, entnahm, daß zum 200. Jubiläum eine „Historische Wies’n“ veranstaltet würde – mit der nostalgischen Pracht alter Ringelspiele und Fahrgeschäfte, mit Pferderennen, traditionellen Bierzelten und was sonst noch aus der guten alten Zeit herübergerettet worden war!

Für mich als alten Nostalgiker – die erwähnten Bekannten können das ebenfalls bezeugen – stand somit der Entschluß fest: „Karin, was hältst du davon, nächstes Wochenende aufs Oktoberfest zu fahren?“

Meine Frau ließ das, was sie gerade in der Hand gehalten hatte und sich nach dem Aufklauben der Scherben als Glasschüssel rekonstruieren ließ, fallen und fragte besorgt: „Soll ich den Arzt holen?“

Erst als ich meiner Angetrauten glaubhaft versichert hatte, daß ich mich sehr wohl fühlte, meinte sie amüsiert: „Na, wenn du glaubst, daß du noch ein Zimmer in München auftreibst …?“

Der ebenfalls durch das Telefon amüsierte Herr im bayerischen Tourismusamt glaubte das nicht: „Fünf-Stern, Vier-Stern, Drei-Stern, Zwei-Stern, Ein-Stern, alles ausgebucht! Höchstens Tausend-Stern-Kategorie wäre noch frei!“

„…?“

„Na, da liegen Sie am Rücken im Hofgarten vor der Staatskanzlei und schauen zum Nachthimmel hinauf, hahaha!“

„Ha!“ sagte ich ins Telefon und bewies ihm, daß Heiterkeit im Gegensatz zum Gähnen nicht zwangsläufig ansteckend sein muß.

„Oh, warten Sie, da seh’ ich gerade eine Stornierung! Ist nichts Besonderes, aber dafür liegt das Hotel ziemlich nahe zur Theresienwiese, da können Sie praktischerweise zu Fuß hingehen und später auf allen vieren retour! Hahaha! Apropos zu Fuß! Wenn Sie mit dem Auto anreisen, brauchen Sie für die Stadt eine Umweltzonenplakette!“

„Eine was?“ fragte ich mittlerweile in einem Tonfall, der sogar den Marx-Brothers die Späße ausgetrieben hätte.

„Am besten, Sie wenden sich an Ihren Autofahrerklub!“ sagte mein Gegenüber rasch und legte auf. Offenbar hatte er die Gefährlichkeit der Lage kapiert!

Die freundliche Dame am Stützpunkt erkundigte sich nach dem Alter unseres Audi und händigte mir gegen fünf Euro in bar eine gelbe Vignette aus: „Die kleben Sie sichtbar an die Windschutzscheibe! Gelb entspricht dem Baujahr des Wagens und den Emissionswerten! Damit können Sie in ganz München herumfahren, außer in den grünen Zonen!“

In mir keimte ein furchtbarer Verdacht!

Zum Glück hatte ich die Telefonnummer des Hotels bei mir: „Hallo, ich hab’ für das Wochenende ein Zimmer bei Ihnen reserviert! In welcher Zone liegen Sie denn? … In der grünen? Na perfekt! Wissen Sie was? Damit die liebe Zone auch so grün bleibt, bleibe ich mit meiner gelben Plakette daheim, und Sie können wieder frei über mein Zimmer verfügen!“

„Aber wieso denn! Das gilt doch erst ab 1. November! Bis dahin können Sie sogar mit der roten zu uns herfahren!“

„Ach so? Na, dann brauch’ ich doch überhaupt keine Plakette!“

„Das würde ich lieber nicht riskieren! Ohne Plakette können Sie nämlich gestraft werden!“

O heiliger Bürokratius, du Schutzpatron aller Vorschriften! Gepriesen sei deine Gerechtigkeit, in der du durch dein grenzenloses Wirken alle Menschen auf diesem Planeten gleichermaßen an deinen Segnungen teilhaben läßt!

Nach einer herrlichen Arbeitswoche, zumindest wettermäßig, brausten wir somit Freitag abend auf der Autobahn Richtung München. Zur Einstimmung hatte ich das Autoradio mit CDs von der Biermöslblas’n, Gerhard Polt und dem Weiß Ferdl gefüttert.

„Fürs Wochenende haben sie Schlechtwetter angesagt!“ versuchte Karin meine Euphorie ein wenig in den Griff zu bekommen.

„Aber geh! Wetterbericht! Daß ich nicht lache! Wenn ich mit meinen Diagnosen auch so oft danebenliegen würde, könnte ich die Praxis dichtmachen!“

Der Abendhimmel leuchtete nämlich im zarten Blauorange, nur über den Untersberg schwebte ein schüchternes Wölkchen daher.

Aber offenbar hatten die Wetterfrösche dazugelernt! Kurz vor München war Schluß: ein paar Autos waren infolge Aquaplanings ineinandergekracht, und der Stau betrug mittlerweile sechs Kilometer! Um die Verkehrsdurchsagen zu hören, mußte ich das Radio lauter drehen, weil der Regen mittlerweile sintflutartig auf Dach und Scheiben prasselte.

Der Verkehr wurde umgeleitet, und über eine mir völlig unbekannte Bundesstraße erreichten wir das nächtliche München und dank des Navigationssystems endlich unser Hotel. Auf den ersten Blick darauf wäre der Hofgarten, vom Wetter abgesehen, vielleicht gar keine so schlechte Alternative gewesen!

Das Zimmer erwies sich zwar als sauber, machte aber aufgrund des abgewohnten Zustandes keinen sehr heimeligen Eindruck, und um den Fusel aus der Minibar zu verdrücken, brauchte es schon ein übermäßiges alkoholisches Grundbedürfnis! Na ja, einem in allerletzter Minute ergatterten Zimmer schaut man nicht auf die Tapeten, heißt es immer!

„Drehen wir noch eine kleine Runde!“ schlug ich vor, „nach der Fahrt bin ich noch nicht müde, und hier in der Bude kriege ich höchstens Depressionen!“

„Bist du verrückt? Es waschelt in Strömen!“

„Na und? Wir sind nicht aus Zucker, und außerdem sind die Goretexschuhe wasserdicht!“

„Na, dann viel Vergnügen! Ich bleibe hier im Palast!“ nickte Karin und drehte den Fernseher auf.

Goretexschuhe sind dann wasserdicht, wenn das Wasser nicht von den Hosenbeinen aufgesaugt und über die Socken direkt abgeleitet wird! Es war, als machte ich meinen Spaziergang am Fuße der Niagarafälle! Nach einem halben Häuserblock gab ich auf.

„Ah, Gott Poseidon persönlich!“ bemerkte Karin, die mittlerweile im Bett lag, maliziös.

Im Fernsehen lief eine amerikanische Schwarzweißkomödie und darin Katherine Hepburn im Badeanzug herum! Beneidenswert!

„Hast du wenigstens das Wetter für morgen am Teletext angesehen?“ knurrte ich.

„Nanu! Ich dachte, du hältst nichts von Wetterprognosen?“

„Neuerdings schon!“ gab ich kleinlaut zu, während ich meine Schuhe in die Duschtasse entleerte, „also, wie schaut’s aus?“

„Schlecht!“ sagte Karin.

Schlecht war, gelinde gesagt, untertrieben!

Als wir am nächsten Morgen aus dem Frühstücksraum – das Frühstück war übrigens ausgezeichnet – durch die großen Fenster in den Innenhof starrten, war von der Welt nicht viel zu sehen!

„Sinnlos, bei dieser Sintflut auf die Wies’n zu schauen!“ brummte ich verdrossen. Ich fand das von Petrus, der die karge Freizeit eines Landtierarztes schließlich kennen mußte, im höchsten Maße gemein, mir den Ausflug derart zu versauen!

„Fahren wir halt wieder heim!“ meinte Karin. „Ich muß sowieso noch eine Menge Tests für die kommende Woche vorbereiten!“

„Aber vorher mache ich wenigstens noch einen Abstecher ins Deutsche Museum! Vor zwanzig Jahren war ich das letzte Mal dort! Dann bin ich wenigstens nicht ganz umsonst über vierhundert Kilometer gefahren!“

Wir ließen uns ein Taxi rufen.

Im allgemeinen bin ich ja davon überzeugt, bei den meisten Menschen einen akzeptablen gesellschaftlichen Rang zu genießen, aber daß mir ein wildfremder Mann in aller Öffentlichkeit beinahe die Füße küßte, überraschte mich doch ein wenig!

„Danke, danke, danke, ich bin Ihnen so dankbar!“ stammelte der Lenker, ein gebürtiger Türke, der bereits sein halbes Leben in München Taxi fuhr. „Sie sind nämlich die ersten seit einer Woche, die nicht zur Wies’n wollen!“

Hier irrte der Gute! Mit uns gemeinsam hatten sich nämlich noch zirka 8000 andere Besucher dazu entschlossen, das Wetter für ihre Bildung im Museum auszunutzen. Diejenigen, die zu geizig gewesen waren, ihre Mäntel an der Garderobe abzugeben, liefen zwar Gefahr, an möglichem Hitzschlag zu kollabieren, nicht aber, dabei umzufallen! Das erwies sich als schlichtweg unmöglich! Zum Glück besaßen die meisten Exponate – Schiffe, Flugzeuge und Raketen – eine genügende Größe, daß man zumindest ihre obere Hälfte über die Köpfe der dampfenden Menge hinweg bewundern konnte. Darin besteht der unbestreitbare Vorteil von ausgestellten Schiffen, Flugzeugen und Raketen gegenüber Schmetterlingen!

„Mir reicht’s!“ stöhnte Karin trotzdem nach einer halben Stunde, „ich geh’ jetzt auf die Terrasse eine rauchen!“

Fünf Minuten später kehrte sie eilig zurück: „Was sagt man dazu? Der Regen hat aufgehört, und stellenweise blinzelt schon der bayerische Himmel durch!“

Leider hatte sie zu laut gesprochen! Die Frohbotschaft verbreitete sich wie die Nachricht von einem gefundenen Zuckerwürfel in einem Ameisenhaufen!

Zusammen mit den restlichen 8000 – mir kam vor, sie hätten sich in der Ausstellung noch vermehrt, was allerdings rein technisch und anstandsmäßig unmöglich war – strömten wir aus dem Museum und strebten im Eilschritt dem nahen Taxistandplatz zu. Hierbei zeigte sich die angenehme Facette, mit einer Sportlehrerin verheiratet zu sein! Karin hängte die Meute mühelos ab und verteidigte einen Wagen so lange, bis ich angeschnauft kam. Ich hätte nicht so viel frühstücken sollen!

„Zum Oktoberfest!“ kommandierte ich unbarmherzig, ohne mich um die eventuelle psychische Befindlichkeit des neuen Fahrers zu kümmern.

Die „klassische“ Wies’n entpuppte sich als genau der Megarummel, den ich aus unzähligen Fernsehberichten kannte, mit dem kleinen Unterschied, daß sogar die Budengassen, von denen ich bisher angenommen hatte, sie würden eine halbwegs normale Fortbewegung ermöglichen, hoffnungslos überfüllt waren. Vielleicht war daran auch die unsichere Wettersituation schuld. Vor den Festzelten warteten Menschenmassen, von denen die Türsteher jeweils nur im Promillebereich Leute einließen, und auch nur dann, wenn aus dem inneren Promillebereich eine entsprechende Anzahl herausgetorkelt kam!

Uninteressant! Falls ich jemals auf Blockabfertigung neugierig sein sollte, kann ich mich den Sommer über an den Tauerntunnel stellen!

Nachdem wir gerade noch rechtzeitig einer Gruppe grölender Holländer in orangen Plastiklederhosen und ebensolchen Zylindern ausweichen konnten, die den Eindruck machte, sie habe die gesamte Zeit seit dem WM-Finale 1974 auf dem Oktoberfest zugebracht, zwängte ich mich auf einen Festordner zu und fragte: „Wo, bitteschön, geht’s hier zur Jubiläumswies’n?“

„Glei’ hinterm Riesenradl!“ antwortete der Mann mit unverhohlenem Neid.

Das Gelände der Historischen Wies’n war durch eine grüne Plankenwand abgegrenzt. Um hineinzugelangen, waren vier Euro Eintritt extra zu bezahlen, eine geniale Einrichtung, wie ich befand, da dadurch das gesamte Ballermannpublikum ferngehalten wurde.

Man kam sich zwar auch so nicht unbedingt wie Robinson Crusoe vor, aber ein Volksfest bezieht eben seinen Namen vom Volk, daran ist nicht zu rütteln!

Und hier tauchte man wirklich ein in eine Zeit, da die Reizüberflutung die Menschen noch nicht so gepackt hatte und auch bescheidene Dinge den Geruch von Sensation für jung und alt besaßen! Drei mechanische Orchestrions säumten den Gehweg und spielten abwechselnd im Halbstundenintervall ihre Walzenprogramme herunter.

Es gab mächtige Dampfmaschinen zu bestaunen, das Münchner Marionettentheater bot regelmäßige Vorstellungen, Luftschaukeln und die exzentrisch zu fahrenden Fahrräder des Velodroms sorgten für gehörigen Muskelkater und ebensolchen Durst, für den zwei Bierzelte samt vorgelagerten Biergärten zuständig waren, und die alten Kettenkarusselle, Ringelspiele und Schaubuden faszinierten in ihrer liebevoll gestalteten Schlichtheit mehr als sämtliche computergesteuerten High-Tech-Rummelplatz-Attraktionen des 21. Jahrhunderts.

Das Bier, von den sechs Großbrauereien gemeinsam nach einem speziellen Rezept von 1810 für die Historische Wies’n gebraut und nur dort ausgeschenkt, stellte neben dem Pferderennen den absoluten Tageshöhepunkt dar!

Apropos Pferde! Es gab auch ein Zelt, in welchem ganz unspektakuläre Haustiere wie Kälber, Hühner, Kaninchen, Haflinger u. a. zu sehen und sogar anzugreifen waren. Für heutige Stadtkinder ein eindrucksvolles Erlebnis!

Sogar für manche Erwachsene!

Wie beispielsweise den Korpulenten neben mir, der seinen Wurstfinger durch das Maschengitter des Hasenstalls zwängte, um einem weißen Riesenrammler von beachtlichem Ausmaß die Barthaare zu kraulen. „Nettes Scheißerchen!“ grinste er mir zu und bezahlte im nächsten Augenblick diese fatale Ansicht mit einem herzhaften Biß in das Nagelbett, das sich sofort violett zu verfärben begann!

Für jemanden, der gerade an einem so dicken Finger lutschte, kamen die wüsten Verwünschungen ausgesprochen deutlich.

„Ausdrücke sind das!“ meinte Karin kopfschüttelnd, „und das vor Kindern!“

Wir wollten das Tierzelt gerade verlassen – schließlich hatte ich noch vom Vormittag einige Maß aufzuholen –, als plötzlich Unruhe entstand und alle Leute in eine Richtung drängten.

Eine schlanke Haflingerstute warf sich plötzlich in ihrer Box zu Boden, schlug mit den Hufen um sich, stand wieder auf, scharrte mit den Füßen, um sich erneut hinzuschmeißen! Dabei ließ sie ein schmerzhaftes Schnauben hören!

„Oje!“ schoß es mir durch den Kopf.

„Die will spielen!“ rief ein kleines Mädchen entzückt.

Ein Mann mit der unverkennbaren Kleidung eines Tierpflegers und dem Namensschildchen Thomas arbeitete sich durch die Zuschauer nach vorn: „Scheißdreck, eine Kolik!“ murmelte er düster.

An der Hinterwand des Zeltes befand sich zwar ein Kabäuschen, das die Aufschrift „Tierarzt“ trug, aber durch die versperrte Glastüre konnte man unschwer erkennen, daß zur Zeit keiner anwesend war! Eine Tafel verkündete: „Unser Tierarzt kümmert sich um acht und um achtzehn Uhr um unsere Tiere!“ Jetzt war es dreiviertel fünf! Zu lange!

Das schien auch Thomas einzusehen. „He, Walter!“ schrie er einem Kollegen nach hinten zu, „ruf beim Tierarzt an, dringend, wir hab’n einen Koliker!“

Die Menge, die sich besorgt um das kranke Pferd scharte, wuchs mit jeder Minute.

„Geht keiner ran!“ kam Walter herbeigeschnauft und warf einen sorgenvollen Blick auf die sich wälzende Stute.

„Typisch Tierarzt! Wenn man einen braucht, ist keiner da! Das ist ja nix Neues!“ schimpfte ein schmalbrüstiger Zeitgenosse im karierten Hemd aus der Zuschauermeute heraus. Einige Umstehende murrten zustimmend. „Anzeigen wegen Tierquälerei müßte man solche Herrschaften!“ rief der Kümmerling, der durch die Unterstützung sichtlich aufblühte. „Unverschämte Preise verlangen, aber im Notfall unauffindbar sein, das hat man gern …“

Jetzt war es Zeit, zu handeln und das tierärztliche Image zu retten! Anstatt das Bürschchen aus seiner offenbar vererbten, weil viel zu großen kurzen Lederhose zu stoßen und ihm einen Biereinlauf zu verpassen, um damit veterinärmedizinische Präsenz zu demonstrieren, schritt ich energisch nach vorn.

„Haben Sie vielleicht Schnaps bei der Hand?“

Die beiden Pfleger starrten mich verächtlich an: „Wenn Sie saufen wollen, dann geh’n Sie gefälligst raus zu einem Standl!“ fuhr mich Thomas an.

„Ich bin zufälligerweise Tierarzt!“ sagte ich und zückte meinen Ausweis wie Inspektor Columbo die Dienstmarke.

Die zwei kapierten nicht! Wahrscheinlich hielten sie mich jetzt lediglich für einen versoffenen Tierarzt!

„Eine Kolik entsteht durch Krämpfe der Darmmuskulatur, wobei auch die Blutgefäße zusammengepreßt werden!“ dozierte ich. „Eine krampflösende Spritze habe ich nicht bei mir, aber Alkohol erweitert bekanntlich die Gefäße und entspannt die Muskulatur! Damit könnten wir es versuchen! Mindestens ein Liter!“

Thomas reagierte als erster. „Walter, lauf rüber zum Schorsch und hol einen Obstler! Aber den guat’n, net den, den was er verkauft!“

Während sich Walter davonmachte, näherte sich ein großgewachsener, distinguierter Mann, der gekleidet war wie der Prinzregent persönlich auf der Hofjagd! Seiner Aussprache nach stammte er jedoch aus nördlicheren Gefilden. „Die Herren brauchen einen Schnaps?“ schnarrte er in der irrigen Meinung, einem von uns sei schlecht geworden, „damit kann ich dienen!“ Er reichte uns aus der Innentasche seiner Lederjoppe einen vergoldeten, kostbar ziselierten Flachmann.

„Sauber!“ nickte Thomas und griff sich die Flasche. Blitzschnell und gekonnt nahm er die Stute mit dem linken Arm in den Schwitzkasten und preßte ihr mit rechts den Flachmann ins Maul. Das Tier wollte abwehren, aber der kräftige Pfleger hielt den Kopf mit eisernem Griff umklammert, und das laute Gluckgluck verriet die erfolgreiche Eingabe des Flascheninhaltes!

„Erlauben Sie mal“, protestierte der verdatterte Prinzregent, „das ist ein 23jähriger Scotch!“

„Schon recht!“ entgegnete Thomas ungerührt, „dann is’ eh guat, wenn das alte G’schlader oamal wegkommt!“

Bevor der edle Spender einschreiten konnte, hatte das Pferd ausgetrunken, und der Pfleger reichte den Flachmann, der während der Prozedur noch erheblich flacher geworden war, an seinen Besitzer zurück. „Da, Spezi!“ sagte er, „der Dank des Hauses ist dir gewiß!“

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Der Herr besah mit entgeisterter Miene sein teures Trinkgefäß, das die deutlichen Zahneindrücke eines gesunden Haflingergebisses trug. Kein Zweifel! Der Glückliche nahm sein ganz persönliches Oktoberfestandenken, welches in keinem Shop erhältlich war, mit nach Hause!

Da kam auch schon Walter mit einer Literflasche, gefüllt mit klarer Flüssigkeit, angerauscht.

„Obstler hat der Schorsch nur so einen für die Gäste!“ keuchte er, „aber das ist ein echter Enzian!“

„Noch besser!“ Ich schnappte die Flasche und entnahm meiner Jackentasche das Lederetui mit der homöopathischen Reiseapotheke, die ich seit einigen Jahren stets mit mir führte. (Ja ja, man wird eben leider auch älter!) Jeweils eine Ampulle Nux vomica und Spascupreel wanderten in den Enzian, dann ließ ich Thomas die Verabreichung wiederholen.

Anschließend lümmelten wir uns nervös an das Holz der Boxeneinfriedung und beobachteten die Stute, die sich noch immer unruhig gebärdete.

„Und Sie sind sicher, daß der Schnaps hilft?“ fragte Walter zweifelnd.

„Sicher bin ich nicht! Aber optimistisch!“

Tatsächlich! Nach ungefähr zehn weiteren qualvollen Minuten für beide Seiten begann das Pferd sich plötzlich zu entspannen, und nach weiteren fünf Minuten langte es nach einem Schopf Heu!

„Gratuliere!“ sagten Thomas und Walter und drückten mir beeindruckt die Hand.

„Euer Tierarzt wirft zur Sicherheit aber schon noch einen Blick drauf?“

„Klaro! Sobald er da ist!“

Sämtliche Umstehende begannen frenetisch zu klatschen, als hätte ich gerade ihren Urlaubsflieger nach Ibiza sicher notgelandet, und gleich darauf war ich wie ein mittelalterlicher Wunderheiler von zahlreichen Tierbesitzern umringt, die mir unbedingt die Problemchen und Wehwehchen ihrer Lieblinge schildern wollten! Ich wehrte mich mit Händen und Füßen unter Verweis auf niedergelassene Kollegen, was den Schmalbrüstigen in seiner Flatterlederhose von vorhin, der einen Tip für seinen offenbar geistesgestörten Kater erheischte, zu der lauten Bemerkung veranlaßte: „Typisch Tierarzt! Wenn man ihn nicht vorher mit Geld stopft, läßt er nichts raus!“

Bevor ich ihm diesmal wirklich eine reinhaute, ging ich lieber zu Karin, die derweilen am Zelteingang ein Zigarettchen genoß und mich mit sarkastischem Grinsen empfing. „Na, Doktor Eisenbarth, das hat dir wohl wieder Spaß gemacht, hier mit deinen rustikalen Methoden Eindruck zu schinden!“

„Aber ja!“ grinste ich, „Spritzen geben kann schließlich jeder Depp! Und jetzt hab’ ich einen Durst!“

Leider hatte es inzwischen wieder zu regnen begonnen, so daß es mit den Biergärten, wie man so schön sagt, „oha“ war und logischerweise die dazugehörigen Zelte hoffnungslos überfüllt waren!

Ich brauchte aber noch dringend ein paar Liter von diesem köstlichen Bier!

„Liebes Fräulein!“ sagte ich politisch völlig unkorrekt und faßte eine jüngere Kellnerin, die trotz Streß noch ziemlich freundlich dreinschaute, am Ärmel, „kriegt man bei Ihnen vielleicht auch eine Steh-Maß? Schau’n Sie, ich bin dafür extra aus Salzburg angereist, und morgen früh geht’s erbarmungslos wieder heim!“

Ich probierte dabei 1:1 den traurigen Mitleidsblick von Duffy, dem Basset meines Steuerberaters, der auch immer so dreinschaute, wenn er seine jährliche Impfung bekam. Der Hund, nicht der Steuerberater!

Im Gegensatz zu Duffy hatte ich jedoch Erfolg! Das nette Mädchen taxierte mich kurz, fand mich entweder sympathisch oder beklagenswürdig, schnappte einen vollen Krug und mich beim Handgelenk und zog mich energisch hinein ins Gewühl der Tische. Ich sah hilflos Karin in der Ferne entschwinden wie ein Matrose seine am Kai verbliebene Braut!

„Ruckt’s a wengerl!“ kommandierte die Kellnerin resolut und schob mich samt Krug an einen der Tische. Erstaunlicherweise rangierten die Herren ihre lederbehosten Hinterteile gehorsam nach rechts, wobei ich mir im klaren war, daß dies weniger meiner bärtigen Person als meiner recht aparten Mundschenkin zuzuschreiben war!

Dieser Eindruck bestätigte sich, als, nachdem Karin mich ungefahr zehn Minuten später ausfindig gemacht hatte, ihr ebenfalls bereitwillig Platz gemacht wurde, während zuvor ein einzelner Platzsucher von den Tischinhabern ziemlich unfreundlich verscheucht worden war.

Aber es sollte noch enger werden!

Als die freundliche Kellnerin mir gegen halb acht die allerletzte Maß servierte – die Schank machte um diese Zeit zu –, hatte sie einen Teller mit Apfelstrudel dabei und gab mir mit ihrer Hüfte einen freundlichen Stoß: „Geh’ weiter, laß mich jetzt auch ein wengerl zu dir hocka!“

Sie stach sich von dem Apfelstrudel, der in Vanillesauce schwamm, ein Stück herunter und schob es mir unversehens in den Mund, der mir vor Schreck offenblieb! Wenn ich etwas auf den Tod nicht ausstehen konnte, war es Vanillesauce! Noch dazu zum Bier!!

„Guat, ha?“ lächelte sie kauend und bereitete den nächsten Happen vor.

Ich habe nicht die geringste Ahnung, was sie bewogen hatte, von den tausenden Leuten ausgerechnet mich für ihre Atzung zu kören, aber ich konnte ihr nach allem Entgegenkommen schlecht erklären, daß ich seit mehreren Jahrzehnten gewohnt war, meine Nahrungsaufnahme selbst zu bestimmen!

Ich mußte zur subtilen Waffe übergehen: „Besten Dank!“ sagte ich durch zusammengepreßte Lippen, „aber ich kann süß-sauer so schwer vertragen …!“

Sie ließ erstaunt die Gabel vor meinem Mund in Schwebe: „Aber das ist doch nur süaß?“

„Ja!“ nickte ich und deutete auf Karin, „aber da vis-à-vis sitzt meine Frau, und die schaut schon sauer!“

„Entschuldigung!“ murmelte das Mädel und erhob sich hastig, während Karin jetzt wirklich sauer dreinschaute, weil sie nun alle am Tisch für eine Xanthippe hielten!

Was soll ich noch sagen? Dreißig Jahre zu spät auf das Oktoberfest gefahren!

Ronnie, der Glücksschinken

Die nachmittägliche Visitenliste in meiner Brusttasche war endlos lang, ich hätte schon längst unterwegs sein müssen, und umso unerfreulicher gestaltete sich die Überraschung, daß ich nicht aus der Garage fahren konnte!

Ein schneeweißer Volvo mit Graubündner Kennzeichen versperrte das Tor! Da niemand drinnen saß, drückte ich ärgerlich die Hupe, worauf ein braungebrannter Mann mit bereits graumeliertem Haar aus dem Warteraum, in dem er sich offenbar schon niedergelassen hatte, herausschoß. Im ersten Moment dachte ich, es wäre George Clooney!

„Würden Sie bitte die Ausfahrt freimachen! Ich kann jetzt niemanden empfangen, ich muß weg!“ blökte ich.

„Wir haben aber einen Notfall!“ kam es in breitem schweizerischen Akzent. Also doch nicht Clooney!

„Wenn es sich um keine akute Blutung handelt, muß ich Sie erst recht bitten, die nächstgelegene Kleintierpraxis aufzusuchen! Wie auf meinem Schild klar und deutlich zu lesen ist, kann ich Ordination nur nach Terminvereinbarung halten! Außerdem bin ich höchstwahrscheinlich in dieser Situation sowieso nicht der richtige Ansprechpartner, ich praktiziere hauptsächlich auf dem Großtiersektor, bei Notfällen sind Spezialisten gefragt!“

Notfälle sind im allgemeinen knifflig, und da ich wie mein literarisches Vorbild James Herriot kein Kleintierspezialist mit der heutzutage nötigen technischen Ausstattung bin, überantworte ich solche Patienten zu ihrem eigenen Wohl lieber gleich in die Fachbetreuung. Ich halte nämlich nichts von Kollegen, die, um sich kein Geschäft entgehen zu lassen, Fälle behandeln, die ihre Kompetenz übersteigen, und darauf vertrauen, daß dem Tierbesitzer endlich die Geduld reißt und er zum richtigen Tierarzt wechselt!

Der Mann ließ sich in berüchtigt alemannischer Beharrlichkeit jedoch nicht abschütteln. „Doch, doch, Sie sind schon unser Mann! Ein Kleintierpraktiker könnte uns, glaub’ ich, hier nicht weiterhelfen! Mein Name ist übrigens Dr. Biblis!“

Da er keinerlei Anstalten machte, den Wagen wegzufahren, mußte ich wohl oder übel wieder aussteigen. Schlimmstenfalls, um ihn am Kragen zu packen!

Da trat eine junge Frau ebenfalls aus dem Warteraum und rief aufgeregt: „Herr Doktor, wo bleiben Sie denn?“ Sie hielt mit den Armen ein in eine karierte Decke gehülltes Bündel umklammert.

„Was haben Sie denn da?“ lautete meine unter gerunzelten Augenbrauen hervorgebrachte Gegenfrage.

„Wissen Sie, wir haben erst vor drei Tagen geheiratet!“

Die Antwort war nicht direkt erleuchtend! Sollte es sich bei dem Bündel um einen bis dato ebenso unehelichen wie nun unpäßlichen Säugling der beiden handeln, waren zweifellos sowohl der Kleintierpraktiker als auch ich fehl am Platz und vielmehr ein Kinderarzt gefragt! „Herzlichen Glückwunsch!“ murmelte ich daher in äußerst neutraler Zurückhaltung.

Das Geräusch, das aus dem Bündel drang, klang auch nicht ermutigend!

„Ja, sehen Sie, und seit heute früh geht es Ronnie ganz ganz schlecht!“ Sie klappte einen Deckenzipfel zurück, und zum Vorschein kam die winzige Rüsselscheibe eines Ferkels!

Jetzt ging mir ein Licht auf!

„Aha! Sie haben das Schweinchen also als Hochzeitspräsent bekommen, wenn ich recht verstehe!“

„Genau!“ grinste Dr. Biblis, „sozusagen als Glücksschinken!“

„Nenn ihn doch nicht so!“ rügte seine jüngst Angetraute, der Aussprache nach noch mehr Helvetierin, vorwurfsvoll. „Das klingt, als wollten wir ihn essen!“

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„Gewiß nicht, Liebes!“ antwortete ihr Mann prompt und klappte schuldbewußt zusammen wie ein Schweizer Taschenmesser. „Ronnie wird es sein Leben lang gut bei uns haben! Immerhin verkörpert er ja das Symbol unserer wonniglichen Verbindung …!“

Ich mußte dem Gesülze ein Ende bereiten, schließlich wartete noch eine Menge anderer Patienten auf weit verstreuten Höfen: „Na schön, da Sie schon da sind, werfen wir einen kurzen Blick auf diesen unglücklichen Glücksbringer! Kommen Sie rein!“ Während ich die Ordination aufsperrte, fragte ich ungläubig: „Und Sie haben das Schwein auf Ihre Hochzeitsreise mitgenommen?“ Da die beiden aus der Schweiz kamen, schien mir der Gedanke zwar absurd, aber naheliegend. Außerdem haben Schweizer manchmal die recht merkwürdige Angewohnheit, sonderbare Dinge mit sich herumzuschleppen, man denke nur an das Alphorn, Kuhglocken oder eine starke Währung!

„Nein, nein! Wir haben uns soeben hier niedergelassen! Ich bin Architekt, und meine Frau arbeitet als Einkaufsleiterin einer großen Lebensmittelkette! Uns gefällt Salzburg!“

Schön! Was mir weniger gefiel, war Ronnie! Das Ferkelchen stieß ab und zu ein heiseres Quieken aus, ruderte auf dem Ordinationstisch in Seitenlage mit den Beinen und hatte blauviolett verfärbte Ohren!

„Tja!“ wandte ich mich an das taufrische Ehepaar, „das ist ein schlimmer Fall von Colienterotoxämie! Wahrscheinlich hat das Tier während der Hochzeitsfeier einiges an Leckerbissen abgekriegt, oder?“

„Aber sicher! Vor allem die Kinder waren ständig dabei, Ronnie zu füttern! Sogar von der Hochzeitstorte hat er ein großes Stück verschnabuliert!“

„Genau das ist das Problem! Schweine haben ein ziemlich empfindliches Darmsystem! In Streßsituationen kippt die Darmflora, und bösartige Bakterien, welche blut- und kapillargefäßschädigende Gifte produzieren, sogenannte hämorrhagische Colibazillen, vermehren sich explosionsartig! Deshalb sollten Ferkel, nachdem sie transportiert worden sind, die nächsten 24 Stunden ausschließlich Wasser bekommen! Sie müssen sich vorstellen, so wie die Ohren schauen leider auch die inneren Organe aus!“

„Muß Ronnie jetzt sterben?“ schluchzten beide Besitzer.

„Also ehrlich gestanden ist die Prognose nicht überaus günstig! Von zehn Schweinen sterben daran sicher mehr als drei Viertel! Aber ich werde mein möglichstes tun!“

Eine Infusion wäre hier zwar ganz nützlich gewesen, aber die Ohrvenen waren aufgrund der Blutstase bereits völlig kollabiert, und andere dafür geeignete Adern lagen aufgrund der allgemeinen Schweinespeckanatomie ebenso unzugänglich in der Tiefe wie die letzten Erdölfelder! Ich beschränkte mich daher auf einige Spritzen und das Vertrauen in homöopathische Tropfen, die Herr und Frau Biblis Ronnie mehrmals täglich eingeben sollten.

Dann sprang ich eiligst wieder in den Wagen und versuchte, dem nun endlich ebenfalls seinen Volvo aus dem Weg reversierenden Dr. Biblis den rechten Kotflügel nicht ganz abzurasieren.

Am nächsten Tag, ich hatte die Biblis praktischerweise nochmals in die Ordination bestellt, ging es Ronnie sichtlich ein wenig besser! Frauchen und Herrchen zeigten sich hocherfreut, ich aber ließ mich davon nicht täuschen! Zu oft hatte ich in meiner über zwanzigjährigen Praxistätigkeit bereits erlebt, daß solche Ferkel nach 24 Stunden aufgrund der Spritzen einen gewissen Aufschwung nahmen, um dann am dritten oder vierten Tag plötzlich zu sterben!

Ich teilte meine begründete Skepsis ehrlicherweise auch den Besitzern mit, worauf Frau Biblis aus Wolke sieben direkt an die Hemdbrust ihres Mannes fiel und mit tränenüberströmten Augen verfolgte, wie Ronnie noch ein paar Injektionen einstecken mußte. Diesmal jedoch versuchte er bereits schwach, sich dagegen zu wehren! Wie hatte mein seliger Onkel Rudolf, eine in der gesamten Familie gefürchtete Kapazität, was banale Lebensweisheiten und zur Situation passende Kalendersprüche anlangte, stets betont? Der Optimist stirbt genauso wie der Pessimist, aber glücklicher!

Am fünften Tag stellte sich heraus, daß Ronnie auch in eigener Sache ein Glücksschinken war! Zwar hätte er mit seinen violetten Ohren noch immer ein prima Maskottchen für den FC Austria Wien abgegeben, aber sonst spazierte er bereits wacker durch den Ordinationsraum und versuchte, während das Ehepaar Biblis sich nach meiner befriedigenden Abschlußdiagnose glücklich in den Armen lag, wie die schwarze Fußrolle des Schreibtischsessels schmeckte.

Da Ronnies Fortbestehen nunmehr gesichert war, bekam er jetzt stante pede einen ordentlichen Stall gebaut. Die Biblis hatten im Ortsteil Wiesberg ein chaletartiges Landhaus erworben, an das Ronnies Refugium dank der Zimmerei Eder in Form eines schicken kleinen Blockhauses direkt anschloß. Der Clou des Ganzen bestand darin, daß die Verbindungswand zwischen Wohnraum und Stall durch ein ziemlich großes Sichtfenster unterbrochen wurde, das es den Biblis erlaubte, Ronnies Lebensführung lückenlos von der Couch aus zu verfolgen! So eine Art Pig Brother!

Anfangs erwies sich diese Maßnahme als unnötig, da Ronnie die meiste Zeit sowieso im Haus verbrachte! An sich kein Problem, da Schweine, wenn man sie läßt, zu den reinlichsten Tieren gehören und ebenso wie Hunde gehorsam und stubenrein werden. Für die meisten Gäste jedoch stellte es eine gewisse Umstellung dar, wenn während des Abendessens ein grunzendes Jungschwein zwischen ihren Beinen herumwuselte und den Rüssel erwartungsfroh in der Nähe des Schrittes emporreckte.

Aber Architekten gelten ja gemeinhin als exzentrisch! Besonders am Land!

Die Komplikationen begannen erst, als Ronnie an Größe gewann und auf seinen Streifzügen nach Leckerbissen mit seinem Rücken regelmäßig den Eßtisch zum Schaukeln brachte! Es brach den Biblis zwar das Herz, aber über Ronnie mußte nunmehr ein weitgehendes Hausverbot verhängt werden, und ab da nahm er hauptsächlich nur mehr durch die Glasscheibe am gesellschaftlichen Leben teil.

Als ich einmal im Zuge meiner Abendvisiten gerufen wurde, um Ronnie rechtzeitig vor dem Sommer gegen Rotlauf zu impfen, stellte ich zu meiner Überraschung fest, daß Frau Biblis die Verbannung dadurch gemildert hatte, daß sie durch den renommierten Tischlermeister Erlauer höchstpersönlich eine im wahrsten Wortsinn saugemütliche Sitzecke mit Tisch samt Rundbank und Barschrank aus Zirbenholz in einen Winkel von Ronnies Refugium einbauen hatte lassen!

Platz dafür war in Ronnies Almhütte reichlich vorhanden! Und so manchen Abend, da Ronnie bereits herzhaft schnarchend im goldgelben Strohbett lag, das er sich zuvor umständlich mit der Schnauze zurechtgepflügt hatte, saß das Ehepaar Biblis im gedämpften Schein zweier antiker Kutschenlampen um den Tisch, plauderte und genoß bei einem Gläschen Bordeaux oder Kalifornierwein die geruhsame Atmosphäre eines Luxuswohnschweinestalls!

Ich wurde selbstverständlich ebenfalls genötigt, Platz zu nehmen und ein Glas zu verkosten.

Dr. Biblis – er hatte heute sein Büro in Salzburg früher verlassen, denn bei so einer heiligen Handlung wie einer Rotlaufspritze durfte er natürlich nicht fehlen – saß neben mir und meinte mit einem versonnenen Blick auf Ronnie, der von seiner Frau zwischen den Ohren gekrault wurde: „Wissen Sie, Ronnie ist wie ein Kind für uns!“

Ich schaute ihn irritiert an. Natürlich bin ich der letzte, der es nicht versteht, daß man zu Tieren eine innige Beziehung aufbauen kann, aber für meinen Geschmack besteht doch noch eine gewisse Abstufung zwischen einem Menschen und einem kastrierten Eber!

„Hm, nur mit dem Unterschied, daß Ronnie einmal nicht für Ihre Rente aufkommen wird, und auch mit Enkeln dürfte es Schwierigkeiten geben!“

Mein Ton war zweifellos so scharf, daß Dr. Biblis tatsächlich leicht errötete: „Gewiß doch, ich wollte damit auch nicht ausdrücken …, ach, Sie wissen schon, wie ich es meine …!“

Die Nachbarn zeigten sich nicht ganz so entzückt über Ronnies Existenz, vor allem, als dieser begonnen hatte, sich aus seinem Freilaufareal mit künstlich angelegter Suhle zu entfernen, indem er den Drahtzaun halb untergrub und den Rest seines Hinterns gewaltsam durchzwängte.

Den liebevoll gehegten Bauerngarten mit all den Heil- und Küchenkräutern vom Itzinggut durchackerte er, nachdem er ihn zuvor kahlgefressen hatte, in der Art eines ausgebildeten Trüffelschweines, und da er sich durchaus nicht als Veganer empfand, stattete er dem anschließenden Grundstück von Herrn Plankel, einem pensionierten Postbeamten, seinen Antrittsbesuch ab und verleibte sich dort ein, zwei preisgekrönte Zwerghühner ein!

Dr. Biblis kam, ohne mit der Wimper zu zucken, für den Schaden auf und ließ den Zaun auf ein tief in die Erde hinabreichendes Fundament aufsetzen. Jetzt hätte Ronnie schon ein Präriehund sein müssen, um da noch rauszukommen!

Dr. Biblis kam, ohne mit der Wimper zu zucken, für den Schaden auf und ließ den Zaun auf ein tief in die Erde hinabreichendes Fundament aufsetzen. Jetzt hätte Ronnie schon ein Präriehund sein müssen, um da noch rauszukommen!

Obwohl man ihn auf diese Weise von sämtlichen illegalen Nahrungsquellen abgekoppelt hatte, wuchs Ronnie zu einem stattlichen und gesunden Saubären von mindestens zweihundert Kilo heran!

Einmal jährlich schaute ich routinemäßig vorbei, um den Rotlaufschutz zu erneuern, trank mit Familie Biblis ein Glas an der Schweinebar und gewann jedes Mal den Eindruck einer völlig harmonischen Dreierbeziehung, bei der kein Zweifel bestand, wer den Mittelpunkt darstellte!

Im sechsten Jahr ergab sich eine außerplanmäßige Visite. Frau Biblis hatte am Telefon sehr besorgt geklungen, mit Ronnie stimme irgendetwas nicht!

Wohl würde er noch fressen, aber nicht mehr mit der unerbittlichen Gier wie bisher, sein Verhalten wäre deutlich träger geworden, es schiene fast, als wäre er ziemlich erschöpft, aber am alarmierendsten fände sie, daß Ronnie in der letzten Woche rapide an Gewicht verloren habe!

Das alles klang durchaus nicht gut! Besonders, da Schweine sich aufgrund ihrer Körperbeschaffenheit und ihres Verhaltens einer genaueren Diagnosefindung in diffizileren Krankheitsgeschehen erfolgreich widersetzen!

Man kann keinen Puls fühlen, keine rektale Untersuchung vornehmen, durch die dicke Speckschicht nichts ertasten, und mit dem Stethoskop klappt es auch nicht so recht, weil sie keine Ruhe geben, und wenn man sie fixiert, schreien sie derart durchdringend, daß man sowieso nichts hört außer dem Platzen des eigenen Trommelfells!

Ich fand Frau Biblis’ Schilderung durchaus bestätigt. Ronnie lag lustlos im Stroh, als ich in seinen Stall trat – für gewöhnlich stürmte er jedem Besucher freudig entgegen, als handle es sich um den kulinarischen Weihnachtsmann persönlich mit einem Sack voll Delikatessen–, und erst auf Zuruf erhob er sich langsam, trottete herbei und schnüffelte desinteressiert an meinem linken Gummistiefel!

Ich zog ihm schnell das eine Augenlid herunter und stellte eine gewisse Blässe der Bindehaut fest. Die Körpertemperatur war normal. Irgendwie machte Ronnie den Eindruck, Schmerzen zu haben, daher gab ich ihm nach einer Blutentnahme aus der berühmten Ohrvene und einer Kotprobe aus dem After eine diesbezügliche Spritze. Er protestierte schwach und zockelte zurück zu seinem Strohbett, wo er sich niedersinken ließ.

„Ich schicke die Proben sofort ins Labor!“ verabschiedete ich mich schnell, um der berechtigten Frage von Frau Biblis zu entgehen, woran ihr Liebling denn leide!

Während wir ungeduldig auf das Untersuchungsergebnis warteten, schaute ich jeden Tag einmal vorbei, um die Spritze zu wiederholen, weil sie Ronnie offenbar ganz gut tat. Er zeigte sich danach immer ein bißchen agiler, obwohl er zunehmend schlechter fraß und rasant an Gewicht verlor! Es war deprimierend!

Zu Mittag des fünften Tages war es endlich soweit! Ich fand beim Heimkommen den Blut- und Kotbefund im Faxgerät. Leider bestätigte er nur, was ich sowieso vermutete: eine Entzündung unbekannter Ursache! Die Blutsenkung war deutlich beschleunigt, der Hämoglobingehalt erniedrigt und die Leukozytenzahl erschreckend hoch!

Ich fuhr gleich nach dem Mittagessen zum Anwesen der Biblis.

„Es geht ihm ziemlich schlecht!“ empfing mich die Dame des Hauses niedergeschlagen, die in der Einstreu hockte und Ronnie zwischen den Ohren kraulte.

„Das kann ich mir vorstellen!“ nickte ich. Der Eber war bereits so mager, daß man deutlich eine linksseitige Vergrößerung des Bauches erkennen konnte. Als ich leicht dagegen drückte, quiekte Ronnie schmerzhaft auf!

„Ich fürchte, er hat einen Bauchtumor!“

„Krebs?“

Ich nickte wieder!

„Kann man das operieren?“

„Dazu müßten wir ihn auf die Veterinärmedizinische Universität nach Wien schicken, obwohl ich starke Zweifel habe, ob die viel Erfahrung mit Tumoroperationen beim Schwein haben und ob es in diesem Stadium überhaupt noch Sinn hat!“

„Sie halten es also für aussichtslos?“

Ich nickte zum dritten Mal!

„Also gut!“ Frau Biblis stand ruckartig auf und faßte mich entschlossen ins Auge: „Dann erlösen wir ihn! Aber Sie verstehen, daß ich nicht dabei sein möchte!“ Sie verschwand eilends, ohne Ronnie noch einmal einen Blick zugeworfen zu haben.

Donnerwetter, wenn ich einen Weinkrampf oder hysterischen Zusammenbruch erwartet hatte, sah ich mich schwer getäuscht! Kein Vergleich zu unserer ersten Begegnung in meiner Praxis! Da ging mir ein Licht auf. Frau Biblis hatte die letzten Tage Zeit gehabt, sich auf die Situation einzustellen.

Und nun hatte sie knallhart die Entscheidung zu Ronnies Gunsten getroffen, ohne Rücksicht auf eigene Befindlichkeiten! Solche Tierbesitzer würde man sich leider manchmal wünschen! Die Dame stieg ungeheuer in meiner Achtung.

Ich hatte noch nie zuvor ein Schwein eingeschläfert, normalerweise erledigt das der Metzger gekonnt und schmerzlos mittels Bolzenschußapparat und anschließender Entblutung, aber ich wollte Frau Biblis’ Nervenkostüm nicht über Gebühr beanspruchen, und da mir aufgrund der Unwirtschaftlichkeit von Operationen die Erfahrung mit Schweinenarkosen fehlt – es gibt auch keine brauchbaren Medikamente mehr auf dem Markt –, zitterten meine Finger ein wenig, als ich wiederum die ominöse Ohrvene suchte!

Es funktionierte jedoch wie am Schnürchen. Drei Minuten später schlief Ronnie so tief und unbeschwert wie wahrscheinlich schon seit Tagen nicht, und als ich das Tötungsmittel durch die Kanüle nachschoß, hob sich noch einmal der ausgemergelte Brustkorb zu einem letzten Atemzug, dann streckte sich der Körper und lag still!