ERNST JÜNGER
Das Abenteuerliche Herz
Erste Fassung: Aufzeichnungen bei Tag und Nacht
J.G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH
Klett-Cotta
© Werner Schwarze
Ernst Jünger, am 29. März 1895 in Heidelberg geboren. 1901–1912 Schüler in Hannover, Schwarzenberg, Braunschweig u. a. 1913 Flucht in die Fremdenlegion, nach sechs Wochen auf Intervention des Vaters entlassen 1914–1918 Kriegsfreiwilliger 1918 Verleihung des Ordens »Pour le Mérite«. 1919–1923 Dienst in der Reichswehr. Veröffentlichung seines Erstlings »In Stahlgewittern«. Studium in Leipzig, 1927 Übersiedlung nach Berlin. Mitarbeit an politischen und literarischen Zeitschriften. 1936–1938 Reisen nach Brasilien und Marokko. »Afrikanische Spiele« und »Das Abenteuerliche Herz«. Übersiedlung nach Überlingen. 1939–1941 im Stab des Militärbefehlshabers Frankreich. 1944 Rückkehr Jüngers aus Paris nach Kirchhorst. 1946–1947 »Der Friede«. 1950 Übersiedlung nach Wilflingen. 1965 Abschluß der zehnbändigen »Werke«. 1966–1981 Reisen. Schiller-Gedächtnispreis. 1982 Goethe-Preis der Stadt Frankfurt/Main.1988 Mit Bundeskanzler Kohl bei den Feierlichkeiten des 25. Jahrestags des Deutsch-Französischen Vertrags. 1993 Mitterrand und Kohl in Wilflingen. 1998 Ernst Jünger stirbt in Riedlingen.
AUFZEICHNUNGEN BEI TAG UND NACHT
»Den Samen von allem, was ich im Sinn habe, finde ich allenthalben.«
Hamann
ERSTAUSGABE 1929
Es wäre mir unmöglich, für meine Person die starke Anteilnahme aufzubringen, deren Vorhandensein ich nicht leugnen kann, verliehen mir nicht zwei Umstände eine gewisse Sicherheit.
Einmal besitze ich das bestimmte Gefühl, einem im Grunde fremden und rätselhaften Wesen nachzuspüren, und dies bewahrt vor jener pöbelhaften Eigenwärme, jener Stickluft der inneren Wohn- und Schlafzimmer, die mir am »Anton Reiser« unangenehm ist. Es verleiht dem Zugriff eine größere Sauberkeit, wie der Gummihandschuh den Fingern des Operateurs. Ich habe dieses Gefühl, als ob ein aufmerksam beobachtender Punkt aus exzentrischen Fernen das geheimnisvolle Getriebe kontrollierte und registrierte, selbst in den verworrensten Augenblicken nur selten verloren. Ja es schien mir oft, als ob in sehr menschlichen Augenblicken, etwa denen der Angst, dort oben etwas vorginge, was ungefähr einem mokanten Lächeln verglichen werden könnte. Aber auch andere Zeichen – Trauer, Rührung, Stolz – glaubte ich zuweilen gleich Signalen einer inneren Optik an jenem Fixpunkt zu erkennen, den ich als ein zweites, feineres und unpersönliches Bewußtsein bezeichnen möchte. Von dort aus gesehen, wird das Leben von noch etwas anderem als von Gedanken, Empfindungen und Gefühlen begleitet, seine Werte werden gleichsam noch einmal gewertet, ähnlich wie ein bereits gewogenes Metall trotzdem von einer besonderen Instanz einen zweiten Stempel erhält. Von dort aus gesehen, erhält dieses Treiben auch erst einen fesselnderen Reiz als den innerhalb der Bezirke einer selbstbewußten Vitalität möglichen.
Dann aber weiß ich auch, daß mein Grunderlebnis, das, was eben durch den lebendigen Vorgang sich zum Ausdruck bringt, das für meine Generation typische Erlebnis ist, eine an das Zeitmotiv gebundene Variation oder eine, vielleicht absonderliche, Spezies, die jedoch keineswegs aus dem Rahmen der Gattungskennzeichen fällt. Aus diesem Bewußtsein heraus meine ich auch, wenn ich mich mit mir beschäftige, nicht eigentlich mich, sondern das, was dieser Erscheinung zugrunde liegt und was somit in seinem gültigsten und dem Zufall entzogensten Sinne auch jeder andere für sich in Anspruch nehmen darf.
Seltsame Vorlieben und die Art, in der der Mensch von einem großen, scheinbar ganz geschlossenen Gebiet nichts beachtet als einen bestimmten Teil, sind sehr bezeichnend für das Wesen einer Persönlichkeit. So sehe ich einen Sinn darin, daß ich mich während meiner anatomischen Studien nie mit der Knochenlehre befreunden konnte, daß ich mich für die Geologie nur da erwärmte, wo sie mit der Paläontologie zusammenhing, daß von allen belebten Schichten wiederum die Juraformation für mich von je einen märchenhaften Glanz besaß, daß mir die Erle immer so unangenehm und der Ahorn so prächtig schien und daß mir von allen tausend Ländern, die die Welt trägt, gerade Zentralafrika das verlockendste war und heute noch ist. Von all diesem weiß ich, warum es so ist – wie aber ist die Abneigung zu erklären, die ich vor den Pflanzen und Tieren Australiens, ganz besonders vor den Beuteltieren, empfinde oder, um noch Seltsameres zu streifen, die Ahnung, daß Huysmans, von dem ich jahrelang nur die Buchstaben des Namens kannte, für mich von großer Bedeutung sein müsse, eine Ahnung, die sich später als durchaus berechtigt erwies? Durch solche Neigungen und Abneigungen spricht unser Innerstes, das uns selbst ewig verborgen bleiben wird, das sich auszudrücken sucht, indem es sich ins Gleichnis setzt, und das mit nachtwandlerischer Sicherheit den Grad der Verwandtschaft spürt, die uns mit allen Dingen der Welt verbindet und unsere innere Perspektive bestimmt.
Es ist stets ein Ereignis für mich gewesen, gerade dem scheinbar ganz nüchternen Leben zu begegnen, das sich an einem Punkte seiner Oberfläche erwärmt, ohne selbst zu wissen, warum, zwecklos, aber keineswegs ohne Sinn, und gar oft in solchem Mißverhältnis zu seiner Umgebung, daß das Lächerliche nicht ausbleiben kann. Der Volksschullehrer auf dem Lande, der alte Scherben und römische Denare sammelt, der kleine Kaufmann, der plötzlich sein Geschäft im Stiche läßt und Griechisch lernt, um besser über den Syllogismus grübeln zu können, der Schlosser, der Walt Whitman gelesen hat und immer wieder liest und sonst kein anderes Buch – in solchen Erscheinungen deutet sich auf das klarste an, daß das Leben sich über sehr geheimnisvollen und so gar nicht zweckmäßigen Gründen bewegt. Überall hängt das Unsichtbare seine geheimen Angeln nach uns aus, und noch das kleinste, entfernteste Ding ist von jenem mystischen Leben erfüllt, von dem wir selbst ein Teilchen sind. Das Erlebnis, durch das Jakob Böhme beim Anblick eines zinnernen Gefäßes plötzlich die ganze Liebe Gottes empfand, ist keineswegs außergewöhnlicher Natur, und vielleicht ist es wichtiger, als wir ahnen, daß dieses Gefäß gerade ein zinnernes war.
Ich glaube, daß folgendes Bild das Entsetzen besonders treffend zum Ausdruck bringt: Es gibt eine Art von sehr dünnem und großflächigem Blech, mittels dessen man an kleinen Theatern den Donner vorzutäuschen pflegt. Sehr viele solcher Bleche, noch dünner und klangfähiger, denke ich mir in regelmäßigen Abständen übereinander angebracht, gleich Blättern eines Buches, die jedoch nicht gepreßt liegen, sondern durch irgendeine Vorrichtung voneinander entfernt gehalten werden.
Auf das oberste Blatt dieses gewaltigen Stoßes hebe ich dich empor, und sowie das Gewicht deines Körpers es berührt, reißt es krachend entzwei. Du stürzt, und stürzt auf das zweite Blatt, das ebenfalls, und mit heftigerem Knalle, zerbirst. Der Sturz trifft auf das dritte, vierte und fünfte Blatt und so fort, und die Steigerung der Fallgeschwindigkeit läßt die Detonationen in einer Beschleunigung aufeinander folgen, die den Eindruck eines an Tempo und Heftigkeit ununterbrochen verstärkten Trommelwirbels erweckt. Immer noch rasender werden Fall und Wirbel, in einen mächtig rollenden Donner sich verwandelnd, bis endlich ein einziger, fürchterlicher Lärm die Grenzen des Bewußtseins sprengt.
So pflegt das Entsetzen den Menschen zu vergewaltigen – das Entsetzen, das etwas ganz anderes ist als das Grauen, die Angst oder die Furcht. Eher ist es schon dem Grausen verwandt, das das Gesicht der Gorgo mit gesträubtem Haar und zum Schrei geöffnetem Mund erkennt, während das Grauen das Unheimliche mehr ahnt als sieht, aber gerade deshalb von ihm mit mächtigerem Griffe gefesselt wird. Die Furcht ist noch von der Grenze entfernt und darf mit der Hoffnung Zwiesprache halten, und der Schreck – ja, der Schreck ist das, was empfunden wird, wenn das oberste Blatt zerreißt. Und dann, im tödlichen Sturze, steigern sich die grellen Paukenschläge und roten Glühlichter der Schreckempfindungen bis zum Entsetzlichen.
Ahnst du, was vorgeht in jenem Raume, den wir vielleicht eines Tages durchstürzen werden und der sich zwischen der Erkenntnis des Unterganges und dem Untergange erstreckt?
Traum: Ich schlief in einem altertümlichen Hause und erwachte durch eine Reihe seltsamer Töne, die wie ein nasales »dang, dang, dang« klangen und mich sofort auf das höchste beunruhigten. Ich sprang auf und lief mit gelähmtem Kopfe um einen Tisch. Als ich an der Tischdecke zog, bewegte sie sich. Da wußte ich: es ist kein Traum, du bist wach. Meine Angst steigerte sich, während das »dang, dang« immer schneller und drohender klang. Es wurde durch eine geheimnisvolle, in der Mauer verborgene Warnungsplatte hervorgebracht. Ich lief ans Fenster, aus dem ich auf eine alte, ganz schmale Gasse blickte, die im tiefen Schachte der Häuser lag. Unten stand eine Gruppe von Menschen, Männer mit hohen, spitzen Hüten, Frauen und Mädchen, altertümlich und unordentlich angetan. Sie schienen eben aus den Häusern auf die Gasse gelaufen zu sein; ihre Stimmen schollen zu mir herauf. Ich hörte den Satz: »Der Fremde ist wieder in der Stadt.«
Als ich mich umwandte, saß jemand auf meinem Bette. Ich wollte aus dem Fenster springen, aber ich war wie an den Boden gebannt. Die Gestalt erhob sich ganz langsam und starrte mich an. Ihre Augen waren glühend und nahmen mit der Schärfe des Anstarrens an Umfang zu, was ihnen etwas grauenhaft Drohendes verlieh. In dem Augenblick, in dem ihre Größe und ihr roter Glanz unerträglich wurden, zersprangen sie und rieselten in Funken herab. Es war, als ob glühende Kohlenbrocken einen Rost durchglitten. Nur die schwarzen, ausgebrannten Augenhöhlen blieben zurück, gleichsam das absolute Nichts, das sich hinter dem letzten Schleier des Grauens verbirgt.
Es macht mir Vergnügen, daß ich das sonderbarste Verhältnis besitze zu einem der sonderbarsten Bücher, die es gibt, nämlich zum »Tristram Shandy«. Ich trug es während der Gefechte bei Bapaume in einer handlichen Ausgabe in der Kartentasche herum und hatte es auch bei mir, als wir vor Favreuil eingesetzt werden sollten. Da wir in Höhe der Artilleriestellungen vom Morgen bis zum späten Nachmittag in Bereitschaft gehalten wurden, begann es bald, äußerst langweilig zu werden, obwohl die Lage nicht ungefährlich war. Ich fing also an zu blättern, und die verquickte, von mannigfachen Lichtern durchbrochene Manier setzte sich bald in eine seltsame, helldunkle Harmonie zu der äußeren Situation, in der sie aufgenommen werden mußte. Nach vielen Unterbrechungen und nachdem ich einige Kapitel gelesen hatte, erhielten wir endlich Marschbefehl; ich steckte das Buch ein und lag bereits bei Sonnenuntergang mit einer Verwundung da.
Im Lazarett nahm ich die Lektüre wieder auf, gleichsam als ob alles Dazwischenliegende nur ein Traum gewesen wäre oder irgendwie zum Inhalte des Buches selbst gehörte. Ich bekam Morphium und las bald wach, bald in einer seltsamen Dämmerung weiter, so daß die tausend Schachtelungen des Textes noch einmal durch mannigfache seelische Zustände zerstückelt und eingeschachtelt wurden. Fieberanfälle, die mit Burgunder und Kodein bekämpft wurden, Beschießungen und Bombenabwürfe auf den Ort, durch den schon der Rückzug zu fluten begann und in dem man uns zuweilen fast vergaß, steigerten die Verwirrung noch, so daß ich heute von jenen Tagen nur noch die unklare Erinnerung an eine halb empfindsame, halb wilde Exaltation zurückbehalten habe, in der man selbst durch einen Vulkanausbruch nicht mehr in Erstaunen geraten wäre und in der der arme Yorick und der biedere Onkel Toby noch die realsten der Gestalten waren, die sich vorzustellen pflegten.
So trat ich unter würdigen Umständen in den geheimen Orden der Shandysten ein, dem ich bis heute treu geblieben bin.
Swedenborg verurteilt den »geistigen Geiz«, der seine Träume und Erkenntnisse verschließt.
Wie aber ist es mit der Verachtung des Geistes davor, sich auszumünzen und in Kurs zu bringen – mit seiner aristokratischen Abgeschlossenheit in den Zauberschlössern Ariosts? Das Unaussprechliche entwürdigt sich, indem es sich ausspricht und mitteilsam macht; es gleicht dem Golde, das man mit Kupfer versetzen muß, wenn man es kursfähig machen will. Welche Sprache ist frei vom Arbeitsgeruche des Gefühlstransports? Wer im Morgenlicht seine Träume zu fixieren sucht, sieht sie dem Gedankennetz entschlüpfen wie der Fischer von Neapel jene flüchtige Silberbrut, die sich zuweilen in die oberen Schichten des Golfes verirrt.
In den Sammlungen des Leipziger Mineralogischen Instituts sah ich einen fußhohen Bergkristall, der bei der Tunnelbohrung aus dem innersten Massiv des Sankt Gotthard gebrochen war – einen sehr einsamen und exklusiven Traum der Materie.
Ich hege einen Verdacht, der die Grenzen der Gewißheit streift: daß unter uns eine erlesene Schar, die sich längst aus den Bibliotheken und dem Staub der Arenen zurückgezogen hat, im innersten Raume, in einem dunkelsten Tibet, an der Arbeit ist. Ich glaube an Menschen, die einsam in nächtlichen Zimmern sitzen, unbeweglich wie Felsen, durch deren Höhlen die Strömung funkelt, die draußen jedes Mühlrad dreht und das Heer der Maschinen in Tempo hält – hier aber jedem Zweck entfremdet und von Herzen aufgefangen, die als die heißen, zitternden Wiegen aller Kräfte und Gewalten jedem äußeren Lichte für immer entzogen sind.
An der Arbeit? Sind es die entscheidenden Adern, an denen das Blut unter der Haut sichtbar wird? Die schwersten Träume werden in namenlosen Fruchtböden geträumt, in Zonen, von denen aus gesehen das Werk etwas Zufälliges, einen minderen Grad der Notwendigkeit besitzt: Michelangelo, der zuletzt die Gesichte nur noch in Umrissen in den Marmor wirft und die rohen Blöcke in Höhlen schlummern läßt wie Schmetterlingspuppen, deren eingefaltetes Leben er der Ewigkeit anvertraut; die Prosa des »Willens zur Macht« – ein unaufgeräumtes Schlachtfeld des Denkens, das Relikt einer einsamen, schrecklichen Verantwortung, Werksäle voll Schlüsseln, fortgeworfen von einem, der keine Zeit mehr hatte, aufzuschließen. Selbst ein im Zenith Schaffender wie der Chevalier Bernini spricht vom Widerwillen gegen das abgeschlossene Werk, Huysmans im späteren Vorwort zu »A Rebours« von der Unmöglichkeit, die eigenen Bücher zu lesen. Dies ist auch ein paradoxes Bild – gleichsam eines Menschen, der das Original besitzt und einen schlechten Kommentar studiert. Die großen Romane, die nicht vollendet wurden, nicht vollendet werden konnten, weil die eigene Konzeption sie erdrückt.
An der Arbeit? Wo sind jene Klöster der Heiligen, in denen die Seele in ihren mitternächtlichen und herrlichen Triumphen den Schatz der Gnade erstritt? die Säulen der Einsiedler als Monumente einer höchsten Sozietät? Wo ist das Bewußtsein geblieben, daß Gedanken und Gefühle ganz unvergänglich sind, daß etwas wie eine geheime doppelte Buchführung besteht, in der jede Ausgabe an einer sehr entfernten Stelle als Einnahme wieder in Erscheinung tritt? Die einzig tröstliche Erinnerung knüpft sich an Augenblicke aus dem Kriege, in denen plötzlich der Feuerschein einer Explosion die einsame Gestalt eines Postens aus dem Dunkel riß, der dort schon lange gestanden haben mußte. Ihr Brüder, durch diese unzähligen und schrecklichen Nachtwachen in der Finsternis habt ihr für Deutschland einen Schatz angesammelt, der nie verzehrt werden kann.
Der Glaube an die Einsamen entspringt der Sehnsucht nach einer namenloseren Brüderlichkeit, nach einem tieferen geistigen Verhältnis, als es unter Menschen möglich ist.
Seien wir auf der Hut vor der größten Gefahr, die es gibt – davor, daß uns das Leben etwas Gewöhnliches wird. Welcher Stoff zu bewältigen ist und welche Mittel zur Verfügung stehen – jene Wärme des Blutes, die unmittelbar Fühlung nimmt, darf nicht verloren gehen. Der Feind, der sie besitzt, ist uns wertvoller als der Freund, der sie nicht kennt. Glaube, Frömmigkeit, Wagemut, Begeisterungsfähigkeit, liebevolle Bindung an irgend etwas, sei es, was es auch sei, kurz alles, was durch diese Zeit haarscharf als Dummheit nachgewiesen ist – überall, wo wir das spüren, geht der Atem leichter, und sei es im beschränktesten Kreis. Mit all diesem ist der einfache Vorgang verbunden, den ich das Erstaunen nenne, jene Innigkeit im Aufnehmen der Welt und die große Lust, nach ihr zu greifen wie ein Kind, das eine gläserne Kugel sieht.
Wenn wir uns der Zeit erinnern, in der wir Kinder waren, des Schweifens durch Wald und Feld, wo das Geheimnis hinter jedem Baum und jeder Hecke verborgen war, der wilden, tobenden Spiele in den dämmerigen Winkeln der kleinen Stadt, der Glut der Freundschaft und der Ehrfurcht vor unseren Idealen, so sehen wir, um wieviel blasser die Welt geworden ist. Können wir noch eine Gestalt so verehren wie Sherlock Holmes, den hageren, nervösen Helden mit der kurzen Pfeife zwischen den Zähnen, oder ist uns irgend etwas noch so wichtig wie der grüne Papagei, der dem armen Robinson auf der Schulter saß? Robert, der Schiffsjunge, und Old Shatterhand, der Rote Freibeuter und Kapitän Morgan, der den Totenkopf im schwarzen Wimpel trug, der Graf von Monte Christo mit seinen Schätzen, Schinderhannes, dieser Freund der Hütten und Feind der Paläste, Dschaudar, der Fischer, dem sein Ring die Herrschaft über dienstbare Genien verlieh, alle diese Abenteurer, Märchenprinzen, Seeräuber und edelmütigen Verbrecher – ich beklage nicht, daß sie dahingegangen sind, aber ich wünschte, daß sie mit jedem neuen Kreis, den das Leben uns öffnet, Nachfolger fänden, auf die die ganze Summe von Liebe und Glauben sich übertragen könnte, die ihnen gewidmet war.
Aber auch später, als man begann, uns mit Sie anzureden, als die Kraft versuchte, sich ganz frisch und ungeschult nach außen zu wenden – was waren das doch für Kerle, mit denen wir zusammen waren, ein Kerl jeder einzelne! – als wir die Zusammenhänge noch nicht sahen, aber wohl ahnten, wie man eine große Landschaft ahnt, wenn aus flutenden Nebeln die ersten Bergspitzen in die Höhe stoßen mit Zinnen, die in der Morgensonne funkeln, und mit Burgen, die zum Erstürmen geschaffen sind. Ja, da setzten sich die Farben zusammen, ganz frisch von der Palette, zu einem leuchtenden, schöneren Bild. Viel erwartete uns, und jeder hatte Angst, zu spät zu kommen, denn unaufhörlich rief und lockte das Wunderbare, so wie der gedehnte, schrille und kühne Schrei eines Raubvogels sich über der Einsamkeit großer Wälder wiederholt.
Damals wollten wir nicht mehr Seeräuber, Trapper und Pelzjäger werden, sondern Minister, Generäle, Bankdirektoren, Dichter, Professoren und Handelsherren. Jeder Einzelne wollte aufs Ganze gehen! Ich höre es noch, wie der kleine Seebohm dieses Wort aussprach: »Exportkaufmann«. Da war das Erstaunen noch da, keine Kontore, keine Ziffern, keine Bilanzen, nein, nur das Klatschen der Wellen an den Kielen der Schiffe, Gold, Gewürze und Elfenbein, ferne Küsten mit großen farbigen Blüten und all dem bunten Dunst, der das Wunderbare verhüllt. Das waren ja keine Berufe, sondern echte, wirkliche Ideale, das durchaus Wesentliche und eigentlich Lebenswerte, von dem ein jeder ergriffen war.
Aber auch später noch! Heidelberger und Jenenser Studenten, Fähnriche mit Gesichtern wie junge Kriegsgötter über dem blutroten Kragen mit der breiten goldenen Kante, andere, die überhaupt nichts taten, um gegen die bürgerliche Ordnung zu protestieren: das waren immer noch Leute, mit denen sich umgehen ließ. Saufen und raufen und hinter den Schürzen herspüren, was schadet denn das? Zum Teufel, der Nächte sind noch nicht genug, in denen wir die Lichter bis zu den Manschetten herunterbrennen ließen. Hatte denn nicht jeder etwas, das sehr ernst genommen wurde – Ehre, Freiheit in allen Schattierungen von 1789 bis 1914, Vaterland, den Sozialismus, die Literatur, die Kunst, die Wissenschaft – sehr ernst genommen nicht aus Einsicht oder Gewohnheit, sondern noch aus dem unmittelbaren Drange des Herzens heraus, das sich an eine Sache zu hängen sucht und nach großen Worten verlangt? Nichts gegen die großen Worte – ich meine, daß es die Begriffe sind, die sich schon zur rechten Zeit einstellen werden. Bewegung muß da sein und Drang nach Bewegung; früh genug fängt das Leben sie ein und leitet sie über seinen Arbeitsgang. Wozu man da ist, das erfährt man vielleicht nie, alle sogenannten Ziele können nur Vorwände der Bestimmung sein; aber daß man da ist, mit Blut, Muskel und Herz, mit Sinnen, Nerven und Gehirn, darauf kommt es an. Immer auf dem Posten sein, immer rüsten, immer bereit sein, dem Ruf zu folgen, der an uns ergeht – und es ist gewiß, daß der Ruf nicht ausbleiben wird.
Ja, auch bei diesen hatte man noch das Gefühl, daß viele Möglichkeiten ihnen offenstanden und daß mancher Weg von ihrem Standpunkt in die Ferne lief. Hätte man nicht mit ihnen allen, je nach dem Geschmack des Einzelnen, Dinge begehen können, die für den normalen Menschen ganz unsinnig sind, etwa mit Garibaldi, mit Hecker, mit dem Griechenmüller oder mit den Buren zu Felde ziehen? Nicht, daß man Derartiges tut, scheint mir wesentlich, wenn auch wir Deutschen überall unser Kontingent gestellt haben, wo auf der Welt so etwas im Gange war. Aber nur Menschen, die überhaupt dazu imstande sind, die diese Möglichkeit in sich tragen, mit sechzig Jahren ebenso wie mit sechzehn, können unsere Freunde sein. Denn nur von diesem Schlage darf man hoffen, daß er sich an Ideen entflammt und daß er sich erhebt, wenn die Gewalt auch noch so mächtig ist. Und nicht, ob solche Erhebungen glücken oder nicht, ist von Wichtigkeit, sondern daß sie stattgefunden haben. Das leuchtet noch lange zurück.
Gern denke ich an jene Zeit kurz vor dem Kriege zurück, in der ich eines Tages meine Schulbücher über die nächste Mauer warf, um nach Afrika zu ziehen. Der Dreißigjährige kann sich nicht entschließen, die Unverfrorenheit des Sechzehnjährigen zu mißbilligen, die auf die Tätigkeit von zwei Dutzend Schulmeistern verzichtete und sich über Nacht eine eindringlichere Schule verschrieb. Es entzückt ihn vielmehr ein früher, instinktiver Protest gegen die Mechanik der Zeit; und er erinnert sich eines einsamen Paktes, der durch eine geleerte Burgunderflasche besiegelt wurde, die er an einem Felsblock des Hafens von Marseille zerschmetterte.
Ich rufe jene Tage des frühen Juni in das Gedächtnis zurück, in denen sich bereits die volle Gewalt des Sommers zusammenfaßt und in denen doch das Laub sein erstes Lichtgrün noch nicht ganz verloren hat, das sich von Monat zu Monat dunkler tönt bis zur metallischen Schwärze des Stahls, auf dem sich endlich der bunte Rost des Herbstes niederschlägt. Der Himmel war blau und golden, von keinem Federwölkchen getrübt, und der Geruch der blühenden Bergwiesen jenseits des Flusses, die vor dem Schnitte standen, drang bis in die Stadt. Das Gymnasium schloß seine Pforten oft schon um elf Uhr, und das Gefühl der Festfreude, diesem zweiflügligen, sehr ernsthaften Gebäude aus gelbem Ziegelstein zu so guter Zeit den Rücken kehren zu dürfen, war um so höher, wenn es eine Mathematikstunde war, die dem Eingriff der Hitze zum Opfer fiel.
Schon beim Aufstehen, wenn die warme Luft aus dem Garten durch das Fenster meines Schlafzimmers wie durch den Rost eines großen Ofens drang, pflegte mein erster Blick dem Thermometer zu gelten, und der Gedanke, daß sie wohl nicht umhin können würden, ausfallen zu lassen, erweckte jedesmal meine Heiterkeit.
Gewiß erinnern wir alle uns gern solcher Tage, deren erster Gedanke ein heiterer war. Die frühen Sonnenstrahlen, die Mannigfaltigkeit des draußen erwachenden Lärms, das Zimmer, seine Möbel und selbst seine Wände, dies alles scheint von einem neuen Sinn erfüllt, der uns ganz und gar umgibt und mit jedem Atemzuge tiefer durchdringt. Die Entdeckung, daß das Leben aus seiner Nüchternheit herausgetreten ist, strahlt auf seine kleinsten Einzelheiten aus, und mit Erstaunen bemerken wir das Vergnügen, das darin liegt, eine Krawatte zu binden oder den Hausgenossen Guten Morgen zu wünschen.
Mit sechzehn Jahren gar besitzt diese Fröhlichkeit, die uns zuweilen beglückend überfällt, ihren besonderen Reiz. Sie ist zwar nicht mehr die ganz in sich geschlossene Freude des Kindes, dafür aber ist auch jene Zeit des Überganges vorbei, in der uns ein quälendes Mißverhältnis, das sich zwischen uns und der Welt aufwirft, bedrückt. Das Bewußtsein hat sich befestigt, und damit freuen wir uns nicht nur, sondern wir freuen uns zugleich über uns selbst.
Das uralte Städtchen, in dem ich damals lebte, war wohl dazu angetan, der Spiegel festlicher Gefühle zu sein. Ich wohnte in einem Hause, das vor Zeiten als Pachthof einer Patrizierfamilie außerhalb der Tore gelegen hatte und dem mächtige Mauern und die mit ausgezackten Eisenstäben bewehrten Fenster den Charakter einer kleinen Festung verliehen. Die Mauer, die den Garten umfaßte, war so hoch, daß nur die benachbarten Kirchtürme hineinblicken konnten, von denen mir besonders noch ein ganz einfacher, vierkantiger, den eine dunkelrote Ziegelhaube bedeckte, in Erinnerung ist. Seine Umrisse tauchen jedesmal zugleich mit dem Worte »Mittelalter« wieder in mir auf. Er war von schmalen Fensteröffnungen unregelmäßig durchbrochen, und die Art ihrer Anordnung gab ihm ein fast menschliches Gesicht. Es war ein sehr seltsames Mittelalter, das da zuweilen des Abends hereinblickte, sehr fern und doch vertraut wie der verwehte Klang von Glocken, den man an Sonntagvormittagen in der Einsamkeit der Wälder vernimmt. Manchmal, während der kurzen Pause, in der der Wind schlafen geht, wenn der Raum ausgestorben und fast luftleer schien, leuchtete die rote Kuppe satter auf vor dem blaßgrünen Streifen, der die Nacht anzukünden pflegt. Wenn dann von den mit breiten Steinplatten belegten Wegen des verwilderten Gartens mein Blick auf diesen durch die Mauerkrone halb abgeschnittenen Sonderling fiel, war es mir nicht anders, als ob sein Sockel einer vergangenen, zauberhaften Landschaft entwachsen müßte, und ich entsinne mich noch recht gut des schmerzlichen Gefühls, das mich in solchen Augenblicken ergriff. Ich habe es seither noch oft vor jenen starken, frommen und männlichen Bildern der frühen Meister empfunden, auf denen sich durch die geöffneten Fenster von Kirchen und Schlössern ein magischer Hintergrund offenbart, lockend und drohend zugleich von Felstälern, Klippen und Burgen erfüllt. Es ist das Gefühl, dem Geist einer Zeit sehr nahe zu sein, deren Wirklichkeit uns jedoch für immer entschwunden ist. In jeder geprägten Form liegt etwas verschlossen, das mehr ist als Form; eine Zeit hat ihr Siegel hinterlassen, das wieder aufglüht, wenn es vom tieferen Blicke getroffen wird. Dann ist es uns zuweilen, als ob wir die Hand nach einem wunderbaren Traumbild ausstreckten, das in demselben Augenblick erlischt, in dem wir es zu berühren wähnen. Diese Sehnsucht nach einer verschollenen Zeit, nach den leuchtenden Farben, die schon so lange verblaßten, nach der reichen und unbegreiflichen Fülle eines Lebens, das unwiderruflich dahingegangen ist – sie ist weit schmerzlicher und unstillbarer als jene andere, die die Schilderung ferner Inseln und üppiger Länder in uns erweckt.
Aber immer noch lag etwas von jener Zeit als ein feiner Hauch über der alten Stadt, als ein Medium zwischen Erinnerung und Substanz, das sich in ihren Winkeln gefangen hatte und ihre Häuser wie mit einem bräunlichen Staub zu pigmentieren schien, der, wo ihn ein Sonnenstrahl traf, überraschend aufleuchtete und goldene Ornamente schimmern ließ. Jedesmal, wenn der Frühling das Land eroberte, fand eine märchenhafte Vermählung des Alters mit der ewigen Jugend statt. Die spitzen roten Dächer, in die der Regen im Laufe der Jahre schwarze Streifen gezeichnet hatte, hoben sich reicher aus dem Grün, und der in eine breite Promenade verwandelte Ringwall war von blühenden Kastanien wie von einer Doppelschnur brennender Riesenkandelaber umstellt.