Für Emily

 

 

 

 

»Sich mit wenigem zu begnügen, ist schwer, sich mit vielem zu begnügen unmöglich.«

 

Marie von Ebner-Eschenbach

1

Siebte Reihe! Sie waren ganz dicht dran! Nele würde das Gesicht der Bitch ganz genau erkennen können. Nicht so wie die Leute ganz da oben, auf dem zweiten Rang der Arena. Die würden sie nur auf der Videoleinwand sehen, die über der Bühne prangte und auf der momentan der Name Lisa T. in einer Endlosschleife, in immer wechselnden Farben, in immer anderem Design, flimmerte.

Auf der Bühne tat sich noch nichts, dort standen nur die Instrumente, Boxen, Mikrofonständer – das Versprechen einer Show. Nele schaute auf die Uhr. Es war bereits halb neun. Um acht hätte sie eigentlich schon anfangen sollen, doch um so etwas musste sich jemand wie Lisa T. natürlich nicht kümmern. Sie war zu cool dafür. Die Bitch kam, wenn sie es wollte, nicht, wenn man es ihr sagte. Eigentlich war es auch egal, wann genau die beste Rapperin Deutschlands die Bühne betrat, denn Nele saß direkt neben Daniel. Das allein war schon Event genug.

Auf Neles anderer Seite saß Svantje. Ihre beste Freundin. Und neben Svantje saß Max. Die beiden waren jetzt seit vier Monaten zusammen, aber Nele hatte nicht den Eindruck, dass es für die Ewigkeit war. Svantje hatte eine Menge an Max auszusetzen: Er redete zu leise, aber dafür zu viel, er war zu vernünftig, er war ein mittelmäßiger Küsser. Svantje würde Max sofort fallen lassen, wenn Daniel noch auf dem Markt wäre, da hatte Nele keinen Zweifel. Denn alle wollten Daniel. Aber sie hatte ihn gekriegt! Sie war es, der Daniel nun seinen Arm um die Schultern legte – einfach so, ohne dass sie strategisch an ihn heranrücken musste. Sie war es, die er angrinste. Sie war es, die er küsste. Und Daniel küsste alles andere als mittelmäßig! In diesem Moment stand für Nele endgültig fest, dass dies der beste Abend ihres Lebens war.

Es wurde unruhig im Publikum, denn jemand hatte die Bühne betreten. Doch es war nicht Lisa T., es war nicht einmal einer der Musiker. Es war nur irgendein Typ mit langen, fettigen Haaren und einer Hängearsch-Jeans, der zwischen Schlagzeug und Keyboard herumwuselte, irgendwelche Kabel einstöpselte und nacheinander auf alle Mikrofone klopfte, um zu schauen, ob sie eingeschaltet waren. »Macht man so etwas nicht eigentlich beim Soundcheck, wenn noch niemand im Saal ist?«, fragte Nele Daniel.

»Wahrscheinlich ist das alles völlig unnötig, was der da abzieht«, antwortete Daniel. »Vielleicht will der Typ einfach nur gern mal vor zehntausend Menschen auf einer Bühne stehen.«

Nele lachte. Als hätten die Leute im Saal Daniels Spruch gehört, applaudierten nun einige von ihnen dem Hängearsch-Mann scherzhaft, und der machte tatsächlich grinsend eine alberne Verbeugung, bevor er von der Bühne schlurfte.

Dann erlosch das Licht. Für eine Sekunde war alles tiefschwarz, bis Dutzende von Scheinwerfern die Bühne mit gleißender Helligkeit beschossen.

»Who’s the Queen?!«, rief eine Stimme durch die Arena.

Alle sprangen jubelnd auf, es gab kein Halten mehr. Zehntausend Menschen erhoben sich gleichzeitig, als hätten sie es vorher abgesprochen, von ihren Plätzen. Wie ein einziger großer Körper, der sich unter einem Stromschlag aufbäumt.

»Who’s the Queen?!«, ertönte die Stimme erneut.

»Ghetto Bitch!«, schrien Tausende von Menschen zurück.

»Ich kann euch nicht hören!«, schrie Lisa T. »Who’s the Queen?!«

»Ghetto Bitch!!!!«, brüllten nun die Fans so laut, dass es sich anfühlte, als würde die ganze Halle vibrieren. Als würden die Schallwellen von zehntausend jubelnden Menschen über Neles Arme und ihr Gesicht flitzen wie elektromagnetische Wellen. Sie bekam eine Gänsehaut. Nele drehte sich zu Daniel um. Sie blickte direkt in sein Gesicht. Er hatte sie die ganze Zeit angeschaut. Nicht zur Bühne hatte er geguckt, sondern zu ihr! Nele strahlte ihn an.

»Geht es euch gut?!« schrie Lisa T.

»Fucking perfect!«, schrien zehntausend Menschen.

Fucking perfect. Das war einer der größten Hits von Lisa T. Und genau das war auch dieser Abend, dachte Nele: Fucking perfect!

Ein gleißender Blitz zuckte quer durch die Arena und die Musik begann. Ohrenbetäubend laut. Die Band legte los wie ein Gewitter. Und Lisa T. betrat die Bühne.

»Gebt mir eure Liebe, Leute!«, rief sie und Tausende von Handys flackerten auf. Auch Nele hatte ihr iPhone gezückt und fing an, die Show zu filmen.

»Gebt mir eure Liebe!«

Erneuter Jubel. Die Band hämmerte auf ihre Instrumente ein. Jeder Schlag der Bassdrums brachte Neles Körper zum Schwingen. Ein Wahnsinnsgefühl! Svantje holte ihre Ohropax aus der Umhängetasche und stopfte sie sich in die Ohrmuscheln. Das hatte sie ihrer Mutter versprechen müssen, sonst hätte sie nicht mitkommen dürfen. Svantje spielte Klarinette im Jugendkammerorchester, und der Plan war, dass sie später am Musikkonservatorium studieren und danach Mitglied eines berühmten Symphonieorchesters werden sollte. Da wäre ein Tinnitus natürlich tödlich.

Auf der Bühne ging es nun richtig zur Sache. Lisa T. begann zu rappen. Sie spuckte die Wörter aus wie Säuregeschosse. So viel Wut! So viel Power! Nele sang den Refrain begeistert mit.

Sie ist die Queen der Hood

Was sie macht, macht sie good

Sie ist tough, sie ist Street

Sie lebt nach ihrem eigenen Beat.

Siebzig Minuten und zwei Zugaben später war Schluss. Das Licht im Saal ging an und verwandelte die funkelnde Party in eine neonhelle Völkerwanderung. Tausende von Menschen schoben sich auf die Ausgänge zu.

Doch Nele wollte noch nicht, dass der Spaß zu Ende war. Sie und Svantje grölten den Refrain ihres Lieblingssongs wieder und wieder, während sie sich in dem Pulk aus Menschen mühsam vorwärtsbewegten:

Sie ist die Queen der Hood

Was sie macht, macht sie good …

Daniel und Max gingen neben ihnen und verglichen ihre Handyaufnahmen. Daniels Video war schärfer. Max hatte noch das alte S3-Modell, das hatte nur halb so viel Megapixel wie Daniels Smartphone.

Sie ist die Bitch im Ghetto

Sie hat alle Tricks in petto

She’s nobody’s fool

The bitch is fucking cool!

Die letzte Zeile schrien Nele und ihre Freundin genau so, wie Lisa T. sie auf der Bühne geschrien hatte. Mit sich fast überschlagender Stimme, mit all der Wut der Straße drin. Sie ballten die Hände zu Fäusten – THE BITCH IS FUCKING COOL! – und rissen dabei die Arme in die Höhe.

»Hey!«, protestierte ein Mädchen. »Pass doch auf!«

Nele drehte sich um und sah, dass Svantje dem Mädchen versehentlich das Handy aus der Hand geschlagen hatte.

»Oh. Entschuldigung. Das war keine Absicht«, sagte Svantje.

Das Mädchen bückte sich und hob ihr Handy auf. Ein Junge – ihr Freund offenbar – schob die Leute, die von hinten weiterdrängelten, grob zur Seite. Das Mädchen untersuchte ihr Telefon. Das Display war zersplittert.

»Oh nein!«, rief sie entsetzt.

»Fuck«, sagte der Junge, der eigentlich kein Junge mehr war, sondern schon ein Mann. Neunzehn, zwanzig Jahre alt vielleicht. Sein Schädel war bis auf ein paar kurze Stoppeln kahl rasiert und er trug ein Tattoo am Hals. Wer auch immer dieses Tattoo gestochen hatte, war kein Meister seines Fachs. Es sollte wohl eine Schlange sein, doch für Nele sah es eher aus wie die Abbildung des Zwölffingerdarms in ihrem Biologiebuch. Das war das Thema ihrer letzten Bioarbeit gewesen: Aufbau und Funktion des menschlichen Verdauungstraktes.

»Das bezahlt ihr, ihr Fotzen«, sagte der Mann.

»Hey!«, protestierte Daniel.

»Das war ein Versehen!«, beteuerte Svantje noch einmal.

»Ihr bezahlt das!«, wiederholte der Typ mit dem Verdauungsorgan am Hals. Er drückte sich näher an Svantje heran, während der Pulk von Leuten die Gruppe nun wieder in Richtung Ausgang schob. Der Typ wirkte bedrohlich. Svantje zitterte.

Nele schaute zu Max. Er war Svantjes Freund. Es war seine Aufgabe, sie jetzt zu beschützen, doch Max schaute nur nervös zu, ohne etwas zu unternehmen. Der Zwölffingerdarm-Typ war locker einen Kopf größer als Max und würde ihn mühelos plattmachen können, aber das dürfte Max nicht daran hindern, sich einzumischen. Es gab Regeln. Jungs durften nicht einfach nur zuschauen, wenn ihre Freundin bedroht wurde. Auch Svantje sah Max nun Hilfe suchend an.

»Deine Eltern haben doch bestimmt eine Haftpflichtversicherung«, sagte Max leise zu ihr und wandte sich dann dem kahl geschorenen Zwölffingerdarm zu: »Lass uns das draußen regeln.«

Der Darm lachte ungläubig: »Du willst das draußen regeln?! Du?! Digga, du bist tot!«

Max erschrak, als er das Missverständnis begriff. »Oh Gott, nein! Ich meine nicht: ›Lass uns das draußen regeln‹, als ob wir uns da schlagen wollen, draußen. Natürlich nicht. Also, so was … das ist ja gar nicht mein … Stil, äh …«

Max war knallrot, und dass ihm nun der Schweiß die Stirn herunterlief, hatte nichts mit der Hitze im Saal zu tun.

»Ich meine, wir können das draußen in Ruhe klären. Vernünftig. Zivilisiert«, beeilte er sich zu versichern.

Der tätowierte Mann schien sich nicht entscheiden zu können, ob er sich über Max amüsieren oder ihm die Nase brechen sollte. Max hob entschuldigend beide Hände. »Wir wollen doch alle keinen Ärger. Lass uns das draußen ganz in Ruhe besprechen. Es war ein unglücklicher Unfall, dafür gibt es doch Versicherungen, das kann man alles regeln.«

Svantje sah enttäuscht aus. Was Max sagte, machte Sinn. Es war vernünftig. Sehr männlich war es aber nicht.

Das Mädchen musterte verzweifelt das zersplitterte Handy in ihrer Hand. »Mein Alter schlägt mich grün und blau, wenn er das sieht«, wimmerte sie und schaute ihren Freund an.

»Muss der gar nicht mitkriegen. Du kriegst ein neues. Die Fotzen zahlen das, verlass dich drauf«, versicherte er ihr.

»He«, protestierte Nele. »Es gibt keinen Grund, uns die ganze Zeit zu beleidigen. Wir haben doch gesagt, dass es uns leidtut. Und dass es ein Versehen war. Meine Mutter wartet draußen auf dem Parkplatz. Da können wir das alles regeln, mit der Versicherung und so.«

»Da können wir das alles regeln, mit der Versicherung und so«, quakte der Darm in einem albernen Singsang, um sich über Nele lustig zu machen.

»Ist doch keine große Sache«, fand Svantje. »Das ist doch nur so ein Billighandy.«

Das Mädchen und der Darm funkelten sie wütend an. Svantje biss sich auf die Lippe.

»Kommt einfach mit«, sagte Daniel. Seine Stimme war kühl und tief und selbstbewusst. Er legte seinen Arm demonstrativ um Neles Schultern und würdigte den Darm und seine Freundin keines weiteren Blickes. Er ging vor, die beiden hatten ihm zu folgen. Nele lächelte. DAS war cool. DAS war männlich.

 

»Ey, wo latscht ihr denn hin?«, nölte der Stoppelkopf.

»Meine Mutter steht dahinten, auf D4«, erklärte Nele. Der Parkplatz vor der Arena war riesig.

»Ja, denn mal los. Wir haben nicht ewig Zeit«, knurrte der Mann.

Die Wut des Glatzkopfs war verraucht, inzwischen war es Business. Der Typ sagte kein Wort, seine Freundin ging stumm neben ihm. Max und Svantje schauten die ganze Zeit zu Boden und vermieden jeden Blickkontakt. Nele dagegen sah einmal kurz zu dem Darm und seiner Tussi hinüber. Sie erschrak ein wenig, als der Kerl ihr direkt in die Augen schaute. Und er grinste. Ein fieses Grinsen. Nele guckte schnell wieder weg.

Nele, Svantje, Max und Daniel gingen zu Neles Mutter, die vor ihrem SUV wartete und sich offenbar ziemlich wunderte, dass ihre Tochter nicht nur ihre Freunde dabeihatte, sondern auch noch zwei Gestalten, die aussahen, als wären sie aus einem Fernsehkrimi über Drogendealer und minderjährige Prostituierte entlaufen.

Neles Mutter hörte sich kurz an, was passiert war. Svantje hatte inzwischen Nachforschungen angestellt: »Hier steht’s, Henriette«, sagte sie zu Neles Mutter und hielt ihr Smartphone hoch, auf dem die Seite eines Online-Shops zu sehen war: »Neupreis dieses Modells: 179 Euro.«

Neles Mutter griff in ihre Handtasche, holte ihr Portemonnaie hervor, gab dem grimmig dreinblickenden Zwölffingerdarm drei 50 Euro-Scheine und sagte: »Es ist ja schließlich nicht mehr neu. Und für 30 Euro könnten Sie auch das Display reparieren lassen. Dann haben Sie noch ein richtig gutes Geschäft gemacht.«

Sie drehte sich um, ohne seine Reaktion abzuwarten, und öffnete die Fahrertür ihres SUV. Der Darm gab sich knurrend zufrieden und ging mit seiner Freundin davon. Henriette stieg ein. Nele und Daniel machten es sich auf dem Rücksitz bequem, während Svantje auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Sie würdigte Max, der kurz zögerte und sich dann neben Daniel auf die Rückbank quetschte, keines Blickes.

»Vielen Dank, Henriette«, sagte Svantje, nachdem sie sich angeschnallt hatte. »Es tut mir echt leid. Meine Eltern geben dir das natürlich wieder.«

Henriette lächelte nur freundlich, um Svantje zu signalisieren, dass das keine große Sache sei.

»Wo hatten die Assis überhaupt das Geld für die Eintrittskarten her?«, wunderte sich Nele.

»Ja, genau. Die Karten in unserer Sitzplatzgruppe haben 90 Euro gekostet!«, erinnerte sich Svantje.

»Ganz schön teuer eigentlich für siebzig Minuten Ghetto«, sagte Daniel. Svantje und Nele kicherten.

»Lisa T. ist eben Luxusghetto«, sagte Nele. »Sie ist eine echte Platin-Bitch.«

 

Es hatte eine Weile gedauert, bis sie sich von dem überfüllten Parkplatz herunter in den Straßenverkehr einfädeln konnten, doch jetzt fuhren sie die Ringstraße entlang nach Hause.

Nele reichte ihren iPod nach vorn zu Svantje und sagte: »Das zweite Album, okay?«

Svantje schloss das Gerät an die Anlage an und Henriette wählte mit den Tasten am Lenkrad die richtigen Tracks aus. Lisa T. rockte den Wagen und Svantje und Nele sangen mit:

Ich scheiß auf eure Vorschriften,

ich will lieber abdriften, umshiften,

abhauen, zuhauen,

Hauptsache, nicht nur zuschauen,

ich will nicht bloß abnicken,

irgendwann abkacken,

vor der verdammten Glotze

jeden Abend absacken,

ich will ein Leben ohne Grenzen,

täglich dancen, die Scheiße dafür schwänzen,

living straight, getting laid,

getting out of the shade,

getting fucking paid

alles, was ich will, alles, was ich tu,

wird

Fucking perfect!

Daniel nahm Neles Hand.

Fucking perfect!

Nele küsste ihn. Henriette schaute in den Rückspiegel und lächelte ihre Tochter an. Nele zwinkerte ihr zu. Ihre Mutter war cool. Daniel war ein verdammt guter Küsser. Alles war, wie es sein sollte.

Fucking perfect!

2

Zuerst hatten sie Max zu Hause abgesetzt. Svantje hatte den Kopf weggedreht, als Max ihr beim Aussteigen einen Gutenachtkuss geben wollte. Svantje konnte echt tough sein. Max würde sich ganz schön abstrampeln müssen, um bei ihr wieder ein paar Punkte zu sammeln.

Zwei Minuten später waren sie an Svantjes Haus angekommen. Svantje hatte ihrer Mutter, eine Minute bevor sie eintrafen, eine WhatsApp-Nachricht geschickt, und so öffnete sich das Tor zu ihrer Auffahrt bereits wie von Geisterhand, als Henriettes SUV davor einbog.

Svantje umarmte Nele und flüsterte: »Lass uns nachher noch chatten.« Sie lächelte Daniel kurz zu, bedankte sich bei Henriette noch einmal für deren Hilfe und stieg aus dem Wagen. Henriette wartete noch, bis Svantje den Weg durch den fast parkähnlichen Garten bis zur Haustür ihrer Villa sicher zurückgelegt hatte, bevor sie wieder losfuhr.

Schließlich wurde Daniel abgesetzt. Er wohnte nur eine Straße von Nele entfernt. Daniel legte ganz sanft seine Hand auf Neles Wange und gab ihr einen letzten Kuss. Dann waren Henriette und Nele allein im Wagen.

»Toller Abend, hm?« Henriette lächelte.

»Ja.« Nele lächelte zurück.

»Und das Konzert war richtig gut?«

»Hammer.«

Nele tippte bereits eine Message an Daniel, während sie mit ihrer Mutter sprach: Träum von mir ;-)

Kurz darauf, als der SUV gerade im Carport zum Stehen kam, ploppte Daniels Antwort auf Neles iPhone auf: Na klar. Mach ich doch jede Nacht!

Nele strahlte.

»Gute Nachrichten?«, fragte Henriette.

Nele nickte nur. Sie hatte ein supergutes Verhältnis zu ihrer Mutter, sie waren fast wie Freundinnen, aber alles musste Henriette auch nicht wissen.

 

Als sie die Haustür aufschlossen, schlug ihnen ohrenbetäubend laute Musik entgegen. Nicht Lisa T., sondern die grellen und brutalen Death-Metal-Klänge, auf die Neles Bruder Timo stand. Henriette seufzte, und Nele hielt sich die Ohren zu, als sie ins Wohnzimmer ging. Timo saß auf dem Sofa. Auf dem Großbildfernseher schrie sich gerade ein bizarr bemalter und tätowierter Typ die Seele aus dem Leib, fuchtelte mit den Armen herum, als hätte er einen schweren epileptischen Anfall, und schleuderte seine blonde Mähne durch die Luft. Es war die Live-Blu-ray vom »Wacken«-Festival, die Timo sich mindestens einmal die Woche ansah. Nele konnte den Schreihals auf dem Bildschirm nur verschwommen erkennen, denn der Konzertmitschnitt war in 3-D. Timo hatte die entsprechende Brille auf der Nase, eine große Literflasche Cola vor sich auf dem Tisch und eine Tüte Kartoffelchips auf dem Schoß. Nele nahm sich die Fernbedienung und schaltete auf Stumm. Timo schaute erstaunt auf. Er hatte Nele erst jetzt bemerkt.

»Oh. Hi«, sagte er. »Schon zurück? War’s gut?«

»Besser als die Scheiße da auf jeden Fall«, sagte Nele und zeigte auf den Bildschirm, auf dem der Sänger gerade einen Schwall Kunstblut auskotzte. Nele schaute Timo nur kopfschüttelnd an. Kaum zu glauben, dass sie mit ihm verwandt war. Timo war vierzehn, ein Jahr jünger als sie, und bis auf den Nachnamen hatten sie rein gar nichts gemeinsam. Timo war ein Außenseiter. Er war ein Nerd. Seine langen, oft fettigen Haare hingen ihm wie Spaghetti auf die teigigen Schultern. Er war ziemlich klein für sein Alter, hatte dafür aber locker zehn Kilo Übergewicht. Das war kein Wunder, wenn man die meiste Zeit auf dem Sofa rumsaß und mit der PlayStation spielte. Er war ein echter Loser. Nele hatte ihrem Bruder verboten, sie anzusprechen, wenn sie sich auf dem Schulhof über den Weg liefen.

Früher einmal hatten sie sich ziemlich gut verstanden. Da war Nele die fürsorgliche große Schwester gewesen und Timo ihr pummeliger, liebenswerter Anhang, den all ihre Freundinnen total süß fanden. Timo war knuffig gewesen, ein freundlicher, gutmütiger Baby-Teddybär. Doch dann war er immer dicker geworden, immer ungepflegter und hatte seine Leidenschaft für Metal entdeckt. Freunde hatte er schon damals wenige gehabt, aber inzwischen hatte er – soweit Nele es beurteilen konnte – überhaupt keine mehr. In den Schulpausen saß Timo meistens in der Bibliothek oder der Kantine und las Mangas.

Henriette kam ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher aus. Sie klatschte in die Hände: »So, ihr Süßen, Feierabend. Ab ins Bett! Zügig! Morgen ist Schule.«

»Papa hat vorhin angerufen«, sagte Timo. »Er hat dich auf dem Handy nicht erreicht. Er hat sich doch kein Hotelzimmer genommen, sondern kommt heute Nacht noch nach Hause. Er ist schon auf dem Weg.«

»Oh, gut«, sagte Henriette.

Neles und Timos Vater Ingo war Architekt. Er fuhr ständig durch ganz Deutschland, beaufsichtigte Bauarbeiten, schaute sich Grundstücke an, hatte unentwegt irgendwelche Meetings. Nele hatte keine Ahnung, in welcher Stadt ihr Vater gerade war. Sie redeten nicht mehr sehr viel miteinander in letzter Zeit.

»Also: Macht euch bettklar, Kinder«, forderte Henriette noch einmal und Timo und Nele gingen in ihre Badezimmer. Nele und ihre Mutter teilten sich das luxuriöse Bad im Obergeschoss, während Timo und sein Vater ein eigenes Badezimmer im Souterrain hatten, direkt neben dem Pool und der Sauna. Dieses Badezimmer war etwas kleiner und nicht ganz so edel, aber sie waren ja auch Jungs. Da war der kosmetische und hygienische Aufwand deutlich geringer als bei den Mädels – in Timos Fall, fand Nele, war der Hygienefaktor sogar an der Grenze zur Nichtexistenz.

 

Eine halbe Stunde später lag Nele im Bett und tauschte WhatsApp-Nachrichten mit Svantje aus.

SVANTJE: Ich fand’s total peinlich, wie feige Max vorhin war.

 

NELE: Aber was hätte er denn tun sollen? Der andere Typ war voll der Schläger.

 

SVANTJE: Kennst du Bennett?

 

NELE: Aus der Oberstufe?

 

SVANTJE: Der ist süß, oder?

Es klopfte an der Tür, die Henriette öffnete, bevor Nele das Handy verstecken konnte. Henriette schaute ihre Tochter halb amüsiert, halb vorwurfsvoll an. Jetzt war der Moment gekommen, wo Nele wirklich Feierabend machen musste. Sonst gab es doch noch Ärger. Irgendwann reichte es auch der coolsten Mutter.

Nele tippte: Muss aufhören. Bis morgen, und legte das Handy auf den Tisch neben dem Bett. Henriette nickte ihrer Tochter noch einmal zu und schloss die Tür wieder.

Nele schaltete das Licht aus.

 

Es klingelte. Nele brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Sie richtete sich auf. Es war das Telefon unten im Flur, das hartnäckig weiterklingelte. Sie schaute auf den Digitalwecker neben ihrem Bett: 2:12 Uhr. Wer rief so spät noch an? Das Klingeln hatte aufgehört. Nele schaltete das Licht an und stieg aus dem Bett. Sie trat in den Flur, doch es war nichts zu hören. Nele ging ein paar Stufen die Treppe hinunter und sah, dass ihre Mutter in der Diele stand, das Telefon am Ohr, und ungläubig ins Leere starrte. Sie sagte nichts. Sie lauschte nur. Und dann ließ Henriette das Telefon fallen. Es rutschte ihr einfach aus der Hand und plumpste auf den Parkettboden. Ihre Augen waren weit geöffnet, ihr Mund ebenfalls. So als wollte sie schreien, könnte es aber nicht.

»Mama?«, fragte Nele. Sie hatte Angst.

Henriette drehte ihren Kopf langsam in Neles Richtung, starrte sie aber nur stumm an.

»Mama?« Neles Stimme zitterte. Erst jetzt bemerkte sie, dass Timo neben ihr stand.

»Was ist los? Wer war das?«, fragte ihr Bruder.

»Papa«, flüsterte Henriette.

»Was wollte er?! Was ist denn?«, rief Nele.

»Papa ist tot«, sagte Henriette tonlos. »Er ist tot.«

3

Ingo Brüggemann

(19712015)

Die Spuren Deines Lebens

Deiner Hände Werk

und die Zeit mit Dir

wird stets in uns lebendig sein.

Den Text der Traueranzeige im Hamburger Abendblatt hatte Neles Mutter gemeinsam mit dem Mann vom Bestattungsinstitut ausgesucht. Nele fand das, was da schwarz umrahmt stand, irgendwie beliebig. Austauschbar. Eine Trauerfloskel aus einem Katalog. Sie konnte ihren Vater in diesem Satz nicht wiedererkennen.

Insgesamt waren drei Traueranzeigen erschienen. Die von der Familie, eine kleinere von den Angestellten im Architekturbüro ihres Vaters und eine richtig große von einem Architekturverband, in dem er zweiter Vorsitzender gewesen war. In der letzten hatte gestanden: Ein tragischer Unfall riss einen großen Mann viel zu früh aus dem Leben.

Wie genau es zu diesem Unfall gekommen war, wurde noch untersucht. Neles Vater war auf einer nur wenig befahrenen Autobahn, auf einem total geraden Teilstück, von der Fahrbahn abgekommen und hatte frontal ein Straßenschild gerammt. Er war offenbar sofort tot gewesen. Genickbruch. Aufnahmen einer Überwachungskamera zeigten, dass er zwei Kilometer zuvor mit mehr als 190 Stundenkilometern über die linke Spur gebrettert war. Er hatte oft damit angegeben, dass sein BMW locker über 200 schaffte. Vielleicht war irgendein Tier auf die Fahrbahn gesprungen und hatte ihn erschreckt? Oder er war für einen verhängnisvollen Augenblick weggedöst? Das gab es doch, oder? Sekundenschlaf.

 

Nele hatte sich die ersten beiden Tage nach dem schrecklichen Anruf wie in Watte gehüllt gefühlt. Es war, als hätte jemand ihre Ohren verstopft und einen Schleier über ihre Augen gelegt. Die ganze Welt drang nur in einer dumpfen, unklaren Version zu ihr vor. Es war so unwirklich. Sie würde nie wieder ein Wort mit ihrem Papa sprechen! Nie wieder. Nele versuchte sich zu erinnern, was das Letzte war, was sie zu ihm gesagt hatte. Vermutlich: »Kannst du mir ein paar von diesen tollen Finelinern aus deinem Büro mitbringen?« und »Tschüss, Papa«. Es war so banal, dass es wehtat.

Eine halbe Stunde nach dem Anruf, als der erste Schock nachgelassen hatte, kamen die Tränen. Nele begriff nur langsam, was geschehen war, doch dann brach es aus ihr heraus. Sie hatte ihr Gesicht in einem Kissen vergraben, hatte gezittert und gebebt vor Schmerz. Ihr Vater war nicht mehr da!

Nele wünschte, sie hätte ihn noch einmal umarmen, ihm sagen können, wie lieb sie ihn hatte, auch wenn sie manchmal zickig gewesen war und er in letzter Zeit fast nur noch gearbeitet hatte.

Sie war natürlich tagelang zu Hause geblieben. An Schule war nicht zu denken gewesen. Sie wollte allein sein, doch die Welt hielt nicht still. Die Sache hatte sich sehr schnell herumgesprochen. Viele Freundinnen und Freunde riefen an und schickten Messages. Nachbarn brachten etwas zu essen, doch keiner der drei hatte Appetit. Selbst Timo nicht. Er hörte nur seine Musik. Die ganze Zeit. Düster, laut, brutal. Nach ein paar Tagen, das hatte Nele aus dem Fenster ihres Zimmers beobachtet, war ihr Bruder in den Garten gegangen, ganz nach hinten, zum Schuppen neben dem Pool, hatte dort die Axt herausgeholt und eine halbe Stunde lang stumm und mit enormer Kraft auf den Stamm der großen Eiche im Garten eingeschlagen. Wieder und wieder. Nele hatte sich den Baum am Tag danach angeschaut. Er hatte nun eine riesige Kerbe, dick wie ein Arm. Vielleicht starb der Baum jetzt auch.

 

Ihre Mutter hatte zwei Tage lang ununterbrochen geweint. Sie verkroch sich ins Bett und weinte. Weinte und weinte. Man hörte es durch die Tür, ein Wimmern, ein Winseln, manchmal auch unerträglich laut, dann klang es fast wie die Schreie eines verwundeten Tieres. Sofern Nele es beurteilen konnte, hatte sie ihr Zimmer in der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal gelüftet. Henriette wollte niemanden sprechen und niemanden sehen. Einmal hatte sie sich für eine halbe Stunde ins Wohnzimmer geschleppt, um das Allerwichtigste mit dem Bestattungsunternehmer zu klären. Als sie danach die Tür hinter ihm geschlossen hatte, war sie kreidebleich gewesen und hatte gezittert. Sofort war sie wieder nach oben gegangen und hatte sich dort vergraben.

Am dritten Tag kam ihre Mutter plötzlich nach unten in die Küche, frisch geduscht, die Haare schön zurechtgemacht, sorgfältig geschminkt und gut angezogen. »Es tut mir leid, dass ich mich so habe gehen lassen. Ich hätte für euch da sein müssen«, sagte sie zu Nele und Timo. Dann nahm sie die beiden nacheinander in den Arm.

 

Als Nele nach zehn Tagen zum ersten Mal wieder in die Schule ging, war es schrecklich und schön zugleich. Schrecklich war, dass jeder es wusste. Jeder! Selbst die Kleinen aus der Unterstufe warfen ihr verstohlene Blicke zu. All ihre Freundinnen umarmten sie, küssten sie, wollten sie trösten und boten Hilfe aller Art an. In der Kantine trug Svantje sogar Neles Tablett, als hätte diese mit ihrem Vater auch alle Muskelkraft verloren. Als wäre sie plötzlich behindert. Zu schwach für die simpelsten Dinge. Es war lächerlich. Aber es war auch sehr rührend.

Manche ihrer Freunde waren verlegen, hatten offenkundig Angst, etwas Falsches zu sagen. Sie schauten sie die ganze Zeit nur voll Mitleid an. Nele bemerkte, dass viele Mitschüler sofort aufhörten, zu lachen oder Witze zu machen, sobald sie den Raum betrat. Als könnte die gute Laune der anderen ihr wehtun. Und tatsächlich war es auch ein wenig so. Es war anstrengend, wie ein rohes Ei behandelt zu werden – und gleichzeitig tat es gut: Sie war nicht allein.

 

In der großen Pause bemerkte Nele Timo, der am Rand der Wiese saß, sich an die kleine Mauer lehnte und einen Game of Thrones-Comic las. Alle gingen an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten.

Er tat Nele ein wenig leid. Vielleicht sollte sie etwas netter zu ihm sein. Sie hatten nicht ein einziges Mal über das, was passiert war, gesprochen. Das konnte nicht richtig sein. Sie waren schließlich Geschwister. Während sie noch überlegte, ob sie zu Timo hinübergehen sollte, tauchte plötzlich Daniel neben ihr auf.

»Hey«, sagte er und nahm ihre Hand. Nele drückte seine dankbar.

»Willst du nachher rüberkommen?«, fragte er.

Sie nickte.

Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Das war eine Eigenart von Daniel: Er liebte es, Neles Gesicht zu berühren, strich oft über ihre Wangen und schien ihre Stirn ebenso gern zu küssen wie ihre Lippen und ihren Hals. Ein paarmal hatte er sogar mit der Spitze seines Zeigefingers an ihre Nase gestupst und ihr dabei zugezwinkert. Es war eine merkwürdige, aber auch zärtliche kleine Marotte, die er da hatte.

»Okay, du hast auch nach der Siebten Schluss, oder?«, fragte er.

»Ja. Ich texte meiner Mutter, dass ich danach direkt zu dir mitgehe«, sagte Nele.

Er lächelte sie an, aufmunternd, und ließ dann ihre Hand los.

»Wir treffen uns am Haupttor«, sagte er, bevor er verschwand.

Nele schaute zu dem Mäuerchen hinüber. Ihr Bruder war inzwischen verschwunden. Sie hatte nicht gesehen, wohin er gegangen war. Doch dann entdeckte sie ihn: Er stand an der Ecke der Pausenhalle mit drei anderen Jungen zusammen, einer legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter. War das Rafael? Rafael war eine Klasse über Nele, stellvertretender Schulsprecher und ein super Typ. Voll nett, dass der jemanden wie Timo tröstete.

4

Timo zuckte zusammen, als Rafael ihm die Hand auf die Schulter legte. Rafael war fast einen Kopf größer als er und durchtrainiert. Er hatte eine große Bandbreite an Methoden entwickelt, anderen wehzutun, ohne dass die Umstehenden es bemerkten. Der vermeintlich kumpelhafte Griff auf die Schulter war tatsächlich eine subtile Foltertechnik. Rafael presste Daumen und Finger so fest zusammen, dass es sich anfühlte, als würde er jeden Moment Timos Schlüsselbein zerquetschen. Dabei lächelte er aber freundlich und sah ganz entspannt aus. Rafael hatte Timo leicht zur Seite gedreht, sodass die Lehrer und Mitschüler auf dem Pausenhof dessen schmerzverzerrtes Gesicht nicht sehen konnten. Rafaels Freunde Maximilian und Jonas – wenn man diese Arschkriecher denn als Freunde bezeichnen wollte – bildeten einen zusätzlichen Sichtschutz.

»Was willst du?«, fragte Timo mit gepresster Stimme. Er gab sein Bestes, die nächsten Minuten so würdevoll durchzustehen, wie es eben ging. »Ich hab dir doch mein iPhone schon gegeben.«

Rafael lächelte Timo nur an. Er hatte ein Hammerlächeln, das Lächeln eines Filmstars. Alle Mädchen fanden Rafael toll. Manchmal stellte sich Timo vor, sich eine Pumpgun zu besorgen, in der großen Pause zu Rafael zu gehen, ihm die Wumme direkt in die Fresse zu drücken und ihm das perfekte Lächeln aus dem Gesicht zu ballern. Es war eine schöne Fantasie, aber mehr auch nicht. Timo hatte keine Ahnung, wo er eine Pumpgun herbekommen sollte, und selbst wenn er eine auftreiben könnte, würde er sie nie benutzen. Er war kein gewalttätiger Mensch. Und das Ganze würde auch keinen Sinn machen. Erlegte man einen Rafael, waren hinterher immer noch Tausende andere Rafaels da. Die Armee der eiskalten Arschlöcher war riesig und sie rekrutierte täglich neue Mitglieder.

»Dein iPhone? Alter, das war noch das 3er, das hab ich gleich weggeschmissen«, kam es nun hinter Rafaels blendend weißen Zähnen hervor. »Nee, weißt du, was ich will: deine Freundschaft. Können wir nicht Freunde sein? Hm?« Rafael legte den Kopf schief wie ein Hundewelpe und klimperte mit den Augen.

Maximilian kicherte. Jonas zwang sich ebenfalls zu einem Grinsen, aber Timo sah ihm an, dass ihm nicht wohl dabei war. Tatsächlich widersprach er nun vorsichtig: »Ey, Rafi. Vielleicht sollten wir für ’ne Weile … Ich meine, sein Vater ist gerade gestorben.«

»Exakt.« Rafael lächelte, ohne Jonas anzuschauen. »Da braucht unser Timo uns doch mehr denn je. Er braucht gute Freunde, oder? Eine starke Schulter, an der er sich ausweinen kann.« Während er das sagte, presste Rafael noch fester, und Timo traten Tränen in die Augen.

»Siehst du!«, sagte Rafael fast triumphierend. »Er weint! Unser kleiner Satanist ist traurig. Bu-hu. Eine Runde Mitleid für unseren kleinen Timo …«

Die Klingel verkündete das Ende der Pause und Rafael lockerte seinen Griff.

»Lass uns nach der Schule noch etwas reden. Erzähl mir alles, was dich bedrückt. Wir essen ein Eis zusammen und gehen ein bisschen spazieren, ja?« Rafael lächelte und ließ Timo los. »Bis nachher«, säuselte er, bevor er mit seinen Minions zum Klassenraum ging.

Timo wischte sich die Tränen aus den Augen.

 

Rafael war sechzehn und zwei Klassen über Timo. Seit er den moppeligen Metal-Jungen aus der Achten vor ein paar Monaten zu seinem Opfer erklärt hatte, schwebte die Angst wie ein dunkler Schatten über Timo. Der vermeintliche Sonnyboy wollte ihn zerstören. Und Timo war machtlos, denn Rafael war unbesiegbar.

Rafaels Vater war eine große Nummer. Er war Anwalt und hatte in letzter Zeit ziemlich von sich reden gemacht, als er das Bürgerbegehren gegen die Asylbewerberunterkunft in Hamburg-Poppenbüttel initiiert hatte. Es ging überall durch die Presse. Man habe nichts gegen Flüchtlinge, hatte Rafaels Vater verkündet, aber so eine fragwürdige Unterkunft würde die Immobilienpreise drücken, und außerdem würden die Flüchtlinge sich hier im reichen Villenviertel doch gar nicht wohlfühlen, mit all den teuren Läden, die Dinge anboten, die sie sich nie würden leisten können. Die sollten doch lieber unter »ihresgleichen« untergebracht werden. Neuerdings hingen sogar überall im Stadtteil Plakate mit dem Gesicht von Rafaels Vater. Er kandidierte für das Hamburger Parlament.

Timos Vater hatte gesagt, Rafaels Eltern seien Kotzbrocken. Trotzdem hatten Timos und Rafaels Väter zusammen in mehreren Ausschüssen und Vereinsvorständen gesessen und einmal die Woche miteinander Tennis gespielt. »Das hat nichts mit Sympathie zu tun, Timo«, hatte sein Vater erklärt. »Das ist Business. Da gehört Netzwerken einfach dazu. Würde dir übrigens auch ganz guttun, weißt du: ein kleines Netzwerk aufbauen, sich Rückhalt bei anderen sichern …«

Rafaels Eltern hatten einen riesengroßen Kranz bestellt für Ingos Beerdigung. Timo war einen Tag nach der Beisetzung zum Grab gegangen und hatte den Kranz zertrampelt.

Timo verstand es nicht, was Rafael antrieb. Er verstand es einfach nicht. Wäre es tatsächlich darum gegangen, ihn abzuziehen, hätte Timo wenigstens gewusst, warum er sich mehrmals täglich umschauen musste, ob Rafael in der Nähe war, und ständig beträchtliche Umwege in Kauf nehmen musste, um ihm aus dem Weg zu gehen. Doch Rafael war stinkreich. Noch reicher als Timo und seine Familie. Rafael hatte alles, was er wollte. Ihm ging es vermutlich nur um den Spaß. Ja: Es machte ihm Spaß, Timo zu quälen.

Timo hasste Rafael. Es war ein großes Wort, aber es stimmte: Das war wirklich Hass, was er fühlte. Wenn Timo zu Hause seine Musik hörte – Slipknot und My Dying Bride, Novembers Doom und Dying Fetus –, dann stellte er sich tausendfache Tode für Rafael vor. Blutige, schmerzhafte, langwierige Folterorgien, an denen der gelackte Scheißer am Ende weinend und um Gnade bettelnd krepieren würde. Und Timo würde danebenstehen und lächeln.

 

Timo saß in der Klasse und hörte kaum zu. Seine Gedanken wanderten zu Rafael und seinen Arschkriechern. Zu Nele, mit der er nicht ein Mal über den Tod ihres Vaters gesprochen hatte, zu seiner Mutter, die die ganze Zeit auf tapfer und Das-Leben-geht-weiter machte, und zu seinem Vater, der ihm furchtbar fehlte.

Timo hatte keine Freunde. Er war allein. Und er war traurig deswegen. Natürlich wollte er Freunde, wer wollte das nicht? Aber er wollte sich auch nicht an irgendjemanden dranhängen, der bloß Mitleid mit ihm hatte oder mit dem er womöglich gar nichts anfangen konnte. Timo interessierte sich nicht für Lacrosse und Hiphop, für Shopping und Hockey, für Fitnessstudios und irgendwelchen Internettratsch über Hollywood-Tussis und HSV-Stars. Er war, wer er war, und wer ihn so nicht wollte, war kein Freund.

Damals, in der Grundschule, hatte er eine beste Freundin gehabt. Lilly und er waren unzertrennlich gewesen. Sie war laut und verrückt und so dünn, wie er pummelig war. Sie hatten zusammen gelacht und Unsinn gemacht, sich über alles unterhalten können, was sie beschäftigte, und waren verschworen gewesen gegen den Rest der Welt. In der vierten Klasse begann ihre Freundschaft zu bröckeln, plötzlich trennte ein unsichtbarer Graben die Jungen und die Mädchen. Es gab keinen klaren Schnitt, der das Ende markierte. Lilly und er trieben einfach auseinander. Sie gingen bis zur sechsten Klasse noch auf dieselbe Schule, aber nicht mehr in dieselbe Klasse. Sie sprachen kaum noch miteinander. Dann zog Lilly nach Hamburg-Eppendorf. Letztes Jahr hatte Timo sie noch einmal gesehen, zufällig, in der Stadt. Sie war mit zwei Freundinnen unterwegs gewesen. Lilly hatte sich die Haare lila gefärbt und war geschminkt wie ein Mangamädchen. Sie war sehr hübsch, fand Timo. Als sie ihn erkannte, zögerte sie kurz, aber dann kam sie auf ihn zu und umarmte ihn. Sie redeten für ein paar Minuten – Was machst du so? Wie geht es dir? –, dann drängten ihre Freundinnen zum Aufbruch. Lilly und er umarmten einander noch mal, doch diese Umarmung fühlte sich nicht nur wie ein Abschied an, sondern auch wie eine Entschuldigung.

Nachträglich war Timo froh, dass Lilly nicht nach seiner Handynummer gefragt hatte. Er hätte lange und vergeblich auf ihren Anruf gewartet.

 

»Timo?«

Er schaute auf. Offenbar hatte Frau Klagenthal ihn schon mehrmals angesprochen.

»Ist alles okay, Timo? Geht es dir nicht gut?«

Hatte er wieder leise vor sich hin gemurmelt? Das tat er manchmal.

»Äh …«, stammelte Timo. »Ich bin … Mir ist irgendwie übel. Ich möchte gern nach Hause.«

»Selbstverständlich!«, sagte Frau Klagenthal eilfertig. »Geh bitte ins Schulbüro, die Sekretärin soll deine Eltern …« Die Lehrerin biss sich auf die Lippen. »… deine Mutter anrufen, damit sie dich abholt, ja?«

Timo erhob sich und nahm seinen Rucksack.

»Wer kann Timo zum Schulbüro begleiten?«, fragte Frau Klagenthal.

Niemand meldete sich.

»Das geht schon. Ist nicht nötig«, murmelte Timo.

Frau Klagenthal nickte und ließ ihn ziehen.

Er ging nicht zum Schulbüro, sondern verließ direkt das Schulgelände.

Rafael würde später vergeblich nach ihm Ausschau halten.

5

Daniels Zimmer war groß. Richtig groß. Es war eine Art Mini-Penthouse unter dem Dach der Villa seiner Eltern. Die zwei Stockwerke zu seinem Reich hochzugehen, war wie ein Besuch in einem Museum, fand Nele. Überall standen und hingen exotische und erstaunliche Dinge. Afrikanische Fruchtbarkeitsstatuen, prächtige persische Wandteppiche, bunte, indische Gemälde irgendwelcher Götter. Daniels Eltern hatten den ganzen Globus bereist, viele Bücher darüber geschrieben und zwei Fernsehserien gemacht: »Die schöne Welt« und »Unterwegs mit einem Lächeln«. Sie beschrieben in ihren Dokumentationen nur das Positive, das sie auf ihren Reisen erlebt hatten, erzählten vom kleinen Glück, das man auch in totaler Armut noch erleben kann, und von der Seligkeit und dem inneren Frieden, die Menschen in aller Welt durch Religion und Spiritualität erfahren.

Nele fand Daniels Eltern total cool, sie waren echte Exoten in Poppenbüttel. Sie hatten sich auch fast als Einzige ganz klar für das Flüchtlingsheim ausgesprochen, das hier gebaut werden sollte. Daniels Eltern hatten Millionen mit ihren Büchern und Filmen, Vortragsreisen und Fernsehauftritten verdient. Das meiste Geld aber hatten sie mit einem Werbevertrag für eine Outdoor-Ladenkette gemacht. »Conquer the World with a Smile« war der Slogan, zu dem Daniels Eltern auf zahlreichen Plakaten, Internetbannern und in TV-Spots in die Kamera strahlten.

Heute waren sie nicht da, weil sie abends in Köln in irgendeiner Talkshow auftreten sollten. Nele fand es schade. Wenn es jemanden gab, der tatsächlich etwas Tröstliches zu sagen haben könnte, dann waren es Daniels Eltern. Die Begegnungen mit all den verschiedenen Kulturen hatten sie sehr einfühlsam gemacht, fand Nele.

Daniel dagegen war oft ein wenig genervt von seinen Eltern. »Das sind vergoldete Althippies«, hatte er einmal gesagt. »Wenn ich noch ein Mal hören muss, wie meine Mutter bei der Geburt eines Elefantenbabys assistiert hat, kriege ich einen Schreikrampf.«

Daniel hatte mehr von der Welt gesehen als Nele und all ihre Freunde zusammen. Er war als Kind mit seinen Eltern im Einbaum den Amazonas heruntergefahren, war auf Safaris gewesen und in einem Gorillareservat. In einem der Bücher seiner Eltern gab es ein Foto, auf dem der sechsjährige Daniel neben einem Gorillababy auf einer Wiese saß. Der kleine Gorilla presste seine Hand auf Daniels Gesicht und Daniel lachte aus vollem Hals. Vielleicht kam daher seine Gesichtsmarotte, hatte Nele überlegt.

Daniel begleitete seine Eltern schon seit drei Jahren nicht mehr auf ihren Reisen: »Ich hab keinen Bock drauf, dass jeder Furz, den ich mache, hinterher in irgendeinem Buch ein eigenes Kapitel bekommt.« Er hatte es satt, das Kind der Weltreisenden zu sein. In seinem Zimmer gab es daher auch nichts Exotisches. Dort lehnten zwei Pennyboards und ein Longboard an der Wand, eine edle Stereoanlage mit Turntable stand daneben. Konzertplakate von Lisa T. und Kollegah hingen über seinem Bett, und neben der Tür war ein großes Regal, randvoll mit Büchern. Allen möglichen Büchern. Science-Fiction, Thrillern, Horror und sogar ein paar Klassikern.

 

Daniel hatte ihnen einen Tee gekocht. Seine Eltern hatten einen ganzen Schrank voll exotischer Tees. Nicht diese parfümierten Sorten, die man hierzulande kaufen konnte, sondern echte Chai- und Mate-Tees, die sie sich von ihren Freunden aus aller Welt schicken ließen. Nele mochte Tee nicht besonders, aber sie hatte sich daran gewöhnt, dass es den bei Daniel nun mal zu trinken gab.

Die beiden saßen sich auf zwei Fatboy-Sitzkissen gegenüber.

»Wie kommst du klar?«, fragte Daniel.

»Geht schon«, antwortete Nele.

»Gibt es irgendwas, was ich tun kann?«

Nele schüttelte den Kopf. »Sei einfach nur da«, sagte sie und Daniel nickte.

»Es muss echt hart sein …«, begann Daniel, doch Nele unterbrach ihn: »Können wir bitte über etwas anderes reden als …«