Dostojewski, LagerLöf u.A.

So war Weihnachten früher

Geschichten der Weltliteratur


ein mikrotext

ePub erstellt mit Booktype

Zusammenstellung: Nikola Richter

Cover: Andrea Nienhaus

Coverfoto: Unsplash

Covertypo: PTL Attention, Viktor Nübel

www.mikrotext.de – info@mikrotext.de

ISBN 978-3-944543-32-1

Alle Rechte vorbehalten.

© mikrotext 2015, Berlin

Dostojewski, Lagerlöf u.a.

So war Weihnachten früher

Geschichten der Weltliteratur



Vorwort

Die ungemütlichen Wintermonate sind die beste Zeit dafür, nach innen zu schauen und Ruhe zu finden. Die Grundvoraussetzungen könnten nicht besser sein: Es wird schon früh dunkel, draußen ist es kalt, manchmal nass oder neblig. Die meisten bleiben gerne in ihren Wohnungen und Häusern. 

Die hier versammelten Texte von großen Autorinnen und Autoren der Weltliteratur tun genau das. Sie erzählen von Innenräumen, von Gefühlen, aber auch von dem Leben rund um die weihnachtlichen Festtage. Einige erzählen von echter Liebe, andere von falscher oder verbotener, einmal geht es sogar um allzu späte Liebe. Geschichten sind dabei über Armut, über Hoffnungslosigkeit, über Rechtlosigkeit.

Das sind starke Themen. Und es sind auf den ersten Blick also doch keine heimeligen Geschichten.

Sie stehen daher in der Tradition der weltweit wohl berühmtesten literarischen Weihnachtsgeschichte „A Christmas Carol“ von Charles Dickens. Darin durchlebt der böse Geizkragen Scrooge eine innere Wandlung und hilft schließlich dem todkranken Sohn seines Hausangestellten.

Alle diese hier versammelten, bisher noch wenig bekannten Weihnachtsgeschichten vermögen es, etwas in uns zu bewegen, denn ihnen liegt immer dasselbe zugrunde: der Zauber des Weihnachtsfestes und sein Versprechen der Menschenliebe. Wir haben sogar ein kleines Rezept versteckt, eines aus einem Kochbuch von 1845. So duftete es damals!

Was der Teekessel summt. Von Else Ury

Winter war’s – eisiger Winter, fußhoch lag der Schnee auf der Landstraße, und immer noch wirbelten die dichten Flocken zur Erde hernieder.

Der Sturmwind brauste und heulte, er schüttelte die schneebedeckten Äste der Bäume, unter seiner Wucht bog und wand sich der alte Lindenbaum, der durch die beschlagenen Scheiben in das verschneite Pfarrhaus lugte, das gar freundlich mit seinen hellen Fenstern in die weiße Landschaft hinausleuchtete.

Warm und traulich war es da drinnen; auf weißgedecktem Tisch stand der große Christbaum, seine Kerzen flimmerten, man feierte Weihnacht.

Aber die Bescherung hatte noch nicht stattgefunden; die zierliche Frau Pastor hantierte noch emsig an dem großen Geschenktisch, hier rückte sie ein warmes Kleid mehr ins Licht, dort ordnete sie das Märchenbuch und den Laubsägekasten, und dazwischen lief sie wieder aufgeregt an das Fenster und spähte hinaus.

Nach ihrem Jungen schaute sie, der in der nächsten Stadt die Schule besuchte und heut’ zum lieben Weihnachtsfeste heimkehrte.

»Wo bleibt er nur?« fragte sie ängstlich ihren Mann, der in der heiligen Schrift blätterte.

»Kind,« sagte der Pastor lächelnd, »du hast die Weihnachtslichte zu früh angezündet; bei diesem hohen Schneefall kommt man selbst mit dem Schlitten nur langsam vorwärts.«

Da vernahm man durch das Pfeifen des Sturmes helles Schellengeläut, immer näher und näher ertönte es.

»Viktor kommt,« rief die Mutter, griff nach dem großen Umschlagetuch und lief vor die Haustür.

Unter dem alten Lindenbaum hielt der Schlitten; aber der kleine Knabe, der drinnen saß, sprang nicht fröhlich wie sonst heraus, langsam und schwerfällig stieg er vom Schlitten, und als die Mutter nun glückselig die Arme um ihren Jungen schlang, da fühlte sie, wie er vor Kälte zitterte.

»Viktor,« rief Frau Pastor, »mein armer Junge, du bist ja ganz erstarrt, geschwind in die warme Stube mit dir, dass du auftaust,« und sie zog ihn ins Haus.

Weihnachtlicher Duft von Tannen, frischem Kuchen und Weihnachtskarpfen durchwehte das Pfarrhaus, aber der Kleine merkte nichts davon. Seine Zähne klapperten vor Frost, die Augen glänzten, und kalte Schauer jagten ihm über den Leib; keinen Blick hatte er für den flammenden Christbaum!

»Junge,« rief der Vater und fasste besorgt nach den Händen des Kleinen, »du fieberst ja, du hast dich bei dem eisigen Winde erkältet, geschwind ins Bett mit dir!«

Die Mutter brachte ihren Jungen ins Bett, warme Decken breitete sie sorglich um ihn, stellte den blanken Teekessel vor ihm auf den Tisch, zündete das Spiritusflämmchen unter dem Kessel an und schüttete getrocknete Lindenblüten in die Kanne, denn Lindenblütentee war gut gegen das Fieber. Dann ging sie leise hinaus. –

Mit weitgeöffneten, fieberglänzenden Augen lag Viktor im Bett; eine wohltuende Wärme zog bald durch seinen Körper, wie lustig das Flämmchen unter dem Kessel flackerte!

Da begann der Teekessel auch schon zu summen. – –

»Sehen Sie sich vor, Fräulein Lindenblüte,« summte er zu dem Tee in der Kanne, »gleich komme ich und verbrühe Sie, seien Sie auf Ihrer Hut.«

»Das schadet nichts,« sagte die Lindenblüte lächelnd, »das ist nun einmal mein Schicksal, wenn nur der kleine Viktor durch mich wieder gesund wird!«

»Das wird er sicher,« nickte der Teekessel, »wenn ich es sage, dürfen Sie es mir glauben, kein Mensch hat soviel Spiritus wie ich!« –

»Spiritus,« dachte Viktor, der alles mit anhörte, und presste die Hand gegen die pochenden Schläfen, »Spiritus – was hieß das doch gleich? Richtig – es hieß Geist« – gestern hatte er es erst aus der lateinischen Grammatik gelernt. –

»Erzählen Sie mir etwas, Fräulein Lindenblüte,« summte der Teekessel wieder, »eine Geschichte aus Ihrem Leben.«

»O,« wehrte die Lindenblüte bescheiden ab, »ich bin noch so jung, vom vorigen Sommer stamme ich erst, Sie haben schon so viel erlebt, Herr Teekessel, Sie verstehen so gut zu erzählen, ich höre lieber zu.«

»Schön« – summte der Teekessel, »wollen Sie eine Geschichte hören von Ihrer Heimat, dem alten Lindenbaum?«

»Ja – bitte – bitte,« bat die Lindenblüte.

Und der Teekessel summte:

»Viele, viele Jahre wohne ich nun schon hier in dem Pfarrhaus, fast so lange wie der alte Lindenbaum draußen vor der Tür!«

Damals war Viktors Großvater hier Pastor, und Viktors Vater, der Wilhelm, war dazumal noch ein kleiner Bube. Sie wissen, Fräulein Lindenblüte, ich habe nur im Winter zu arbeiten, im Sommer aber stehe ich schön geputzt auf dem Tischchen vorm Fenster und ruhe mich aus, hin und wieder nur schwatz ich ein Stündchen mit meinem alten Freunde, dem Lindenbaum.

Da sah ich oft den kleinen Wilhelm sich mit dem blonden, kleinen Mädchen des Küsters um den großen Lindenbaum jagen, wie ein Reh huschte die Kleine um den dicken Stamm.

»Evchen,« rief der Knabe hinter ihr her. –

»Evchen,« dachte der kleine, fiebernde Viktor in seinem Bettchen, »Evchen heißt ja mein Mütterlein!«

Doch der Teekessel summte schon weiter:

»Aber er konnte sie nicht greifen, und ich stand am Fenster und freute mich über die schnellen Beinchen der kleinen Eva. Eines Tages aber, als sie sich wieder um den Lindenbaum haschten, hielt er sie plötzlich an ihren langen Blondzöpfen fest, und – eins – zwei – drei – gab er ihr einen Kuß. Da aber riss sich das Evchen los, versetzte dem Wilhelm eine schallende Ohrfeige und lief davon. Der Wilhelm rieb sich die brennende Wange, aber der Lindenbaum und ich, wir freuten uns über den Backenstreich – was hatte er auch das Evchen zu küssen?

Nun war es aus mit der Freundschaft der beiden; scheu gingen sich die Kinder aus dem Wege, aber als nun der Wilhelm nach der Stadt aufs Gymnasium sollte, kletterte er doch noch vorher auf den Lindenbaum und spähte in den Nachbargarten.

Da stand das Evchen am Zaun, und als sie den Wilhelm im Lindenbaum erblickte, sprang sie geschwind herüber, um Abschied von ihm zu nehmen. Sie stieg auf die Bank und brach ein blühendes Lindenzweiglein, das gab sie dem Wilhelm zur Erinnerung mit in die Fremde, und der Knabe hat das Zweiglein gut verwahrt. Wenn der Wilhelm zu den Ferien heimkehrte, wunderten die Kinder sich gegenseitig, wie sie gewachsen, und auch wir beide, der Lindenbaum und ich, waren erstaunt, wie groß sie wurden.

Bald zog der Wilhelm mit der bunten Studentenmütze zur Universität, und als er sein Examen bestanden und heimkehrte, da war Evchen ein schönes, großes Mädchen geworden. Die langen Blondzöpfe hatte sie jetzt um den Kopf gesteckt.

Und eines Abends, im Sommer war es, der Lindenbaum blühte gerade, da haschten sich die zwei wieder um seinen Stamm.

Ich wunderte mich sehr darüber, und auch der Lindenbaum schüttelte erstaunt seine Zweige, sie waren doch keine Kinder mehr! Aber wie verwunderten wir uns erst, als der Wilhelm das Evchen wieder erwischte, ihr wieder wie damals einen Kuß gab, und sie sich’s ruhig gefallen ließ und ihm gar keine Ohrfeige gab! Im Gegenteil – sie wurde Wilhelms Braut, und manch liebes Mal saßen die beiden unter dem blühenden Lindenbaum. Und wir zwei, die Linde und ich, wir freuten uns über das junge Paar!

Der alte Pastor starb, und Wilhelm wurde sein Nachfolger. Und eines schönen Tages rieb man mein blankes Kleid noch viel glänzender als sonst, und vom Lindenbaum pflückte man die grünen Blätter und wand sie zu Girlanden, da führte der Pastor Evchen als seine junge Frau ins Pfarrhaus.

Liebevoll säuberte und putzte mich die junge Frau Pastor jeden Tag, und meine schönsten Weisen summte ich zum Dank dafür in den langen Winterabenden, wenn sie mit der Näharbeit bei der brennenden Lampe saß, und der Herr Pastor an seiner Predigt arbeitete.

Ach – war das gemütlich!

Und im nächsten Sommer saßen sie unter dem Lindenbaum, und neben ihnen stand der Kinderwagen, drin schlummerte ein dicker Bube, das war der Viktor hier! Ja – das waren schöne Tage!« summte der Teekessel vor freudiger Erinnerung so laut, dass das Wasser in großen Blasen gegen den Deckel sprang. –

Da ging die Tür, der Teekessel schwieg, aber die eintretende Frau Pastor ergriff ihn und goss das kochende Wasser auf die Lindenblüte.

Dann flößte sie dem Knaben von dem heißen Tee ein, und bald schlummerte Viktor sanft.

Der Lindenbaum draußen lugte zum Fenster hinein und freute sich über den sanften Schlummer des Kleinen, und der Teekessel blickte ganz stolz, denn eigentlich war das doch sein Werk!

Am nächsten Tage war der Viktor wieder gesund, und als er am Abend gemütlich mit den Eltern beim summenden Teekessel saß, da horchte er ganz genau zu, aber er hörte nur sum – sum – sum, ja – nur in der Weihnachtsnacht versteht man, was der Teekessel summt!

Ein Weihnachtsgast. Von Selma Lagerlöf

Einer von denjenigen, welche als Kavaliere auf Ekeby gelebt hatten, war der kleine Ruster, der Noten transponieren und Flöte spielen konnte. Er war aus niederem Stande und arm, ohne Heimat und ohne Angehörige. Es kamen schwere Zeiten für ihn, als die Kavalierschar sich zerstreute. Er hatte nun nicht länger Pferd und Wagen, weder Pelz noch Esskorb. Er musste zu Fuß von Hof zu Hof gehen und trug seine Habe in einem blaugewürfelten Baumwollenschnupftuche eingeknotet. Den Rock knüpfte er bis unter das Kinn zu, damit keiner sehen konnte, wie es mit Hemd und Weste bestellt war, und in seinen weiten Taschen verwahrte er seine kostbarsten Güter: die auseinandergeschrobene Flöte, die flache Taschenflasche und die Notenfeder.

Sein Beruf war das Notenabschreiben, und wenn alles noch so wie in alten Zeiten gewesen wäre, würde es ihm nicht an Arbeit gefehlt haben. Doch mit jedem Jahre, das dahinging, wurde droben in Värmland weniger Musik getrieben. Die Gitarre mit ihrem morschen Seidenbande und das gewundene Waldhorn mit verblichenen Quasten und Schnüren wurden in die Rumpelkammer auf den Boden gebracht, und der Staub legte sich zolldick auf die langen, eisenbeschlagenen Geigentasten. Doch je weniger der kleine Ruster mit der Flöte zu tun hatte, desto mehr musste er sich mit der Taschenflasche beschäftigen, und schließlich wurde er der reine Säufer. Es war sehr schade um den kleinen Ruster. Einstweilen wurde er auf den Gütern noch als ein alter Freund aufgenommen, doch es herrschte Trauer, wenn er kam, und Freude, wenn er ging. Er roch nach Schnaps und Branntwein, und sowie er ein paar Appetitschnäpse oder ein Glas Grog getrunken hatte, bekam er einen Spitz und erzählte widerwärtige Geschichten. Er war die Plage der gastfreien Gutshöfe.

Einmal um Weihnachten ging er nach Löfdala, wo Liljekrona, der große Geigenspieler, wohnte. Liljekrona war auch einer der Ekebykavaliere gewesen, doch nach dem Tode der Majorin war er auf sein schönes Gut Löfdala gezogen und dort geblieben. Jetzt kam Ruster in den Tagen vor Heiligabend, mitten in der Räumerei, zu ihm und bat um Arbeit. Liljekrona beschäftigte ihn mit dem Abschreiben einiger Notenhefte.

»Du hättest ihn lieber gleich wieder gehen lassen sollen,« sagte Liljekronas Gattin, »jetzt wird er die Arbeit wohl so langsam ausführen, dass wir ihn Heiligabend hier behalten müssen.«

»Irgendwo muss er ihn ja verleben,« antwortete Liljekrona. Und er setzte Ruster Grog und Branntwein vor, leistete ihm beim Trinken Gesellschaft und lebte die ganze Elebyzeit wieder mit ihm durch. Doch er war verstimmt, und der Gast war ihm, wie allen anderen zuwider, wenn er es sich auch nicht merken lassen wollte, weil ihm alte Freundschaft und Gastfreiheit heilig waren.

In Liljekronas Heim aber rüstete man sich seit drei Wochen zum Empfang des Christkindes. Man hatte in Ungemütlichkeit und Hetzerei mit Arbeit gelebt, sich die Augen bei Talglichtern und Kienspänen rot gewacht, im Vorratshause beim Fleischeinsalzen und im Brauhause beim Bierbrauen gefroren. Doch sowohl die Hausfrau wie die Dienerschaft hatten alles dieses ohne Murren hingenommen. Wenn alle Arbeit fertig war und der heilige Abend kam, würde sich ein süßer Zauber auf sie herabsenken. Das Weihnachtsfest würde die Wirkung haben, dass Scherz und Neckerei, Reime und lustige Reden ihnen ganz ohne Anstrengung auf die Zunge kämen. Jeder Fuß würde Lust verspüren, sich im Tanze zu drehen, und aus den dunklen Winkeln des Gedächtnisses würden die Worte und Melodien der Reigen hervorschlüpfen, obwohl man jetzt gar nicht glauben konnte, dass sie noch dort vorhanden seien. Und dann würden sie alle gut, ach so gut sein.