Stephan Ludwig
Zorn - Tod und Regen
Thriller
Fischer e-books
Stephan Ludwig, Jahrgang 1965, arbeitete als Theatertechniker, Musiker und Gaststättenbetreiber. Er lebt in Halle und hat sich als Rundfunkproduzent einen Namen gemacht. Beim Schreiben arbeitet er genau wie im Tonstudio: aus dem Bauch heraus. Krimis zu schreiben ist für ihn ein Glücksfall, dabei stellt er seine Ermittler Zorn und Schröder gerne vor echte Herausforderungen.
Anmerkung: Die Motti zu den drei Teilen dieser Geschichte stammen aus dem Song »Hurt« von Nine Inch Nails, gecovert von Johnny Cash.
Covergestaltung: bürosüd°, München
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401407-4
Für meine Kinder
I hurt myself today
to see if I still feel.
»Glauben Sie mir«, sagte der Mann und betrachtete nachdenklich das Messer, »je schneller wir das alles hinter uns bringen, umso besser für uns beide.«
Langsam kämpfte sie sich durch den Nebel, und jetzt, da sie zu sich kam, versuchte sie zuerst, die Augen zu öffnen. Was ihr mit einiger Mühe gelang.
Er saß ihr gegenüber, zwischen ihnen ein schmieriger Holztisch, eingetrocknete Weinflecken, sein Gesicht höchstens einen halben Meter von ihrem entfernt. Ein feuchter, grob verputzter Raum. Fensterlos. Kahl, wie eine Gefängniszelle. Sie roch sein Aftershave. Und etwas anderes, Metallisches.
»Ehrlich gesagt hatte ich gedacht, dass Sie früher wieder bei Bewusstsein sind.« Das klang fast vorwurfsvoll. Er lehnte sich ein wenig zurück, der Stuhl antwortete mit einem leisen Ächzen. »Schließlich habe ich Sie bereits vor knapp drei Stunden niedergeschlagen.«
Sie hörte deutlich, was er sagte. Was genau er allerdings damit meinte, verstand sie nicht. Das Denken fiel ihr schwer, es war wie am frühen Morgen, wenn der Wecker klingelt und man für ein paar Sekunden glaubt, bereits seit Ewigkeiten wach zu liegen, und noch keinen klaren Gedanken fassen kann. Sie hatte das Gefühl, zwischen Traum und Wirklichkeit zu treiben, knapp unter der Oberfläche eines lauwarmen, übelriechenden Sees, der sich irgendwo zwischen den Dimensionen befinden musste.
Ihre Hände und Füße waren mit Kabelbindern an einen Stuhl gebunden, dessen Lehne ungewöhnlich hoch zu sein schien. Um Hals und Stirn hatte er ihr dünne Lederriemen geschnallt, die an den Querstreben hinter ihr befestigt waren.
Vorsichtig versuchte sie, den Kopf zu bewegen.
Nichts.
Etwas musste er ihr in den Mund gestopft haben. Keuchend rang sie nach Atem, wartete auf die Panik, stattdessen spürte sie eine seltsame Euphorie. Wie damals, als sie ihren ersten (und einzigen) Joint geraucht hatte. Wie lange war das jetzt her? Dreißig Jahre?
»Wenn Sie sich übergeben, ersticken Sie. Hören Sie mich? Ich kann den Knebel nicht lösen. Und die Fesseln auch nicht.«
Er sprach leise, als würden sie an einem warmen Frühlingsabend in einem Straßencafé sitzen. Gleich kommt der Kellner, dachte sie, nein, es ist ein französisches Restaurant, verbesserte sie sich, wie heißen da die Kellner? Garçon? Ja, und er empfiehlt uns Eistörtchen zum Nachtisch. Nein, nicht Eistörtchen, was essen Franzosen zum Nachtisch? Himmelherrgott, warum war ich noch nie in Frankreich?
Wieder dieses seltsame Hochgefühl.
Was hast du mir gegeben? Und was willst du von einer fünfzigjährigen, übergewichtigen Deutschlehrerin, die seit dreizehn Jahren und vier Monaten keinen Mann hatte? Was?
Es war absolut still im Raum, abgesehen von ihrem angestrengten Atmen. Zwischen ihren Schläfen dröhnte ein hektisches Pochen, sie hatte Durst und spürte, wie etwas Klebriges, Feuchtes an ihren Beinen hinunterlief.
»Sie wissen natürlich nicht, warum Sie hier sind. Aber Sie können mir eines glauben«, er legte die Fingerspitzen aneinander, »das alles hier ist kein Zufall. Kein Zufall.«
Er hat ein bisschen was von diesem amerikanischen Schauspieler, dachte sie. Der, der wahrscheinlich als Rentner noch aussehen wird wie ein Teenager. Sie kam nicht auf den Namen, doch irgendwie musste sie sich erinnern, wie er hieß, es gab im Moment nichts Wichtigeres. Sie kniff die Augen zusammen, konzentrierte sich und wunderte sich selbst über ihre Erleichterung, als es ihr endlich einfiel: Johnny Depp. Nein, dachte sie dann, nicht Johnny Depp, was für ein Schwachsinn. Seine Augen sind ganz anders und haben nicht dieses tiefe Kastanienbraun, das ich so mag. Und er scheint größer zu sein, und irgendwie unbeholfener.
Aber die Ausstrahlung ist ähnlich. Dieses Traurige, Schwermütige.
Ein hysterisches Kichern stieg in ihr auf, ich bin von einem melancholischen Psychopathen entführt worden. Das Kichern ging in ein würgendes Husten über, die Luft wurde knapp, gelbe Punkte tanzten vor ihren Augen, wurden zu einem flammenden, kreischenden Rot, sie zerrte an ihren Fesseln, die sich immer fester in ihr Fleisch gruben. So ist es also, wenn man sich totlacht, dachte sie und spürte erleichtert, wie sie langsam wieder wegtauchte.
Er beugte sich vor und schlug ihr mit der flachen Seite des Messers leicht, fast spielerisch auf den rechten Unterarm.
»Atmen Sie durch die Nase. Und bleiben Sie ruhig.«
Schnaufend holte sie Luft.
»Besser?«
Ich fühle mich, als hätte ich einen feuchten Hamster verschluckt, bin am Ersticken, habe Durst und keine Ahnung, wer du bist, aber ansonsten geht’s mir gut, danke der Nachfrage, du … sie suchte nach dem geeigneten Schimpfwort, doch sosehr sie sich auch anstrengte, ihr fiel nichts ein, was passend erschien. Sie hatte Bukowski gelesen, Henry Miller kannte sie, gezwungenermaßen, auch, schließlich war das Unterrichtsstoff, doch am liebsten waren ihr die Klassiker. Einfache, klare Stoffe, ohne irgendeine Ferkelei, die den Kindern vermitteln, was wichtig ist. Hemingway zum Beispiel mochte sie, der war zwar einfach, bäuerlich, aber niemals vulgär. Das war etwas, was sie schon immer abgestoßen hatte, doch jetzt, unfähig zu sprechen, geschweige denn, sich zu bewegen, verspürte sie den unbändigen Drang, sich zu wehren. Und sei es nur in Gedanken.
Was sagte man in solchen Fällen? Arschloch? Wichser?
Sie spürte wieder, wie etwas Warmes an ihren Beinen hinunterfloss. O Gott, ich habe mich bepinkelt. Kann es noch schlimmer werden, du mieses, melancholisches Stück Scheiße?
Das waren für ihre Verhältnisse verbale Fäkalien der untersten Schublade, doch es half. Noch immer war da keine Angst, sondern eher etwas wie …
… Wut?
Mit einem Schlag wurde ihr bewusst, dass er sie töten würde. Dann bring es einfach hinter dich, dachte sie. Du kannst es nicht wissen, aber ich habe längst mit dem Leben abgeschlossen. Wer weiß – vielleicht tust du mir ja einen Gefallen?
»Sie sollten wissen, dass ich nicht krank bin.« Das schien ihm wichtig zu sein, er hatte sich vorgebeugt und sah sie ernst an. »Ich bin nicht krank, also nicht verrückt – jedenfalls nicht verrückter als jeder andere. Ich bin als Kind nicht missbraucht worden, und … und ich hatte auch niemals Spaß daran, irgendwelche Tiere zu quälen. Ich meine, ich habe meiner Katze nicht den Schwanz angezündet oder den Hund meiner Nachbarn vergiftet.«
Du musst mich vor dem Supermarkt erwischt haben, fiel ihr plötzlich ein. Ich wollte Dünger kaufen, für die Blumen und …
»Sie und ich, wir beide sind jetzt hier. Und Sie müssen wissen, dass Sie in meinen Augen überhaupt keine Schuld tragen an dieser Situation, Sie können wirklich nichts dafür …«, er zögerte und schien nach der geeigneten Formulierung zu suchen, blickte zur rissigen Wand, als würde dort im nächsten Moment das richtige Wort erscheinen.
… Basilikum?
»… für Ihren schmerzvollen vorzeitigen Tod.«
Schmerz?, dachte sie. Wieso spüre ich dann nichts?
»Ich denke, das sollten Sie wissen.«
Genau, Basilikum, überlegte sie, ich wollte Salat machen und dann zeitig ins Bett gehen. Die Augenlider wurden ihr schwer, und wieder spürte sie, wie sie langsam wegdriftete. Bilder schossen durch ihren Kopf, Dinge, die sie längst vergessen zu haben glaubte.
Sie schreckte hoch, als er krachend den Stuhl nach hinten schob, aufstand und in die Hände klatschte wie jemand, der nun endlich, wohl oder übel, zur Sache kommen muss. »Ich merke schon«, sagte er und lächelte ein wenig, »ich rede zu viel, Sie sind müde.«
Er hat schöne Zähne, dachte sie verwirrt.
»Sie sind nicht der erste Mensch, den ich töte, und so, wie es momentan aussieht«, mit einem Ruck löste er die Fesseln an ihrem Kopf, die mit einem leisen Klatschen zu Boden fielen, »werden Sie auch nicht der letzte sein.«
Er stand nun direkt vor ihr, beugte sich nah an ihr Ohr und flüsterte leise, ganz leise: »Es tut mir leid. Es tut mir sehr leid. Und ich bitte Sie um Verzeihung.«
Jetzt registrierte sie, dass er Gummistiefel trug, die fest mit einer olivgrünen, wasserdichten Anglerhose verschweißt waren. Das, mein Lieber, wollte sie sagen, sieht reichlich albern aus, doch das Einzige, was sie hervorbrachte, war ein ebenso albernes, gurgelndes Schnaufen.
Als sie endlich nach unten blickte, wurden ihre Sinne klar, und sie verstand. Es war, als hätte sie einen Eimer Wasser ins Gesicht bekommen, urplötzlich war sie hellwach, ein ätzendes, schwefliges Licht ging an, und obwohl sie sich wehrte, wurde das Bild scharf, grobkörnig, und sie wusste jetzt, warum es so nach Eisen roch, sah, dass das, was da an ihren Beinen herunterlief, etwas anderes war, etwas, das, wie man so schön sagte, dicker war als Wasser und dicker als Urin.
Sie schluchzte leise, als sie die immer größer werdende Pfütze bemerkte, die sich zwischen ihren Beinen gebildet hatte, und nun leuchtete ihr ein, warum er die Stiefel trug. Obwohl er jetzt zwei Meter von ihr entfernt war, stand er mitten in dieser dunkelroten, öligen Lache, in der sich das trübe Deckenlicht spiegelte.
Dann war er bei ihr, sie hörte das schmatzende Geräusch seiner Schritte, und als er ihr sagte, dass er nicht mehr warten könne, lächelte er verlegen.
Kurz darauf barsten die Wände, der Wahnsinn stand brüllend im Raum, öffnete dem Horror die Tür, und es war nicht Johnny Depp, sondern Edward mit den Scherenhänden, der über sie kam. Und er hatte nicht nur das Messer, sondern andere, ebenso spitze, chromglänzende Werkzeuge.
Und er benutzte sie alle.
Es dauerte drei Stunden, bis sie den Verstand verlor, und weitere zwei, bis sie endlich sterben durfte.
Dann stand er vor ihr, legte den Kopf ein wenig schief und betrachtete das, was von ihr übrig war. Alles war so, wie es sein sollte.
Er musste noch die Musik anstellen. Doch vorher gab es noch etwas anderes zu tun, etwas wirklich Unangenehmes.
Claudius Zorn war seit einundzwanzig Jahren Polizist. Er hatte so ziemlich jeden einzelnen dieser über siebentausendsechshundert Tage gehasst, und wenn er daran dachte, dass fast noch neuntausend jener trostlosen, immer wiederkehrenden Abläufe vor ihm lagen, wurde er je nach Wetterlage wütend, traurig oder mürrisch. Er blickte auf, sah, dass der Regen noch immer in schmutzigen Schlieren vor dem Fenster hing, und entschied sich für Letzteres.
Er war jetzt zweiundvierzig, also noch längst kein alter, frustrierter Mann. Er war einfach nur gelangweilt. Und er war sich bewusst, dass diese Langeweile über kurz oder lang in Verbitterung umschlagen würde, wenn er nichts unternahm. Aber was?, überlegte er und beobachtete, wie sich auf dem Fensterbrett seines Büros eine Regenlache bildete. Ich könnte aufstehen und das Fenster schließen, dachte er, das wär immerhin ein Anfang. Eigentlich hätte es gereicht, wenn er sich über den Tisch gebeugt hätte, das Fenster war schließlich nur einen guten Meter entfernt, doch nach kurzem Überlegen sank er resigniert zurück und zündete sich eine weitere Zigarette an. Die siebente für heute. Und es war noch nicht mal elf.
Als Kind hatte er Schwimmer werden wollen, seine Mutter aber hatte gemeint, er sei ein musischer Mensch und solle gefälligst Flötist werden. Beides – Schwimmen und Flöten – hatte er schnell gelernt (obwohl er klassische Musik hasste und bald herausfand, dass er Chlorwasser ebenfalls nicht leiden konnte). Immerhin hatte das Schwimmen zur Folge, dass er auch jetzt noch gut in Form war – jedenfalls auf den ersten Blick, die fünfzig Meter kraulte er immer noch in gut fünfunddreißig Sekunden, jeder weitere Meter in vollem Tempo hätte aufgrund seines Zigarettenkonsums allerdings den sicheren Ertrinkungstod bedeutet.
Das Leben, dachte Claudius Zorn und beobachtete gelangweilt die immer größer werdende Wasserpfütze auf seinem Fensterbrett, ist eine willkürliche Aneinanderreihung von Zufällen. Wie sonst ließ es sich erklären, dass ausgerechnet er bei der Polizei gelandet war? Vielleicht hatte er gehofft, er würde ein berühmter Kriminalist werden, als er sich für eine Laufbahn bei der Polizei entschied, aber genauso gut hatte es eine Zeit gegeben, in der er Kampfschwimmer, Hirnchirurg oder vielleicht Finanzberater hätte werden können. Und in letzter Zeit fragte er sich immer häufiger, ob ein Job als Flötist (Onkologe? Pizzabote?) nicht erfüllender wäre als das, was er tatsächlich tat.
Ich bin ein mittlerer Beamter und bearbeite mittelmäßige Fälle in einer mitteldeutschen Großstadt, dachte er und sah aus dem Fenster. In der Ferne ragten die riesigen Abraumhalden des Mansfelder Landes in den Himmel, und die graue, verdreckte Stadt zu seinen Füßen wurde durch den Regen nicht eben einladender.
Den letzten Mordfall hatte er vor mittlerweile drei Jahren bearbeitet. Ein sturzbetrunkener Rentner hatte seine Frau nach über vierzig Ehejahren vom Balkon einer Sozialwohnung in der Neustadt gestoßen, mit der Begründung, sie sei ihm »auf die Nerven gegangen«. Die Verteidigung hatte pflichtschuldigst auf »Totschlag im Affekt« plädiert, doch nachdem bekannt wurde, dass Auslöser des Streits ein paar verlegte Herrensocken gewesen waren, machte man kurzen Prozess und brachte den Rentner für die nächsten zwölf Jahre und somit – das hoffte Zorn jedenfalls – den Rest seines Lebens hinter Gitter.
Ansonsten bestand sein Alltag aus stupidem Papiergeraschel, Bleistiftgekritzel und ab und an einem vorlauten »Pling« – dann nämlich, wenn er eine dienstliche Mail erhielt, die einzig und allein den Zweck hatte, weiteres Papiergeraschel zu erzeugen.
Spätestens in zehn Jahren, überlegte er und bedachte den Aktenstapel auf seinem Schreibtisch mit einem scheelen Seitenblick, werde ich mich ebenfalls in Papier verwandelt haben und beende mein irdisches Dasein als ein vergilbter Haufen Krümel. Und irgendwann, Monate später, kommt jemand in mein Büro, und ich werde durch den Luftzug einfach aus dem Fenster geweht.
Da Claudius Zorn ein kluger Mensch war, wurde er noch mürrischer, denn wie allen klugen Menschen war ihm bewusst, wenn er Blödsinn dachte, und als bröselnder Papierfetzen aus dem Fenster geweht zu werden war nun wirklich das Absurdeste, was er sich im Moment vorstellen konnte. Mit Ausnahme der nächsten Dienstberatung, überlegte er weiter, griff sich wahllos ein Gesprächsprotokoll, unterschrieb, ohne auch nur eine Zeile gelesen zu haben, und als er dann gelangweilt zur nächsten Akte griff, hörte er Schritte, die sich hastig seinem Büro näherten.
O Herr, dachte Zorn, lass diesen Kelch – und vor allem diesen Menschen, egal wer es ist – an mir vorübergehen.
Der liebe Gott allerdings scherte sich wenig um die Gebete eines überzeugten Atheisten, und so öffnete sich die Tür, und Zorn erblickte den biblischen Kelch in Gestalt des dicken Schröder, der verschwitzt und gutgelaunt – für Zorns Begriffe eindeutig zu gutgelaunt – ins Büro stürmte. Der unvermeidliche Luftzug wehte zwar nicht Zorn aus dem Fenster, dafür allerdings einen Notizzettel von seinem Schreibtisch. Während Zorn sich zurücklehnte und beobachtete, wie das Schriftstück langsam zu Boden segelte, stand Schröder schwer atmend in der Tür.
»Hallo Chef!«, keuchte Schröder und wedelte den Zigarettenrauch beiseite, »wir haben –«
»Was haben wir?«
»Wir haben –«
»Moment!«, unterbrach Zorn und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf das am Boden liegende Papier. Aus jahrelanger Erfahrung wusste Schröder, was von ihm erwartet wurde, bückte sich dienstbeflissen und meinte: »Ja ja, von der Wiege bis zur Bahre …«
Sag es nicht, dachte Zorn.
»… Formulare, Formulare!« Schröder strahlte und legte den Zettel zurück in die Ablage.
Es gab Momente, in denen Claudius Zorn diesen gutmütigen, übergewichtigen Beamten ohne mit der Wimper zu zucken erschossen hätte. Auf der anderen Seite mochte er den ständig schwitzenden Schröder sehr, denn hinter seiner trotteligen Fassade verbarg sich ein intelligenter, warmherziger Mensch, der zudem über ein unglaubliches Gedächtnis verfügte. Hatte Schröder einmal eine Akte gelesen, kannte er sämtliche Fakten auswendig, was sich in vielen Fällen als unschätzbar erwiesen hatte.
Schröder war Zorn absolut ergeben. Und durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Außer, man nannte ihn bei seinem Spitznamen. Zorn kannte ihn seit zehn Jahren, und vom ersten Augenblick war er für ihn der dicke Schröder.
Weil er dick war. Und weil er Schröder hieß. Und weil Zorn sich den Vornamen aus der Personalakte gar nicht erst gemerkt hatte.
Wie immer trug Schröder eine ausgebeulte Cordhose, ein verblichenes, kariertes Hemd bedeckte den stattlichen Bauch. Um seine Glatze zu kaschieren, hatte er die spärlichen, rötlichen Haare über dem linken Ohr bis auf zwanzig Zentimeter wachsen lassen und von dort ausgehend quer über den Kopf gekämmt, weswegen er Zorn immer an ein frisch gebügeltes Frettchen erinnerte.
»Also. Was haben wir?«, wiederholte Zorn und versuchte, gleichzeitig desinteressiert und überlegen zu klingen.
»Wir haben«, Schröder reckte sich zu voller Größe, die ungefähr bei 1,65 lag, »einen …«
»Ja?«
»Wir haben einen Fall!«
»Einen was?«
»Einen Fall!«
Klasse, dachte Zorn. Wir haben einen Fall.
»Einen mutmaßlichen Mordfall«, ergänzte Schröder stolz.
»Ach«, murmelte Zorn und tat, als würde er seine Akten sortieren.
Zorn wusste nicht recht, wie er sich fühlen sollte. Er war unterwegs zu Philipp Sauer, dem zuständigen Staatsanwalt, Schröder im Schlepptau, der wie immer einen halben Meter hinter ihm herhechelte. Ein Mordfall konnte zwar so etwas wie Abwechslung bringen, klar war allerdings auch, dass Arbeit vor ihm lag. Unangenehme Arbeit, und als er das dachte, wurde Zorn wieder bewusst, dass er nicht nur ein gelangweilter, sondern ein äußerst fauler Mensch war.
Zorns Büro lag am Ende eines langen, düsteren Flures, der zum verglasten Neubau führte, einem unsagbar hässlichen Betonding mit braunen, verspiegelten Scheiben, das in den siebziger Jahren von einem offensichtlich durchgeknallten Architekten im rechten Winkel an das alte Polizeigebäude regelrecht angepappt worden war. In der oberen Etage waren die Büros der Staatsanwaltschaft, und dort musste er hin.
Er hatte die Akte überflogen, viel wusste er bisher nicht: Am Montag, den 16. April (also gestern), war mit einem anonymen Anruf eine Lärmbelästigung in der Kantstraße angezeigt worden. (Wieso eigentlich anonym?, dachte Zorn, haben die Leute jetzt schon Angst, wenn sie mit der Polizei telefonieren?) Ein Streifenwagen wurde geschickt, und tatsächlich dröhnte aus einem unbewohnten Haus laute Musik. Die Beamten folgten dem Lärm zu einem Keller, der auf den ersten Blick komplett leer zu sein schien – bis auf einen tragbaren CD-Player, der auf volle Lautstärke gestellt war und laut Bericht »eine klassische Musik« spielte.
Dann hatten die Kollegen die ungewöhnlich große, anscheinend frische Blutlache bemerkt und die Spurensicherung gerufen. Das Labor fand schnell heraus, dass es sich um menschliches Blut handelte, das zudem von einer einzigen Person stammte, und aus der Menge geschlossen, dass hier jemand regelrecht ausgeblutet sein musste.
Sie hatten das Foyer des neuen Verwaltungstraktes erreicht, eine große, über drei Etagen reichende Halle, von der die Flure zu den einzelnen Dezernaten abgingen. Zorn wandte sich nach links, folgte einem weiteren Gang, an dessen rechter Seite die berüchtigten Großraumbüros des Inneren Dienstes lagen. Bei dem Gedanken, hier arbeiten zu müssen, ständig von anderen Menschen umgeben zu sein, schauderte ihm. Unwillkürlich beschleunigte er den Schritt.
»Keine Leiche?«, fragte er über die Schulter, betrat den Fahrstuhl und drückte, ohne auf Schröder zu warten, den Knopf für die oberste Etage. Schröder zwängte sich im letzten Moment hinein.
»Nichts, Chef.«
Zorn schwieg. Leise surrend fuhr der Fahrstuhl nach oben, und da Schröder die Stille in dem engen Raum zunehmend unangenehm wurde, meinte er nach kurzem Überlegen: »Keine Spur. Nix.«
Zorn schwieg noch immer.
»Niente!«, sagte Schröder. Ab und zu verspürte er das unerklärliche Bedürfnis, mit seinen Fremdsprachenkenntnissen zu protzen, und fügte deshalb hinzu: »Nothing, Chef!«
Zorn hob die Augenbraue.
»Nada!«, ergänzte Schröder.
»Pling!«, erwiderte der Fahrstuhl.
»Nitschewo!«, sagte Schröder.
Die Türen öffneten sich.
»Ein einfaches Nein hätte genügt«, brummte Zorn und wappnete sich innerlich gegen seinen ersten Gegner.
Staatsanwalt Sauer war ein kompromissloser Mensch, der sich einen Dreck um andere scherte. Somit verfügte er über die besten Voraussetzungen, schnell und zügig Karriere zu machen.
Sie saßen jetzt seit zehn Minuten im Vorzimmer, und es war klar, dass noch weitere fünf vergehen würden. Der Staatsanwalt ließ seine Untergebenen aus Prinzip eine Viertelstunde warten – mindestens.
»Er müsste jeden Moment hier sein«, flötete die brünette Sekretärin routiniert, ohne von ihrer Tastatur aufzusehen, auf der sie mit atemberaubender Geschwindigkeit herumhämmerte. »Kaffee oder Espresso?«
»Ja, ich hätte gern –«
»Nein danke, wir brauchen nichts«, unterbrach Zorn den dicken Schröder.
»Pff!«, machte Schröder beleidigt.
Zorn vertrieb sich die Zeit, indem er abwechselnd den beeindruckenden Ausschnitt der Sekretärin und ein an der Wand hängendes, riesiges Organigramm der örtlichen Polizei musterte. Sein Platz in der Hierarchie war ziemlich weit unten, während Sauer, das wusste Zorn, irgendwann ganz oben stehen würde. Eine Position, die ihn ebenso wenig reizte wie Sauers Dienstwagen, das riesige Büro oder die Sekretärin – abgesehen von deren Dekolleté, wie Zorn sich widerstrebend eingestehen musste.
Aus dem Augenwinkel registrierte er, dass ihn die Brünette verstohlen musterte. Er sah sie an, sie lächelte kurz und wandte sich dann verlegen ihrem Computer zu, um ihn nun mit doppelter Geschwindigkeit zu bearbeiten.
Die Tür wurde aufgerissen, der Staatsanwalt erschien, wie immer sorgfältig frisiert, und als er Zorn auf die Schulter klopfte, blitzten die Zähne ein wenig zu weiß aus dem etwas zu tief gebräunten Gesicht.
Frisch gestriegelt, geschniegelt und gebügelt, dachte Zorn und war sicher, dass die dünne Edelstahlbrille, die Sauer trug, den einzigen Zweck hatte, Kompetenz und Integrität zu vermitteln. Sauer achtete stets darauf, sein perfektes Erscheinungsbild durch scheinbar ungewollte Nebensächlichkeiten zu brechen: beispielsweise eine etwas zu lockere Krawatte, einen Dreitagebart oder einen geöffneten Hemdknopf. Heute trug er Turnschuhe zum Brioni-Anzug. Ein seriöser und gleichzeitig unkonventioneller, lässiger Siegertyp.
Ich könnte kotzen, dachte Zorn und lächelte höflich.
Er selbst achtete wenig auf seine Kleidung, meist griff er sich einfach das, was zuoberst im Schrank lag. Claudius Zorn war fast nur in Jeans und T-Shirt anzutreffen. Auch seine Haare hingen ihm für einen Beamten viel zu tief in die Stirn, was allerdings daran lag, dass er eine herzliche Abneigung gegen Friseure hegte. Diese Nachlässigkeit bedeutete jedoch nicht, dass er uneitel war, im Gegenteil: Jede Bemerkung in Bezug auf sein jugendliches Aussehen wurde genau registriert, auch wenn er so tat, als sei es ihm egal. Einen Anzug allerdings hätte Zorn ums Verrecken nicht angezogen. Dabei war es nicht so, dass er Anzüge hasste. Er verabscheute eher die, die sie trugen. Jedenfalls die meisten.
»Gut, dass du da bist, Claudius«, meinte Staatsanwalt Sauer und gab ihm einen weiteren, väterlichen Klaps auf die Schulter. Absurd, dachte Zorn und machte einen unauffälligen Ausfallschritt nach links, er ist mindestens zwei Jahre jünger als ich.
Sauer bedachte ihn mit einem Blick, der verschwörerisch und gleichzeitig jovial wirken sollte. Wir beide, du und ich, sollte das heißen, sind die einzig fähigen Leute im Raum, und tatsächlich fügte der Staatsanwalt mit einem Blick auf seine Sekretärin hinzu: »Ich bin hier nur von Idioten umgeben.«
»Kaffee oder Espresso?«, zwitscherte sie.
»Grünen Tee!«, befahl Sauer. »Und in den nächsten zehn Minuten keine Anrufe!«
Mein lieber Staatsanwalt, du siehst zu viele amerikanische Fernsehserien, dachte Zorn, gab Schröder ein Zeichen, und beide folgten Sauer in dessen Büro.
»Ich will, dass du rausfindest, was da passiert ist, Claudius. Ich will, dass du es schnell tust. Und ich will spätestens morgen erste Ergebnisse sehen.«
Der Staatsanwalt saß hinter einem beeindruckenden Schreibtisch aus massiver Eiche, mit einer Handbewegung hatte er Zorn bedeutet, auf einem der Besucherstühle Platz zu nehmen. Schröder hatte er keines Blickes gewürdigt, der hielt sich im Hintergrund an der Wand, über ihm ein mindestens vier Quadratmeter großes, abstraktes Gemälde, das mit seinen kreischenden Gelb- und Brauntönen an eine schlechte Jackson-Pollock-Kopie erinnerte.
»Ich habe dich beobachtet«, fuhr Sauer fort, »in letzter Zeit erscheinst du mir ein wenig …«, er machte eine winzige, perfekt getimte Pause, »… untermotiviert. Und ich muss dich nicht daran erinnern, wie wichtig dieser Fall für deine Karriere werden kann.«
Meine?, dachte Zorn. Du meinst deine.
Er hatte bisher kein Wort gesagt und saß mit verschränkten Armen und unbewegter Miene vor seinem Vorgesetzten. Eine Taktik, mit der er bisher noch jeden aus der Ruhe gebracht hatte, und auch diesmal funktionierte es tadellos. Es war allgemein bekannt, dass es sich bei Staatsanwalt Sauer um einen ausgesprochenen Choleriker handelte.
Sauer wartete ein paar Sekunden, und als Zorn auch nicht die geringsten Anstalten machte, in irgendeiner Weise zu reagieren, riss der ohnehin extrem dünne Geduldsfaden Sauers, dessen gepflegte Züge sich zunehmend verhärtet hatten. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, beugte sich vor, und als er fortfuhr, war ein schriller Unterton in den Ausführungen des Staatsanwaltes zu vernehmen: »Verdammt nochmal, das Einzige, was ich erwarte, ist ein wenig Professionalität!«
Eine zarte Röte erblühte auf Sauers Wangenknochen. Fasziniert beobachtete Zorn, wie auch Stirn und Hals des Staatsanwaltes in leuchtendem Purpur zu glühen begannen. »Professionalität bedeutet eines: schnelle und unkomplizierte Umsetzung meiner Anweisungen!«
Sauer bekam allmählich Probleme mit den Zischlauten. Ein feiner Sprühregen pfefferminzgetränkten Staatsanwaltsspeichels wehte dem eh schon gereizten Zorn entgegen. »Professionalität, Schnelligkeit und Mitdenken! Ist das denn so schwer? Und überhaupt«, Sauers Stimme überschlug sich, »wieso schreibt hier eigentlich niemand mit?«
»Er hat ein gutes Gedächtnis«, erwiderte Zorn und wies mit dem Daumen über die Schulter, wo er irgendwo den dicken Schröder vermutete.
»Ihr Tee, Herr Staatsanwalt!«
»Raus!«, brüllte Sauer, und die Brünette schloss die Tür ebenso leise, wie sie sie geöffnet hatte.
Dieser Ausbruch schien irgendwie geholfen zu haben. Mit einem resignierten Seufzen sank Sauer zurück, strich sich mit einer sorgfältig einstudierten Bewegung über die linke Augenbraue, holte tief Luft und fuhr wesentlich ruhiger fort: »Wir haben es mit einem Psychopathen zu tun, und wenn das bekannt wird, geht in den Medien die Hölle los. Du, Claudius«, er deutete mit sorgfältig manikürtem Zeigefinger auf sein Gegenüber, »wirst ihn finden. Der Typ ist krank.«
»Wer sagt das?«, fragte Zorn unschuldig.
»Meine Intuition«, erwiderte der Staatsanwalt bescheiden.
Zorn biss sich von innen auf die Wange, um nicht lauthals loszuprusten.
Sauer verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Oder wie erklärst du mir, wie sieben Liter menschliches Blut in ein Abrisshaus in der Kleiststraße gelangen?«
»Kantstraße, Herr Staatsanwalt«, korrigierte Schröder höflich aus dem Hintergrund.
Sauers Blick blieb starr auf Zorn gerichtet.
»Und genaugenommen«, fuhr Schröder unbeirrt fort, »handelt es sich nicht um sieben, sondern um zirka fünf Komma vier Liter Blut.«
Der Staatsanwalt versteifte sich ein wenig, er war es nicht gewohnt, berichtigt zu werden. Scheinbar ruhig fragte er Zorn: »Was haben wir noch?«
»Null Rhesus negativ.«
»Was?«, fragte Sauer.
»Die Blutgruppe«, erklärte Schröder gutgelaunt. »Null Rhesus negativ.«
Sauer bedachte ihn mit einem kurzen Seitenblick, überlegte, ob dieser kleine, beleibte Mensch in der Ecke einer Antwort würdig sei, entschied sich dagegen und wandte sich wieder an Zorn: »Zuerst wirst du das Opfer finden.«
»Die Frau!«
Das war wieder Schröder. Fast unmerklich spannten sich Sauers Wangenmuskeln.
»Das Blutbild weist vier Komma drei Millionen Erythrozyten pro Milliliter auf«, rezitierte Schröder, »wir haben es mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit mit dem Blut einer Frau zu tun.«
»Also ein Sexualdelikt«, meinte Sauer, immer noch an Zorn gewandt.
»Da wär ich nicht so sicher«, ließ Schröder sich liebenswürdig von hinten vernehmen.
Jetzt, dachte Zorn, wird er gelyncht.
Sauer erhob sich, ging mit langsamen Schritten durchs Zimmer, baute sich direkt vor Schröder auf und musterte ihn wie ein seltenes Insekt.
»Die Frau war ungefähr fünfzig, Herr Staatsanwalt, übergewichtig und wahrscheinlich nicht sonderlich attraktiv«, erklärte Schröder und nahm Haltung an. »Nach gängigem Raster nicht unbedingt das klassische Opfer eines Triebtäters.«
Er strahlte den Staatsanwalt mit großen Augen an. Sauer wippte kurz auf den Zehenspitzen und wandte sich dann wieder an Zorn. »Woher wissen wir das?«
»Laktatwerte, Thrombozyten, Eisenwerte, alles so was«, riet Zorn aufs Geratewohl.
»Und natürlich der Hämatokritwert«, flötete Schröder, jede einzelne Silbe betonend. »Aus dem Blutbild lassen sich Rückschlüsse auf den kompletten Phänotypen ziehen.«
»Was haben wir noch?«
»Keinerlei Fingerabdrücke, einen fabrikneuen CD-Player inklusive CD und ein paar Fußspuren.«
»Ansonsten?«
»Ansonsten nichts«, sagte Zorn.
»Nothing«, ergänzte Schröder.
»Was?« fragte Sauer.
»Niente!«, erwiderte Schröder.
Zorn warf ihm einen warnenden Blick zu. Schröder biss sich auf die Lippen und schwieg.
»Okay.« Sauer hatte offensichtlich genug. »Ich erwarte einen täglichen Bericht. Und ich erwarte vollen Einsatz. Irgendwas stimmt hier nicht.«
Blitzmerker, dachte Zorn.
»Doofkopf«, murmelte Schröder, als sie das Zimmer verließen.
»Nanana«, sagte Zorn. Aber sehr vorwurfsvoll klang es nicht.
»Wieso eigentlich die laute Musik?«, fragte Schröder.
Sie standen wieder im Fahrstuhl. Zorn betrachtete sein Spiegelbild in den verchromten Wänden und stellte zum wiederholten Male fest, dass er, wenn schon nicht erfolgreich, doch wenigstens attraktiv war.
»Er ist ungeduldig«, erwiderte Zorn.
»Er?«
»Glaubst du, dass wir es mit einer Frau zu tun haben?«
»Nein, Chef.«
»Er wollte auf Nummer sicher gehen. Ich habe keine Ahnung, was genau da passiert ist, aber ich glaube, dass er einen abgeschiedenen, stillen Ort brauchte, um in aller Ruhe das zu tun, was er getan hat. Und jetzt, wo er fertig ist, wartet er auf uns. Mit dem CD-Player hat er eine Möglichkeit gefunden, uns zu sagen, dass er bereit ist.«
»Bereit?«
»Er hat uns gerufen.«
»Uns?«
»Die Bullen.«
»Hm«, machte Schröder, »irgendwie glaube ich, der Typ ist kein durchgeknallter Psychopath, sondern weiß ganz genau, was er tut.«
»Und wie kommst du darauf?«
Schröder strich sich in einer perfekten Imitation des Staatsanwaltes über die linke Augenbraue und grinste: »Meine Intuition.«
Ich mag ihn, dachte Zorn. Ich mag ihn wirklich.
Später, als Claudius Zorn endlich wieder allein in seinem Büro war und rauchend am Fenster stand, saß der, den jetzt alle suchten, der Mann, der vor nicht einmal 24 Stunden einen Menschen bestialisch zu Tode hatte kommen lassen, auf einem zerschlissenen Sofa und murmelte vor sich hin, dass nun endlich alles gut werden würde.
Damit allerdings hatte er sich gründlich verrechnet. Denn je weitreichender unsere Pläne werden, desto mehr Dinge stellen sich uns in den Weg. Und seien es nur Kleinigkeiten, die wie der berühmte Flügelschlag des Schmetterlings zur Woge werden, die alles begräbt, was sich ihr in den Weg stellt.
Pünktlich um 17:15 verließ Claudius Zorn sein Büro. Das, was jetzt getan werden musste, hatte er Schröder übertragen, denn zunächst galt es, die komplette Maschinerie anzuwerfen. Zeugenbefragungen, genaue Untersuchung des Tatortes oder Kontakt mit der Spurensicherung allerdings waren Dinge, die Zorn zu profan erschienen, und in den seltenen Momenten, in denen er ehrlich zu sich selbst war, musste er zugeben, dass er es genoss, diese unangenehmen, bürokratischen Aufgaben einfach delegieren zu können.
Da war allerdings noch ein weiterer, wichtiger Grund: Es gab einfach niemanden, der diese Arbeit besser erledigte als Schröder. Der war wie ein Wiesel, das akribisch jede noch so kleine Spur verfolgte und gleichzeitig immer den Überblick behielt, alles, was nebensächlich war, herausfilterte und die wichtigen Dinge präzise und knapp zusammenfasste, um sie dann an Zorn weiterzugeben.
Jeder, der bei der Ermittlungsarbeit auch nur das kleinste Anzeichen von Nachlässigkeit erkennen ließ, wurde von Schröder gnadenlos in der Luft zerrissen. Außer Zorn natürlich. Denn Zorn war Schröders Chef. Und als der Chef den dicken Schröder in sein Büro bestellte und ihm mit hochwichtiger Miene mitteilte, dass er jetzt das Haus verlasse, um, wie er sagte, die ganze Sache zu durchdenken, hatte Schröder mit keiner Wimper gezuckt, die Cordhose strammgezogen und war zurück an seine Arbeit gegangen.
Jetzt hastete Zorn durch den Regen über den Parkplatz. Als er seinen Wagen erreicht hatte, hielt er kurz inne und blickte zurück auf den unsagbar hässlichen Klotz, den andere als Polizeipräsidium bezeichneten. Bei dem Gedanken, dass Schröder wahrscheinlich bis Mitternacht dort bleiben würde, spürte Zorn wie aus weiter Ferne einen hauchzarten, kaum spürbaren Stich des schlechten Gewissens. Glücklicherweise nur kurz.
Ich mag zwar ein Arschloch sein, dachte Zorn und startete den Volvo. Aber wenigstens kein so geschniegeltes wie Philipp Sauer.
In den Jahren bei der Polizei hatte sich Zorn zum Prinzip gemacht, nie nach Dienstschluss über seine Arbeit nachzudenken. Das war kein bewusster Entschluss gewesen, sondern hatte sich – wie so vieles in Zorns Leben – allmählich entwickelt, ohne dass er viel darüber nachgedacht hätte. Es war wohl eine Art Selbstschutz, ein Filter, der verhindern sollte, dass die grauen Gedanken des ebenso grauen Polizeidienstes über den Feierabend hinweg in sein Privatleben schwappten.
Welches allerdings ebenfalls nicht sonderlich farbenfroh war.
Als er sich jetzt mit quietschenden Scheibenwischern in den Kreisverkehr vor dem Hauptbahnhof einordnete, ertappte er sich bei dem Gedanken an die gerade anlaufenden Ermittlungen, und um sich abzulenken, schaltete er das Autoradio ein. Als habe er darauf gewartet, schrie der Moderator, dass Zorn jetzt die beste Mischung mit der meisten Abwechslung höre und gleich drei Superhits am Stück »auf die Ohren« bekomme, worauf der sensible Zorn entnervt auf den Abschaltknopf hieb und sich seufzend seinem Schicksal ergab. Dies war ein Fall, den er nicht einfach ausblenden konnte.
War das überhaupt ein Mord?, überlegte Zorn und nahm ohne zu blinken die Auffahrt zur Stadtautobahn. Ein LKW überholte ihn donnernd, eine Sturzflut aus ungefähr zehn Millionen Liter schmutzig braunem Regenwasser klatschte über die Windschutzscheibe des Volvos. Fluchend schaltete Zorn die Scheibenwischer auf die höchste Stufe, worauf das Quietschen in ein hysterisches Kreischen überging. Alles, was sie hatten, waren ein paar Liter Blut. Sie wussten, dass es menschlich war. Und sie wussten, dass es wahrscheinlich von einer älteren Frau stammte. Aber wie um alles in der Welt war es in den Keller gekommen? Ein Unfall?
Quatsch, dachte Zorn, sah in den Rückspiegel und registrierte am Rande die aufgeblendeten Scheinwerfer eines schnell näher kommenden Autos. Das kann kein Unfall sein, wer verliert über fünf Liter Blut und marschiert danach fröhlich nach Hause? Oder war alles ein schlechter Scherz? Unmöglich, das Blut war frisch, es musste aus einem Körper stammen, und dieser Körper hatte eindeutig zu einem Menschen gehört. Ein Mensch, der jetzt tot war. Und verschwunden.
Sie mussten die verdammte Leiche finden. Ein Mensch konnte auf unterschiedlichste Weise so viel Blut verlieren, er konnte erschlagen, erschossen, erstochen oder auch mit einem Beil zerstückelt worden sein. Egal was passiert war: Der, der das getan hatte, hatte eine Riesensauerei hinterlassen, und neben dem Blut musste es andere Spuren geben.
Der Wagen hinter ihm klebte regelrecht an seiner Stoßstange, und nun wurde Zorn bewusst, dass er auf der linken Spur fuhr und genaugenommen den Verkehr behinderte. Außerdem merkte er, dass er nicht gerade zügig fuhr. Was einfach dem Umstand geschuldet war, dass Zorn nicht sonderlich gut sah, vor allem jetzt, da die Dämmerung einsetzte und die beschlagenen Scheiben seines Wagens ihr Übriges taten, einem eh schon eingeschränkt sehfähigen Ermittler die Sicht zu behindern. Zorn war nicht unbedingt blind, eher ein wenig kurzsichtig, ein Umstand, der im Normalfall wenig störte. Beim Autofahren allerdings hatte er in letzter Zeit immer wieder feststellen müssen, dass er vieles in der Entfernung verschwommen wahrnahm.
Super, dachte Zorn. Was wieder mal fehlt, ist der Durchblick.
Ein Durchschnittsmensch wäre schon längst beim Optiker gewesen, doch Zorn war zum einen von seiner Überdurchschnittlichkeit überzeugt und zum anderen viel zu eitel, als dass er freiwillig eine Brille aufgesetzt hätte, die ihn seiner Meinung nach mindestens zehn Jahre älter erscheinen lassen würde. So kniff er denn tapfer die Augen zusammen, ignorierte den frechen Drängler und dachte nicht im Traum daran, zu beschleunigen.
Ich bin Bulle, ich darf das, murmelte Zorn, blinzelte und hatte eine Idee. Er griff in die rechte Hosentasche, holte sein Handy hervor und wählte Schröders Nummer.
»Schröder hier«, sagte Schröder.
»Zorn hier«, erwiderte Zorn.
»Chef?«
»Blitzmerker.« Zorn fuhr mit voller Wucht durch eine riesige Pfütze. »Ich möchte …«, setzte er an, doch in diesem Moment blendete sein Verfolger auf, beschleunigte abrupt und befand sich kurz darauf in gleicher Höhe rechts neben dem Volvo, zog dann vorbei und setzte sich direkt vor ihn. Sekunden später leuchtete das »Bitte folgen«-Schild, das Zorn wegen seiner Kurzsichtigkeit zwar nicht lesen konnte, aufgrund seiner beruflichen Erfahrungen jedoch sehr gut kannte. Er schlug heftig auf das Lenkrad und ließ einen noch heftigeren Fluch vernehmen.
»Wie meinen?«, fragte Schröder höflich.
»Ich melde mich«, knurrte Zorn, knallte das Handy auf den Beifahrersitz und folgte dem Streifenwagen an den Straßenrand.
»Ihnen ist klar, dass Ihr Verhalten eine Behinderung des Straßenverkehrs darstellt?«, fragte der massige Streifenpolizist, der sich in breitem Sächsisch als Wachtmeister Kusch vorgestellt hatte.
Zorn hatte das Seitenfenster heruntergelassen und sich geschworen, den Wagen bei diesem Wetter nur unter Androhung einer mehrjährigen Haftstrafe zu verlassen. Er zückte seinen Dienstausweis. »Ich ermittle.«
»Mit dreißig Stundenkilometern auf der linken Fahrspur, Herr …«, ein kurzer Blick in den Ausweis, »… Hauptkommissar?«
»Hör mal, Kollege«, seufzte Zorn, »Du und ich, wir haben beide einen beschissenen Job. Was bringt es, wenn wir uns das Leben gegenseitig schwerer machen, als es eh schon ist?«
»Da haben Sie recht«, erwiderte der Streifenpolizist mit einer unmerklichen Betonung auf dem ›Sie‹ und beugte sich zu Zorn hinunter, »mein Job ist wahrscheinlich noch mieser als Ihrer.«
Darauf möchte ich wetten, dachte Zorn und lächelte zuckersüß.
»Aber ich nehme ihn ernst«, fuhr der Polizist fort. Das Wetter schien ihm nichts auszumachen, von seiner Schirmmütze rann ein stetes Rinnsal zu Boden, und jetzt, da er sich zu Zorn ins Auto beugte, tropfte ein Teil des Wassers an Zorns Oberschenkel vorbei auf das beigefarbene Leder des Fahrersitzes. »Und es ist mir nicht entgangen, dass Sie während der Fahrt telefoniert haben.«
Fuck, dachte Zorn.
»Haben Sie Alkohol getrunken?«
»Ja«, erwiderte Zorn und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Schon oft.«
Der Wachtmeister schien einen Moment zu überlegen. »Okay«, seufzte er dann. »Dürfte ich den Herrn Hauptkommissar um Fahrerlaubnis und Fahrzeugpapiere bitten?«
Das, was nun folgte, hätte selbst einem erfahrenen Psychologen Rätsel aufgegeben. Oder wie ließ es sich erklären, dass der sonst nach außen so überlegt handelnde Claudius Zorn dem verdutzten Streifenpolizisten den Mittelfinger zeigte, wortlos seinen Wagen startete und mit Vollgas davonbrauste?
Er fühlte sich seltsam erleichtert, als er daheim in die Tiefgarage einbog. Natürlich war ihm klar, dass seine überstürzte Flucht ein Nachspiel haben würde, doch das war ihm im Moment egal, und als er in den Fahrstuhl zu seiner Wohnung stieg, hatte er den Vorfall schon vergessen.
In den sechziger Jahren hatte man einen Großteil des historischen Stadtkerns abgerissen und später anstelle der mittelalterlichen Fachwerkhäuser zwei vierzehnstöckige Neubaublocks in den Boden gerammt. Besonders talentierte Strategen des städtischen Marketings hatten irgendwann entschieden, diese beiden Betonklötze in Ermangelung anderer herausragender Bauten zum Wahrzeichen der Stadt zu erklären.
Zorn wohnte im obersten Stockwerk des sogenannten Nordturms. Dieser Bau, da war er sich sicher, musste von demselben untalentierten Bauplaner entworfen worden sein, der das neue Präsidium errichtet hatte. Beides konnte nur ein und demselben kranken Architektenhirn entsprungen sein. Dennoch liebte Zorn sein fünfzig Quadratmeter großes Zuhause. Hatte er erst einmal den schmutzigen Fahrstuhl, den Flur mit dem rissigen, verdreckten Linoleum und den flackernden Neonröhren passiert und die Wohnungstür hinter sich geschlossen, war er zufrieden.
Denn er stellte keine großen Ansprüche an das Leben. Wichtig waren ihm seine Zigaretten, seine Ruhe und die Bang&Olufsen-Stereoanlage. Genau in dieser Reihenfolge. Mit siebzehn hatte er angefangen, Platten zu sammeln, und nun, fast 25 Jahre später, standen sie meterweise in seinem Regal. Anfangs hatte er sie noch alphabetisch geordnet, doch als er vor sieben Jahren hier eingezogen war, hatte er die Schallplatten bewusst willkürlich einsortiert. Schließlich war sein Berufsleben durchorganisiert genug.
Er holte sich ein Bier, nahm wahllos eine Platte und legte sie auf. Ein kurzes Knacken, dann lärmten die Pixies durchs Zimmer, es war, als würden die Gitarren sämtliche Luft aus dem Raum saugen, das Schlagzeug hämmerte wütend gegen die Wände. Zorn drehte etwas leiser und ging zum Fenster.
Diese Stadt ist nicht mehr als ein Haufen Dreck, dachte er, nahm einen tiefen Schluck und blickte über die frisch sanierten Dächer, die weit unter ihm im Regen glänzten.
»With your feet in the air and your head on the ground«, schrie Frank Black.
Zorn zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch gegen das Fenster. Ich mag ihn nicht, diesen trostlosen Ort mit dem überdimensionierten Fußballstadion für einen viertklassigen Verein, seinem mittelmäßigen Theater und dem hypermodernen, zur Hälfte leerstehenden Kongresszentrum. Das alles bedeutet mir nichts. Genauso wenig wie jede andere Stadt. Aber irgendwo muss der Mensch ja leben.
Und wenn ich schon nicht in die Ferne kann, dann flüchte ich halt nach oben.
»Your head will collapse but there’s nothing in it«, donnerte es aus den Lautsprechern.
Hier stehe ich nun und denke melodramatischen Mist, dachte Zorn. Aber ich bin zufrieden. Das traf es ganz gut – ›glücklich‹ wäre übertrieben gewesen, Glück war ein zu großes Wort. Manchmal dachte er, dass viele kleine, zufriedene Momente besser wären als ein kurzes, großes, vergängliches Glück.
Aber sicher war er da nicht. Wie auch? Er hatte es ja noch nicht erlebt, das große Glück.
»Where is my mind?«, klagten die Pixies.
Ich habe keine Ahnung, dachte Zorn und setzte sich aufs Sofa.
Mist, ich habe wirklich keine Ahnung.
Er wurde vom Klingeln des Telefons geweckt und wusste im ersten Moment nicht, wo er war. Die Nadel des Plattenspielers knackte monoton im Leerlauf.
»Was ist?«, nuschelte Zorn verschlafen.
»Chef?«
»Wie spät ist es?«
»Halb elf. Hab ich dich geweckt?«
»Quatsch«, knurrte Zorn.
»Du hattest angerufen.«
Zorn griff sich eine Zigarette. Er hatte vergessen, was er von Schröder gewollt hatte, und fragte stattdessen: »Was gibt’s Neues?«
»Ich habe das Blut noch mal genau untersuchen lassen.«
»Und?«
»Keinerlei Korditspuren und so gut wie keine Knochensplitter.«
»Das bedeutet, sie ist nicht erschossen worden«, erwiderte Zorn.
»Und höchstwahrscheinlich nicht erschlagen.«
»Sonst noch was?«
»Allerdings, Chef.«
Schröder machte eine Pause, die wohl bedeutungsvoll sein sollte.
»Ich gebe dir eine Sekunde, Schröder, oder du fährst ab morgen Streife.«
»Schmerzmittel!«, kam es wie aus der Pistole geschossen.
»Was?« Zorn richtete sich auf.
»Sie war vollgepumpt mit Schmerzmitteln.« Zorn hörte, wie Schröder mit einigen Papieren raschelte. »Buprenorphin, Chef.«
»Was?«, wiederholte Zorn.
»Ein handelsübliches Schmerzmittel. Rezeptpflichtig, aber leicht zu beschaffen.«
»Wann kann sie das eingenommen haben?«
»Gar nicht. Jedenfalls nicht selbst. Die Menge hätte ein Rhinozeros umgehauen, und es ist eindeutig, dass das Medikament kurz vor dem Tode verabreicht wurde.«
»Das bedeutet, dass der Typ ihr das Schmerzmittel gegeben hat, während sie verblutet ist?«
»Wenn wir von einem Mord ausgehen, ja.«
»Das tun wir«, erwiderte Zorn.
»Natürlich.«
»Wir sehen uns morgen um neun«, bestimmte Zorn. Und da Schröder nicht antwortete, fügte er barsch hinzu: »Und sei gefälligst pünktlich.«
»Sehr wohl, Chef«, sagte Schröder, der – im Gegensatz zu Zorn – niemals auch nur eine Sekunde zu spät zum Dienst erschien, und legte auf.
Die nächsten drei Stunden starrte Zorn rauchend vor sich hin, hörte Musik und dachte an irre Mörder, die ihre Opfer betäuben, um ihnen das Leiden zu ersparen.
Der Hauptkommissar konnte nicht wissen, dass der, der das getan hatte, keine fünf Kilometer von ihm entfernt ebenfalls in den Regen starrte. Tränen liefen über sein Gesicht und später, als er seine Wut in die Nacht hinausschrie, hatte Claudius Zorn das müde Ermittlerhaupt längst zur wohlverdienten Ruhe gebettet.
Die Morgentoilette des Claudius Zorn bestand aus einem Griff zur Zahnbürste, mit der er sich lustlos das Gebiss schrubbte, während er gleichzeitig pinkelte, und dann die Kaffeemaschine ansetzte. Abgeschlossen wurde diese Zeremonie durch einen Spritzer lauwarmen Wassers ins Gesicht, worauf ein letzter Blick in den Spiegel folgte.
Er fuhr sich mit den gespreizten Fingern durchs Haar. »Du kannst zufrieden sein, Zorn«, sagte er laut zu seinem Spiegelbild, »du siehst verdammt gut aus, obwohl es dir egal ist. Du hast keine Geheimratsecken und könntest noch immer die Jeans anziehen, die dir vor zwanzig Jahren gepasst haben. Du bist zwar ein bisschen verquollen, liegt aber daran, dass du kaum geschlafen hast.« Er strich sich über die Wangen. »Und du könntest dich rasieren. Aber wie ich dich kenne, hast du dazu keine Lust.«
Wie immer war sein Hunger nach einer Zigarette größer als der Appetit auf etwas Essbares, und so stand er rauchend mit der Kaffeetasse am Fenster und stellte zum tausendsten Male fest, dass die Stadt tief unter ihm im trüben Morgenlicht nicht besser aussah als in der Abenddämmerung.
Immerhin, dachte er, das Wetter hat sich geändert. Was insofern stimmte, als der Wind über Nacht gedreht hatte, die schmutzig grauen Wolken nun von Osten über die Stadt jagten und der Regen jetzt aus einer anderen Richtung gegen Zorns Fenster trommelte.
Im Aufzug roch es wie immer muffig, nach einer undefinierbaren Mischung aus abgestandener Kartoffelsuppe und schmutziger Wäsche. Er drückte den Knopf fürs Erdgeschoss und verdrehte genervt die Augen, als der Fahrstuhl bereits nach zwei Stockwerken anhielt. Zorn kannte so gut wie niemanden in diesem riesigen Haus, und er legte auch keinen Wert darauf. So zog er sich instinktiv in die hinterste Ecke zurück, als die Tür aufging und eine junge Frau den Aufzug betrat.
Er schätzte sie auf Mitte zwanzig. Sie war relativ groß, fast so groß wie Zorn, hatte schulterlanges, dunkles Haar und trug eine Regenjacke, die mindestens vier Nummern zu groß für ihren mageren Körper schien.
»Hi«, sagte sie fröhlich, steckte die Hände in die Hosentaschen, lehnte sich gegen die Wand und musterte ihn von oben bis unten. Es kam oft vor, dass er angesprochen wurde, und im Laufe der Zeit hatte er einen Blick dafür bekommen, ob eine Frau Interesse an ihm zeigte oder nicht – zumindest glaubte er das. Wenn ihm danach war, ging er darauf ein, und häufig genug geschah es, dass er morgens in einem anderen Bett erwachte, neben einer Frau, die er kaum kannte.