Nikola Richter
Die Lebenspraktikanten
Fischer e-books
Nikola Richter, 1976 in Bremen geboren, studierte Germanistik, Anglistik und Komparatistik in Tübingen, Norwich und an der Freien Universität Berlin. Sie hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht, darunter die Lyrik-Bände ›roaming‹ (2004) und ›die do-re-mi-maschine‹ (2009) in der Lyrikedition2000, sowie ›Die Lebenspraktikanten‹ (2006) im Fischer Taschenbuch Verlag und die Kurzgeschichten ›Schluss machen auf einer Insel‹ (2007) im Berlin Verlag. Darüber hinaus konzipiert und betreut sie Blogs für kulturelle und politische Themen etwa das ›Theatertreffen-Blog‹ und ›Superdemokraticos‹ und schreibt journalistische Texte für Print und Online. Nikola Richter lehrt an der Freien Universität im Modul ›Literatur und Medien‹ im Masterstudiengang Angewandte Literaturwissenschaft. Sie lebt seit 1999 in Berlin. Mehr unter http://www.nikolarichter.de
Covergestaltung und Illustration: Monti Port
Veröffentlicht als E-Book 2013.
© 2006 Fischer Taschenbuch Verlag in der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402664-0
Immer, wenn Linn Nils trifft, trägt er dieselbe Strickjacke, dieselben Turnschuhe, dieselbe Tasche, denselben dunklen Schal mit ausgewaschenem Logo, einen Fanartikel seines heimatlichen Sportvereins, aus dem er natürlich schon vor Jahren ausgetreten ist, aber dem er sich noch immer verbunden fühlt. Doch eines ist immer neu. Nicht, dass auf einmal mehr Dreck unter seinen Sohlen klebt oder dass er anders riecht, was auf einen neuen Umgang, eine neue Art der Freizeitgestaltung hindeuten würde. Nein, daran, dass er sich zu anderen Tageszeiten bei ihr blicken lässt, bemerkt sie, dass er wieder einen neuen Job angenommen hat. Eine Zeit lang stand er gegen 22 Uhr vor der Tür. Dann war die Schicht in dem Hotel, an dessen Rezeption er saß, Schlüssel ausgab, Anrufe entgegennahm, zu Ende. Dort konnte er sich Essen aus der Küche besorgen, manchmal gab es sogar zum Feierabend etwas Warmes, Knödel, Braten, Bohnen, etwas Deftiges mit vielen Zwiebeln und Speck, sodass sein Kühlschrank zu Hause eigentlich immer leer war. Wenn er kam, schmierte Linn ihm eine Scheibe Brot, für den späten Hunger, manchmal auch eine zweite, für morgens, fürs Frühstück. Nils und Linn gingen an solchen Abenden selten aus dem Haus. Dafür reichte das Geld nicht. Das Bier holten sie gekühlt von der Tankstelle. Bei Regen schauten sie alte Krimis oder grelle Comedys im Fernsehen. Das sorgte für Gesprächsstoff. Bei Sonne nahmen sie eine Decke und setzten sich auf einen stadteigenen Rasenfleck mit Wasserblick. Meistens wurde es spät. Immer war es billig. Und sie sagten: »Wie geht es uns gut.« Sie waren nicht auf die Wochenenden angewiesen, wenn die Parks, Vorortzüge in Richtung der beliebten Ausflugsorte und Cafés überlaufen waren. Weil sie unter der Woche keiner regelmäßigen Arbeit nachgingen, machten sie die Wochentage zum Wochenende. An Sams- und Sonntagen blieben sie zu Hause, ruhten sich aus, genossen die Stille in den Zimmern, da die werktätigen Nachbarn ausgeflogen waren, und vermieden die teuren Nachtclubs, die sie nur an Montagen oder Donnerstagen besuchten, wenn Sonderpreise, Happy Hour und freier Eintritt lockten. Nils wusste immer, welches Museum eine lange Nacht machte, welches Kino Kinotag oder auf welcher Freiluftbühne ein kostenloses Konzert stattfand. Mit Nils konnte Linn Kultur erleben und dabei noch Geld sparen. Weil er immer Zeit hatte.
Das ist nun anders. Neuerdings kommt er am liebsten am frühen Vormittag. Heute steht er gegen acht Uhr vor Linns Tür. Ihre Haare sind noch nass nach der Aufwachdusche, seine Augen dafür etwas gerötet. Er trägt einen Picknickkorb, der bis zum Rand gefüllt ist. »Darf ich reinkommen?«, fragt er. »Gehen wir in deine Küche?« Linn kann es gerade noch verhindern, dass er sich seiner Schuhe entledigt, indem sie »Fußkälte« sagt. Linn mutet es niemandem zu, in ihrer Wohnung auf Strümpfen herumzulaufen. Ja, sie verbietet es ihren Gästen sogar, weil sich schon viele bei ihr verkühlt haben. Ihre Kohleofenwohnung ist zwar billig, aber der Ofen heizt nur die Decke und die oberen Luftschichten der Zimmer, nicht den Boden. Ich könnte Zwischendecken einziehen, hat Linn schon oft gedacht, und auf der ersten Etage den kalten Winter verbringen, im Sommer könnte ich dann auf die kühle Ebene absteigen.
Um Jahreszeiten kümmert sich Nils nicht. Sein Rhythmus ist eher ein schneller Workout-Beat. Als Linn ihn das letzte Mal sah, arbeitete er als Filmvorführer in einem Programmkino. In der vorigen Woche betreute er auf einer Ökologie-Messe einen Büchertisch. Das erfährt sie, als sie die Teetassen aus dem Schrank nimmt und den Kessel auf den Herd stellt. Während der Messe lernte er diesen Barbesitzer Günzel kennen, der seinen gut gelegenen Szeneladen nicht nur nachts, sondern nun auch nachmittags öffnen will, der jemanden sucht, der ihm Öko-Torten und Öko-Brötchen backt und die Menükarten individuell gestaltet, der ihm ein »Backkonzept« erstellt, wie Nils das nennt. Günzel bezeichnet seinen Plan als »Orga-Food-Mission«, denn ihm geht es um die Bekehrung der Massenware-Esser zu »Organic People«. »Indem wir modernste Agrartechnologien und -produkte – zugeschnitten auf die individuellen Profile unserer Gäste – verwenden, optimieren wir unsere Geschäftsprozesse und verbessern damit die Wettbewerbsposition unseres Unternehmens«, erklärte Günzel. Nils war sofort begeistert von der »strategischen, völlig systemunabhängigen, offenen Lösung«, bei der er durch »Knowledge-Management in ein Kreativ-Team einsteigen und zu einem Kreativ-Partner« werden soll.
Also fragt Nils, sobald er vor dem Heißgetränk sitzt, welche denn Linns Lieblings-Öko-Backwaren seien. Er kramt im Picknickkorb. Vielleicht Apfelkuchen mit Dinkel? Kürbisbrot belegt mit Sauerampfer? Birnen-Ingwer-Torte? Er legt ein paar Gebäckstücke auf den Tisch. »Sieht toll aus, Nils.« »Alles selbst gemacht.« Und Linn sagt: »Wie lange wirst du denn in diesem neuen Job bleiben?« »Erst mal nur für drei Wochen. Mal sehen.« »Warum hast du denn im Kino aufgehört?« »Egal. Jetzt verdiene ich zehn Euro die Stunde, das ist gut! Und ich erfinde ›Food-Labels‹, neue Marken für traditionelle Waren. Du kannst mir also heute nicht vorwerfen, lebensfremd zu sein. Ich bilde mich praktisch weiter im so genannten Branding-Business. Und bald entwerfe ich einen Info-Folder, passend zur Website.« Immer, wenn Nils einen englischen Fachbegriff fallen lässt, zuckt er mit seinem linken Augenlid, fast unmerklich, aber für eine alte Freundin nicht zu übersehen. Ist da doch etwas neu? Ist Nils über Nacht zu einem Menschen mit Verkäufermentalität geworden? Sonst hielt er meterlange Vorträge über die »Brasilianisierung« des Arbeitsmarktes, die Notwendigkeit, wechselnde Jobs anzunehmen, manchmal auch mehrere gleichzeitig, über die Zersplitterung von Existenzgrundlagen, die über kurz oder lang zu einer Zerfaserung von Existenzen führe, über die Chancen, die ein solcher fragmentierter Lebensentwurf mit sich bringe, über die Freiheiten, die Einschränkung, eine eigentlich sehr mönchischen Tugend, die in dieser konsumorientierten Welt nicht schaden würde. Er hätte über die Probleme des »Warenfetischismus« doziert, der dem Konsumenten vorgaukele, Unterschiede zu kaufen, wo eigentlich Gemeinsamkeiten seien. Es ginge doch gar nicht mehr um Alternativen, sondern um die Verweigerung von angeblichen Differenzen. Dieser Theoretiker sitzt jetzt vor Linn und präsentiert bröseliges Körnergebäck, das durch pfiffige Namen Kaufwert bekommen soll. Linn verliert den Appetit.
»Wie gefällt dir ›Bridget Jones‹ für diese Schoko-Muffins? Oder ›Haben Sie Möhrchen?‹ für diesen Karottenkuchen mit Mandelspitzen? Oder ›Grüezi-Grütze‹ für das Birchermüsli? Ich kann mich selbst einbringen, ich kann jeden Tag experimentieren.« Je mehr Nahrungsmittel Nils vor sich auftürmt, desto mehr freut sich Linn für Nils. Sie ist sich sicher, dass aus dem jungen Mann etwas wird, wenn er weiterhin so emsig seine schlummernden Talente weckt. Er bewährt sich auf den unterschiedlichsten Gebieten. Sie probiert ein Stück Kürbisbrot. Leider ist es ein wenig trocken. »Vielleicht hier noch ein bisschen Frischkäse zu den Kräutern?«, hustet sie. »Mmh«, Nils kann nicht antworten, er kaut auf herausgefallenen Mandelspitzen herum. »Ich habe nach diesen drei Input-Wochen übrigens endlich Zeit, meine Fotos zu bearbeiten«, sagt er, als er mit Tee nachgespült hat. »Ich fahre dieses Jahr an Weihnachten nicht nach Hause. Mit dem, was ich dadurch spare, und mit den Geldgeschenken kann ich mir endlich einen guten Scanner kaufen. Ein Bekannter von mir, der eine Ausstellung plant, richtig groß, in San Francisco, hat mir seine Profibildbearbeitungsprogramme gebrannt. Der Rhythmus, weißt du? Der existenzielle Rhythmus! Es gibt einen Autor, der hat seine Schrift immer weiter verkleinert. Genau darum geht es mir auch, um die Reduzierung auf das Notwendige.«
Dieser Nils kommt Linn wieder etwas bekannter vor. Er wedelt mit seinen großen Händen in der Luft herum, hält mit der rechten Hand inne, um ein Wort zu betonen, zieht mit der linken einen Kreis über seinem Kopf und schaut in die Ferne, durch die Wände hindurch. Nie fällt ihm dabei die Zigarettenasche auf seine schwarze Kleidung. Auf diese Farbe ist er seit seinem sechzehnten Geburtstag eingeschworen. Er hasste seine Mitschüler dafür, jedem noch so bunten Trend zu folgen, ihm taten die Augen von so viel Farbe weh. Er ist stolz darauf, vor seinem Kleiderschrank schnelle Entscheidungen treffen zu können, weil alles zu allem passt. Er begeistert sich für klare Linien und Umrisse und bleibt dabei elegant. Linn ist von außen betrachtet ein Gegenstück zu Nils, sie mag es bunt und künstlich, aber sie steht ihm innerlich sehr nah. Seit sie ihn in einer Vorlesung zu »Konzeptionen des Anderen« angesprochen hat, weil er mit seinen Zeichnungen aus Langeweile bis auf ihren Block vorgedrungen war und quer über ihre Notizen Ranken, Blätter und botanische Ornamente gemalt hatte, seit sie eine zweisame Lerngruppe gegründet haben, in der sie sich aus einschlägigen Texten bei Wodka mit Brausepulver vorlasen, und seitdem man sie zunächst für ein Paar, manchmal auch für Geschwister gehalten hat, sie dann aber dieses Missverständnis für sich selbst und die anderen aufgeklärt haben, verfolgen sie mit Leidenschaft ihre gegenseitigen Entschlüsse und Vorhaben. Was sie verbindet, sind ähnliche Lebensverhältnisse. Man würde nicht denken, dass der schmucke, eloquente Nils auch in einer Kältezone lebt, weil er nicht genug Geld verdient, um seine Wohnung zu heizen. Dass er lieber gar nicht heizt – oder, wenn es hochkommt, mit dem Gasherd in der Küche. Er lässt die Klappe des Ofens offen, sodass die feucht-warme Gasluft den Raum füllt. Man würde ebenfalls nicht denken, dass er, der so sparsam ist, manchmal Monate lang seine Miete nicht zahlen kann. Dass er, um seinen Umzug zu finanzieren, seine Plattensammlung verkauft hat. Er zog sich die Alben aus dem Internet auf seinen Rechner. »Nicht traurig sein, mein Lieber. Das Leben ist kein Zuckerschlecken«, tröstete ihn damals sein Vater, der befand, sein Sohn müsse sich durchbeißen, er müsse mal auf eigenen Füßen stehen, er müsse endlich erwachsen werden. Dabei war Nils schon längst erwachsen.
Der Vater hat Nils natürlich noch nie in seiner Wohnung besucht. Der Vater besucht lieber seine neue, zwanzig Jahre jüngere Freundin, fährt mit ihr in den Urlaub, kauft ihr eine Wohnung, damit sie bei ihrem Mann ausziehen kann, und nimmt seinen Ehering ab. Scheiden lassen will er sich noch nicht, das könnte nämlich recht teuer werden. Nils’ Mutter hat jedenfalls schon die Scheidung eingereicht, ihr Anwalt sieht dem Verfahren positiv entgegen, aber das dauert und dauert. Auf den Vater zählt Nils also eher nicht. »Wenn der hier anruft, dann nur, weil er wieder irgendeine Information über meine Versicherung braucht oder weil er für die Tochter seiner neuen Trulla eine Übernachtungsmöglichkeit sucht. Als ob ich ihm da helfen würde.« Linn ist immer überrascht, wie gut gelaunt Nils trotz allem ist. »Deine Eltern haben dir zumindest eine große Portion Lebensfreude mitgegeben«, sagt sie dann. »Rede nicht wie ein Leserbrief aus einer Frauenzeitung, ja? Du liest wirklich zu viel Schrott. Mir geht es gut. Ich brauche nicht viel, um glücklich zu sein.« Von Nils kann Linn einiges lernen. Da sage noch einer, es fehle heute an Einsatzbereitschaft und Durchhaltevermögen. Nils verfolgt zielstrebig seinen besonderen Weg und glaubt an sich. Vor allem glaubt er, dass es darum geht, wieder einen Zusammenhang herzustellen. Der Mensch, der heute so oft ein vereinzelter ist, auch wenn er in Paaren herumläuft, braucht in Nils’ Augen mehr Gemeinschaftserlebnisse und Gemeinschaftsorte. Linn ist meist etwas skeptisch, wenn Nils diese Ideen ausführt. »Das klingt ein wenig nach Gleichschaltung, mein Guter.« Aber Nils stellt die gemeinsame Erfahrung und gegenseitige Verantwortung, nicht die gemeinsame Organisation in den Vordergrund. Dass jeder das tut, was er gut kann, nicht nur für sich, auch für die anderen, und nicht gleich den Fernseher anstellt, wenn er nach Hause kommt, wäre ein Anfang, meint Nils. Dass doch diese Ego-Religion – dass jeder das Beste für sich wolle – zu einer Gruppenvision werden könnte. Dass sich doch verschiedene, verantwortungsvolle, neugierige Menschen verbünden müssten, um mit wenig Geld zum Beispiel ihre so genannten Traumhäuser zu bauen, in denen sich alle treffen und miteinander leben könnten. Schließlich bedeute »gutes Bauen« oder »gute Architektur« nicht »teures Bauen« oder »teure Architektur«.
Auch Linn malte Nils ihre Zukunftsentwürfe aus, als er an einem dieser frühen Morgen nach einer langen Nacht vorbeikam, aber ihm fielen, weil er Spätdienst in einem Taxi-Call-Service gehabt hatte, schon nach ihren ersten beiden Sätzen die Augen zu. Linn holte weit aus, um die Perspektiven ihrer Eltern mit ihren eigenen zu vergleichen, als da wären »ein Haus, zwei Kinder, ein Garten, ein Hund, ein Auto« gegen »genug Geld für den nächsten Monat verdienen«. Sie führte lebhaft aus, wie sie den Lebensstandard ihrer Eltern mit ihrer jetzigen Lebensweise nicht erreichen würde. Ihre Eltern erzählten zwar immer, wie sie sich als Studenten zu zweit ein Bier in einer Kneipe geteilt hatten, wie sie in ihren ungeheizten Zimmern mit Mütze schlafen mussten, wie sie nur einmal in der Woche bei der Vermieterin duschen durften, wie sie als arme junge Leute begannen, sich durch emsigen Fleiß und Pfennigfuchserei ein besseres Lebensniveau zu erarbeiten. Wie sie mit einem Glas Marmelade und einer Portion Schmelzkäse ihr Frühstück und Abendbrot bestritten. Wenn ihre Eltern in diesen Anekdotenstil verfallen, dann schaltet und winkt Linn nicht ab, sondern nickt verständnisvoll. Und stellt in ihrer anschließenden Erzählung einen weiteren Negativ-Rekord für die Familienchronik auf.
Der große Unterschied und eine größere Herausforderung ist, so erläutert Linn dann ihren Eltern, dass wir heute unsere Leben wochenweise organisieren müssen. Wenn eine Sache klappt, können wir uns nicht darüber freuen und kurz durchatmen, sondern müssen schon die nächste planen. Wir sorgen uns darüber, was morgen ist. Wir strampeln uns ab und müssen mit dieser Existenzangst leben. Ihr konntet wenigstens sparen, ihr hattet ein Ziel und habt es erreicht!, ruft sie neidisch. Am Ende jedes Monats, am Ende jeder Woche bleibt bei uns leider nichts für Anschaffungen oder als Ruhekissen übrig. Sparen würde bedeuten, in die Zukunft denken zu können. Sie aber kann höchstens Auskünfte über das Heute geben. Die Eltern hatten damals wenigstens die Aussicht auf längerfristige Anstellungen und ein regelmäßiges Einkommen. »Aussichten wären schön, oder?«, hat Linn damals Nils zum Abschluss ihrer Erläuterungen gefragt und sein lautes Atmen als Zustimmung interpretiert. »Wenn man eine Aussicht hat, dann erscheint alles um einen herum überschaubar und freundlich. Aber ohne Aussicht wirkt alles bedrohlich, riesengroß und problematisch.« Weil er ihr nicht widersprach, fuhr sie fort: »Wir müssen uns heute mehr als dreimal überlegen, ob wir zu diesem Superkonzert unserer derzeitigen Lieblingsband gehen, weil wir vom Eintrittsgeld auch eine Woche lang unser Essen bezahlen könnten. Wenn wir Glück haben, dann stehen wir auf der Gästeliste – weil wir einmal im Monat für eine regionale Zeitung einen Artikel schreiben dürfen, dessen Honorar uns erst ein Jahr später überwiesen wird. Zudem gelten wir, obwohl uns meist weniger Geld als Studenten zur Verfügung steht, nicht mehr als solche. Überall müssen wir die vollen Eintrittspreise zahlen. Von einer Krankenversicherung mal ganz zu schweigen. Weil die privaten Versicherungen zu teuer sind, versichern wir uns lieber gar nicht. Wir sind NICHTS«, klagte Linn, »weder Studenten noch Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger oder Berufsanfänger.« Sie wollte Nils erzählen, dass sie sehr gerne auf ein Auto oder eine Eigentumswohnung sparen würde, das fände sie überhaupt nicht spießig. Was sie und die Freunde für tolle Unternehmungen machen könnten! Stattdessen radelten alle auch noch im Winter von Stadtbezirk zu Stadtbezirk, um sich die Fahrkarten für den öffentlichen Nahverkehr zu sparen. Falls sie Urlaub machten, besuchten sie Freunde in den Städten, die mit Billigfliegern erreichbar waren, schliefen dort eine Woche auf einer Luftmatratze und schrieben keine Postkarten. Zu teuer. Zu Hause kauften sie die Freizeitgetränke am liebsten im Supermarkt. Im Winter kredenzten sie in kalten Küchen Glühwein. Und im Sommer saßen alle mit Bier auf irgendwelchen Hundekackewiesen. Niemand spielte Tennis, Hockey oder Golf. Die Jungs schauten Fußball in einer Kneipe. Die Mädels manchmal auch. Geht überhaupt noch jemand frühstücken?, wollte Linn Nils fragen. Aber sie war in ihren Gedankensümpfen stecken geblieben. Hatte sie über Fußball reden wollen? Nils hatte derweil friedlich weitergeschnarcht.
Linns Gejammer interessiert ihn nicht. »Es ist eben so, wie es ist«, sagt er immer. Auch jetzt. »Wir kommen schon irgendwie durch.« Draußen wird es heute überhaupt nicht hell.
Linn und Anika suchen das nächste Praktikum, und diesmal soll es das letzte sein. Dieses letzte Praktikum ist sehr begehrt. Manchmal heißt es »Assistenz« oder »Mitarbeit« oder »Young Associate«, und manchmal taucht der eigene Name in der Programmschrift, einem Abspann oder der Teamliste auf, wird also nach außen getragen. Der Praktikant freut sich, als vollwertiger Mitarbeiter dazustehen, vielleicht verdient er sogar ein paar hundert Euro. Aber wenn er die Rechte eines vollwertigen Mitarbeiters einfordert – Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Feiertagsvergütung, bezahlten Urlaub und nicht zuletzt Sozialversicherung –, wird er nur müde angeschaut: »Wenn Sie das nicht zu unseren Bedingungen machen wollen, dann lassen Sie es doch. Wir finden ohne Schwierigkeiten einen anderen. Und der macht es bestimmt auch für weniger oder gar kein Honorar.« Denn jeden Tag gehen bei den Arbeitgebern unzählige Bewerbungen ein, die Auswahl an engagierten, gut ausgebildeten und dazu billigen Mitarbeitern ist riesig. Die Personalabteilungen in den Unternehmen zeigen sich leicht entnervt über den Ansturm von Mappen und Anschreiben und bitten um Entschuldigung, dass sie »bei der Menge an Bewerbungen« die Antwort vertagen müssen. »Haben Sie herzlichen Dank. Mit so vielen Interessenten haben wir nicht gerechnet. Wir bitten um Geduld und Verständnis, dass wir Ihre Einsendung nicht persönlich beantworten können. Wir werden unsere Auswahl in spätestens drei Monaten abgeschlossen haben. Wenn Sie dann nichts von uns hören, sagt dies nichts über Ihre Fähigkeiten aus. Wir wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg bei Ihrer Arbeitssuche.«
Wenn Linn und Anika sich treffen, dann stecken sie, wie alle Freundinnen, die Köpfe zusammen und besprechen die allgemeine und persönliche Weltlage. Heute darf Anika die Hauptredezeit in Anspruch nehmen. Sie ist im Moment ziemlich frustriert, weil sie auf zwanzig Bewerbungen zehn Absagen erhalten hat, weil sie sich nicht traut, die zehn anderen Institutionen und Unternehmen, deren Reaktionen noch ausstehen, anzurufen und nachzufragen, weil sie nicht aufdringlich sein will, weil manche Bewerbungsmappen erfahrungsgemäß nie zurückgeschickt werden, auch wenn jede Mappe einen materiellen Wert und Besitzer hat, weil sie meint, dass ihr viele Qualifikationen fehlen, vor allem Berufserfahrung, weil sie langsam nicht mehr daran glaubt, den so genannten Einstieg zu schaffen. »Ich kenne mich nicht aus«, sagt sie. Linn schüttelt den Kopf. Dann breiten sie Briefe vor sich aus, zücken Stift und Textmarker und verfallen in konzentriertes Schweigen. Sie lektorieren gegenseitig ihre Lebensläufe und Anschreiben. »Hier würde ich nicht so dick auftragen, das glaubt dir keiner«, sagt Linn zu Anika. »Du musst alles mit Beispielen belegen«, fordert sie weiter. »Sehr geehrte Damen und Herren. Das geht gar nicht. Hast du keinen konkreten Ansprechpartner herausgefunden?« Linn hat im Laufe der Zeit einiges dazugelernt. Bei ihrer allerersten Bewerbung glaubte sie als Bewerbungsküken noch, eine mit Füller geschriebene Anfrage sei das Persönlichste und Erfolg versprechendste – gegen die Ratschläge ihrer Freunde. Nachdem sie auf mehrere solcher handschriftlichen Dokumente nur eine einzige Antwort erhielt, von einer Sekretärin, die den gleichen Nachnamen wie Linn trug und sich somit wohl Linn gegenüber zu Ehrlichkeit und Aufklärung verpflichtet fühlte und sie darauf hinwies, in Zukunft besser einen Computer zu nutzen, unterschreiben könne sie trotzdem mit preußisch blauer Tinte, ja, kleiner Tipp, sie müsse sogar unterschreiben, und – großer Tipp – wir suchen eine Praktikantin ab übernächsten Herbst, melden Sie sich nächstes Mal mindestens sechs Monate vor Ihrem gewünschten Praktikumsdatum, wir brauchen Vorlauf, weil Linn also belehrt wurde, optimierte sie Schritt für Schritt ihre Bewerbungstechnik, wurde kreativer in ihren Anschreiben, umfassender in ihrem Lebenslauf. Sie steigerte sich von Praktikum zu Praktikum. Arbeitete sie zunächst vier Wochen bei einem Autoschraubenlieferanten in der Anzeigenabteilung des Mitarbeiterblättchens und tippte Geburtstagsgrüße ab, suchte sie danach vier Wochen bei einer Lokalzeitung für den Veranstaltungskalender Termine heraus und bildete sich anschließend sechs Monate lang zwei Tage die Woche im Veranstaltungsmanagement bei einer lokalen Kulturinstitution weiter, um zuletzt bei der Projektassistentin einer Industriewerbeshow für eine Autozulieferermesse drei Monate ohne Honorar Tag und Nacht zu hospitieren. Da schloss sich der Kreis. Es ging ja überall um technischen Fortschritt und Fortbewegung. Linn stellte sich kleine achteckige Schrauben vor, die sich zwar nicht von selbst drehten, die aber mit dem richtig gewählten Werkzeug passgenau und wie geschmiert in den vorgebohrten Löchern verschwanden. Natürlich glaubte Linn nicht daran, dass eine solche Drehbewegung das Schlüsselmoment ihrer Berufsperspektive sei, aber so etwas Ähnliches, denn sie wollte zu einem Schluss kommen. Sie hatte die ersten Praktika durchlaufen um herauszufinden, was ihr Spaß machte und was nicht. Sie war meistens froh gewesen, nach ein paar Wochen wieder zu gehen, um sich mit dem zusätzlichen Zeugnis bei der nächsten Bewerbung um eine interessantere Arbeitsstelle bessere Chancen ausrechnen zu können. Nun will sie sich ein letztes Mal bewerben, ein allerallerletztes Mal, um den Einstieg zu schaffen, die kleine, noch fehlende Schraube hineinzudrehen, um dem Chef oder der Chefin aufzufallen und mit ihren Ideen und ihrem Enthusiasmus so unersetzbar zu werden, dass sie nach drei Monaten unbezahlter Aushilfstätigkeit zu einer bezahlten Hilfskraft wird. Sie nimmt sich vor, dort jede ihr aufgetragene Arbeit schnell, zügig und kompetent zu erledigen, wenn nötig auch am Wochenende zu arbeiten und immer als Letzte zu gehen. »Nur wer lange bleibt, qualifiziert sich für die guten Jobs«, ist ihr Credo.
Anika bewegt sich, um keine Möglichkeit verstreichen zu lassen, sogar zum »Career-Center« an der Universität, um ihre Bewerbung überprüfen zu lassen. Sie lebt von einem wissenschaftlichen Stipendium, das ihr ein minimales Grundeinkommen sichert und das sie nicht versteuern muss. Ihre Eltern finanzieren den Rest, der so anfällt. Es ist ihr unangenehm, immer noch auf ihre Eltern angewiesen zu sein, aber diese sind begeisterte Unterstützer ihrer wissenschaftliche Karriere, weil sie denken, dieser Einsatz wird sich lohnen und ihre Tochter kommt irgendwann an der Uni groß raus. Sie glauben an die Frauenquote im öffentlichen Dienst. Anika ist etwas skeptischer. Und möchte deshalb neben ihrer Archivarbeit Einblicke in das Berufsleben gewinnen. Sie lässt sich einen Termin bei einer persönlichen Karriereberaterin an der Uni geben und besucht zwei Wochen später guten Mutes die Sprechstunde. Auf dem Gang ist nichts los, im so genannten Bibliothekszimmer ist der runde, mittige Tisch leer geräumt, hier scheint nie jemand zu lesen oder etwas nachzuschlagen. Hinter irgendeiner Tür klingelt ein Telefon, hinter einer anderen summt eine Kaffeemaschine. Anika wird von Frau Düse, die eine Bluse mit einem sehr dynamischen Muster trägt, in ein Besprechungszimmer gebeten. Das Zimmer ist hell und freundlich, mit gesunden Grünpflanzen auf den Fensterbänken. Anika wird nett begrüßt und höflich behandelt, darüber kann sie sich nicht beschweren. Aber als sie Frau Düse ihre Bewerbung und die dazugehörige Stellenanzeige reicht und fragt: »Was können Sie mir raten, damit meine Bewerbung Erfolg hat? Sollte ich eine Formulierung ändern? Oder welche anderen Tätigkeiten kämen bei meinem Profil, Ihrer Meinung nach, infrage?«, da runzelt Frau Düse nur die Stirn, blättert angestrengt in Anikas Unterlagen, um danach sofort verbindlich zu lächeln. »Ihre Bewerbung ist wunderbar. Da kann ich Ihnen nicht weiter helfen. Machen Sie weiter so. Sieht doch alles gut aus.« Anika schickt ihre Bewerbung unverändert ab.
Einen Monat später findet sie eine weitere Absage in ihrem Briefkasten. Danach ist sich Anika sicher, dass sie nie wieder überhaupt nur im Geringsten darauf hoffen wird, dass ihr in einer Hilfsinstitution geholfen wird. »Die haben doch keine Ahnung«, sagt sie. Als sie Linn davon erzählt, seufzt die nur und sagt: »Das, was Frau Düse den ganzen Tag macht, könnten wir in zwei Stunden erledigen. Und von ihrem Gehalt könnten wir beide ganz gut klarkommen.« Linn reckt ihr Kinn nach vorne, es ist rund wie eine Faust, und schaut Anika verschwörerisch an. »Wenn ich an der Macht bin, werde ich dafür sorgen, dass solche Leute nicht auch noch eine dicke Rente beziehen. Dafür wird es nämlich gar kein Geld mehr geben. Wie sollen denn Arbeitslose die Rentenkassen füllen?« Anika muss über diesen Sparwitz lachen und schiebt ihr Kinn ebenso nach vorne in Richtung Zukunft und Modernisierung. Im Jazz-Café, wo sie für sieben Euro die Stunde jobbt, hat sie angefangen, kopierte Artikel über die Illusion der Vollbeschäftigung und die Lügen der Politiker zu verteilen. Wenn ihr hinter der Theke langweilig ist, faltet sie aus den Berichten und Interviews Origami-Figuren: Kraniche, Schwäne und Trinkbecher. Das Origami-Prinzip erscheint ihr vorbildlich, um aus wenig etwas Schönes zu schaffen und sich an die Schönheit des »Weniger« zu gewöhnen. »Ich könnte das nicht so gut zusammenfassen«, murmelt sie, wenn sie die kunstvollen Papierstücke zu den bestellten Milchkaffees legt.
Linn jobbt nicht, sie steckt, seitdem sie keine Prüfungen mehr vor sich und ein Diplom in der Tasche hat, alle Energie ins Bewerbungsgeschäft. »Ich fahre mindestens siebengleisig«, sagt Linn, »und je mehr Bewerbungen ich schreibe, desto klarer wird mir, was ich zu bieten habe. Ich würde mich eigentlich immer sofort einstellen.« Je nach Bewerbung passt sie ihren Lebenslauf an, damit er gradlinig wirkt, stellt etwas um, kürzt hier und da und betont andere Schwerpunkte, höchstens ein bis zwei. Mehr würden ihre Ansprechpartner nur irritieren. Sie möchte zielstrebig wirken und kann sich für sehr unterschiedliche Profile zurechtstutzen oder auch erweitern. Ihre Taktik ist: sich bloß nicht festlegen, vielseitig anschlussfähig sein – wie ein Joker. Immer so tun, als sei sie diejenige, die gerade gesucht wird, die genau hineinpasst. Sie ist flexibel, mobil und formbar. Sie muss sich anpreisen, darf aber nie verzweifelt wirken. Im Gegensatz zu Anika, die ehrlich ist und alles angibt, was sie bisher gemacht hat, und damit oft nicht das Stellenprofil punktgenau erfüllt, gehört Linn zu denen, die immer wieder in die engere Wahl kommen und zu Auswahlgesprächen eingeladen werden. Sie weiß inzwischen, wie sie sich hinsetzen, wie sie schauen, wie lang oder kurz sie reden muss. Und wann sie etwas fragen muss und darf. Auch wenn sie die Stelle gar nicht wirklich will, kann sie den Eindruck erwecken, dass nur diese Stelle für sie infrage kommt. Das hat Vorteile. Wenn sie zum Beispiel eine Absage erhält, ist sie nicht traurig, weil sie sich einreden kann, dass sie die Stelle ohnehin nicht wollte. Bekommt sie hingegen eine Zusage, kann sie sich freuen, aber immer noch absagen. Skrupel hat sie dabei nicht. Sie spielt nur das Bewerbungsspiel mit. Sie testet ihre Fähigkeiten. Für wie viele Richtungen kann sie überzeugend eintreten? Sie vertritt sich als Fraktal. Sie beobachtet sich in ihren Zersplitterungen. Wenn zum Beispiel die Personalfrau fragt, wieso sich Linn denn für einen Kinderbuchverlag beworben habe, obwohl sie noch nie mit Kinderbüchern zu tun hatte, entgegnet Linn, dass sie genau deshalb die Richtige für Kinderbücher sei, denn sie habe noch einen unvoreingenommenen Blick, außerdem könne sie ihre Erfahrungen aus anderen Arbeitsbereichen, in denen sie sich mit kurzen Texten befasst habe, einbringen. Und sie hielte Kinderbücher für etwas so Sinnvolles, ja, sie wolle endlich etwas machen, das ihr wichtig sei. Sie habe früher als Schülerin die Kinder der Nachbarn gehütet. Kinder seien phänomenal, kreativ und spannend. Und sie wolle ja etwas Kreatives und Spannendes machen. Sie habe alle ihre Zeichnungen aus der Grundschule in einer Mappe gesammelt, und diese Dokumente würden ihr die Sicht der Kinder wieder aufschließen, um mit Wordsworth zu sprechen: »Thou best philosopher who yet dost keep / Thy heritage; thou eye among the blind / That, deaf and silent, read’st the eternal deep, / Haunted forever by the eternal mind; / Mighty prophet! Seer blessed!« – die berühmte Ode an die Unsterblichkeit, in der das Kind zum Visionär ausgerufen wird – oder mit Schiller, der Mensch sei ja nur da ganz Mensch, wo er spiele, also, die Kindheit sei die wahre Wiege der Menschheit, und wenn man etwas in den Köpfen verändern wolle, müsse man dort beginnen. Die Personalfrau nickt zufrieden. Sie hat über das aufgeklärte und verklärte Kindheitsmotiv in der englischen und deutschen Romantik promoviert. Und Linn glaubt sich selbst kein Wort, denn sie hat überhaupt keine Lust auf Kinderbücher, aber der Job wäre für zwei Jahre und bezahlt.
Vor einem Bewerbungsgespräch recherchiert Linn immer so intensiv, als bereite sie sich auf eine Prüfung vor. Sie informiert sich über die Firma, über aktuelle politische Themen und eventuelle Skandale, über Punkte, die sie besser nicht ansprechen sollte, denkt über eigene Stärken und Schwächen nach, findet Kosten und Dauer des Anfahrtsweges mit Nah- und Fernverkehrsmitteln heraus und erfragt im Vorfeld die Namen der Gesprächsteilnehmer, um deren Lebensläufe und Karrieren zu erforschen. Dann kann sie nichts aus der Ruhe bringen. Sie übt diese Gespräche mit ihrem Freund Viktor: »Stellen Sie sich vor, dass Sie mit einem Kunden verhandeln. Er möchte etwas durchsetzen, das wir in unserer Zielvorgabe ausgeschlossen haben. Was tun Sie?« »Ich bleibe stur.« »Der Kunde bleibt auch stur.« »Ich bleibe weiterhin stur, denn ich streite gerne. Ich argumentiere gerne. Ich werde alle Argumente vorbringen, um ihn zu überzeugen, dass wir es gut mit ihm meinen, aber dass dieser Punkt nicht diskutabel ist.« »Der Kunde bleibt weiter stur.« Linn ist am Ende ihrer Weisheit, und nun kommt Viktor ins Spiel. »An dieser Stelle musst du sagen, dass du mit deinem Vorgesetzten Rücksprache hältst. Du selbst triffst natürlich keine eigenmächtige Entscheidung. Du willst den Kunden nicht vergraulen und vertagst deine Antwort, bis du das Problem deinem Chef geschildert hast. Und er wird dich für sehr loyal halten, denn du hast gezeigt, dass du die Hierarchien kennst und nicht hinter seinem Rücken verhandelst.« Viktor ist kompetent, weil er selbst genügend Gespräche hinter sich hat. Eines, bei dem der Arbeitgeber barfuß herumlief. Eines, bei dem Viktor irgendwie vom Thema abkam und nur noch von seinen Eltern erzählte. Eines, bei dem er sich nicht hinsetzen, sondern die leeren Regale im Raum anschauen und kommentieren sollte. Und eines, bei dem seine Gesprächspartner ständig in Lachen ausbrachen, weil sie Insider-Witze rissen. Er weiß, dass die Arbeitgeber höchste Professionalität von ihren Bewerbern verlangen, obwohl sie sich selbst einiges durchgehen lassen – vielleicht, um die Bewerber zu irritieren, oder weil sie eigentlich unprofessioneller als die jungen Arbeitssuchenden sind.