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Inhaltsverzeichnis

MANESSEBIBLIOTHEK DER WELTLITERATUR
EIN LANDSCHAFTSMALER
LONGSTAFFS HEIRAT
DER WEG DER PFLICHT
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
BENVOLIO
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIER BEGEGNUNGEN
I
II
III
IV
ANMERKUNGEN
Ein Landschaftsmaler
Longstaffs Heirat
Der Weg der Pflicht
Benvolio
Vier Begegnungen
NACHWORT
Copyright

ANMERKUNGEN

Ein Landschaftsmaler

1

Ironische Anspielung auf den formgebenden Damenunterrock, der in den Achtzigerjahren des 19. Jh. aufkam. Sein Name leitet sich von ital. crino («Pferdehaar») und lino («Flachs») ab, denn aus beidem bestand das steife Gewebe.

2

Newport, im U S-Bundesstaat Rhode Island gelegen, war damals ein sehr beliebter, entsprechend vielbesuchter Erholungsort. James selbst lebte, mit einer kurzen Unterbrechung, von 1859 bis 1864 dort.

3

Göttin der ausgleichenden Gerechtigkeit; sie wacht über die gerechte Zuteilung von Glück und Unglück an die Menschen und bestraft die Überheblichkeit im Glück.

4

Lat.«Siegreiche Venus». Die röm. Göttin der Liebe gilt als Inbegriff von Anmut und Liebreiz.

5

Vgl. Macbeth, I, 7:«Macbeth: If we should fail, – / Lady Macbeth: We fail!»

6

Frz.«Komme, was wolle!»,«Auf gut Glück!».

7

Mit diesen Worten lässt der Fuhrmann Barkis in Charles Dickens’ (1812–1870) Roman David Copperfield seiner künftigen Frau ausrichten, dass er sie heiraten möchte.

8

Das Bildnis einer Dame (The Portrait of a Lady) lautet der Titel eines Romans, den Henry James 1881 schrieb.

9

Vermutlich spielt James auf Agnes Grey, die Heldin des gleichnamigen Romans von Anne Brontë (1820–1849) an; allerdings legt er die entsprechende Szene in Kap. 24 dieses Buchs etwas frei aus.

10

1842 erschienener Roman von Edward Bulwer-Lytton (1803–1873), dem engl. Erfolgsautor des 19. Jh. (u. a. Die letzten Tage von Pompeji, 1834). Im Mittelpunkt des erwähnten okkulten Romans, der zur Zeit der Französischen Revolution spielt, stehen der Rosenkreuzer Zanoni und seine Liebe zu einer Opernsängerin.

11

Frz.«diesen Herren».

12

Regenmantel aus einem nach dem schott. Chemiker und Erfinder Charles Mackintosh (gest. 1843) benannten, leichten Baumwollgewebe, das durch eine Gummischicht wasserdicht gemacht wird.

13

Feine Stäbe aus Fischbein, einer hornartigen Substanz aus den Barten des Bartenwals, dienten zur Verstärkung von Korsetts.

14

Nicht zuletzt dank des vermehrten Reisens und des damit einhergehenden wachsenden Interesses an fremden Landschaften in der«Grand Tour»-Epoche erlebte die Aquarellmalerei im 18. und 19. Jh. mit William Turner (vgl. Anm. 20), Richard P. Bonington u. a. einen Höhepunkt.

15

Frz.«Mehr will ich gar nicht.»

16

Lat.«sich über nichts wundern».

17

Frz.«ich».

18

Zitat aus dem Gedicht Popularity des engl. Dichters Robert Browning (1812–1889).

19

Frz.«Dann mal los!».

20

Joseph Mallord William Turner (1775–1851), engl. Landschaftsmaler und führender Vertreter der Romantik.

21

Frz.«grell»,«schreiend».

22

Leichter kurzer Umhang.

23

Lord Alfred Tennyson (1809–1892), bedeutender engl. Dichter der Spätromantik, der u. a. ein Gedicht mit dem Titel Locksley Hall geschrieben hat. Vgl. den Namen des Landschaftsmalers.

24

Locksley stellt sich nicht nur in eine Reihe mit drei der bedeutendsten ital. Maler der Renaissance: Giorgione (1477 oder 1478–1510), Paris Bordone (um 1500–1571) und Paolo Veronese (1528–1588). In erwähntem Salon Carré des Pariser Museé du Louvre hängt zudem eines der berühmtesten Gemälde der Welt: die Mona Lisa von Leonardo da Vinci.

25

Frz.«Brünette».

26

William Wordsworth (1770–1850), engl. Dichter, bedeutender Vertreter der Romantik.

27

Frz.«von vorn losgehen».

Longstaffs Heirat

1

James spielt vermutlich auf die Statue der Diana mit Hund an, deren Original sich im Vatikan befindet.

2

Frz.«Gang»,«Schritt».

3

Als«Ladies of Llangollen»wurden Eleanor Butler und Sarah Ponsonby bekannt, die aus ir. Adelsfamilien stammten, sich aber für ein Leben abseits der Konventionen entschieden. Im walis. Llangollen mieteten sie das Anwesen Plas Newydd, wo sie ein recht exzentrisches Leben führten und von zahlreichen Berühmtheiten ihrer Zeit, darunter Sir Walter Scott und William Wordsworth, besucht wurden.

4

Endymion wird, je nach mythologischer Überlieferung, als König von Elis – als Jäger oder als Hirte beschrieben, der – in den meisten Versionen – in ewigen Schlaf versetzt wurde. Nach einer Version war Endymion ein karischer Hirte, in den sich die Mondgöttin Selene (die später mit Artemis/Diana verschmolz) verliebte; sie besuchte ihn jede Nacht, während er schlief, und gebar ihm fünfzig Kinder. Einer anderen Überlieferung zufolge wird die Jagdgöttin Diana von Amor zu dem schlafenden Endymion geführt. In der klassischen griech. Literatur steht Artemis jedoch für bewusst gewählte und entschlossen verteidigte Jungfräulichkeit.

5

Corinne, ou l’Italie (2 Bd., 1807), ein Roman der frz. Schriftstellerin Madame de Staël (1766–1817). Die Heldin Corinne ist eine lebenshungrige, kunstbegeisterte Frau, deren Liebe zu einem seelenverwandten Mann daran scheitert, dass er ihrer selbstbewussten Art nicht gewachsen ist und einer weniger« anstrengenden»Dame den Vorzug gibt.

6

Childe Harold’s Pilgrimage (1812–1818), eines der bekanntesten Werke des engl. Dichters Lord Byron (1788–1824). Sein Versepos beschreibt die Reise eines jungen Mannes, der aus Enttäuschung über sein zwar luxuriöses, aber sinnentleertes Leben Zerstreuung in fremden Ländern sucht.

7

Zu den zahlreichen frz. Autoren, die sich Co-Autoren für das Verfassen ihrer Stücke suchten, gehörte beispielsweise auch Alexandre Dumas (père; 1802–1870). Er arbeitete in den Jahren 1837 und 1839 mit Gérard de Nerval zusammen, der ungenannt blieb. 1825 hatte sich Dumas sein erstes Honorar noch selbst als Co-Autor verdient.

8

Silvio Pellico (1789–1854), ital. Patriot, Schriftsteller und Dichter.

9

Frz.«Lieber armer Mann!».

10

Frz.«Kammerdiener».

11

Ital.«Friedhof».

12

Beides engl. Begriffe für ländliche herrschaftliche Wohnsitze.

13

Baumnymphen.

Der Weg der Pflicht

1

Dem Originaltext ist weder hier noch anderswo eindeutig zu entnehmen, ob ein Mann oder eine Frau Adressat der Geschichte ist, da die Anreden«geschlechtsneutral »sind (compatriot, my dear, American). Im Deutschen ist jedoch eine Entscheidung für die männliche oder die weibliche Form unumgänglich. Auch wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass die erzählende«Amerikanerin in London»sich an einen Mann wendet (schließlich steht sie auch mit Ambrose Tester auf vertrautem Fuß), geht aus verschiedenen Andeutungen doch hervor, dass es sich wahrscheinlich um eine neugierige Landsmännin handelt, die sich für die Geschichte interessiert.

2

Dies bedeutet, dass die Vorfahren Ambrose Testers bereits zu Beginn des 17. Jh. in den Rang eines Baronets erhoben worden waren. Jakob I. hatte diese niedere, zwischen Ritter und Baron angesiedelte Adelswürde im Jahr 1611 eingeführt. Der damit verbundene Titel« Sir»geht beim Tod des Vaters auf den ältesten Sohn über.

3

Pharo (auch Pharao): ein Kartenglücksspiel.

4

Möglicherweise eine Anspielung auf Henry James’ Roman The Bostonians (1886; dt. Die Damen von Boston), an dem er zu der Zeit arbeitete, als auch The Path of Duty entstand. Mit Olive Chancellor, Mrs Burrage und Mrs Farrinder weist er gleich drei kluge Frauen auf. Die bedeutendste Rolle spielt allerdings die intelligente Olive Chancellor, eine leidenschaftliche Frauenrechtlerin, für die Katherine Loring , die Gesellschafterin und Pflegerin von Henry James’ kranker Schwester Alice, Pate stand.

5

Die mit der Wahlrechtsreform von 1867 verbundenen Änderungen in der Wahlkreiseinteilung erwiesen sich als nicht ausreichend, so dass schließlich im Zusammenhang mit der Wahlrechtsreform von 1884 im Jahr 1885 ein entsprechendes Gesetz verabschiedet wurde, dessen Bestimmungen den neuen Gegebenheiten Rechnung tragen sollten.

6

Zwar hatten sich die sanitären Zustände in England in weiten Bereichen seit der Verabschiedung des Sanitary Act von 1866 erheblich verbessert, doch lag auch zu Beginn der achtziger Jahre noch sehr viel im Argen, so dass die Frage der sanitären Bedingungen und ihrer gesundheitlichen Folgen weiterhin in der Öffentlichkeit, im Parlament und in Ausschüssen lebhaft erörtert wurde.

7

Frz.«(Körper-)Haltung».

8

Frz.«Schicklichkeit»,«gesellschaftliche Erwartung».

9

Rotten Row: ein alter Saumpfad an der Südseite des Hyde Park.

10

Frz.«Hintergedanke».

11

Frz.«sarkastische Bemerkung»,«Spitze».

12

Die Whispering Gallery befindet sich in 33 Metern Höhe in der Kuppel der St. Paul’s Cathedral. Ihren Namen verdankt sie der besonderen Akustik: Selbst wenn man sich flüsternd unterhält, sind die Worte auf der anderen Seite, in 32 Metern Entfernung, deutlich zu verstehen.

13

Finanzielle Zuwendung des Bräutigams an die Braut bei der Eheschließung. Sie dient nach dem Tod des Gatten der Versorgung der Witwe.

14

Frz. für niedrige Wandverkleidung aus Holz, Stuck oder Marmor; hier: Deckentäfelung.

15

Anspielung auf die Präraffaeliten, eine Mitte des 19. Jh. entstandene Kunstrichtung, der auch der Kunsthandwerker, Schriftsteller und Sozialreformer William Morris nahestand, mit dem Henry James bekannt war. Morris, einer der vielseitigsten Künstler des 19. Jh. und Vorreiter des kontinentalen Jugendstils, plädierte u. a. für eine Kunst für viele, für eine«schöne»Umgebung, auch und gerade in den eigenen vier Wänden. Um sie zu gestalten, bedurfte es ausgesuchter Gebrauchsgegenstände wie Teppiche, Tapeten, Wandbehänge, Fliesen und Gläser, die Morris zusammen mit Gleichgesinnten in den von ihm geleiteten künstlerischen Werkstätten (als Kontrapunkt zur zunehmend maschinell produzierten Ware) in Handarbeit herstellte.

Benvolio

1

Gemme mit vertieft eingeschnittener Figur.

2

Gesellschaftstanz, der zu Beginn des 18. Jh. in Frankreich entstand und im 19. Jh. mit amüsanten Einlagen und Schritten aus Modetänzen (wie Polka, Galopp oder Walzer) angereichert wurde.

3

Frz.«übersättigt».

4

Lat.«Ende».

5

Frz.«Hervorhebung durch den Gegensatz».

6

Buchformat in der Größe eines zwölftel Bogens.

7

Das geschilderte Motiv wurde von zahlreichen Malern der venezianischen Schule, darunter Tizian und Paolo Veronese, gestaltet. Möglicherweise«ergatterte »Benvolio ein Gemälde Giuseppe Cesaris, genannt Il Cavalier d’Arpino (1568–1640): Von ihm bzw. aus seiner Werkstatt gibt es mehrere Bilder, die das Motiv« Perseus befreit Andromeda»variierten.

8

Damals wurde der aus den zum jeweiligen Buchformat gefalzten Bogen bestehende Buchblock noch nicht dreiseitig beschnitten. Deshalb musste der Leser selbst vor oder während der Lektüre die einzelnen Seiten mit einem Papiermesser voneinander trennen.

9

Jean Antoine Watteau (1684–1721), bedeutendster frz. Maler des 18. Jh., Schöpfer der neuen Bildgattung Fêtes galantes. Diese«intimen Gesellschaftsstücke», auf die auch James hier anspielt, zeigen eine verfeinerte höfische Kultur, die in vollendeter Harmonie mythologische Anspielungen, Erotik und gesellschaftliche Umgangsformen zu verbinden weiß.

10

Buch im Quartformat, das entsteht, wenn der Druckbogen zweimal gefalzt wird.

11

Bezeichnung für die in Alexandria beheimatete philosophische Richtung des Neuplatonismus, die dem Christentum sehr aufgeschlossen gegenüberstand. Ihre Vertreter waren bestrebt, erstmals Glauben und Wissen miteinander zu vereinen und hellenistische Philosophie und christlich-jüdisches Denken zu verschmelzen.

12

Das 1631 oder 1632 verfasste und 1645 veröffentlichte Gedicht Il Penseroso (Der Nachdenkliche) des engl. Dichters John Milton (1608–1674) wurde von ihm selbst durch das Pendant L’Allegro (Der Fröhliche) ergänzt. Zusammen ergeben sie ein einheitliches Werk, in dem Heiterkeit und Melancholie miteinander kontrastiert werden.

13

Ein Schuh mit erhöhter Sohle, der von Schauspielern in der antiken Tragödie getragen wurde.

14

Frz.«Gesellschafterin».

15

Dieser Begriff geht auf eine Marotte des engl. Botanikers Benjamin Stillingfleet zurück, der um 1750 statt in den üblichen schwarzen Seidenstrümpfen in blauen Wollstrümpfen bei den Zusammenkünften eines schöngeistigen Zirkels erschien. Dessen Teilnehmerinnen erhielten daraufhin den Spottnamen bluestockings. Bis weit ins 20. Jh. hinein wurde die Bezeichnung abwertend für gelehrte Frauen verwendet, die der geistigen Arbeit Priorität einräumten und die«typisch weiblichen Eigenschaften»vernachlässigten.

16

Etwa ein Meter langer, senkrecht stehender Stab, auf den beim Handspinnen das zu verspinnende Material gewickelt wird, bzw. auch Name für den entsprechenden Teil des Spinnrades.

17

Illyrien ist der einzige konkrete Hinweis darauf, dass Henry James mit seiner Figur Benvolio offensichtlich auf William Shakespeares Malvolio aus der Komödie Twelfth Night (Was ihr wollt) anspielt.

Vier Begegnungen

1

Ital.«Unterhaltung».

2

François de Bonivard, ein Vorkämpfer der Unabhängigkeit des Waadtlands und Genfs von den Grafen von Savoyen, wurde 1530–1536 im Schloss Chillon gefangen gehalten. Lord Byron (vgl. Anm. 6 zu Longstaffs Heirat) setzte ihm in seiner 1816 erschienenen Verserzählung The Prisoner of Chillon ein Denkmal. Das am östlichen Ende des Genfer Sees gelegene Schloss wurde damals zu einer Touristenattraktion.

3

Frz.«Frau hinter der Theke».

4

Monumentaler Rundbau, am Tiberufer in Rom gelegen (Castel Sant’Angelo); in den Jahren 135–139 als Mausoleum für Kaiser Hadrian erbaut.

5

Frz.«Ich verehre die Malerei!».

6

Frz.«Zur schönen Normannin».

7

Frz.«Speisesaal».

8

Frz.«abgereist».

9

Ital. Bezeichnung (mezzotinto:«Halbton») für Schabkunstblätter bzw. die Schabkunst, ein manuelles Tiefdruckverfahren. Dabei raut man zunächst eine Kupferplatte auf, dann werden die Partien, die hell wirken sollen, mit einem Schabmesser geglättet.

10

Frz.«Wohnung in der vierten Etage». Das Erdgeschoss wird in Frankreich separat gezählt, muss also noch dazugerechnet werden.

11

Frz.«nach chinesischer Art».

12

Frz.«Eine schöne Entdeckung!».

13

Frz. Bar mit Varietédarbietungen.

14

Frz.«Welch ein Leben!».

15

Frz.«Wie es sich gehört».

16

Frz.«Teure Schöne!».

NACHWORT

Es war einmal (als handelte es sich um ein Märchen) ein sehr interessanter junger Mann. Ein tatsächlich in mancherlei Hinsicht sehr ansprechender Bursche.«Engel»hatten sie ihn in der Familie genannt, wegen seiner Locken. Ein schlanker junger Mann mit nachdenklichen, bemerkenswert schönen Augen, der gerade erst vor zwei Jahren die Grenze zum dritten Jahrzehnt unserer irdischen Lebensspanne überschritten hatte. Die Ähnlichkeiten mit jenem wetterwendischen jungen Dichter namens Benvolio, von dem er in seiner 1875 im Magazin Galaxy erschienenen Geschichte einen bemerkenswert gestelzten Erzähler im oben zitierten Ton berichten lässt, sind durchaus nicht zufällig. Unser junger Mann, den wir aus Gründen der Bequemlichkeit Henry James nennen wollen, war ebenfalls nicht unvermögend, wenn auch nicht reich, und intensiv kann man die Beschäftigung, der er nachging, schon nennen, regelmäßig, wie es ein ordentlicher Brotberuf gewesen wäre, aber war sie bis dahin sicher nicht.

Wie Benvolio, das Zerrbild seiner in mehrfacher Hinsicht allegorischen Erzählung, hatte er lange am Scheideweg gestanden, hatte sich nicht entscheiden können. Zerissen war er nicht zwischen zwei Frauen wie der atemberaubenden kastanienbraunen Gräfin und der nicht weniger faszinierenden blässlich stillen Nachbarin, die der Erzähler symbolisch Scholastica nennt, wie der junge Dichter seiner Geschichte, sondern zwischen zwei Kulturen, zwischen Europa und Amerika. Warum sich James schließlich für den alten Kontinent entschied, zeigt – das macht Benvolio endgültig zur Schlüsselerzählung – das Ende seiner Geschichte. Benvolio nämlich holt schließlich – die Gräfin hatte ihre Nebenbuhlerin ans andere Ende der Welt intrigiert und Benvolio anschließend wiederum sich der Gräfin entledigt – Scholastica, das arbeitsame neuenglische Philosophentöchterchen, heim vom Rand der Datumsgrenze. An ihrer Seite fängt Benvolio zwar wieder an zu schreiben, aber schrecklich schwerfällig, sagen die Leute, sei seine Dichtung geworden. Eine Angst, die auch den zweiunddreißigjährigen Theologensohn längst beschlichen hatte, weswegen er beschloss, im Exil, in Europa, zu bleiben. Benvolio ist (auch) ein Abschiedsbrief an Neuengland.

Als manischer Beobachter irrte er, so Giuseppe Tomasi di Lampedusa, fortan«wie ein Gott auf Urlaub durch die Salons Europas», ein Sammler von Geschichten, gruseligen und kitschigen, von Gesten, Blicken, Bildern, auf der Suche nach moralischer Wahrheit, nach der Wahrheit zwischen den Geschlechtern und den beiden Kontinenten, ein Korrespondent zweier Welten, ein Außenseiter, der er eigentlich immer schon gewesen war.

Henry war ein etwas anderer Junge. Einer, der früh die Freiheit in sich selbst und in der Literatur suchte. Suchen musste. Ein Stotterer, der lernte, seine Sätze, um sie unfallfrei artikulieren zu können, im Kopf vorzuformulieren, was nicht ganz folgenlos für den Ton seiner Literatur blieb. Ein Junge, der sich vor den Vorträgen seines lauthals philosophierenden Vaters in sich selbst verkroch – Henry James senior war befreundet mit beinahe allem, was unter neuenglischen Intellektuellen Rang und Namen hatte, ein Swedenborgianer, ein spiritueller Sinnsucher mit deutlich sozialistischem Einschlag und mit sehr seltsamen Vorstellungen unter anderem vom Wesen der Frauen (was auch nicht folgenlos für manches Frauenbild in diesem Erzählungsband blieb). Weitgereist war Henry Jr. früh, musste seinem Vater, seiner Familie folgend durch die Alte und Neue Welt irren (so etwas wie Heimat fand Henry James endgültig erst jenseits der Schwelle zum fünften Lebensjahrzehnt in Lamb House in East Sussex), von Wohnung zu Wohnung, Stadt zu Stadt, Land zu Land, Kontinent zu Kontinent, Schule zu Schule. Eine unstetere Ausbildung als die seine lässt sich kaum denken. Eine freiere allerdings auch nicht. Einziges Kontinuum – neben dem ständigen Wechsel – seiner Jugend war geradezu manisches Lesen. Und die stete Auseinandersetzung mit europäischer Kultur im Allgemeinen und aktueller französischer Malerei im Besonderen. Maler hätte er auch werden wollen, Henry zeichnet viel, ahmt nach, saugt in Ausstellungen, in Museen an Bildern auf, was er aufsaugen kann. Dass er«das Auge eines Malers»habe, sagt sein Mentor, der Schriftsteller und Maler John La Farge. Und gibt ihm Prosper Mérimée zu lesen.

Der Schriftsteller Henry James wird schließlich an einem inzwischen für junge Magier längst typischen Ort geboren: in einem Schrank unter der Treppe. Harry Potter hatte da im Haus seines Onkels Dursley bis zu seinem elften Geburtstag hausen müssen. Henry James flüchtet sich von dort aus endgültig in die (vor allem frankophone) Literatur der Alten Welt. Im Schrank unter der Treppe findet er die Revue des Deux Mondes seines Vaters, liest Texte, Erzählungen, Essays von Sainte-Beuve, Balzac, Maupassant, de Musset, Renan.

Und er lernt schreiben, wie er vorher malen hatte lernen wollen. Er ist sein eigenes Literaturinstitut. Henry ahmt nach, er übersetzt, er orientiert sich, grenzt sich ab. Und liest weiter. Während seine Generation und ein Teil seiner Brüder und seiner extrem weitverzweigten Verwandtschaft in den amerikanischen Bürgerkrieg ziehen, schreibt sich Henry in der Harvard Law School ein. Nicht für lange, kaum für ein Jahr. Henry – das bewahrt ihn vor dem Bürgerkrieg – hat ein (von einigen Biographen in Zweifel gezogenes) Rückenleiden. Er muss liegen. Und er liest. Unersättlich. Und endlich fängt er an zu schreiben.

Im Januar 1863, zwei Monate vor der Schlacht von Gettysburg, erscheint sein erster Text, die deutlich an französischen Vorbildern orientierte Kritik des Theaterabends einer gewissen Maggie Mitchell, in einem der nicht eben wenigen bürgerlichen Bostoner Journale. Im Februar 1864, die Kriegsmüdigkeit auf beiden Seiten wächst so schnell wie die Zahl der Toten, wird – anonym – vom New Yorker Continental Monthly seine erste Geschichte A Tragedy of Errors veröffentlicht. Nicht ein Schatten des Krieges trübt ihr Licht – sie handelt von Ehebruch und Mord und spielt in Frankreich, weit weg von den Schlachtfeldern von Gettysburg oder Chattanooga. Einem Teil seiner Verwandtschaft wird die Lektüre der Erzählung verboten.

Henry schreibt weiter, von seinem Vater, der später für kurze Zeit eine Art Agent seines Sohnes wird, halb belustigt beäugt. Seine Texte erscheinen im Atlantic Monthly, Bostons führendem Journal und Durchgangstor für die junge amerikanische Literatur, in der Nation und der North American Review. Für einen Essay über Walter Scott erhält er sein erstes Geld – zwölf Dollar. Nicht lange, und er wird der Einzige seiner Familie sein, der von dem leben kann, was er zu Papier bringt.

Wenn er allerdings überleben will, das weiß er schnell, selbständig und unabhängig als Homme de lettre, wenn er Schriftsteller sein, Publikum, Leser gewinnen will, das lernt er schnell, muss er sich professionalisieren. Literatur auch als Beruf, als Geschäft begreifen. Muss er tun, was Dickens und Dumas getan haben, genau aufs (schon damals vornehmlich weibliche) Publikum hin schreiben. Zielgruppenorientiert arbeiten, heißt das heute, ohne sich, seine moralischen, literarischen Ansprüche aufzugeben. So integriert Henry James für die hauptsächlichen Abnehmer seiner Texte das Beste zweier Welten, der populären und der intellektuellen Literatur, Suspense und Grusel und Klatsch und Gesellschafts- und Gefühlsbeschreibung und fotografische Präzision in der Beobachtung und der Analyse der Antriebe und Waghalsigkeit in der Konstruktion. Das macht die Geschichten in ihrer manchmal perfekten, nicht selten bei aller Gefühlsdichte regelrecht unterkühlten moralischen Mechanik zwar für seine Leser nicht ganz einfach zu konsumieren, aber auch verblüffend modern.

Ein Landschaftsmaler – 1866 im Atlantic Monthly erschienen – ist so eine Geschichte. Typisch weniger der geradezu schwelgerischen und malerischen Bilder wegen, sondern weil sich hier schon die James’schen Motive geradezu gefährlich zusammenballen. Das Spiel mit der Perspektive, das Spiel mit der Moral, mit dem Verpassen, dem Missverstehen von Gefühlen, die Schwachheit der Männer, die Stärke der Frauen, die Unmöglichkeit der (auch körperlichen) Nähe.

Ein – bei James durchaus nicht seltener – eher unsympathischer, finanziell dafür aber bestens ausgestatteter Held verstößt James’ geradezu archetypische amerikanische Heldin (groß, schön, kastanienbraunes Haar, graue Augen) wegen vermuteter Geldgier, wirft sich das härene Kleid eines armen Künstlers über, führt – weil er nicht wegen seines Geldes geliebt werden will – das einfache Leben eines Malers am Meeresstrand und verfällt vor unseren Augen (wir lesen schließlich sein Tagebuch) zunehmend der scheinbar naiven, sehr fleischlichen Ausstrahlung einer blühenden Brünetten (die – stellt sich später heraus – eben auch sein Tagebuch gelesen hat). Und tappt in die eigene Falle, ihre Geld- und Geltungsgier wird ihm nämlich erst offenbar, als er sich glücklich (wie er findet) in die Hölle einer Ehe hat manövrieren lassen und von seiner Frau aufgefordert wird, doch ein Mann zu sein. Das ist allegorisch. Das ist ziemlich moralisch. Und so böse wie lustig. Henry James müssen wir uns schon von da an als sehr sardonischen Erzähler vorstellen.

Unangenehm präzise ist das. Aber mit Realismus hat selbstverständlich nichts zu tun, was der eifrig berichtende Korrespondent aus Europa, als der Henry James für die bunte Landschaft amerikanischer Zeitschriften auch arbeitet, während er durch die Salons Europas irrt, in seinen Geschichten erzählt. Ihnen hält er die Welt vom Leib. Von Sozialreportagen sind sie denkbar weit entfernt, man erfährt beinahe nichts über die Zeit, aber alles, meistens mehr als einem lieb ist, über die Figuren, die Henry James durch den schmalen Spalt in der Tür zu seiner sehr beschränkten Welt, durch den er blickt, geradezu manisch beobachtet.

Es ist eine seltsam künstliche Welt, in der seltsam künstliche Rituale ablaufen. Reiche, schöne Menschen, die kaum einer ordentlichen Beschäftigung nachgehen, pflegen ihre Bienentänze, Maskenspiele, ihr Ballett der Abstoßungen, Annäherungen, Umkreisungen. Es ist eine Welt, deren Funktionsweise, deren Krisen, deren Mechanik der freiwillige Exilant akribisch und mit geradezu wissenschaftlicher Neugier über Jahre erforscht hatte – als faszinierter Zaungast, als beteiligter Außenseiter, als Amerikaner in britischen Salons. 1878, der erste Roman, der erste Band mit Geschichten ist erschienen, die Magazine veröffentlichen als Fortsetzungsromane seine ersten großen Erfolge wie Daisy Miller, soll er es auf beinahe hundertfünfzig (angenommene) Dinnereinladungen pro Saison gebracht haben. Als ob dieses Forschungsfeld noch nicht groß genug gewesen wäre, unterhielt James noch eine Art soziales Informationsnetzwerk, mittels dessen er ständig über die neuesten Entwicklungen der besseren Gesellschaft informiert wurde, was sie gerade mit wem spielt, wer sich gerade in ihren moralischen Fallstricken verfängt, stranguliert. Sammelt Klatschgeschichten und verwandelt sie, schält den Kern von Wahrheit heraus. Klatschgeschichten, wie im Kern das Drama um Diana Belfield eine ist. Die hagestolzhafte, reiche und schöne Diana (sie verfügt garantiert über kastanienbraunes Haar und graue Augen) landet einer unberührbaren Jagdgöttin gleich auf ihrer Grand Tour durch Europa in Nizza, zu ihrer Zeit noch ein weniger elegantes kleines Kaff an der Küste. Wo sie vom augenscheinlich todkranken erzbritischen Gentleman Reginald Longstaff umschlichen, angebetet und schließlich am Totenbett gefreit wird. Longstaffs Heirat – 1878, also im Jahr von Daisy Miller, im Scribner’s Monthly erschienen – ist ein Musterbeispiel für die Transformation einer Klatschgeschichte in Weltliteratur aus der moralischen Anstalt des Henry James. Mit einer durchaus typischen, gnadenlosen, fast misanthropisch zu nennenden Konsequenz spielt Henry James den Fall der sich aus Stolz und Vorurteil verpassenden Liebenden bis zu ihrem tödlichen Ende durch. Perfekt konstruiert ist dieses geradezu opernhafte Drama, perfekt organisiert ist die Symbolstruktur, sauber geschliffen die Spannungskurve, kein Gramm dramaturgisches Fett zu viel weist das Drama auf.

Von Gefühligkeit, von Romantik ist übrigens in den fünf Erzählungen dieses Bandes trotz ihres nicht eben geringen Herzschmerzaufkommens keine Spur. Aus der erzählerischen Halbdistanz, die Henry James, auch im wahren Leben ein Meister im Vermeiden von Nähe, nie verlässt, weht dem Leser vielmehr ein kühler erzählerischer Wind entgegen. James probiert Perspektiven durch, experimentiert mit Formen, vor allem lässt er mehr oder weniger Unbeteiligte des Spiels das Spiel erklären. Sie plaudern, sie konversieren mit dem Leser.

Ironie ist jenes Heizmittel, dank dessen der im Kern eiseskalte Ton dieser kunstvollen Konversationsstücke des Menschenskeptikers Henry James einem beim Lesen nicht das Blut in den Adern gefrieren lässt. Was wiederum gerade die beiden späteren Erzählungen überraschend modern macht. Benvolio, jener zwischen zwei Frauen, zwei Lebenshaltungen, zwei intellektuellen Welten hin- und hergerissene, hin- und herschwankende Dichter, geht uns in seiner ganzen Unentschiedenheit, seiner Zauderhaftigkeit ähnlich an die Nieren und auf die Nerven wie zwanzig Jahre später der ebenfalls zwischen zwei Welten, zwischen Stadt und Land, Moderne und Tradition sich zerreißende Emilio Brentani des italienischen Chefironikers Italo Svevo in dessen Frühwerk Senilitá. An ironischer Gnadenlosigkeit im Bloßstellen seines hybriden, manchmal hysterischen Künstlers kann es James in seiner nicht wenig selbstreferentiellen Allegorie durchaus mit Svevos frühmoderner Angestelltenanalyse aufnehmen.

Mit der 1884 (also nach Bildnis einer Dame und Washington Square) ausgerechnet im English Illustrated Magazine, dem Klatschmagazin seiner Zeit, erschienenen Erzählung Der Weg der Pflicht stellt James Svevos serpentinenhafte Erzählung allerdings leichthändig in den Schatten. Zur endgültigen Enthüllung der geradezu menschenverachtenden moralischen Mechanik der britischen Salongesellschaft wirft sich Henry James in vermutlich eher umfangreiche Frauenkleider und erzählt verkleidet als in London ansässige amerikanische Übel-Unke in einer geradezu ätzenden Tirade von der sehr serpentinenhaften Beziehung zwischen dem Bilderbuchgentleman Sir Ambrose Tester und der Bilderbuchlady Vandeleur. Auch das letztlich eine Klatschgeschichte. Denn sie können – stets unter Beobachtung ihrer Klassengenossen – zueinander nicht kommen, die Schöne und der Beau, gehen, gefangen in den gesellschaftlichen Fallstricken und zu schwach, sich ihrer zu entledigen (was durchaus denkbar wäre), ebenjenen«Weg der Pflicht», den Weg der lustvollen Entsagung. Wie in einem Brennspiegel versammelt die vertrackte und bestrickende Erzählung noch einmal fast den gesamten Katalog der James’schen Themen. Den amerikanischen Blick auf die seltsame Liturgie des britischen Gesellschaftslebens. Die Schwäche der Männer, deren Unterlegenheit im Geschlechterspiel Henry James mit einer beeindruckenden Galerie vorführt und als deren Musterexemplar Sir Ambrose ganz gut taugt. Das Sichverfehlen zweier Liebender, die Schwierigkeit eines moralischen Lebens. Das Ringen um persönliche Freiheit, um Leben in einem starren System, einer geschlossenen Gesellschaft, in der sich alles immer vor aller Augen abspielt, weswegen sich alle für alle Masken über Masken aufziehen müssen, so lange, bis sie selbst nicht mehr wissen, welche Maske sie nun tatsächlich selbst sind, welches Spiel sie nun tatsächlich nicht nur spielen, sondern leben wollen.

Wer das, wer den denn noch lesen wolle, hat mich mein Lieblingskollege gefragt, als er Sheldon M. Novicks umfassende Henry-James-Biographie auf meinem Schreibtisch liegen sah. Bitte, hab ich gesagt: Maskenspiele! Verfehlte Liebe, verfehltes Leben! Schwache, windelweiche Männer, starke, geradlinige Frauen! Moralisches Handeln in einer amoralischen Gesellschaft! Amerikanischer Blick auf europäisches Wesen! Ironie! Ich glaube, ich hab ihn bekehrt.

 

Elmar Krekeler

I

Seine glänzenden Aussichten verdankte er dem Tod seines Bruders, der keine Kinder hatte, ja sich beharrlich geweigert hatte, überhaupt zu heiraten. Wenn ich«glänzende Aussichten»sage, so meine ich die Aussicht auf die Baronetswürde, die seiner Familie einst als einer der ersten in England verliehen worden war,2 ein bezauberndes Haus aus dem siebzehnten Jahrhundert mit dazugehörigem Park in Dorsetshire und ein Vermögen, das ihm um die zwanzigtausend im Jahr einbringt. Eine derartige Ansammlung von Reichtum und Würden überwältigt mich noch immer, trotz einer, wie Sie es wohl nennen würden, gewissen Vertrautheit mit britischer Grandeur. Mein Gatte ist kein Baronet (sonst würden wir den Dezember vermutlich nicht in London verbringen), und er ist leider auch weit davon entfernt, über zwanzigtausend im Jahr zu verfügen. In den vollen Genuss all dieses Luxus kam Ambrose Tester natürlich erst nach dem Tod seines Vaters, der zu der Zeit, da ich den jungen Mann kennenlernte, noch quicklebendig war. Beweis dafür war die Art und Weise, in der er seinen Söhnen, wie der jüngere zu sagen pflegte, unablässig zusetzte und sie dazu drängte, endlich zu heiraten. Dieses ständige Drängen hatte, wie bereits erwähnt, im Fall von Francis, dem älteren, zu nichts geführt, dessen Liebe (wie sein Bruder mir höchstpersönlich erzählte) ganz dem Weinglas und dem Pharo-Tisch 3 gehörte. Er war kein Mensch, den man bewunderte oder nachahmte, und als Erbe eines ehrenvollen Namens und eines schönen Besitzes war er in der Tat äußerst unbefriedigend. Man hatte ihn zwar damals in der Armee unterbringen, ihn aber nicht auf Dauer dort festhalten können, und er war noch ein sehr junger Mann, als offenkundig wurde, dass jedwede elterliche Hoffnung auf eine«Laufbahn»Frank Testers ganz und gar eitel war. Der alte Sir Edmund hatte gedacht, die Ehe würde seinen Sohn vielleicht läutern, doch dazu bedurfte es eines unerbittlicheren Schicksals, und dieses ereilte ihn eines Tages in Monaco – er verbrachte die meiste Zeit im Ausland – nach einer Krankheit, die einen so raschen Verlauf nahm, dass keiner aus der Familie rechtzeitig eintraf. Er wurde ein für alle Mal bekehrt, er schied für immer dahin. Der zweite Sohn, der nun seinen Platz einnahm, war eine derartige Verbesserung, dass man unmöglich die Vortäuschung großer Trauer erwarten konnte. Sie haben ihn gesehen, Sie wissen, wie er ist, er hat kaum etwas Geheimnisvolles an sich. Da ich Ihnen diese Zeilen nie zeigen werde, schadet es niemandem, wenn ich hier schreibe, dass er ein bemerkenswert attraktiver Mann ist – oder jedenfalls war. Ich sage das nicht, weil er mir den Hof gemacht hätte, sondern weil er ihn mir gerade nicht gemacht hat. Er war immer in jemand anderen verliebt – meistens in Lady Vandeleur. Sie mögen sagen, das sei in England für gewöhnlich kein Hinderungsgrund; aber auch wenn es bei Mr Tester zwischen zwei Liebschaften kaum einmal eine Pause gab, hatte er doch in der Regel nie zwei gleichzeitig. Er hatte keine zweite Liebste in der Hinterhand, die, wie man hier sagt, gleichsam als«zweite Besetzung»hätte einspringen können. Er pflegte mich über den Stand seines Gefühlslebens eingehend auf dem Laufenden zu halten – diesbezüglich blieb er nicht im Geringsten vage. Wenn er verliebt war, dann wusste er es und frohlockte darüber, war er es wie durch ein Wunder einmal nicht, bedauerte er es zutiefst. Er ließ sich mir gegenüber des Langen und Breiten über die Reize anderer Leute aus, was für mich viel interessanter war, als wenn er versucht hätte, das Gespräch auf meine eigenen zu lenken, über die ich mir keinerlei Illusionen machte. Er erzählte mir einige sonderbare Dinge, und ich darf wohl sagen, dass ich eine beträchtliche Zeit lang mein wertvollstes Wissen über die englische Gesellschaft diesem lebensfrohen jungen Mann verdankte. Ich vermute, er sah in mir eine Frau, die ihm in der Regel gute Ratschläge erteilte, denn fest steht, dass er mich in sehr ungewöhnlichen Misslichkeiten eindringlich um weisen Beistand bat. In jüngeren Jahren steckte er fortwährend in Schwierigkeiten; er tappte in Fettnäpfchen, wie Kinder in Pfützen tappen. Er forderte sie heraus, er zog sie an; und erzählte er einem dann, wie er in die Bredouille geraten war (und er erzählte immer die ganze Wahrheit), vermochte man kaum zu glauben, dass ein Mann so dumm sein konnte.

Und doch war er keineswegs ein Dummkopf; er stand in dem Ruf, sehr klug zu sein, und fraglos ist er sehr schlagfertig und unterhaltsam. Er war lediglich unbekümmert und ungewöhnlich natürlich, so natürlich, als wäre er ein Ire. In der Tat ist er von allen Engländern, die ich kennengelernt habe, der mit dem irischsten Naturell (auch wenn es sich in letzter Zeit weitgehend verloren hat). Ich pflegte zu ihm zu sagen, es sei ein Kreuz, dass er nicht mit irischem Akzent spreche, denn dann wären wir gewarnt und wüssten, mit wem wir es zu tun haben. Darauf erwiderte er, wäre er irisch genug, um einen irischen Akzent zu haben, wäre er umgekehrt wahrscheinlich Engländer – was mir eine wunderbar typische Antwort für ihn schien. Wie die meisten jungen Briten seines Standes ging er, noch ehe er zwanzig war, nach Amerika, um dieses großartige Land kennenzulernen, und er hatte einen Brief an meinen Vater dabei, der Gelegenheit hatte, ihm, natürlich à propos neuerlicher Misslichkeiten, einen beträchtlichen Dienst zu erweisen. Dies führte dazu, dass er mich nach seiner Rückkehr aufsuchte  – ich lebte damals bereits seit drei oder vier Jahren hier; und dies wiederum führte dazu, dass wir, im Laufe der Zeit, enge Freunde wurden, ohne dass es, wie ich schon sagte, je auch nur die geringste Liebelei zwischen uns gegeben hätte. Aber ich darf das nicht allzu sehr beteuern, sonst errege ich noch Ihren Verdacht.« Wenn er so vielen Frauen den Hof gemacht hat, warum sollte er dann Ihnen nicht auch den Hof gemacht haben?» – irgendeine Frage dieser Art werden Sie wahrscheinlich stellen. Ich habe sie bereits beantwortet:«Just all dieser Verpflichtungen wegen.»Er konnte schließlich nicht allen den Hof machen, und in meinem Fall hätte er nicht das Geringste davon gehabt. Seine Schwäche war liebenswürdiger als die seines Bruders, und er hat sich immer völlig korrekt verhalten. Wie korrekt er sich in einer sehr wichtigen Angelegenheit verhalten hat, genau darum geht es in meiner Geschichte.

Er hätte eigentlich die Diplomatenlaufbahn einschlagen sollen, war schon Gesandtschaftssekretär in irgendeiner deutschen Hauptstadt gewesen; nach dem Tod seines Bruders kehrte er jedoch nach Hause zurück und tat sich nach einem Sitz im Parlament um. Er bekam ihn ohne große Mühe und hat ihn seitdem inne. Keiner brächte es übers Herz, ihn hinauszuwerfen, wo er doch so gut aussieht. Es ist eine großartige Sache, von einem der am besten aussehenden Männer Englands vertreten zu werden, es bewirkt so positive Gedanken. Jeder wäre erstaunt, wenn es sich bei dem Wahlkreis, den er vertritt und dessen Namen ich ständig vergesse, nicht um einen ausnehmend hübschen Ort handelte. Ich habe ihn zwar nie gesehen, und mir ist nicht bekannt, dass er nicht hübsch wäre, aber ich bin sicher, sein Abgeordneter wird jede Revolution überleben. Die Leute haben offenbar das Gefühl, wenn sie ihn nicht behielten, würde irgendein Ungeheuer gewählt. Sie erinnern sich an sein Äußeres, liebe Landsmännin, an seinen hellen Teint und wie großgewachsen und stark er ist und dass er immer lacht, ohne dabei dümmlich zu wirken. Er ist genau der junge Mann, den Mädchen in Amerika – an der Stelle des Helden – vor sich sehen, wenn sie englische Romane lesen und versuchen, sich etwas sehr Aristokratisches und Angelsächsisches vorzustellen. Eine«gescheite Bostonerin»,4 der Ambrose Tester einmal in meinem Haus begegnete, rief, sowie dieser den Raum verlassen hatte:«Endlich, endlich, erblicke ich ihn, den Schnurrbart von Roland Tremayne!»

« Von Roland Tremayne?»

« Erinnern Sie sich nicht, wie häufig dieser Bart in ‹Eine verbotene Liebe› erwähnt wird und wie prächtig und golden er war? Nun, bis jetzt habe ich ihn nicht gesehen – bis jetzt!»

Wären Sie Ambrose Tester nicht selbst schon begegnet, würde ich ihn am treffendsten beschreiben, wenn ich sagte, er sähe aus wie Roland Tremayne. Ich weiß nicht, ob jener Held ein« überzeugter Liberaler»war, doch als solcher gilt Sir Ambrose. (Er hat vor zwei Jahren die Nachfolge seines Vaters angetreten, aber darauf komme ich später noch zu sprechen.) Er ist nicht gerade das, was ich als nachdenklich bezeichnen würde, aber er interessiert sich – oder glaubt, er interessiere sich – für eine Menge Dinge, von denen ich nichts verstehe und über die etwas in den Zeitungen steht, was man aber überspringt – Freiwillige, Wahlkreiseinteilung,5 sanitäre Zustände, 6 die parlamentarische Vertretung von Minderjährigen – oder waren es Minderheiten? Als ich vorhin sagte, er lache fortwährend, hätte ich ergänzen sollen, dass er es nicht tut, wenn er mit Lady Vandeleur spricht. Sie lässt ihn ernst werden, beinahe feierlich; womit ich aber nicht sagen will, sie langweile ihn. Weit davon entfernt; doch in ihrer Gesellschaft ist er nachdenklich; er zupft an seinem goldenen Schnurrbart, und«Roland Tremayne»sieht aus, als wäre sein Blick nach innen gerichtet, als sinne er über ihre Worte nach. Er selbst sagt nicht viel; sie allein bestreitet die Unterhaltung – dabei pflegte sie sonst so schweigsam zu sein. Sie hat ihm eine Menge zu sagen; sie schildert ihm die Reize, die sie auf dem Weg der Pflicht entdeckt. Ich glaube, er hält im Parlament nur selten eine Rede, aber wenn er es tut, dann aus dem Stegreif, und sie ist unterhaltsam und vernünftig, und alle sind davon angetan. Er wird nie ein großer Staatsmann werden, aber er wird den Ruf von der Sanftheit Dorsetshires noch befördern und, kurz gesagt, ein äußerst galanter, liebenswürdiger, wohlhabender, typischer englischer Gentleman bleiben mit einem guten Namen, einem Vermögen, einem vollendeten Äußeren, einer hingebungsvollen, verstörten kleinen Frau, einer Vielzahl von Erinnerungen, einer Vielzahl von Freunden (darunter Lady Vandeleur und ich) und, auch wenn es angesichts all dieser Vorzüge befremdend erscheinen mag, mit so etwas wie einem Gewissen.