Ulrich Schultz-Venrath, Helga Felsberger

Mentalisieren in Gruppen

MENTALISIEREN IN KLINIK UND PRAXIS

Herausgegeben von Ulrich Schultz-Venrath

Mentalisieren ist die Fähigkeit, subjektive Neigungen und Motive des oder der Anderen und von sich selbst gleichermaßen wahrzunehmen und wertzuschätzen. Mentalisieren wird als wesentliche menschliche Kompetenz angesehen.

Die Fähigkeit des Mentalisierens ist bei verschiedenen psychischen Störungen unterschiedlich stark eingeschränkt oder nicht vorhanden. Dies hat häufig schwerwiegende Folgen. Die Mentalisierungsfähigkeit wieder herzustellen ist eine zentrale therapeutische Aufgabe in den verschiedenen Psychotherapien.

Die einzelnen Bände der Reihe stellen in kompakter Form die Anwendungsmöglichkeiten mentalisierungsbasierter Maßnahmen auf wichtigen Störungsfeldern vor.

Die Einzelbände behandeln folgende Themen:

1. Band: Mentalisieren in Gruppen

2. Band: Mentalisieren bei Depressionen

3. Band: Mentalisieren bei Kindern und Jugendlichen

4. Band: Mentalisieren bei Somatisierungsstörungen

Weitere Bände in Vorbereitung

Impressum

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-96156-0

E-Book: ISBN 978-3-608-10045-7

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20323-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Danksagung

Einführung

Kapitel 1
Was ist das Besondere an Gruppen?

1.1 Allgemeine Rahmenbedingungen von Gruppen im klinischen Alltag

1.2 Besonderheiten von Gruppen im klinischen Alltag

Kapitel 2
Grundlagen des Mentalisierens und der Mentalisierungsbasierten Psychotherapie in Gruppen (MBT-G)

2.1 Neurobiologische Wechselwirkungen

2.2 Frühe Sprachentwicklung und Gruppenbindung

2.3 Bindung, Mentalisieren und epistemisches Vertrauen

2.4 Zur Bedeutung der Affektregulation für Gruppen und Selbstentwicklung

Affektspiegelung in Gruppen – die Gruppe als Spiegelsaal

Kongruentes und markiertes Spiegeln

Entwicklung eines falschen oder fremden Selbst durch nicht kongruentes und unmarkiertes Spiegeln

2.5 Anzeichen von Störungen des Mentalisierens in psychodynamischen Gruppenpsychotherapien

Prämentalistische Modi im Gruppengeschehen

2.6 Gemeinsamkeiten mit und Unterschiede zu psychodynamischen Gruppenpsychotherapien

Kapitel 3
Wesentliche Prinzipien Mentalisierungsbasierter Gruppenpsychotherapie (MBT-G)

3.1 Engagement, Interesse und freundliche Zuwendung

3.2 Explorieren, Neugier und die Haltung des Nichtwissens

3.3 Hinterfragen ungerechtfertigter Überzeugungen

3.4 Regulieren von Erregung bzw. erhöhter Anspannung

3.5 Anerkennen von positivem Mentalisieren

3.6 Umgang mit dem Als-ob-Modus

3.7 Umgang mit dem Äquivalenz-Modus

3.8 Fokussieren auf Emotionen und Prozess

3.9 Einsatz der »Stop and rewind«-Technik

3.10 Fokussieren auf die Beziehung zwischen Therapeut und Gruppenmitgliedern

3.11 Arbeiten an den Grenzen der Gruppe

3.12 Regulieren der Gruppenphasen

3.13 Initiieren und Durchsetzen von Sprecherwechsel

3.14 Unterstützen beim Mentalisieren und Identifizieren interpersoneller Ereignisse in der Gruppe

3.15 Identifizieren und gelungenes Mentalisieren von Ereignissen in der Gruppe

3.16 Arbeiten an der Autorität (Managing authority)

3.17 Stimulierende Diskussionen über Gruppennormen

3.18 Kooperieren mit dem Ko-Therapeuten

3.19 Selbstöffnung (Self disclosure)

Kapitel 4
Modifikationen in MBT-G

4.1 MBT-G für Patienten aus dem Psychose-Spektrum

Dysfunktionales Mentalisieren

Mentalisierungsbasierte therapeutische Prinzipien bei Psychosen

MBT-G in der Psychosenbehandlung

Mentalisieren der Persönlichkeit

Wer bin ich?

Stimmungen verstehen

4.2 »Social dreaming« – Eine »neue« Form, Mentalisieren zu fördern

Kapitel 5
Fort- und Weiterbildung oder Wie lernt man Mentalisieren in Gruppen?

5.1 MBT-Adhärenz- und -Kompetenz-Skalen

5.2 Bemerkungen für die Supervision

Kapitel 6
Forschungsstand und Forschungsfragen

Anmerkungen

Literatur

Danksagung

Dieses erste Buch einer mehrbändigen Reihe zum Thema »Mentalisieren in Klinik und Praxis« wäre ohne die freundliche Beharrlichkeit des Cheflektors Heinz Beyer niemals zu Stande gekommen. Ihm gebührt der größte Dank. Ebenso herzlich möchten wir uns für die freundschaftlich-kritischen Hinweise bezüglich der verschiedensten Versionen des Manuskripts bei Peter Döring, Ludger Hermanns, Rolf Haubl, Dorothee Venrath und Herwig Felsberger, aber auch bei den zahlreichen Mitarbeitern der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Evangelischen Krankenhaus Bergisch Gladbach bedanken, die uns immer wieder darin unterstützten, die verschiedenen Kapitel zu verfeinern.

Es gehört vielleicht zu den Besonderheiten dieser Reihe, dass sie nicht mit den Grundlagen des Mentalisierungsmodells startet, sondern mit »Mentalisieren in Gruppen«, das selbst als Grundlage eine neue Perspektive für die weitere Entwicklung von Psychotherapien eröffnet. Dabei gilt es, die verschiedenen nationalen Besonderheiten der Entwicklung des Mentalisierungsmodells in Großbritannien, Frankreich, Deutschland und den skandinavischen Ländern zu berücksichtigen, weshalb wir Anthony Bateman, Peter Fonagy, Siegmund Karterud und Steiner Lorentzen ebenfalls sehr zu Dank verpflichtet sind, die zu jedem Zeitpunkt unterstützend waren. So ist es vielleicht kein Zufall, dass im selben Monat, in dem dieses Buch fertig gestellt wurde, sich mit über 20 Teilnehmern ein deutschsprachiges »Netzwerk Mentalisieren« gegründet hat, um Wissenschaft und Lehre bezüglich des Mentalisierungsmodells weiter zu verbreiten.

Einführung

Wer keine Fragen mehr stellt, ist tot

(Mittelstraß 2014, S. 6)

Gruppen sind wie ein Spiegelsaal, der die Möglichkeit zu multipersonaler Resonanz eröffnet. Psychotherapiegruppen bieten in diesem Sinne einen idealen Ort zum Mentalisieren. Der Soziologe Hartmut Rosa (2016) spricht von der Sehnsucht nach Widerhall und verortet die Entfremdung des Menschen in der Moderne im Abhandenkommen von Resonanz. Resonanzverlangen und Resonanzsensibilität seien anthropologisch verankert. Eine existenzielle Grundangst in modernen Gesellschaften sei daher die Angst vor einem umfassenden Resonanzverlust, dem Verstummen der Welt. In der Soziologie dient der Resonanzbegriff heute als Metapher zur Beschreibung von Beziehungsqualitäten, für die sich Psychotherapeuten aller Art schon immer interessiert haben. Entwicklungspsychologie und Bindungsforschung haben das Verständnis der psychischen Entwicklung des Menschen in den letzten Jahrzehnten außerordentlich bereichert, was sich in verschiedenen theoretischen Entwicklungen psychodynamischer und kognitiv-behavioraler Psychotherapien niederschlug.

Die theoretischen Ausrichtungen fußen auf den Psychotherapien des 20. Jahrhunderts, die mit der Entwicklung und Gründung sehr unterschiedlicher und mächtiger Schulen einhergegangen waren. Trotz aller Differenzen ist dieser Epoche eine primäre Ausrichtung auf die Entwicklung des Individuums gemeinsam. So blieb es den jüngeren Psychotherapiewissenschaften vorbehalten, angesichts der psychosozialen Erkenntnisfortschritte ihren Blick auf die Bedeutung von Gruppen und deren Potenzial zu richten (Pines 2015). Weiteres wissenschaftstheoretisches und praktisches Potenzial ist in dem von der Arbeitsgruppe um Fonagy entwickelten Mentalisierungsmodell angelegt, auch wenn die britischen Pioniere gerne betonen, nichts Neues erfunden zu haben, da alle erfolgreichen Psychotherapien sich implizit mit der Förderung des Mentalisierens beschäftigen. Unseres Erachtens wurde mit der Definition von »Mentalisieren« als intrapsychischem und gleichzeitig interpersonellem Prozess ein neues Paradigma entwickelt, das besonders für Gruppenprozesse und Gruppenpsychotherapien aller Art geeignet ist. Das Mentalisierungsmodell ermöglicht eine Modernisierung der Gruppenanalyse und der verschiedenen anderen Gruppenpsychotherapien, ähnlich wie der Intersubjektivismus die Modernisierung der Psychoanalyse und der verschiedenen anderen Psychotherapien begünstigt. Dabei war Gruppenanalyse aufgrund ihrer Theorie und Technik schon immer der relationalen Psychoanalyse nahe. Die Modernisierung besteht u. a. darin, dass das zu behandelnde Problem aus einer Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten und die Interventionen genauer auf die Mentalisierungsfähigkeit des Patienten wie des Therapeuten, unter besonderer Beobachtung von Brüchen des Mentalisierens, abgestimmt werden.

Resonanzverlangen und Resonanzsensibilität (Rosa 2016) sind eine Erweiterung des psychodynamischen Konzepts der »requests for containment« (Bion 1961 [1990]). Bions Begriff des »Containens« bezieht sich auf die Funktion des Aufnehmens und »Verwandelns« unerträglicher seelischer Inhalte in erträgliche im Rahmen von primären Bindungsbeziehungen. Rosa hingegen spricht von einer Anverwandlung der Welt, womit er ein wechselseitiges Verwandeln meint, was konstitutiv des oder der Anderen bedürfe. Alles, was wir in Gruppen einbringen, wartet jedoch nicht nur auf »Containing«, sondern auf Resonanz, wie es etwa in der regen Nutzung der sozialen Medien sichtbar wird.

Das Interesse an Gruppenbildungen in den sozialen Medien drückte sich unter anderem an der plötzlich aufkommenden Diskussion zur »Schwarmintelligenz« (Enzensberger 2015) oder »kollektiven Intelligenz«, in der Tierwelt, aus. Von anderen wurde dagegen ein Bedeutungsverlust bzw. Niedergang des Gruppenparadigmas behauptet (König 2015; Putnam 2000). Allerdings lässt sich dies mit dem Google Ngram Viewer zumindest bis 2008 – ein ausgeklügeltes Instrument für Data Mining zur Berechnung der prozentualen Häufigkeit benutzter Begriffe in Titeln der Bücherwelt – nicht so deutlich im deutschen als im angelsächsischen Sprachraum belegen. Der Begriff »Mentalisierung« scheint dabei gerade eine Reihe von Gruppenbegriffen zu überholen, was ein Hinweis darauf ist, dass sich das Verständnis und die Funktion von Gruppen seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts mit dem Eintritt der digitalen Revolution dramatisch verändern.

Der Gebrauch sozialer Medien erfordert von uns, sich über »mental states« und Motivationen anderer Nutzer Gedanken zu machen und zu mentalisieren (Meshi et al. 2015), etwa wenn ein Nutzer dieser Medien sich vor dem Versenden seiner »Informationen« Gedanken darüber macht, wie der oder die Adressat(en) darauf reagieren könnte(n). Soziale Medien haben sowohl im Online- als auch im Offline-Modus die klassischen kommunikativen Prozesse wesentlich beeinflusst. Nutzer »posten« Informationen, Bilder und Gedanken über sich selbst ins »Nirwana« der sozialen Welt. Sie erwarten und erhalten umgehend von irgendjemandem in der Welt eine Antwort, den sie gar nicht kennen und der mitteilt, dass es ihm ähnlich oder auch so gehe. Darüber hinaus wird – vermutlich mehr als in anderen sozialen Verbindungen – verstärkt das neuronale Belohnungs- bzw. Bestrafungssystem durch positive und negative Feedbacks angesprochen, etwa durch ein »like« oder »dislike« bei Facebook, einer »friend«-Anfrage oder beim Lesen der Mitteilungen von anderen.

Möglicherweise hat die zunehmende Vernetzung in den sozialen Medien auch zu einem erstaunlich positiven Ergebnis einer Repräsentativerhebung geführt, in der die Einstellungen und Erfahrungen von Bundesbürgern zu bzw. mit Gruppen in Alltag, Freizeit und Beruf ebenso untersucht wurden wie die Bereitschaft, Gruppenpsychotherapie entweder selbst in Anspruch zu nehmen oder hilfsbedürftigen Freunden/Angehörigen zu empfehlen (Strauß et al. 2015). Die Ergebnisse dieser Befragung könnten durchaus als Basis für einen neuen »Schub« für Gruppenpsychotherapien gewertet werden, ebenso wie die jüngsten gesundheitspolitischen Absichtserklärungen und Maßnahmen, Gruppenpsychotherapie zu fördern.

Demgegenüber ist die »Gruppe« als zentraler entwicklungspsychologischer Theorie-»Baustein« in den meisten der etwa 250 existierenden Psychotherapien noch nicht angekommen: Das Primat der Mutter-Kind-Dyade dominiert die Theorien. Dies ist angesichts der Forschungserkenntnisse, dass die Selbstentwicklung eher mit dem Sammeln von Erfahrungen in gruppalen Beziehungen als in der Dyade vor sich gehe, überraschend (Gergely & Unoka 2011). Weitgehend unbekannt geblieben sind auch die Bemühungen von Esther Bick, geb. Wander (1902 – 1983), die sich in ihrer Dissertation über »Gruppenbildung im zweiten Lebensjahr« dafür interessierte, »welche innerpsychischen Prozesse im Verhalten der Kinder zum Ausdruck kommen, in welcher Weise Kinder innerpsychische Prozesse von anderen Kindern erfassen, welchen Einfluss das Erfassen der psychischen Prozesse anderer auf das Verhalten von Kindern hat und wie miteinander in Beziehung stehende Kinder durch ihr Verhalten ihrerseits wiederum auf die innerpsychischen Prozesse der jeweils anderen einwirken« (Datler 2009, S. 45; Wander 1935).

Die durch Bick gruppal angelegte Säuglingsbeobachtung wurde allerdings in der jüngeren Ausbildung von Kinder- und Erwachsenen-Psychotherapeuten auf die Beobachtung einer Dyade mit einer damit einhergehenden Verpflichtung des Beobachters zur Neutralität reduziert. Die intersubjektive Wirksamkeit des Beobachters auf das Baby und auf die Eltern war damit ebenso aus dem Blick geraten wie der Einfluss anderer Kinder und der gesamten Familie auf die Selbstentwicklung. Dies hat Ludwig-Körner (2015) unter dem Titel »Und wer denkt an das Baby?« scharfsinnig problematisiert.

Es ist inzwischen gut dokumentiert, dass es offensichtlich schon in den Anfängen der Psychoanalyse massive Ängste vor Gruppe(n) gab, obwohl andererseits einzelne Psychoanalytiker, wie z. B. Trigant Burrow, der (analytischen) Gruppe eine besondere Wirkung zuschrieben (Schultz-Venrath 2015). Nachdem Trigant Burrow (1875 – 1950), immerhin Präsident der amerikanischen psychoanalytischen Vereinigung (APA), in den 20er Jahren vertreten hatte, dass »die Analyse des einzelnen Elements […] der Erhaltung des Ganzen entgegengesetzt« sowie »die Kontinuität der Gruppe und die Isolierung des Individuums […] ihrem Wesen nach sich gegenseitig ausschließende Prozesse« (Burrow 1926, zit. in Schultz-Venrath 2015, S. 20) seien, bekam er massiven Gegenwind seitens des psychoanalytischen Establishments. Freud äußerte umgehend, aber kryptisch seine pessimistisch-ablehnende Haltung: »Ich glaube nicht, dass die Analyse eines Patienten auf irgendeine andere Weise als in der familiären [!] Situation, d. h. begrenzt auf zwei Personen [?], durchgeführt werden kann. Die Massensituation wird entweder sofort in einem Führer resultieren und solchen, die durch ihn geführt werden, was (zwar) bedeutet, dass es einer familiären Situation nahe kommt, die aber mit großen Schwierigkeiten in der Funktion des Ausdrucks und unnötigen Komplikationen von Eifersucht und Rivalität verbunden ist, oder es bildet sich eine ›Bruderhorde‹, in der jeder dasselbe Recht hat und ein analytischer Einfluss, so fürchte ich, unmöglich ist« (Campos 1992, S. 8).

In treuer Gefolgschaft zu Freud befürchtete wenig später Ferenczi, dass Burrows Technik der Gruppen-Analyse »auch ihn bald unter die Abtrünnigen bringen« dürfte (Falzeder & Brabant 2005, S. 135), was wenige Jahre später tatsächlich zu seinem Ausschluss aus der von ihm mitbegründeten APA führte.

So dauerte es bis zu den 1970er Jahren, dass das Thema Gruppe in den bis dahin dominierenden Theorien zur Mutter-Kind-Dyade von mehreren Autoren, erstmals wahrscheinlich durch die Arbeitsgruppe um den schottischen Kinderpsychologen Colwyn Trevarthen (1979), erfolgreich in die Entwicklungspsychologie eingebracht werden konnte. Plötzlich öffnete man sich der Einsicht, dass ein Individuum schon vor seiner Geburt vital durch die Gemeinschaft geprägt sei, die es erziehe, wozu auch die Väter gehörten (Foulkes & Pines 1990, S. 152). Ebenso konnte jetzt den sogenannten »Gleichaltrigenbeziehungen« (Peer-Beziehungen) und den Gruppenbildungen unter Kindern eine zusätzliche Entwicklungsressource zugestanden werden. Die Bedeutung des Unterschieds zwischen asymmetrischen Beziehungen (zwischen Erwachsenen und Kindern) und symmetrischen Beziehungen (zwischen Kindern) wurde als relevant für die Moralentwicklung angesehen (Brandes 2008, S. 14 f.).

Langsam, aber stetig setzte sich schließlich zumindest in Teilen der psychodynamisch1 orientierten »community« die Erkenntnis durch, dass die gesunde Entwicklung eines Kindes nicht nur einer stabilen Primärbeziehung, sondern mindestens ebenso bedeutsam einer Gruppe bedarf: »Da das Selbst nur im Kontext mit anderen existiert, [ist] die Selbstentwicklung gleichbedeutend […] mit dem Sammeln von Erfahrungen des Selbst in Beziehungen« (Fonagy et al. 2004, S. 48). Diese Erkenntnis belegt auch schon ein einfaches afrikanisches Sprichwort, dessen Herkunft und Alter nicht bekannt ist: »Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf«. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive ist die Fähigkeit der primären Bindungsperson, den mentalen Zuständen des Babys einen Sinn zuzuschreiben, in hohem Maße beeinflusst von folgenden Faktoren:

Dabei sind weniger die real gemachten Erfahrungen ausschlaggebend als das Gelingen der Reflexion während der eigenen Elternschaft. Entscheidend für ein förderliches Bindungsverhalten ist außerdem das elterliche Vermögen eine mögliche Zukunft des Kindes zu mentalisieren.2

Neben Trigant Burrow hat noch ein weiterer Pionier der Gruppenanalyse, Siegmund Heinrich Foulkes, schon lange vor diesen Fragen das moderne Intersubjektivitätstheorem voraussehend formuliert: »Wir können kurzerhand sagen, dass alles, was mental ist, von Anfang an eine Angelegenheit von mehr als einer individuellen Person und eines Gehirns ist« (Foulkes 2004, S. 111). Foulkes’ Interesse an Gruppe(n) entstand nicht als logische Folge der Psychoanalyse, sondern durch die Erkenntnis, dass eine »Neurose« keine individuelle, sondern eine multipersonelle Manifestation, sozusagen eine »Soziose«3, sei. Dies führte ihn Ende der 60er Jahre schließlich auch zu der Überzeugung, dass Gruppenanalyse kein Kind der Psychoanalyse, allenfalls aus historischer Perspektive, sei (Foulkes 1969 [2001], S. 27).

Inzwischen gibt es mit der Entdeckung der Spiegelneuronen-Netzwerke durch die Arbeitsgruppe um Giacomo Rizzolatti Anfang der 90er Jahre (Di Pellegrino et al. 1992; Rizzolatti et al. 1999; Rizzolatti & Sinigaglia 2008) sogar eine neurobiologische Grundlage für die Bedeutung der Entwicklung eines Individuums in Gruppen, da nach neueren Erkenntnissen nicht nur motorische, sondern auch »audiovisuelle Spiegelneurone« die Ausführung bzw. Imitation sehr ähnlicher Handlungen ermöglichen. Diese Entdeckungen sind unabhängig vom noch ungelösten Streit innerhalb der neurowissenschaftlichen »community« gültig, welche neurobiologischen Systeme beim Menschen zum eigentlichen System der Spiegelneurone gehören und inwieweit auch die Empathie-Fähigkeit damit verbunden ist. Ihr gemeinsames zentrales Funktionskriterium ist, dass sie im Gehirn des Beobachters eine innere Simulation von Handlungen produzieren, die – als tatsächlicher Vollzug – von einem anderen Menschen wahrgenommen wird. Diese Simulation begründet u. a., warum wir in der Regel die Handlungen, die andere vollziehen, intuitiv verstehen, ohne genauer zu wissen, ob der Beobachter auch fühlt, was der oder die andere(n) fühlen. Obwohl diese Kompetenz des Spiegelneuronen-Netzwerks den ersten Schritt für Mentalisieren begründet, ist das Mentalisierungsnetzwerk, das für höhere kognitive Funktionen erforderlich ist, neurobiologisch an anderen Orten im Gehirn verankert (vgl. Kap. 3.1).

Mentalisieren in Gruppen ist keinesfalls nur eine therapeutische Angelegenheit in Klein-, Median- und Großgruppen4 sowie in Paar- und Familientherapien, sondern findet sich in verschiedenen Psychotherapien und ist auch eine soziale und hoch politische Angelegenheit. Gruppen mit großer Intoleranz gegenüber anderen Gemeinschaften, die ihre negativen Affekte (wie z. B. Fremdenhass) zur gruppalen Identitätsentwicklung nutzen und instrumentalisieren, wie z. B. radikale politische Parteien, Sekten oder sogenannte Anti-Gruppen (Nitsun 1996), reagieren in spezifischen Belastungs- bzw. Angstsituationen mit einem Zusammenbruch des Mentalisierens, insbesondere wenn sie sich bedroht fühlen.

Da Menschen primär soziale Wesen sind, deren Individualität erst mit der Renaissance, und intensiviert mit der Industriellen Revolution, in den Vordergrund rückte, ist das Ganze, die Gruppe, bedeutsamer als seine Teile, die Individuen (Foulkes 1975; Lorentzen et al. 2015). Das Individuum ist »nur« aus biologischer Perspektive die kleinste Einheit, während die Gruppe sozialpsychologisch und kulturanthropologisch gesehen die kleinste Einheit darstellt. Ein Mensch ist ohne Gruppenzusammenhang nicht denkbar, er wird in eine Familie geboren. Schon während der Schwangerschaft ist eine gute Umgebung sowohl für die Mutter als auch für ihr Ungeborenes unabdingbar, um eine gedeihliche Entwicklung, auch neurobiologisch, sicherzustellen. Die Bedeutung des Gruppenkontextes ist nach der Geburt nicht geringer, insbesondere für die Sprachentwicklung (s. Kap. 3.2). Ein Baby wird in der Regel in eine Gruppe, in die Herkunftsfamilie mit ihren familiären Ästen und Ablegern, hineingeboren. Insofern liegt die Struktur der Gruppe sowohl konzeptionell als auch zeitlich vor der Mutter-Kind-Dyade, deren spezifisches Gelingen (»attunement«) vom schon bestehenden familiären Gruppenkontext entscheidend abhängig ist (Schultz-Venrath 2011). So stellt die Familie prä- und postnatal die kleinste Gruppe dar, der in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts eine hervorgehobene, sozialpolitisch und sozialrechtlich mehr oder weniger schützende »Hülle« für die Mutter-Vater-Kind-Beziehung bereitgestellt wird. »Daneben gibt es eine Reihe früher Gruppenerfahrungen für Kleinkinder, wie etwa in Kinderkrippen, Krabbelgruppen, Kindergärten, bei Tagesmüttern und mit weiteren Familienmitgliedern (Großeltern, Onkeln und Tanten)« (Schultz-Venrath 2013 [2015], S. 110). Mit zunehmendem Alter wird die Beziehung des Kindes/des Jugendlichen zur Gruppe auch äußerlich deutlich. In Kindergärten und Schulen werden diese Gruppen noch von Erwachsenen geleitet, die peer-groups der Jugendlichen allerdings organisieren sich bereits selbst. Kinder und Jugendliche sind aktuell spezifische Adressaten der technischen Revolution geworden, die mit rasantem Tempo über das Internet ständig neue Gruppenformate kreiert – etwa in Form von sozialen, beruflichen und wissenschaftlichen Netzwerken (z. B. »always online«, »24/7«) oder Spielgruppen. Diese Veränderungen werfen eine Reihe von Fragen auf: Welchen Einfluss üben diese neuen Gruppenformate auf die Entwicklung des Individuums und von Gruppen aus? Welchen Platz werden klassische Gruppenpsychotherapien und Psychotherapien in Zukunft in dieser Gesellschaft noch einnehmen, wenn »Skype«, »Zoom« und ähnliche Möglichkeiten den geschützten Raum in Klinik und Praxis ersetzen sollten (Nitsun 2013, 2015 a; Weinberg 2014)? Insofern haben sich die ehemals »vier seelischen Bereiche« – Gruppenzugehörigkeit, Zweierbeziehung, trianguläre Konstellation und die Fähigkeit, allein zu sein –, die jeder Mensch in Einklang bringen muss (Kutter 1984, S. 165), um einen fünften seelischen Bereich – das Virtuelle – erweitert.

Erwachsene wechseln beinahe täglich zwischen selbstorganisierten und fremdgeleiteten Gruppen, wobei die Notwendigkeit des Mentalisierens zwischen den verschiedenen Gruppen ziemlich schwankt und uns die Gruppenverfasstheit des Menschen nur in ganz bestimmten Situationen bewusst wird. Der Säugling »weiß« (noch) nichts davon – er kann noch nicht mentalisieren – und auch als Erwachsene müssen wir uns die unterschiedlichen Gruppen, denen wir angehören, meist nicht bewusst machen. Trotzdem wirkt hier schon der von Foulkes eingeführte Begriff der »Grundlagenmatrix« (»foundation matrix«), um den gemeinsamen kulturellen Hintergrund von Gruppenteilnehmern zu charakterisieren, wie zum Beispiel, dass wir geboren sind, einen Körper haben, in einer Gruppe sozialisiert und von Kommunikation abhängig sind sowie eine gemeinsame Sprache teilen. Dabei spielt der Körper in Gruppen eine hervorgehobene, meist wenig wahrgenommene Rolle, weil jede Erinnerung auch ein mit dem seinerzeitigen Erleben verbundenes körperliches Korrelat hat.

Menschen sind sowohl phylogenetisch, ontogenetisch als auch aktualgenetisch (d. h. im aktuellen Prozess des Hörens und Sprechens innerhalb einer Sprachgemeinschaft) auf neurophysiologischer Ebene mit ihrer sprachlichen Umgebung verwoben. Ihre gemeinsamen intentionalen Sprech- und Hörhandlungen sind zunächst auf einer körperlichen Ebene Teil des Habitus – im Sinne von Maurice Merleau-Ponty (1945) und Norbert Elias (1939 a, b). Ähnlich sieht Waldenfels (1992) unsere Existenz als eine sich ständig in einer fungierenden Intentionalität äußernde, die sowohl in der Wahrnehmung als auch in allem motorischen, affektiven, sprachlichen und sozialen Verhalten – schon immer im Gruppenkontext – tätig ist. So wie in den Gefühlen manifestiert sich im Hören und Sprechen, in der Sprachperformanz, stets ein Bezug zur personalen leiblichen Existenz mit dem Anderen. In der zwischenleiblichen Verbundenheit über die gesprochene Sprache erweisen wir uns als soziale Wesen, die ihre Existenz in Resonanz mit anderen handelnd und sinnerzeugend hervorbringen. In diesem Sinne ist Mentalisieren auch die neugierige Bereitschaft des Sich-anstecken-, des Sich-überraschen-, des Sich-beeinflussen- und des Sich-bereichern-Lassens in der Begegnung mit dem Anderen, was von großer Bedeutung für die Entwicklung des Selbst ist. Ohne Resonanz kann sich kein »Sich-die-Welt-Anverwandeln« im Sinne Rosas (2016) ereignen.

Besonderes Interesse weckte in jüngerer Zeit die Frage, wie man sich die Entwicklung des Mentalisierens sowohl beim Einzelnen (Taubner 2015; Taubner & Sevecke 2015; Weinberg 2006) als auch in der Gruppe (Karterud 2012) psychologisch und neurobiologisch vorstellen kann, die mit dem Theory of Mind-Konzept (ToM) Ende der 70er Jahre ihren Ausgang nahm (Premack & Woodruff 1978). In Weiterentwicklung des Theory of Mind-Konzepts, das primär kognitiv und eher dyadisch orientiert ist, schließt das Mentalisierungsmodell die beziehungs- und affektregulativen Aspekte des Einzelnen wie auch von Gruppen beim Interpretieren ein.

Was ist Theory of Mind (ToM)?

Max isst einen halben Schokoriegel und legt die andere Hälfte in eine Schublade des Küchenschranks. Daraufhin verlässt er den Raum, um draußen zu spielen. In der Zwischenzeit kommt seine Mutter in die Küche, öffnet die Schublade und sieht den Schokoriegel. Sie legt ihn in den Kühlschrank. Nachdem Max von seinem Ausflug in die Küche zurückkommt, stellt sich die Frage: Wo wird er nach dem Schokoriegel suchen? Die Antwort scheint offensichtlich zu sein: Erstens: Max weiß nicht, dass seine Mutter den Schokoriegel verlegt hat. Zweitens, Max ist der festen, aber falschen Überzeugung, dass sein Schokoriegel in der Schublade liegt, weshalb er dort auch nachsieht. Wenn der Leser die Frage in diesem Sinne beantwortet, dann hat er eine »Theory of Mind«. Natürlich erklären wir das Verhalten eines Menschen auf der Basis seiner zugrunde liegenden Motive (»minds«), seines Wissens, seiner Überzeugungen und Wünsche. Wenn es einen Konflikt zwischen Überzeugung und Realität gibt, wird dieser eher durch die Überzeugung und nicht über die Realität entschieden. Die Erklärung eines solchen Verhaltens basiert auf einer »Theory of Mind« oder auf einer »intentionalen Haltung«.

Ein drei- bis vierjähriges Kind würde nach Anhören der Geschichte vermuten, Max werde im Kühlschrank nachsehen, da es noch nicht über eine Theory of Mind verfügt und daher nicht in der Lage ist anzunehmen, dass Max nicht auch weiß, was es selbst weiß.

Radikalere Überlegungen gehen dahin, dass die Fähigkeit zum Mentalisieren weniger durch einen individuell-dyadischen als durch einen gruppal-sozialen Prozess gebildet und gefördert wird (Reddy 2008). Je reichhaltiger diese Erfahrungen sind, desto reicher sollten auch die Repräsentanzen mentaler Zustände sein, die das Kind entwickelt (Fonagy & Luyten 2011, S. 906). Dies wird durch eine Reihe von Studien zur erfahrungsgestützten Neuroplastizität gestützt. Unter dieser Prämisse, die eine kritische Reflexion der (therapeutischen) Dyade einschließt, ist die Entwicklung des Ich, des Selbst, der Selbst- und Objekt-Repräsentanzen sowohl in der Kindheit als auch im Erwachsenenalter nur durch das Kennenlernen anderer Psychen unter Einschluss der eigenen inneren Welt möglich. Es ist ein interessanter historischer Befund, dass Ende der 60er Jahre George Klein (1967) in der Psychoanalyse und die Krankenschwester Ruth Rubin (1975) Mitte der 70er Jahre in der Geburtshilfe – offenbar unabhängig von der Bindungstheorie – forderten, dass der Ego-Begriff durch den »We-go«-Begriff oder We-ness-Begriff ergänzt werden müsste, was Bob Emde (2009) erneut in die Debatte warf, ohne allerdings auf die Vorgänger Bezug zu nehmen. Der ungarische Gruppenanalytiker Tom Ormay (2012) polarisierte diese Diskussion in seiner Foulkes-Lecture 2011 (der jährlichen Vortragsveranstaltung der Group-Analytic Society International) mit der Formulierung »One person is no person« und bezog sich auf den »Nos«-Begriff. Trotz eines großen Wissenszuwachses zum »Wir«- und speziell zum »Nos«-Begriff und seinen verschiedenen Komponenten ist das Verständnis der Bindungsprozesse im Kontext einer Feldtheorie des sozialen Unbewussten noch weitgehend ungeklärt. Eine gewisse Brücke zu dieser Fragestellung könnte vielleicht der Begriff der »Wir-Intentionalität« von Tomasello (2009, S. 17 ff.) leisten.

Diese Wir-Intentionalität, die schon um die Wende des letzten Jahrhunderts entdeckt wurde, führte unter anderem zur Entdeckung einer Art Gruppenpsychotherapie. Einer der Ersten war der amerikanische Arzt Joseph H. Pratt (1872 – 1956), der 1902 für mehrere Monate bei Ludolf Krehl in Tübingen, einem frühen psychosomatischen Pionier der sogenannten Heidelberger Schule, verbracht und später als Internist am Massachusetts General Hospital in Boston (USA) gearbeitet hatte (Ambrose 2011). Er begann um 1905 damit, einmal wöchentlich chronisch erkrankte Tbc-Patienten in Gruppen zu »unterrichten«, die nicht von der Tagesklinik-Behandlung profitiert hatten (Pratt 1945). Dieses eher noch psychoedukative, nichtanalytische Gruppenkonzept bestand aus einer Mischung inspirativer Gespräche und Entspannungsübungen (!), und wurde für ihn allerdings zum Fokus psychotherapeutischer Bemühungen.

Inzwischen spielen Gruppen gesundheitspolitisch eine zunehmend bedeutende Rolle, was sich im Team- und Vernetzungsbegriff niederschlägt, da psychosomatische und psychiatrische Kliniken und Tageskliniken durch und durch gruppal organisiert sind. Gleichzeitig sollten sie als Organisation nicht mit dem Verständnis von Gruppen verwechselt werden. Angesichts der ökonomisch bedingten dramatischen Verknappung von Personalressourcen in den Gesundheitssystemen der Industrieländer müssten Gruppenpsychotherapien, die gerne zu sogenannten Gruppentherapien verkürzt werden, eigentlich Hochkonjunktur haben. Sie haben es auch, werden aber von Assistenten in fachärztlicher Weiterbildung und Psychologen im psychotherapeutischen Praktikum geleitet, die meist keine Supervision erhalten, weil ihre Vorgesetzten ebenfalls keine umfassende gruppenpsychotherapeutische Ausbildung erfahren haben (Strauß et al. 2012; Weber et al. 2013). Dies überfordert nicht selten die jungen Gruppenleiter und auch deren Patienten, die aufgrund der fehlenden Ausbildung schlechte Erfahrungen mit Gruppen machen.

Einige Psychoanalytiker, die auch eine gruppenanalytische Ausbildung gemacht haben, wie z. B. Peter Kutter, »outeten« sich erst im Alter: »Ich halte die Gruppen für das überlegenere Instrument gegenüber der Einzelpsychotherapie, ja sogar gegenüber der klassischen Psychoanalyse. Die Gruppe war bei meinen Befreiungen immer eine wichtige Voraussetzung, ganz im Sinne Richters (1972) ›Hoffnung auf einen neuen Weg, sich selbst und andere zu befreien‹« (Kutter 2010, S. 165).

Diese Haltung hat sich leider bis heute nicht durchgesetzt, weil der geringe Anteil von Gruppenpsychotherapien in der ambulanten Versorgung allenthalben beklagt wird, der in Deutschland je nach Erhebung und Art der Kasse (privat oder gesetzlich) einen Anteil zwischen 1 % und 3 % an den bewilligten Psychotherapien ausmacht (Döring et al. 2011; Schultz-Venrath & Döring 2009); in Österreich wächst der Anteil gerade durch das Entstehen gruppenpsychotherapeutischer Versorgungsambulanzen. Keine Daten liegen über sogenannte »Selbstzahler« vor, die in einer psychodynamischen Gruppenpsychotherapie (analytisch oder tiefenpsychologisch5) behandelt werden. Dies wirft eine Reihe von Fragen auf, wie es zu einem solchen Missverhältnis kommen kann. Liegt es an der Zahl zu wenig ausgebildeter Gruppenpsychotherapeuten? Liegt es an der spezifischen Problematik der in Deutschland vorgegebenen Richtlinienpsychotherapie, die für jeden Patienten im Rahmen des Gutachterverfahrens einen ausführlichen Antrag gegenüber der Krankenkasse erforderlich macht? Sind die Praxen der Psychotherapeuten hinsichtlich Raumgröße und Ausstattung nicht geeignet? Ist es zu schwierig für Gruppenpsychotherapeuten, Patienten im ambulanten Setting für eine Gruppenpsychotherapie zu gewinnen, weil diese ihren Wunsch nach einer Dyade nicht genügend berücksichtigt sehen? Haben Psychotherapeuten, die in Gruppenanalyse oder Gruppenpsychotherapie ausgebildet sind, möglicherweise sogar Angst vor Gruppe(n)? All diese Fragen müssten genauer beforscht werden, um eine sinnvolle Gesundheitspolitik zu gestalten.

Die Effektstärken von Gruppenpsychotherapien, insbesondere die der mentalisierungsbasierten, sind durchaus mit denen der Einzelpsychotherapien vergleichbar und für bestimmte Störungsbilder sogar höher als die der Einzelpsychotherapien (Barkowski et al. 2016 a; Brand et al. 2016; Strauß 2016). Wenn man also unter Evidence based Medicine-(EbM)-Kriterien Gruppenpsychotherapien als Therapieindikation der ersten Wahl im Richtlinienverfahren anböte, hätte dies vermutlich nicht nur große ökonomische, sondern auch eine Reihe gesundheitspolitischer und sozialer Vorteile für viele Patienten, einschließlich der salutogenetischen Aspekte von Gruppenpsychotherapien für Therapeuten. Da das Gesundheitswesen aufgrund seiner komplexen und oft gegensätzlichen Interessendynamiken unter den Anbietern wie unter den politischen Akteuren zu den am schwerfälligsten zu reformierenden Systemen gehört, wird diese Möglichkeit eher eine Vision bleiben. Möglicherweise ist dieser Gedanke für den einen oder anderen Einzeltherapeuten schon so provokativ, dass er das Buch gleich weglegen möchte.

Es ist unser Wunsch, als Autoren theoretische und vor allem praktische Kompetenzen für jeden praktizierenden Gruppenpsychotherapeuten aus dem Mentalisierungsmodell bereitzustellen, um den Herausforderungen in der Therapie mit unterschiedlichen Settings und verschiedenen Patientengruppen gut gewachsen zu sein und Gruppenpsychotherapien und Gruppen je nach Situation besser leiten zu können. Es ist unser besonderes Anliegen, mit mentalisierungsbasierter Gruppentherapie keinen Gegensatz zu herkömmlichen Gruppenpsychotherapien zu etablieren, sondern mentalisierungsfördernde Interventionen in verschiedenen Gruppenmethoden, insbesondere in Gruppenanalyse und Gruppenpsychotherapie, zu vermitteln. Auf diese Weise geht es mehr um eine Erweiterung des gruppentherapeutischen »Klavierspiels«, dessen aktuelle wissenschaftliche Grundlagen, soweit sie für den Praktiker relevant sind, allerdings nicht vernachlässigt werden sollen. Es wäre vermutlich ein großer Beitrag für die Gleichberechtigung von Gruppenanalyse und Psychoanalyse, wenn Psychoanalytiker in Ausbildung verpflichtet würden, einen Teil ihrer Selbsterfahrung in Gruppenanalyse zu machen.

Dies stellt natürlich die Frage nach der Ausbildung in mentalisierungsbasierter Therapie und Gruppentherapie. Wünschenswert wäre eine Qualifikation in psychodynamischen und mentalisierungsbasierten Gruppenpsychotherapien sowohl während der Weiterbildung zum Facharzt als auch während der Ausbildung zum (psychologischen) Psychotherapeuten. Der fachliche Anspruch an die jetzige psychotherapeutische Aus- und Weiterbildung ist zwar hoch, aber für die Zukunft durchaus verbesserungswürdig, da die meisten psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildungsinstitute in Deutschland (noch) keine Qualifikation in Gruppenpsychotherapien anbieten (ebenso in Österreich mit Ausnahme des ÖAGG – des Österreichischen Arbeitskreises für Gruppentherapie und Gruppendynamik). Darüber hinaus verfügen die Leiter von Kliniken oder Ordinarien an den Universitäten meist über keine eigene Qualifikation in Gruppenpsychotherapie. Einen Lehrstuhl für Gruppenanalyse und Gruppenpsychotherapien gibt es bisher ebenfalls noch nicht. Um ein durchschnittlich guter Gruppenpsychotherapeut zu werden, bedarf es in der Aus- und Weiterbildung bedeutend mehr als nur eines regulierten Studien- oder Ausbildungsgangs. Neben den verschiedenen Methoden und Techniken der Gruppenpsychotherapien, die keinesfalls allein für sich, sondern auch kontextabhängig wirksam sind, ist die Entwicklung einer authentischen therapeutischen Leiterhaltung erforderlich, die in der Regel Vorbilder benötigt. Dies ist umso wichtiger, wenn Neues erfunden und erprobt wird, da sich solche Entwicklungen aus einer Vielzahl von Gründen besonders schwer in die Tradition psychodynamischer Aus- und Weiterbildungsinstitute integrieren lassen. Mattke und Mitarbeiter (2015) vertreten die These, dass die Entwicklung der Ausbildungsinstitute auf dem Niveau der 70er Jahre stehen geblieben sei. Für die These könnte sprechen, dass nicht wenige Reformer von den Mitgliedern ihrer Vereinigungen an den Rand gedrängt oder gar »exkommuniziert« wurden, weil sie sich nicht widerspruchsfrei genug an deren Herrschaftsvorgaben anzupassen vermochten. Trigant Burrow, Gründungsmitglied und später Präsident der APA (American Psychoanalytic Association) von 1925 bis 1926, der als Erster den Begriff »Gruppenanalyse« bzw. des »sozialen Unbewussten« ins Feld geführt hatte, war leider auch einer der ersten, wenn nicht gar das erste Opfer einer solchen Ausschlusspolitik (Schultz-Venrath 2015).

Erfolgreiche Psychotherapeuten führen die Erfüllung ihres langen Berufslebens gerne auf die Quintessenz zurück: menschlich authentisch gewesen zu sein. Dies heißt auch, sich manchmal dem sogenannten Mainstream entgegenzustellen und eine einsame Position zu beziehen. Es ist für jeden Therapeuten immer wieder erforderlich, mit »inquisitorischer« Neugier (»inquisitive stance« ist ein MBT-Begriff) über den Tellerrand des Vertrauten zu schauen, denn kein Berufseinsteiger arbeitet nach Jahrzehnten noch so wie zu Beginn seines Therapeuten-Daseins. Die »Weisheit« des Therapeuten vermittelt sich nicht nur über bloße Theorie, sondern über Lernen, Erfahren und Erfahrung sowie Begegnungen mit wohl gesinnten Menschen und kritischen Kollegen, die diese im besten Sinne als gute Lehrerinnen und Lehrer erfahren durften.

Kapitel 1

Was ist das Besondere an Gruppen?

»Einzeln ist der Mensch ganz erträglich, im Rudel weniger«, so Hans Magnus Enzensberger (2015). Im Alltagsleben wird häufig von Gruppen und Teams gesprochen, ohne dass man sich Rechenschaft darüber ablegt, was mit diesen Begriffen letztlich gemeint ist. Eine x‑beliebige Ansammlung von Menschen ist noch keine Gruppe. In Psychologie und Soziologie wird eine Gruppe als eine Anordnung von mehr als zwei Menschen definiert, die längere Zeit miteinander interagieren, sich wechselseitig beeinflussen, ein gemeinsames Ziel verfolgen und sich als »Wir« wahrnehmen. Gruppen besitzen bestimmte Gruppenstrukturen und spezifische Werte sowie Verhaltensnormen.

Wenn Menschen zusammenkommen, sind sie gezwungen, miteinander zu kommunizieren. Diese Kommunikation kann schweigend, sozusagen ohne Worte, vor sich gehen, sie ist aber niemals nicht präsent. Man kann nicht nicht kommunizieren (Watzlawick et al. 2011). In einer therapeutischen Gruppe ist sprachliche Kommunikation sozusagen ein »sine qua non«; die Gruppenteilnehmer treffen sich, um miteinander zu sprechen. Man kommt in die Gruppe, um mehr von sich selbst, und vielleicht auch den Unterschied zu anderen, zu verstehen (Karterud 2015 a, S. 87). Um aber mehr von sich und den anderen auf der Basis von transpersonalen Beziehungen zu verstehen, ist es günstig, das eigene kommunikative Repertoire stetig zu erweitern. Dies erfordert allerdings ein Sich-Einlassen auf einen Prozess der Selbstreflexion und der kommunikativen Verschiedenheit als eigentliches Ziel. Wenn man Symptome als Ausdruck einer missglückten Kommunikation privater, heimlicher und schambesetzter Phantasien und Bedürfnisse ansieht, ist es die Aufgabe des Gruppentherapeuten, die deformierte Kommunikation zu verstehen und bei der Übersetzungsarbeit hilfreich zu sein. Kommunikation, die das Unbewusste bzw. das Vorbewusste bewusst zu machen und den Prozess zu versprachlichen versucht, ist das Kernstück analytischer Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse bzw. der darüber hinausgehenden Arbeit am sozialen Unbewussten im Individuum, in Gruppen und in Gesellschaften (Hopper & Weinberg 2011, 2016). Dies bedeutet nicht nur eine Neudefinition des Unbewussten, sondern aller analytischen Begriffe aus Gruppenperspektive.

Schon die Evolution begünstigte die Bildung verschiedener Stämme in Form von Gruppen – seien es Bakterien, Insekten und Primaten; es war vermutlich die vor etwa 75 000 Jahren mit der Sprachentwicklung einhergehende Fähigkeit des Mentalisierens einiger weniger Hundert Menschen, die trotz folgenreicher, menschlich induzierter Katastrophen zumindest bis heute zu einem Garant einer ziemlich erfolgreichen Überlebensgeschichte geworden ist (Corballis 2009; Karterud 2011). Allein aus der bisherigen Perspektive der Evolution scheint kein Ort für Mentalisieren geeigneter zu sein als eine Gruppe – allerdings auch für den Zusammenbruch des Mentalisierens, wenn Affekte oder Emotionen ins Spiel kommen; dieser Zusammenbruch kann sich individuell in körperlichen Symptomen als Repräsentanz entstellter oder deformierter Kommunikation oder kollektiv in Form von Verschwörungstheorien äußern (Spitzer 2015De Mendelssohn 2014