Für M., mit etwas mehr Liebe

2011

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

Umschlaggestaltung unter Verwendung einer zeitgenössischen Radierung von Friedrich Eduard Eichens aus dem Jahr 1841.

ISBN 9783954622016

TatortOst

Die verschwundene Gräfin

Joseph von Eichendorffs zweiter Fall

von

Bernhard Spring

mitteldeutscher verlag

Inhaltsverzeichnis

Titel

Über den Autor

Impressum

Widmung

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

Kapitel V.

Kapitel VI.

Kapitel VII.

Kapitel VIII.

Kapitel IX.

Kapitel X.

Kapitel XI.

Kapitel XII.

Kapitel XIII.

Kapitel XIV.

Kapitel XV.

Nachwort

Ebenfalls von Bernhard Spring erschienen:

II.

Draußen im Garten tollte ein kleiner Junge so selbstvergessen umher, dass er den hinzutretenden Mann überhaupt nicht bemerkte. Eichendorff sah ihm einen Moment lang zu, wie er mit einem dünnen Stock das hohe Gras der Wiese peitschte, sodass die Bienen verschreckt aufflogen und Blütenblätter und Pollen wild umherwirbelten, dann aber rief er in gespieltem Ernst, des Jungen Mutter nachäffend: »Johann Maximilian von Besserer-Dahlfingen!«, worauf der Junge erschrocken innehielt. Doch schon hatte sich sein erstarrtes Gesicht in ein ironisches Lächeln aufgelöst und der Gerufene lief auf seinen Großvater zu.

Nicht immer wollte Max seine Großmutter besuchen, denn zwar mochte er sie recht leidlich und auch die Stadt hatte dem jungen Mann einiges zu bieten, was ihm hier, vor dem Tor und in direkter Nachbarschaft zu der Fasanerie völlig abging, doch wurden diese Ausflüge häufig von der niederdrückenden Stimmung der Großmutter getrübt, sodass die Spaziergänge durch die Straßen Köthens oft etwas Melancholisches an sich hatten. Allerdings hatte sich der Zustand der Großmutter in den letzten Tagen merklich verbessert und so durfte sich Max auf einen vergnüglichen Vormittag freuen.

Eichendorff putzte dem ungeduldig wartenden Jungen die Pollen aus der Jacke, korrigierte den Sitz der Mütze und ergriff schließlich die kleine Hand, um sicherzustellen, dass der Heißsporn sich angemessen verhalten würde, wenn man gleich gemeinsam die Stadt betrat.

Max hatte zuletzt die Mutter an den Bahnhof begleitet, wovon sie nach Berlin aufgebrochen war. Dies lag bereits mehr als eine Woche zurück und so brannte er darauf, in das Herz Köthens zu gelangen, als habe sich dort wer weiß was alles verändert.

»Großvater«, fragte der Kleine sichtlich gut gelaunt, »wo liegt denn Neiße überhaupt?« Seit diesem Tag im Mai, als er von der Versetzung seines Vaters dorthin erfahren hatte, hatte ihn diese Frage beschäftigt.

»Nun, Neiße liegt im preußischen Teil Oberschlesiens, wo deine Mutter geboren wurde«, antwortete Eichendorff bedächtig. »In dieser Stadt befindet sich die Sommerresidenz des Fürstbischofs von Breslau und natürlich auch die preußische Festung, in der dein Vater als Kompaniechef des Kadettenkorps beim zweiten Infanterieregiment seinen Dienst verrichten wird. Deine Großmutter besuchte dort als junge Frau einmal das höhere Mädchenpensionat.«

Eichendorff spürte, dass ihm der Junge nur halb zugehört hatte. Offenbar gingen in ihm andere Gedanken um, und nachdem er eine Weile schweigsam neben seinem Großvater gegangen war, fragte er diesen: »Müssen wir jetzt auch dorthin ziehen?«

Eichendorff atmete tief ein. Daher also wehte der Wind. Nun gut, er konnte den Jungen verstehen. Seit Maximilians Geburt bestand dessen Leben darin, Freundschaften zu Altersgenossen zu knüpfen, die sogleich wieder zerbrochen wurden, sowie sein Vater in eine andere Stadt versetzt wurde. Zuerst hatte dieser an der Danziger Divisionsschule gearbeitet, anschließend in Berlin, wo er den Rang eines Premierleutnants bekleidet hatte. Eichendorffs Schwiegersohn, der Herr Ludwig von Besserer-Dahlfingen, beschritt eine ansehnliche Karriere beim preußischen Militär, doch seine Familie hatte darunter zu leiden, indem sie ihn kaum zu Gesicht bekam und ihm trotzdem ständig hinterherreisen musste. Und jetzt hieß die nächste Station also Neiße.

»Ich gehe davon aus, dass er uns dort ein Haus beschaffen wird«, fügte Eichendorff hinzu.

»Und wann wird das sein?«, fragte Max mutlos, worauf Eichendorff seufzte.

»Das weiß ich auch nicht«, meinte er nur. »Wahrscheinlich wenn deine Mutter in Berlin alle Angelegenheiten geregelt haben wird. Aber bestimmt nicht vor dem Herbst.«

Seit Eichendorff krankheitsbedingt aus dem Berufsleben ausgeschieden war, wohnte er im Haushalt der von Besserer-Dahlfingens. Er schätzte nicht nur den vertrauten Umgang mit seiner Tochter Therese, die ihn bereitwillig aufgenommen hatte. Seine Untermieterschaft hatte auch ganz praktische Gründe. Mehr als zehn Jahre hatte er sich in Berlin als einfacher Hilfsangestellter verdingt und war für die unterschiedlichsten Ministerien tätig gewesen, ohne dass es ihm sein bescheidenes Gehalt jemals ermöglichte, einen seinem Stand angemessenen Lebensstil zu führen. Der Freiherr von Eichendorff hatte sich für das Ministerium des Äußeren abgeschuftet, hatte niedere Laufburschenarbeit für das Postamt erledigt. Als ihn schließlich die lang ersehnte Ernennung zum Geheimen Regierungsrat im Kultusministerium ereilt hatte, stand es um seine Gesundheit bereits so schlecht, dass er bald darauf den Dienst hatte quittieren müssen. Schlicht aus finanziellen Gründen lebte er seitdem bei seiner Tochter. Er konnte es sich einfach nicht leisten, für sich und seine Frau allein aufzukommen. Die von seinem Vater ererbten Anwesen waren mit 300.000 Reichstalern verschuldet gewesen, sodass er nur das Gut Sedlnitz in Mähren vor den Gläubigern hatte retten können – vorläufig, denn auch hier drückten gewaltige Schulden. Und aus seiner schriftstellerischen Tätigkeit hatte er noch nie besonders viel Geld schlagen können. Die letzten beiden Versepen hatten ihm zusammen nicht mehr als einhundert Taler eingebracht, wovon man keinesfalls leben konnte.

Also blieb ihm nur Therese. Seine Söhne Hermann und Rudolf hatten genug damit zu tun, mit ihren eigenen Familien zurechtzukommen, doch der Herr Major von Besserer-Dahlfingen konnte es sich leisten, seine Schwiegereltern auszuhalten. Die beiden Herren verband indes nicht sonderlich viel. Besserer-Dahlfingen, der Militär, sah in dem literarischen Schaffen des Älteren ein verpfuschtes Leben, während Eichendorff peinlich berührt war, dem Verdienenden möglicherweise zur Last zu fallen. Auch deshalb hatte er jüngst die Einladung nach Wien angenommen, wo er zusammen mit seiner Frau Louise bei Freunden und Gönnern untergebracht worden war. Er hatte die Größen der österreichischen Literatur kennengelernt, selbst Grillparzer und Adalbert Stifter, hatte sich von ihnen erneut als Relikt einer vergangenen Zeit feiern lassen – und das alles nur, um für ein paar Wochen den Schwiegersohn nicht zu belasten.

Doch dieser befand sich meistens in der Garnison, wodurch die Lage in dem gemeinsamen Haushalt merklich entspannt wurde. Zudem hatte sich Eichendorff vorübergehend revanchieren können und den Besserer-Dahlfingens Obdach in dem kleinen Haus in Köthen bieten können, solange sich der Umzug von Berlin nach Neiße hinzog.

Dieses Haus war kein großartiger Besitz, Eichendorff hatte es vor etwas mehr als einem Jahr von einem entfernten Cousin seiner Frau übernommen, nachdem dieser, ebenfalls ein Militär, von Köthen nach Dessau versetzt worden war und nun dort eine Dienstwohnung bezogen hatte. Doch Köthen war nur eine Durchgangsstation, das war allen erwachsenen Bewohnern des Hauses bewusst. Eichendorff könnte die Lebenskosten seiner Familie auf Dauer nicht finanzieren und Therese würde eine so große räumliche Trennung von ihrem Mann wohl kaum hinnehmen, allein schon wegen der Kinder nicht. Das Haus in Köthen, das musste sich Eichendorff leider eingestehen, war ein ziemlich teurer Fehlkauf. Aber immerhin hatte er einem Verwandten aus der Klemme geholfen, auch wenn diese Sichtweise ein sehr spärlicher Trost war.

Inzwischen hatten Eichendorff und Max den Kern der Stadt erreicht, waren in die Lange Straße eingebogen und gingen hier, nördlich des herrlichen Schlosses, direkt auf die Klinik des Doktor Lutze zu. Schon von Weitem war das italienisch anmutende Gebäude, das die umstehenden Bürgerhäuser klar überragte, zu erkennen. Die gotischen Verzierungen und Fensterausschmückungen vermochten es nicht, dem Haus die imposante Wuchtigkeit zu nehmen, die es ausstrahlte. Eichendorff betrat die Klinik, obwohl täglich, stets mit Ehrfurcht vor dem Eifer ihres Erbauers Doktor Lutze, der, zumindest nach Eichendorffs persönlicher Ansicht, bei aller Genialität wohl auch ein bisschen verrückt war.

Mehrmals war er ihm begegnet, wenn auch jedes Mal nur kurz, da sich der Doktor äußerst wenig Zeit für jeden einzelnen Patienten einräumte. Immerhin behandelte er mehrere Tausend Kranke jährlich und lediglich einige davon waren in den spartanischen Krankenzimmern untergebracht – die meisten passierten einen der Krankensäle, wurden, um es mit einem von Malys französischen Einsprengseln zu sagen, gewissermaßen en masse kuriert. Der Doktor trug sein schütteres Haar sehr lang, dazu einen üppigen, krausen Bart, welcher sein entrücktes Wesen zu unterstreichen schien. Er gestikulierte beim Sprechen übermäßig stark mit den Händen, wirkte sehr bedacht, was die Verschreibung von Kuren und Medikamenten anging, und hatte überhaupt eine sehr überzeugende Art, die von seinem Vorgänger Hahnemann begründete Homöopathie als alternative, natürliche und deshalb richtige Heilmethode zu verteidigen. Ja, er verteidigte diese Lehre energisch, denn obwohl Eichendorff nichts gegen sie einzuwenden wusste, hatte sich der ehrenwerte Doktor von den Nachfragen des Dichters angegriffen gefühlt und äußerst gereizt reagiert. So war nicht nur das erste Treffen, sondern auch alle übrigen verlaufen, und Eichendorff nahm inzwischen lieber mit einem von Lutzens Assistenten oder einem der vielen niederen Klinikangestellten vorlieb, statt dem offenbar leicht cholerischen Arzt über den Weg zu laufen.

Als Eichendorff und Max das Zimmer in der ersten Etage betraten, saß Louise auf ihrem Bett und blickte gedankenverloren aus dem Fenster. Sowie sie die Eintretenden bemerkte, wandte sie sich ihnen zu und versuchte zu lächeln, doch Eichendorff blieb nicht verborgen, dass sie sich nur um des Jungens willen verstellte. Dieser lief auch sogleich auf seine Großmutter zu, herzte die alte Frau, die ihm zärtlich den schwarzhaarigen, etwas zerzausten Kopf streichelte, und setzte sich auch schon neben sie, um ihr möglich nahe zu sein.

»Wie geht es dir, Großmutter?«, fragte Max und gab sich mit einigen lapidaren Sätzen als Antwort zufrieden, dann war er schon wieder aufgesprungen und inspizierte den Raum, in dem kaum ein Möbelstück stand, derart gründlich, als erforsche er eine noch unentdeckte Insel. Da es allerdings nichts Besonderes zu entdecken gab, lief er bald verdrießlich durch das Zimmer, blieb schließlich vor der Fensterbank stehen und knaupelte heimlich an einem losen Stück Tapete.

Eichendorff hatte inzwischen ebenfalls seine Frau begrüßt, ohne seine Sorge um sie verbergen zu können. »Du siehst erschöpft aus«, stellte er verwundert fest, hatte er sie doch noch am Tag zuvor in bester Stimmung und vor allem in einem vielversprechenden Zustand verlassen. Doch Louise blickte ihn heute aus sehr unruhigen, beinah ängstlichen Augen an. Es schien ihm beinah, als habe sie ein wenig die Orientierung verloren.

»Findest du?«, fragte sie müde und zwang sich erneut zu einem Lächeln. »Das wird diese furchtbare Diät sein, der ich mich seit gestern unterziehen muss. Kein Fleisch, keine Gewürze, keine Kräuter. Alles ist ohne Geschmack.«

Eichendorff lehnte sich, da es keine weitere Sitzmöglichkeit außer dem Bett gab, an einen schmalen Kleiderschrank und sah seine Frau aufmerksam an. »Diese Kur scheint dir nicht sonderlich zu bekommen«, mutmaßte er.

Max, der des Zimmers schon überdrüssig geworden war, rief plötzlich: »Großmutter, ich vermisse dich so sehr!«, worauf Louise ihn an sich zog und heftig küsste.

»Das geht mir genauso, mein Junge!«

Max, der eng an ihre Brust gedrückt war, sodass er kaum etwas hervorbringen konnte, murmelte dunkel: »Dann komm doch einfach mit uns.«

Eichendorff gab dem Jungen einen Klaps auf den Hosenboden. »Na, na, wir wollen doch die Großmutter nicht bei ihrer Genesung stören, nicht wahr?«

Max machte sich von Louise los und nörgelte vor sich hin. Es war ihm anzumerken, dass er von dem unglücklichen Zustand der Großmutter irritiert war und glaubte, einen unlustigen Vormittag verbringen zu müssen. Sicherlich wäre er lieber im heimischen Garten geblieben, ging es Eichendorff durch den Kopf. Er wollte Louise weiter befragen, doch diese schlug stattdessen einen kleinen Spaziergang vor, um etwas frische Luft zu bekommen, wie sie meinte. Während ihr Vorschlag bei Max auf helle Begeisterung stieß und er lauthals forderte, den nahen Schlosspark aufzusuchen, überkamen Eichendorff Zweifel, ob sich seine Frau nicht vielleicht zu viel zumuten würde. Doch diese raffte sich auf, ordnete im Stehen ihr Haar, als läge es durcheinander, und stützte sich auf Eichendorffs Arm. So verließen sie das triste Zimmer und folgten dem Geschrei ihres Enkels, der zum Leidwesen Eichendorffs den Großeltern wieder einmal entwischt war und eine völlig unangebrachte Wildheit an den Tag legte.

»Vielleicht schwächt solch eine Kur den Organismus zuerst, bevor die Stärkung eintritt«, vermutete Eichendorff, um Louise aufzumuntern, aber sie schüttelte energisch den Kopf.

»Das bezweifle ich sehr. Immerhin ist das leider nicht mein erster Klinikaufenthalt. Nein, Joseph, diese vermaledeite Homöopathie wirkt nicht. Man bezahlt ja nur dafür, dass man nichts mehr darf. Aber bekommen tut man nichts, außer vielleicht ein paar Bäder und weitere Verbote. Es ist ein Graus!«

Nun musste Eichendorff doch leise lachen, als er seine misstrauische Frau so sehr Beschwerde führen hörte. »Du vermisst wohl deinen Morgenkaffee?«, witzelte er vertraulich.

»Ach, wenn es das nur wäre! Auf den Kaffee könnte ich getrost verzichten. Aber hier darf ich nicht einmal mehr Tee trinken, angeblich ist er schädlich. Alles ist hier schädlich. Stattdessen gibt es Lutzes speziellen Gesundheitskaffee aus Gerstenmalz und Roggenschrot, in dem aber noch ganz andere Stoffe sind, die mir allesamt auf den Magen schlagen.«

Der Schlosspark breitete sich flach und lauschig vor ihnen aus. Das gealterte Pärchen ging langsam auf den Wegen dahin und hielt von Zeit zu Zeit an, damit sich Louise auf einer der Bänke kurz ausruhen konnte. Gelegentlich tauchte Max wie aus dem Nichts auf, erschreckte den Großvater oder zeigte ihm kleine Funde, ja, führte sogar eine gefangene Fliege vor und war jedes Mal wieder zwischen den Bäumen verschwunden, wenn sein Großvater zu einer rügenden Belehrung ansetzte. Als dieser den kleinen Tunichtgut doch einmal am Arm zu fassen bekam und ihn zu sich auf die Parkbank zog, saß Max mit gespielter Unschuldsmiene neben den Alten, bis diese genug davon hatten, ihn zu ermahnen, er solle Beine und Hände wenigstens für einen Moment stillhalten, und ihn wieder laufen ließen.

»Aber du gehst nicht über die Brücke«, rief Eichendorff dem Jungen hinterher. »Hörst du? Bleib bitte außerhalb des Schlosshofes!«

Schon waren sie wieder allein. Der Park war nahezu menschenleer zu diesen frühen Mittagsstunden. Nur hier und da spazierten vereinzelte Paare oder führten Hausmädchen die Kinder ihrer Herrschaft aus. Ein milder Wind ging durch die Baumkronen und ließ die Blätter rauschen. Eichendorff merkte seiner Frau an, dass noch nicht alles ausgesprochen war, was sie beunruhigte. Er spürte instinktiv, dass es etwas gab, das Louise wesentlich mehr fürchtete als irgendein seltsam zubereiteter Kaffee oder eine sonst wie geartete Diät.

Eichendorff hatte sie damals, im April vor genau vierzig Jahren, gegen den Willen seiner Eltern geheiratet. Wie lang war das schon her! Zu diesem Zeitpunkt, kurz nach der Jahrhundertwende, war sein Vater bereits hoch verschuldet gewesen, hatte zahlreiche drängende Gläubiger auf den Fersen gehabt und gar für ein Jahr das Land verlassen müssen, um seinem endgültigen Bankrott zu entgehen. Woran hatte es gelegen, dass sich der ehrenwerte Adolph von Eichendorff in Breslau, Hamburg und Wien verbergen musste und nur durch neue Bürgschaften und behördliche Verzögerungen vorläufig gerettet worden war? Er hatte sich schlichtweg in großem Umfang verspekuliert und das, obwohl die Familie zuvörderst äußerst gut aufgestellt gewesen war. Doch der alte Baron hatte immer mehr Besitzungen auf Kredit erworben und in einer verhängnisvollen Mischung aus blindem Gottvertrauen, Unwissenheit und – ja, dies musste Eichendorff seinem Vater vorwerfen – Naivität ernsthaft geglaubt, die agrarisch arbeitenden Güter würden trotz des allgemeinen ökonomischen Rückgangs ihren Erwerbspreis zügig erwirtschaften können.

Bald war das böse Erwachen gekommen: Adolph von Eichendorff hatte erkennen müssen, dass seine Söhne Wilhelm und Joseph eines Tages nicht von dem ererbten Familienbesitz würden leben können. Beider Studium der Juristerei war somit nicht nur aus alter Familientradition gewählt worden, sondern auch aus akuter wirtschaftlicher Notwendigkeit. Während andere Söhne aus Großgrundbesitzergeschlechtern kaum ernstlich Wert auf ein akademisches Examen legten und nach ihrer universitären Laufbahn meist eine Bummelfahrt durch die Kulturzentren Europas unternahmen, hatten Wilhelm und Joseph einen ordentlichen Studienabschluss anzustreben, um eine entsprechende Anstellung im Staatsdienst bekleiden und unabhängig vom väterlichen Erbe ihr Auskommen finden zu können.

Doch auch diese bescheidenen Zukunftspläne waren 1808 zerschlagen worden von den herben finanziellen Einbußen, die Adolph von Eichendorff jüngst hatte hinnehmen müssen. Umso dringender versuchte er, über geeignete Eheschließungen seiner Söhne neues Kapital an die Familie Eichendorff zu binden. Louise Anna Viktoria von Larisch war unter diesen Umständen keine besonders gute Partie, da das Vermögen dieser Familie aus Pogrzebin nahe Ratibor bei Weitem nicht ausgereicht hätte, um den Eichendorffs aus ihrer finanziellen Misere zu helfen. Stattdessen spekulierte vor allem Eichendorffs Mutter Karoline, die als geborene Freiin aus dem angesehenen Hause von Kloch den gesellschaftlichen Abstieg ihrer Familie um jeden Preis verhindert wissen wollte, auf eine andere Verbindung. Für Joseph hatte die Mutter eine Ehe mit seiner Cousine Julie Gräfin Hoverden vorgesehen, wodurch neben anderem die ertragreichen Kohlegruben der Hoverdens in Oberschlesien an Eichendorff gefallen wären und das finanzielle Aus hätte verhindert werden können …

Kurz: Die unbeliebte Verlobung Josephs mit Louise wurde auf Lubowitz einfach nicht zur Kenntnis genommen, zu tief war die elterliche Enttäuschung über Eichendorffs Starrsinn. Schon einige Jahre zuvor, als er mit Caroline Pitsch seine erste Liebschaft erlebt hatte, hatten die strengen Eltern diese unvorteilhafte Verbindung eiligst aufgelöst. Damals war der siebzehnjährige Eichendorff zu schwach und zu beeinflussbar gewesen, um sich dem elterlichen Druck zu widersetzen. Später, im Falle Louisens, setzte man einfach darauf, dass Eichendorff sie über die Aufenthalte in Heidelberg und Wien, wo er sein Rechtsstudium abschloss, schlicht vergessen würde. Und tatsächlich hatten sich die Liebenden erst langsam und zögerlich wieder aneinander gewöhnen müssen nach den langen Monaten der Trennung. Doch schließlich hatten sie einander geheiratet, wenige Wochen darauf war ihr erstes Kind, Hermann, geboren worden. Das war im Jahre 1815 gewesen – eine Ewigkeit entfernt.

Seitdem lebten Eichendorff und Louise zusammen. Sie hatten die stets unsicheren und enttäuschenden Jahre des Beamtendaseins Eichendorffs verwunden, in denen er sich ständig vergeblich um eine bessere Anstellung bemüht hatte; sie hatten die Revolutionen von 1830 und jüngst 1848 fernab der unruhigen Städte überstanden, wo sich der Pöbel auf der Straße teils an allem und jedem vergangen hatte. Sie hatten in Danzig gelebt, in Königsberg, Berlin und nun in Köthen – immer in kleinen Verhältnissen, ohne dass Louise je darüber geklagt hätte. Ihnen wurden mit den Jahren fünf Kinder geschenkt, von denen zwei nur wenig älter als ein Jahr geworden waren. In diesem Sommer hatten sie genau vier Jahrzehnte miteinander verbracht und waren darüber alt und anfälliger, nicht aber weniger empfindsam füreinander geworden.

Eichendorff griff nach Louises Hand. Besorgt versuchte er, ihren Blick zu fangen, doch sie senkte still den Kopf und sah auf beider Hände. »Bring mich hier weg«, flüsterte sie tonlos.

Eichendorff war zutiefst beunruhigt. »Aber warum?«, fragte er. »Dies ist eine exklusive Klinik, die erste ihrer Art in ganz Deutschland und wer weiß, vielleicht sogar darüber hinaus. Doktor Lutze mag dir etwas seltsam erscheinen und sein weltvergessenes Auftreten ist auch mir mehr als befremdlich. Aber er gilt nicht nur als der führende Heilpraktiker auf seinem Gebiet, sondern auch als leidlicher Menschenfreund. Denk allein an all die armen Kranken, die er völlig kostenlos in den Sälen seiner Klinik heilt. Und auch dir wird es bald besser sein, sowie die Kur erst anschlägt.«

Louise wog den Kopf leicht hin und her. »Aber es wird dort auch gestorben«, warf sie leise ein.

Eichendorff war für einen Moment irritiert, schnell aber fasste er sich. »Natürlich sterben jene, die Gott zu sich ruft. Der Doktor ist nicht der Wunderheiler, für den sie ihn hier halten. Auch er ist nicht allmächtig. Aber darüber zerbrichst du dir den Kopf? Ich verspreche dir, dass du genesen wirst von deinem Leberleiden. Es gibt keinen Anlass, ernstlich besorgt zu sein. So leicht stirbst du mir nicht weg«, scherzte Eichendorff.

Doch Louise gab sich nicht mit dieser Beschwichtigung zufrieden. »Lass uns weitergehen und nach dem Jungen sehen«, meinte sie schließlich und erhob sich mühselig. »Du verstehst es ja doch nicht.«

Zwischen den beiden herrschte beklommenes Schweigen, als sie Max endlich an der Schlossbrücke antrafen. Wie von ihm verlangt worden war, hatte er den Schlosshof nicht betreten, doch weniger infolge der großväterlichen Ermahnung, als vielmehr wegen des Respekts, den ihm der altehrwürdige Bau einflößte, obwohl er wusste, dass darin mittlerweile keine Fürsten mehr residierten.

Eichendorff, enttäuscht von dem mangelnden Vertrauen seiner Frau in ihn, setzte wohl dem Jungen etwas zu hart zu, als er ihn gehörig über das Verhalten eines angehenden Freiherrn belehrte. »Oder bist du etwa einer dieser Gossenjungen, die weder Vater noch Anstand kennen?«, fragte er erbost, mehr über seinen eigenen Zorn als über den Jungen. Dieser wurde kleinlaut angesichts der ungewohnten Strenge des Großvaters und lief brav und einigermaßen traurig vor den Alten her, die nun den Rückweg antraten.

»Was also ängstigt dich wirklich?«, fragte Eichendorff erneut, doch Louise deutete auf den Jungen und wisperte: »Nicht vor dem Kind.«

So gingen sie dann schweigend dahin, wobei Eichendorff der Weg endlos lang erschien, auch wenn es derselbe war. Als sie an einer Parkbank ausruhten, tat es ihm leid, den Jungen so sehr die Leviten gelesen zu haben, er zupfte ihm spaßhaft die Mütze zurecht, und als Max das Zeichen der Versöhnung erkannte, überkam ihn sogleich wieder die übliche Lebensfreude und er tollte zwischen den Bäumen umher wie eh und je.

Eichendorff und Louise hatten den Spaziergang wieder aufgenommen, und als sie das Ende des Parks erreichten, immer noch in tiefem Schweigen verharrend, hielt Louise Eichendorff plötzlich zurück, bevor dieser mit ihr hinaus auf die Straße treten konnte. »Du willst also wissen, was mir so eine Furcht einjagt, dass ich glaube, ich würde keine weitere Nacht überleben in diesem Haus? Ich möchte nicht allein sterben, umringt von Assistenten des Doktor Lutze, die in diesem Augenblick lieber woanders als bei mir sein wollen. Ich möchte bei dir sein, wenn es so weit ist.« Louise brach in Tränen aus, worauf der überraschte Eichendorff sie gütig in die Arme nahm. »Ich weiß, meine Sorge ist gewiss dumm. Es ist nur, dass meine Zimmernachbarin, die Gräfin von Plötzkau, ganz sicher in der letzten Nacht verstarb und diese Entdeckung mich so unerwartet traf. Noch gestern habe ich mich doch so prächtig mit ihr unterhalten und sie wirkte völlig gesund. Sie erklärte mir noch, dass sie nur sehr leicht erkrankt sei und dass es überhaupt eigentlich eher eine Verstimmung als eine wirkliche Krankheit sei.«

Eichendorff versuchte Louise zu beruhigen, doch umsonst. Sie wollte nichts hören von Fügung und unabsehbaren Krankheitsverläufen und dass sie da sicher einiges durcheinandergebracht hätte. Vielmehr versteifte sie sich, je mehr Eichendorff nach natürlichen und gewöhnlichen Erklärungen für den plötzlichen Tod der Gräfin suchte, immer mehr auf die Theorie, dass es bei eben diesem Ableben nicht mit rechten Dingen zugegangen sei.

»Oder wie erklärst du mir, dass es heißt, sie sei abgereist, obwohl sie mir erst gestern versicherte, sie wolle bis zum Ende der Woche bleiben? Ich sage dir, was geschehen ist. Man hat sie totkuriert und versucht nun, es vor den anderen Kurgästen zu verbergen, um den Ruf des Instituts zu wahren. Man wird sie stillschweigend auf ihr Gut außerhalb der Stadt bringen und das werden sie mit allen machen, die ihre Kur nicht überleben, dessen sei gewiss, Joseph.«

Eichendorff wollte Louise etwas entgegnen, doch sie hob mahnend den Finger, ihn Ruhe heißend, wie sie es nur selten ihm gegenüber tat. »Wenn dir nur etwas an meinem Seelenfrieden und meiner Gesundheit liegt, dann finde heraus, was mit der Gräfin von Plötzkau passierte und wer sie behandelte, und wenn alles seine Richtigkeit hatte, will ich nichts gesagt haben. Ich getraue mich nicht nachzufragen, denn sonst heißt es noch, ich sei neugierig oder gar besserwisserisch, worauf die Ärzte vielleicht ihren Unmut an mir auslassen. Aber du kannst doch Nachforschungen anstellen, nur ein paar wenige Fragen. Versprichst du mir das?«

Eichendorff wollte etwas erwidern, doch Louise unterbrach ihn. »Da kommt ja endlich mein Max. Jetzt, wo wir wieder die Öffentlichkeit betreten, wollen wir uns aber gefälligst bei der Hand nehmen und artig sein, ja?« Mit diesen Worten griff sie gewandt nach dem Jungen, ehe dieser ihr entwischen konnte, und schritt neben Eichendorff und Max über die Straße auf das Klinikgebäude zu.

I.

Eichendorff nickte gelassen, während er den Brief las. Ja, das war abzusehen gewesen. Dieser Storm meldete sich auch jetzt zu Wort, auch jetzt wieder abfällig. Eichendorff konnte sich ein mildes Lächeln nicht verkneifen. Wie sich doch dieser Theodor Storm so unsicher und ehrerbietig ihm gegenüber verhalten hatte, als sie sich an diesem gemütlichen Winterabend im Vorjahr begegnet waren. In Berlin bei Kugler war das gewesen, dem launischen Historiker Franz Kugler, der das schöngeistige Schreiben nicht lassen konnte. Was hatte Eichendorff damals gesagt? Von allem, was Kugler jemals geschrieben hatte, wäre nichts so zeitlos wie ausgerechnet seine erste Publikation, das Skizzenbuch, und daraus kein Gedicht so anrührend wie An der Saale hellem Strande. Es hatte Eichendorff ergriffen wie vielleicht kein zweites Gedicht, einmal abgesehen von Brentanos und von Arnims Des Knaben Wunderhorn natürlich, einer wahrhaft meisterlichen Sammlung von Liedern und Gedichten, die, wie Eichendorff sicher wusste, alle Zeiten überdauern und noch in Hunderten von Jahren populär und geliebt sein würden.

Aber wie die Zeit vergangen war! Von Arnim war bereits vor vierundzwanzig Jahren verstorben, Brentano in tiefster Schwermut vor dreizehn Jahren. Nur er selbst, Eichendorff, der letzte Romantiker, wie sie ihn kürzlich bei einem Besuch in Wien geheißen hatten, nur er war geblieben – in einer verwirrenden Zeit, in der neuerdings sogar Luftschiffe aufstiegen. Mit seinen siebenundsechzig Jahren fühlte er sich eigentlich noch nicht ganz wie ein Relikt aus einer anderen, vergehenden Epoche. Aber ja, das Fieber kam nun regelmäßiger, die Lunge entzündete sich nahezu jeden Winter und besonders seine Frau Louise hatte an dem fortschreitenden Alter zu leiden. Eigentlich hätte sie längst auf ein paar Wochen nach Karlsbad zur Kur reisen müssen, aber wie immer zerschlug die harte Realität solche träumerischen Absichten. Es würden trotz Eichendorffs angestrengter Bemühungen auf absehbare Zeit keine Gelder zur Verfügung stehen, um eine solch kostspielige Angelegenheit zu finanzieren. Und so war ihm nichts weiter übrig geblieben, als seine Frau der Obhut des hiesigen Homöopathen anzuvertrauen, einem gewissen Doktor Lutze, der hier in Köthen als Wunderheiler verehrt wurde und das größte homöopathische Zentrum des ganzen Deutschen Bundes führte.

Und doch, sosehr Eichendorff auch dagegen ankämpfte und anschrieb, es blieb dabei: Literarisch gesehen gehörte er inzwischen zum alten Eisen. Nichts, was er in den letzten Jahren verfasst hatte, war je mit einer solchen Begeisterung aufgenommen worden wie einst sein Taugenichts. Selbstverständlich gab es auch andere Erfolge. Mit dem Roman Dichter und seine Gesellen beispielsweise oder auch Das Schloß Dürande hatte er sich im deutschen Sprachraum einen Namen gemacht. Und nicht zu vergessen die Gedichte! All die schönen, lieblich klingenden Verse, die in sich die Hoffnungen und Sehnsüchte einer ganzen Generation trugen – sie waren doch erst vor Kurzem in der bereits dritten Auflage in Berlin erschienen.

Aber gerade daran litt ja auch seine literarische Laufbahn so sehr: dass ihn jeder Leser mit dem Taugenichts und seinen Gedichten verband, nicht aber mit dem, was Eichendorff seitdem verfasst hatte. Natürlich waren die theoretischen Schriften unter Kennern positiv aufgenommen wurden, doch den bürgerlichen Leser hatten sie weniger interessiert. Und nun gingen auch die jüngsten Veröffentlichungen an dem Geschmack der Leserschaft vorbei. Zuerst war Eichendorff mit seinen Übersetzungen aus dem Spanischen gescheitert und nun vorgeblich auch mit seinen neusten Versepen.

Dabei hatte Storm den Julian noch gelobt. Das war im letzten Jahr gewesen, kurz nach dem Abend bei Kugler. Ein interessanter Abend hatte es werden sollen, zumindest hatte dies der Gastgeber versprochen. Und tatsächlich hatte er sich alle Mühe gegeben, ein Gespräch im Gange zu halten, doch er war kläglich gescheitert. Da saßen sie, all die jungen Dichter, die mit einer nüchternen, realistischeren Feder schrieben, als Eichendorff eine führte. Sie umringten den alten Meister, feierten ihn so überschwänglich, dass ihn ihre übertriebenen Lobeshymnen bald langweilten und falsch vorkamen. Da war der junge Paul Heyse, den, noch nicht einmal vierundzwanzigjährig, eine Professur in München ereilt hatte. Dazu ein gewisser Theodor Fontane, ein beinah namenloser Apotheker, der mit ein paar ganz brauchbaren Gedichten und Reiseberichten sein literarisches Debüt gegeben hatte. Und natürlich der Storm, dieser friesische Anwalt, der mit seiner Novelle Immensee für Furore gesorgt hatte und wohl am hartnäckigsten von allen Versammelten an diesem Abend die unerreichbare Größe Eichendorffs beschwor.

Dieser jedoch mochte keine übermäßigen Schmeicheleien. Was war er schon mehr als ein mittlerer Beamter in Pension, als ein Schriftsteller unter so vielen? Ach, er hatte sie alle gekannt! Den Kleist, die Schlegels, den Tieck – und alle waren bereits verstorben. Er war tatsächlich der letzte Romantiker …

Jetzt mokierte sich Storm über Eichendorffs Versepos Robert und Guiscard,Das Marmorbild