Peinkofer, Michael Invisibilis

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

ISBN 978-3-492-98341-9

März 2017

Die »Invisibilis«-Reihe ist ursprünglich unter Michael Peinkofers Pseudonym Marc van Allen bei den Ullstein Buchverlagen erschienen.

© der Originalausgabe: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2007

© dieser Ausgabe: Piper Fahrenheit, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Titima Ongkantong/shutterstock.com

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich Fahrenheitbooks nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

»Die Eigenschaft der Unsichtbarkeit ist nur für zwei Dinge gut: Um unbemerkt zu fliehen oder sich unbemerkt zu nähern. Also eignet sie sich hervorragend, um zu töten …«

H. G. Wells, Der Unsichtbare

»Nehmen wir einmal an, es gäbe zwei von diesen Ringen, die unsichtbar machen – einen, der von einer moralisch guten Person, und einen anderen, der von einer unmoralischen Person getragen wird. Dann wären beide Personen unsichtbar und niemand könnte die moralisch gute Person von der moralisch schlechten Person unterscheiden …«

Plato, Über den Staat, 2. Buch

Teil I

REVELATIO

Prolog

Nordseeküste, Deutschland

16. April 1945

Ein fleckiger bleicher Mond hing am Himmel und verbreitete hellen Schein.

Er ließ die See silbern glitzern und bestrich das Land mit verräterischem fahlem Licht, in dem die länglichen U-Boot-Bunker deutlich zu erkennen waren.

Der Vorschrift gemäß waren alle Beleuchtungen gelöscht worden; niemand war erpicht darauf, dass man ihm britische oder amerikanische Bomben auf den Kopf warf. In den letzten Monaten waren andere Bunkeranlagen entlang der Küste verstärkt unter Beschuss genommen worden, und es war durchaus möglich, dass sich der Feind auch diesen Küstenabschnitt vornehmen würde. Zwar wurde Basis 27 von der Reichsabwehr nach wie vor als sicher eingestuft, jedoch war dennoch äußerste Vorsicht geboten in Anbetracht der Lage.

Aus der Ferne war ein dumpfes Brummen zu hören, das sich anhörte wie ein Hummelschwarm an einem lauen Sommerabend. Aber es waren keine Insekten, die dieses Geräusch verursachten, sondern amerikanische B17-Bomber. Das unheimliche Grollen ihrer Motoren wurde von Donner begleitet, der ihnen wie ein Echo folgte.

Bombeneinschläge …

Kapitänleutnant Werner Hornung rauchte eine Zigarette. Mit freudlosem Grinsen dachte er daran, dass er mit jedem Zug gegen das Verdunklungsgebot verstieß. Vor nicht allzu langer Zeit hatte es noch übereifrige Fähnriche gegeben, die eine solch dreiste Zuwiderhandlung sofort gemeldet hätten – Hundertfuffziger wurden sie bei den Mannschaften genannt, weil sie jede Vorschrift ohne Wenn und Aber befolgten und niemals Zweifel an deren Sinn aufkommen ließen. Inzwischen waren Hundertfuffziger jedoch selten geworden. Entweder lagen sie bleich und tot in einem stählernen Sarg, der mit ihnen auf den Grund des Atlantik gesunken war, oder aber sie hatten eingesehen, dass es in diesem Krieg nur noch eins zu gewinnen gab, und das auch nur, wenn man Glück hatte: das nackte Leben.

Es war sehr wahrscheinlich, dass Werner Hornung nicht zu jenen Glücklichen gehörte, denen es vergönnt war, in die Heimat zurückzukehren und Eltern und Geschwister, Frau und Kinder wiederzusehen. Denn nachdem er unzählige Feindfahrten überstanden hatte, nachdem er Geleitzüge angegriffen, Frachtschiffe versenkt und Unmengen Tonnage auf den Grund der See geschickt hatte, war er zu einer letzten Mission ausgewählt worden. Einer letzten Mission in einem Krieg, der längst verloren war …

Hornung gab sich selbst die Schuld dafür.

Er hatte zu jenen gehört, die voller Begeisterung in diesen Krieg gezogen waren, in der tiefen Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen und für eine gerechte Sache zu kämpfen. Doch was immer das für eine Sache gewesen sein mochte – sie war verloren gegangen. Irgendwo in den kalten Tiefen der See, im Donner der Wasserbomben und in den ausgemergelten, von Angst gezeichneten Gesichtern der jungen Kerle, die man ihm als Mannschaft anvertraut hatte.

Anfangs hatte Hornung noch aus Überzeugung gehandelt – später war es ihm nur noch ums bloße Überleben gegangen. Wohlbehalten von der Feindfahrt zurückzukehren und das U-Boot sicher in den Bunker zu steuern war das oberste Ziel, das er verfolgte. Dass man ausgerechnet ihn mit dem Kommando über das neue Boot betraut und zu dieser Geheimmission ausgewählt hatte, war ihm unverständlich. Hornung hatte sich weit von dem entfernt, was er einst hatte sein wollen, als er als junger Kadett zur See gefahren war. Undenklich lange schien das zurückzuliegen, sodass er sich kaum noch an diese Zeit erinnerte. Die Welt hatte sich verändert, schien Kopfzustehen in diesen Tagen, aus den Angeln gehoben von menschlicher Zerstörungswut …

»Boot klar zum Auslaufen, Herr Kaleu!«

Hornung wandte sich um. Vor ihm stand Hans Baumgartner, ein rothaariger Hüne mit bleicher Haut, der als neuer Leitender Ingenieur zu Hornungs Mannschaft gestoßen war, nachdem es seinen alten LI vergangene Woche erwischt hatte. Ein feindlicher Jagdflieger hatte ihm, der so viele Feindfahrten überlebt hatte, auf dem trockenen Land den Tod gebracht – Ironie des Schicksals. Baumgartner schien ein vollwertiger Ersatz für Lechner zu sein, zumal er sich mit der neuen XXI-Serie bestens auskannte.

»Verstanden.« Hornung erwiderte den militärischen Gruß seines Untergebenen. Er folgte Baumgartner zurück in den Bunker, wo sich am Kai die schlanken grauen Formen des U-Boots abzeichneten – eben keines der überkommenen VII-Boote, sondern ein nagelneues Unterseeboot vom Typ XXI.

Unvorsicht ihrer Kapitäne, Ignoranz der Admiralität, technische Überlegenheit der Alliierten – all das hatte dazu geführt, dass die zu Beginn des Krieges viel ­gepriesene U-Boot-Waffe zu einem Schatten ihrer selbst geworden war. Das neu konstruierte XXI sollte dies wieder ändern – nur ein weiterer Hirnfurz aus dem Hintern der Reichspropaganda. So sah es Hornung, und trotzdem ertappte er sich dabei, dass er Stolz empfand, während er das mehr als 76 Meter lange Unterseeboot abschritt. Der schmale, schräg aufragende Bug, der die See wie eine Schwertklinge teilte, der sich zur Mitte hin verbreiternde Druckkörper, die beiden Flak-Türme und der trutzige längliche Aufbau – all dies sprach Hornungs Sinn für Ästhetik an und gefiel ihm auf eine verquere Art und Weise.

Zudem war das XXI ein Wunderwerk moderner Technik: Mit seinen starken Elektromotoren machte das Boot in getauchtem Zustand 16 Knoten Fahrt, eine verbesserte Rückgewinnung ermöglichte es, während des gesamten Einsatzes unter Wasser zu bleiben. Empfindliche Horch- und Entfernungsmessgeräte machten den Blick durch das Sehrohr überflüssig.

Ein herkömmliches Unterseeboot hätte keine Chance mehr gehabt, die Blockade des Feindes zu durchbrechen. Flugzeuge und U-Boot-Jäger patrouillierten entlang der Küsten. Ein Boot, das gezwungen war, in regelmäßigen Abständen aufzutauchen, war für sie eine leichte Beute. Ein XXI jedoch, das über lange, sehr lange Zeiträume unter Wasser bleiben konnte, hatte durchaus eine Chance, denn hier erwies sich das Radar des Feindes als wirkungslos, und die berüchtigten Ultraschall-Suchgeräte waren zu ungenau, als dass die Position eines getauchten Bootes exakt hätte bestimmt werden können.

U-300 nannte man das neue Boot, nach den dreihundert Kämpfern, mit denen Leonidas, König der Spartiaten, im Jahr 480 v. Chr. den Pass an den Thermopylen gegen die persische Übermacht behauptet hatte. Immer noch trugen die hohen Tiere jenen Hang zur Theatralik zur Schau, mit dem sie ein ganzes Volk an den Rand des Untergangs geführt hatten.

In den Augenwinkeln sah Hornung die beiden Männer, die auf der anderen Seite des Kais standen und prüfend zu ihm herüberblickten, die Uniformen so makellos und geleckt wie am ersten Tag des Krieges. Kein Wunder, dachte Hornung. Kerle wie diese hatten in den letzten sechs Jahren keinen Kriegsschauplatz aus der Nähe zu sehen bekommen. Sie waren Schreibtischtäter, die im Sandkasten spielten und kleine Fähnchen mal hierhin, mal dorthin steckten, während brave Jungs wie Hansen, Kreiner und Lukas für sie Leib und Leben riskierten.

Die Kälte, die sie ausstrahlten, war beinahe körperlich zu spüren. Den beiden hohen Offizieren war deutlich anzusehen, dass sie Hornung misstrauten und die Mission am liebsten selbst angetreten hätten – hätten sie nur gewusst, wie man ein XXI-Unterseeboot befehligte, und hätte der letzte Befehl ihres geliebten Führers sie nicht dazu verdammt, die Stellung zu halten bis zum bitteren Ende.

Hornung hasste sie – und dennoch hatte er keine an­dere Wahl, als den Befehl zu befolgen, den man ihm erteilt ­hatte.

Einen Geheimauftrag.

Die feindliche Blockade durchbrechen, jene Koordinaten anzusteuern, die man ihm später noch übermitteln würde, Übergabe der Fracht – so lautete in aller Kürze der Befehl, den er erhalten hatte.

Kein Zerstörungsauftrag. Keine Spionagemission.

Nur eine Fracht – allerdings eine, die ziemlich wichtig sein musste.

Der Kapitänleutnant lachte leise in sich hinein. Man brauchte kein Hellseher zu sein, um zu wissen, wie dieser Krieg ausgehen würde. Was immer der schmale Bauch von U-300 auch bergen mochte, es konnte schwerlich ein Schicksal abwenden, das so gründlich heraufbeschworen worden war. Die Niederlage des Deutschen Reiches stand unmittelbar bevor – wozu also noch diese letzte Mission?

Hornung wusste es nicht und er fragte nicht nach den Gründen – er gehorchte, wie schon so viele Male zuvor. War er ein pflichtbewusster Soldat, der seinem Land diente, oder nur ein williger Handlanger, der seine Schafe folgsam zur Schlachtbank führte? Werner Hornung wusste es nicht und dies war seine Tragik – eine Tragik, die er mit vielen teilte. Die Tragik dieses ganzen verdammten Krieges, der den einzelnen Menschen zum winzigen Zahnrad in einem riesigen Mahlwerk der Zerstörung degradierte.

Kapitänleutnant Werner Hornung nahm noch einen letzten Zug, dann trat er die Zigarette sorgfältig aus und ging über die Stelling an Bord. Er hatte das untrügliche Gefühl, seine Heimat niemals wiederzusehen.

1.

Meine Kindheit …

Das Erste, woran ich mich erinnere, ist Licht. Helles Licht, das mich durch die geschlossenen Augenlider blendet.

So ist es immer gewesen.

Man lernt damit zu leben, ebenso wie mit dem strengen aseptischen Geruch, von dem man umgeben ist, und mit der beißenden Kälte, die einen umhüllt und nicht loslässt, bei Tag nicht und nicht bei Nacht.

Ich zittere und friere am ganzen Körper, fühle mich nackt und schutzlos. Ich rufe um Hilfe, zaghaft und mit einer Stimme, die in der Kälte zu gefrieren scheint, aber niemand kommt, um mir eine Decke zu reichen und mich zu wärmen.

Ich weiß nicht, was Trost ist, und doch möchte ich beruhigende Worte hören, die Gegenwart eines anderen spüren, die mir versichert, dass ich existiere. Aber so laut ich auch rufe, ich bleibe allein, obwohl ich die Schreie der anderen hören kann, in unmittelbarer Nähe. Sie haben Angst, genau wie ich, und sie rufen um Hilfe, genau wie ich.

Und ganz allmählich begreife ich, dass ich längst nicht so einsam bin, wie ich dachte …

Dallas, Texas

22. November 1963

Sie kommen die Houston Street entlang.

Eine Kolonne von Limousinen, eskortiert von Polizisten auf Motorrädern mit blinkenden Lichtern. Fahnen überall, das Sternenbanner flattert mit leuchtenden Farben in der Mittagssonne, und über allem liegt der Jubel der Menschen.

Zu beiden Seiten säumen sie die Straße, von der roten Fassade des Lagerhauses bis hinüber zum Eisenbahnviadukt. Begeistert winken sie der offenen Limousine zu, die als zweites Fahrzeug in der Kolonne rollt und auf deren Rückbank jener sitzt, dessentwegen sie alle gekommen sind: Der 35. Präsident der Vereinigten Staaten …

Freundlich winkt er in die Menge, augenscheinlich sehr glücklich über den freundlichen Empfang, der ihm in dieser Stadt bereitet wird. Seine Gattin sitzt neben ihm, in einem rosafarbenen Kleid, das kindlich und unschuldig wirkt. Auch sie lächelt und winkt, ahnt nichts von dem drohenden Verhängnis.

Der Korso des Präsidenten nähert sich der Kreuzung.

Die Wagen verlangsamen ihre Fahrt, biegen in die Elm Street ein. Der Mann, der auf dem Beifahrersitz der offenen Limousine sitzt, wendet sich zu dem Präsidenten um und sagt etwas, das keiner der Schaulustigen hören kann. Sie jubeln weiter – auch dann noch, als der Präsident zusammenzuckt und sich an die Schulter greift.

Die Kinder winken und schwenken ihre Fähnchen, Fotoapparate klicken, eine Schmalfilmkamera surrt. Ihr mechanisches Auge registriert, dass etwas in das Straßenschild einschlägt, das für einen Augenblick vor der Limousine des Präsidenten auftaucht.

Auch der Mann auf dem Vordersitz zuckt plötzlich zusammen. Ein peitschender Laut wird von der Fassade des nahen Lagerhauses zurückgeworfen, aber noch immer begreift niemand, der auf der Dealey Plaza steht, dass gerade Geschichte geschrieben wird.

Mit Blut!

Plötzlich geht alles blitzschnell.

Der Präsident wird zurückgerissen. Sein Kopf scheint zu explodieren. Blut überall. Dann noch ein Schuss. Der Oberkörper des Präsidenten kippt zur Seite und nach vorn, während die First Lady versucht, aus dem Wagen zu springen, hysterisch schreiend, das rosafarbene Kleid blutbesudelt.

Ihre Schreie verhallen nicht ungehört. Wie ein Echo pflanzen sie sich durch die Reihen der Schaulustigen fort. Die Erkenntnis, dass etwas Schreckliches geschehen sein muss, greift innerhalb von Sekunden um sich, und Panik bricht auf der Dealey Plaza aus.

William Greer, der Fahrer der Präsidentenlimousine, reagiert und beschleunigt, steuert das Fahrzeug aus der Todeszone in den Schutz der nahen Unterführung. Die Polizisten der Motorradeskorte beschleunigen ebenfalls. Aufgeregtes Geschrei. Die Beamten des Secret Service verfallen in Laufschritt, während ringsum die Menschen auf dem Platz die Flucht ergreifen.

Nur wenige von ihnen werden später aussagen, einen Schatten bemerkt zu haben, der für einen kurzen Augenblick auf dem Hügel nahe des Eisenbahnviadukts zu sehen war. Was bleibt, ist flüchtige Erinnerung, aus der Geschichte geschrieben wird.

Erinnerungen an eine Frau in einem blutbesudelten rosafarbenen Kleid.

Erinnerungen an drei Schüsse, die über der Dealey Plaza hallten.

Und an einen einsamen Schützen namens Lee Harvey Oswald …

Viertel SoHo (South of Houston)

Manhattan, New York City

Gegenwart

Er sah sich selbst laufen.

Den Hügel hinab und durch das Gewirr der Menschen, die aufgeregt schreiend durcheinanderrennen. Er blickt in angstverzerrte Gesichter und panisch geweitete Augen, spürt den eigenen pochenden Pulsschlag, hört das Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Das Peitschen der Schüsse hallt noch in seinem Kopf, und er erinnert sich, dass ihn etwas nur um Haaresbreite verfehlte.

Etwas Kaltes.

Tödliches.

Er ahnt, dass der Hauch des Todes ihn streifte, und er kann nicht anders, als weiterzulaufen, immer weiter. Längst weiß er nicht mehr, ob er einer Täuschung erlegen ist, ob es ein Phantom ist, das er verfolgt, aber der Schock, unter dem er steht, zwingt ihn dazu, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Den Hügel hinab.

Über die Straße.

In die Gasse neben dem roten Haus.

Dort hat er den Schatten zuletzt gesehen, und er ahnt, dass er sich irgendwo dort verbirgt. Obgleich er weiß, dass Schreckliches geschehen ist, obwohl der Platz hinter ihm widerhallt vom Geschrei der Menschen und vom Lärmen der Polizeisirenen, hat er keine Furcht. Neugier treibt ihn an und Verzweiflung, während er noch immer die grässlichen Bilder vor Augen hat.

Sie haben ihn ermordet!, schießt es ihm immer wieder durch den Kopf. Sie haben ihn ermordet …!

Dann hat er das Ende der Gasse erreicht.

Eine Straße und ein Parkplatz liegen vor ihm, auf dem mehrere Lieferwagen stehen. Gehetzt schaut er sich um. Sein Atem geht flach und stoßweise, während sein Herz so heftig schlägt, dass es die Brust zu sprengen droht … und für einen kurzen Moment glaubt er, erneut einen flüchtigen Schatten wahrzunehmen, einen Schemen drüben beim weißen Chrysler.

Er öffnet den Mund zu einem Schrei, der ihm jedoch nicht über die Lippen kommt, und er will loslaufen, um sich den Schatten zu schnappen.

Plötzlich ein scharfer Knall!

Ein stechender Schmerz in seiner linken Schulter – und die grässliche Erkenntnis, dass er getroffen wurde …

Schweißgebadet schreckte Winston B. Seymour aus dem Schlaf.

Er hatte ihn wieder.

Den Albtraum, mit dem alles angefangen hatte …

Aufrecht im Bett sitzend, rieb sich Winston die Schläfen, um die Benommenheit zu vertreiben. Erst ganz allmählich begriff er, dass er sich nicht an der Dealey Plaza befand, sondern in seinem Apartment in SoHo. Und dass seit jenem schicksalhaften Tag des Jahres 1963 Jahrzehnte vergangen waren. Das Grauen, das Winston empfand, war jedoch so frisch, als hätte sich der feige Mord eben erst zugetragen. Warum nur war der Traum zurückgekehrt?

Stöhnend schwang er die Beine aus dem Bett und stand auf. In seinem Apartment herrschte Halbdunkel. Blinkendes Neonlicht von der Bar auf der anderen Straßenseite fiel durch die Lamellen der Jalousie. Er trottete zum Badezimmer, vorbei an leeren Pizzakartons und verbeulten Bierdosen. Winston zog an der dünnen Strippe, und im kalten Licht einer Neonröhre betrachtete er sich in dem verschmierten Spiegel, der über dem Waschbecken an der Wand hing.

Was er sah, war ein alter Mann.

Spärliches graues Haar. Falten, die sich tief in bleiche Haut gegraben hatten. Ein Mund, dessen Winkel stets nach unten zeigten. Schwarz geränderte Augen, aus denen jede Hoffnung gewichen war.

Worauf hätte Winston Seymour auch hoffen sollen?

Darauf, eines Tages nicht mehr in diesem Loch zu erwachen und auf ein verpfuschtes Leben zurückzublicken? Warum nur war der verdammte Traum wieder zurückgekehrt?

Ein Stöhnen entrang sich seiner ausgedörrten Kehle. Er drehte den Wasserhahn auf, formte seine Hände zu einer Schale und trank einige Schlucke. Das Wasser war lauwarm und schmeckte abgestanden und nach Chlor, aber es löschte seinen Durst und half ihm, ein paar klare Gedanken zu fassen.

Er musste an Judy denken, an seine Enkelkinder, die er nie gesehen hatte, und er sagte sich, dass es so vielleicht besser war. Sie hätten keine Freude gehabt an ihrem Großvater, der es in den 64 Jahren seines Lebens lediglich zum verkrachten Detective Sergeant in einem kleinen Revier des New York Police Department gebracht hatte, verarmt an Gefühlen, leer und ausgebrannt und bar jeglicher Illusion.

Winston schloss die Augen und ballte die Hände zu Fäusten, kämpfte den Zorn nieder, der in ihm aufsteigen wollte. Das Kreischen einer Polizeisirene war von der Straße her zu hören.

Erneut machte sich der Schmerz bemerkbar, und Winston musste an das Ende des Traums denken, an die Kugel, die ihn getroffen hatte. Er knöpfte die Jacke des Schlafanzugs auf und entblößte seine linke Schulter, um sie im Spiegel zu betrachten.

Eine Narbe war zu sehen.

In über vier Jahrzehnten war die Wunde äußerlich verheilt. Aber sie war tief, so tief, dass der Schmerz selbst nach so langer Zeit zurückgekehrt war. Und das, obwohl Winston sicher gewesen war, ihn ein für alle Mal losgeworden zu sein.

»Nein«, stöhnte er leise, »nicht noch einmal …«

Gedankenverloren starrte er auf die Narbe, die von jener Kugel herrührte, die ihn am 22. November 1963 getroffen hatte – obwohl er nie an der Dealey Plaza gewesen war …

Ludwig-Maximilians-Universität

München, Deutschland

Gegenwart

»… und bin der Überzeugung, dass wir unser bisheriges so genanntes Wissen in Zweifel ziehen sollten, dass es nicht länger unangefochten Gültigkeit haben sollte. Und das gilt insbesondere auch für das Fortwirken hoher Funktionäre der NSDAP und der Verantwortlichen ihrer Exekutivorgane über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus. Dies ist eine jener unangenehmen Fragen, denen sich die Wissenschaft stellen muss – und zugleich ein hervorragendes Beispiel dafür, mit welchen Schwierigkeiten sich unsere Disziplin auseinanderzusetzen hat im Zuge des langen und mühsamen Prozesses, an dessen Ende das steht, was wir Geschichte nennen.«

Dr. Alexandra Lessing schaute vom Rednerpult auf und ließ ihren Blick über die Ränge des Hörsaals schweifen. Was sie sah, war ziemlich ernüchternd: Die Begeisterung der Studenten für ihre Theorien hielt sich in Grenzen. Nur wenige Plätze waren belegt, und von der Handvoll Studenten, die in Alex’ Vorlesung gefunden hatten, sah die Hälfte so aus, als hätte sie sich nur im Raum vertan. Der Rest machte keinen Hehl aus seinem Desinteresse und war mit anderen Dingen beschäftigt.

Wut schoss in Alex hoch, aber sie beherrschte sich und zwang sich zur Ruhe. Sie verspürte kein Verlangen, sich vor dem Dekanat erneut wegen ungebührlichen Verhaltens rechtfertigen zu müssen, also schluckte sie ihren Ärger und tröstete sich damit, dass sie schon in einigen Minuten wieder in der Abgeschiedenheit ihres Arbeitszimmers sitzen und sinnvollere Dinge tun würde, als ihre Theorien vor einer Bande von Ignoranten zu erläutern.

»Meine Damen und Herren, ich hoffe, mein Vortrag über die Schwierigkeiten der Wahrheitsfindung, die Zeitgeschichte betreffend, hat Sie zum Nachdenken angeregt. Wenn Sie die Thematik vertiefen möchten, empfehle ich Ihnen den Besuch des Seminars, das ich ab nächster Woche abhalten werde. Räumlichkeiten und genaue Uhrzeit entnehmen Sie bitte dem Anschlag am Schwarzen Brett …«

Sie hatte noch nicht ganz zu Ende gesprochen, als einer der Studenten lautstark auf den Tisch klopfte. Für seine Kommilitonen schien dies das Signal zum Aufwachen zu sein, denn hier und dort wurden Köpfe gehoben und munter in das Klopfen eingestimmt. Normalerweise pflegten Studenten auf diese Weise ihr Wohlwollen auszudrücken – auf diese Art applaudierten sie dem Vortrag eines Dozenten. In diesem Fall aber wollte man ihr offenbar zu verstehen geben, dass sie endlich, endlich aufhören sollte.

Während sie frustriert ihre Unterlagen einpackte, leerte sich der ohnehin nur spärlich besetzte Saal. Den hageren jungen Mann, der mit einem Stapel Bücher unter dem Arm zu ihr trat, bemerkte Alex nicht sofort. Erschrocken zuckte sie zusammen, als der Hagere die Bücher geräuschvoll auf das Rednerpult warf.

»Und?«, fragte er. »Wie ist es gelaufen?«

»Peter! Also weißt du …« Alex brauchte einen Augenblick, um sich von ihrem Schrecken zu erholen.

Dr. Peter Manhart war einer ihrer Kollegen am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, ein Eierkopf, wie er im Buche stand, der in der Wissenschaft seine Berufung gefunden hatte. Manharts Erscheinungsbild war entsprechend: Speckige Cordhosen und ein abgewetztes Tweedsakko, dazu eine altmodische Brille und schulterlanges, zum Pferdeschwanz gebundenes Haar – nicht aus modischen Gründen, sondern weil sein Träger keine Zeit fand, zum Frisör zu gehen.

»Wie ist es gelaufen?«, wiederholte er unbarmherzig seine Frage.

»Wie wohl?«, entgegnete Alex missgelaunt. »Überhaupt nicht. Sie haben mir nicht mal richtig zugehört.«

»Was hab ich dir gesagt?« Mit einem schwachen und auch ein wenig rechthaberischen Lächeln rückte Manhart die Brille zurecht. »Niemand will etwas von deinen Theorien wissen.«

»Aber das ist ein spannender Stoff«, verteidigte sich Alex. »Ich stelle die grundlegende Frage nach der Berechtigung unserer Wissenschaft. Was ist Geschichte und wie wird sie gemacht? Von wem wird sie geschrieben? Wer bestimmt, was in den Geschichtsbüchern steht? Das alles ist überaus interessant.«

»Für dich vielleicht«, meinte Manhart achselzuckend, »für die Studenten bist du nur eine weitere Grüblerin, die an den Grundfesten ihres Fachs rüttelt. Die wollen keine Fragen, Alex. Die wollen ihren Schein und ihre Prüfung und Schluss. Wieso sollten sie sich auch für mehr interessieren? Die meisten von ihnen landen in einem Schulsystem, das lediglich auf die Reproduktion von angeblichem Wissen ausgerichtet ist – wen interessiert da die Wahrheit?«

»Mich«, erklärte Alex wutschnaubend, klemmte sich ihre lederne Aktenmappe unter den Arm und verließ das Rednerpult. Auf der Schwelle des Hörsaals jedoch wandte sie sich noch einmal um. »Ach, übrigens …« In ihren blauen Augen funkelte der Schalk. »Was war noch mal dein Thema dieses Semester?«

»Die Rolle der Familie von der 48er Revolution bis zu Bismarck«, antwortete der Kollege nicht ohne einen gewissen Stolz.

»Mann«, versetzte Alex und nickte anerkennend, »das nenne ich einen wirklich spannenden Stoff.«

»Über mangelnden Zulauf kann ich mich jedenfalls nicht beklagen. Sowohl mein Seminar als auch die dazugehörige Vorlesung sind gut besucht. Ich bin sicher, der Professor wird das sehr zu schätzen wissen.«

»Ich auch«, entgegnete Alex mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht, das jedoch sofort verschwand, als sie sich abwandte und ein mürrisches »Klugscheißer« hinzufügte.

»Alex?«

»Was denn noch?« Sie drehte sich noch einmal zu ihm um. »Hast du mich noch nicht genug gedemütigt?«

»Tut mir leid«, sagte er und es klang ehrlich. »Darf ich Wiedergutmachung üben?«

»Wie?«

»Sagen wir bei einem Abendessen?«

Alex nahm das Friedensangebot mit einem Lächeln an. »Abgemacht«, sagte sie. »Du bezahlst.«

»Ich bezahle.« Manhart nickte. »Ich hol dich ab – sagen wir um halb acht?«

»Einverstanden.«

»Übrigens, da ist ein Päckchen für dich abgegeben worden.«

»Ein Päckchen? Was ist drin?«

»Liebe Kollegin, ich pflege Post, die nicht an mich adressiert ist, stets verschlossen zu halten«, sagte er süffisant. »Postgeheimnis, du weißt schon. Ich hab’s in dein Fach gelegt.«

»Okay, danke.«

Während in den Hörsaal bereits die ersten Studenten drängten, die sich für die »Rolle der deutschen Familie zwischen der 48er Revolution und Bismarck« tatsächlich mehr zu interessieren schienen als für die »Problematik der Geschichtsfindung anhand ausgewählter Beispiele der Zeitgeschichte«, wandte sie sich endgültig zum ­Gehen.

Über die breite Treppe und durch hohe Korridore gelangte sie in den Haupttrakt des Universitätsgebäudes und durchmaß den Lichthof mit der gläsernen Kuppel. Es hatte eine Zeit gegeben, da war Alex voller Ehrfurcht durch diese Hallen gewandelt, und der Gedanke an die vielen gelehrten Häupter, die vor ihr über diesen Boden geschritten waren, hatte sie wohlig erschaudern lassen.

Von Kindesbeinen an war Alex fasziniert gewesen von der Vergangenheit. Schon früh hatte sie sich für Geschichte interessiert, hatte Essays verfasst und wissenschaftliche Literatur verschlungen, während ihre Altersgenossinnen Liebesbriefe gekritzelt und kitschige Romane gelesen hatten. Geschichtswissenschaftler waren Alex’ Helden gewesen – Frauen und Männer, die die Vergangenheit erforschten und dafür sorgten, dass die Menschheit Lehren aus ihren Fehlern und Versäumnissen ziehen konnte. Die mutig und aufrecht den Weg des Wissens beschritten und sich von nichts und niemandem davon abbringen ließen.

Nicht einmal von einer Bande bornierter Studenten …

Alex’ Wut war noch immer nicht ganz verraucht – allerdings war sie sich inzwischen nicht mehr ganz sicher, auf wen sie eigentlich wütend war. Vielleicht erwartete sie einfach zu viel, sowohl von sich selbst als auch von anderen. Als sie an die Uni gekommen war, hatte sie den Kopf voll romantischer Vorstellungen gehabt, voller Ideale, die sich, das hatte sie irgendwann einsehen müssen, längst nicht alle verwirklichen ließen. Die Zeit, in der in ihrer Disziplin Grundlagenarbeit geleistet worden war, in der kühne Hypothesen und revolutionäre Theorien aufgestellt worden waren, die das Bild des Menschen von sich und seiner Geschichte neu definiert hatten, war längst vorbei. Die großen Rätsel der Vergangenheit waren sämtlich gelöst, und was blieb, war das fruchtlose Gezänke um des Kaisers Bart. Dabei hatte Alex so viel mehr erreichen wollen …

Sie öffnete die Tür des Büros, das sie sich mit Peter Manhart teilte, und trat in den kleinen, bis unter die Decke mit Büchern, Aufzeichnungen und Dokumenten vollgestopften Raum, in dessen Mitte zwei Schreibtische standen, mit betagt aussehenden Computern darauf. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, die von der freien Wirtschaft gefördert wurden, war Geschichte keine Disziplin, aus der sich Kapital schlagen ließ – mit entsprechend bescheideneren Etats musste die Fakultät auskommen.

Ein wenig frustriert stellte Alex ihre Tasche ab und wandte sich dann, der Gewohnheit folgend, dem Fach mit dem Posteingang zu. Dass Peter Manhart von einem Päckchen gesprochen hatte, hatte sie schon fast vergessen. Erst als sie es sah, in braunes Packpapier geschlagen und mit dicken Schnüren umwickelt, erinnerte sie sich daran.

Sie nahm es aus dem Fach und prüfte die Adresse. Tatsächlich, es war an sie gerichtet, jedoch war darauf weder ein Absender vermerkt, noch gab es einen Poststempel oder Briefmarken. Wer immer es Alex hatte zukommen lassen, musste es wohl persönlich ­vorbeigebracht haben.

Seufzend ließ sie sich in den ramponierten Schreibtischstuhl fallen, der selbst unter ihrer zierlichen Gestalt bedenklich ächzte – die knappen Mittel des Lehrstuhls wirkten sich auch auf das Mobiliar aus. Alex nahm an, dass der Stuhl zu besseren Zeiten einem habilitierten Hintern als Ruhestätte gedient hatte, ehe er ausgemustert und einer mittelmäßig erfolgreichen wissenschaftlichen Hilfskraft zugeteilt worden war.

Gedankenverloren drehte sie das Päckchen in den Händen und betrachtete es von allen Seiten, ehe sie beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie griff in den Utensilienbehälter, den sie sich mit Peter teilte und der neben ausgetrockneten Filz- und abgebrochenen Bleistiften auch eine Schere enthielt. Mit zwei Schnitten durchtrennte sie die Schnüre, schlug das Packpapier auseinander – und hielt ein kleines Buch in Händen!

Es war alt.

Der lederne Einband war abgegriffen und schmutzig, das Emblem der Reichskriegsmarine darauf eingeprägt. Die Seiten waren vergilbt und wellig, als wären sie einmal nass geworden. Am auffälligsten war jedoch der Geruch, der von dem Papier ausging – eine strenge Mischung aus Salzwasser, Fisch und Maschinenöl, die zugleich abstoßend und auf eigenartige Weise vertraut war.

Alex schlug das Buch auf und staunte, denn die Seiten waren nicht bedruckt, sondern von Hand beschrieben. Die Tinte war an vielen Stellen zerlaufen, was den Verdacht bestätigte, dass das Papier feucht geworden und wieder getrocknet war. Dennoch ließ sich das Geschriebene noch gut lesen – vorausgesetzt, man beherrschte die deutsche Handschrift, in der die Texte verfasst waren. Jeder Seite waren Zahlenangaben vorangestellt: Daten und Uhrzeiten sowie Längen- und Breitengrade. Alex’ Pulsschlag beschleunigte sich, als sie die Jahresangabe las.

1945.

Also war dies ein Logbuch der Reichsmarine, geschrieben im letzten Jahr des Krieges …

Alex’ Hände begannen vor Aufregung zu zittern, wie sie es immer taten, wenn sie es mit originalem Quellenmaterial zu tun bekam, das einen direkten, ungefilterten Kontakt zur Vergangenheit versprach. Aber schon im nächsten Augenblick erwachte ihre wissenschaftliche Skepsis.

Wieso, fragte sie sich, sollte ihr jemand ein Logbuch zukommen lassen? Kriegsgeschichte war schließlich nicht ihr Spezialgebiet. Erlaubte sich jemand einen Scherz mit ihr? Hatten sich Manhart und die anderen die Sache ausgedacht?

Alex verwarf den Gedanken sofort wieder. Peter Manhart mochte ein wenig verschroben sein, aber er war auch durch und durch Intellektueller, der sich niemals einen derart billigen Scherz erlaubt hätte. Wer immer Alex das Päckchen hatte zukommen lassen, war wohl davon überzeugt, dass es ihr bei ihrer Arbeit von Nutzen sein konnte – auch wenn Alex sich nicht vorzustellen vermochte, was ein Logbuch aus dem Zweiten Weltkrieg mit der doch eher theoretischen Problematik der Geschichtsfindung zu tun hatte …

Nachdem sie das Buch mehrmals durchgeblättert und die speckigen Seiten durch ihre Finger hatte gleiten lassen, begann sie, hier und dort ein wenig darin zu lesen. Was sie dabei aufschnappte, weckte ihr Interesse.

Von einer geheimen Mission war die Rede, und den Daten nach hatte diese im April 1945 stattgefunden, nur wenige Wochen vor der deutschen Kapitulation. Wörter wie »Zentrale«, »Druckkörper« und »WaBo« – die gebräuchliche Abkürzung für Wasserbomben – legten außerdem nahe, dass es sich nicht um das Logbuch eines Kriegsschiffs, sondern um das eines Unterseeboots handelte. Eines Unterseeboots, das sich in den letzten Kriegstagen auf geheime Fahrt begeben hatte …

Alex’ Neugier war geweckt.

Dass ihr Magen knurrte und sie in die Cafeteria hatte gehen wollen, um sich Kaffee und Kuchen zu holen, war vergessen. Vorsichtig, fast ein wenig ehrfurchtsvoll, legte sie das Buch vor sich auf den Tisch und blätterte auf die erste Seite, wollte ganz von vorn zu lesen beginnen – als sie in ihrem Nacken einen kalten Luftzug spürte.

Erschrocken schaute sie auf und stellte fest, dass die Tür des Büros weit offen stand. Hatte sie die Tür vorhin nicht geschlossen? Alex war zu gespannt auf den Inhalt des Buchs, um darüber nachzugrübeln. Kurzerhand stand sie auf und schloss die Tür. Dann setzte sie sich wieder und begann zu lesen.

»Basis 27, 16. April 1945 …«

2.

Nordatlantik

30. April 1945

»Und?«

In der stickigen Enge des U-Boots roch es nach Metall und Öl. Kapitänleutnant Werner Hornung schaute sich um.

Die Gesichter, in die er blickte, waren die von alten Männern – dabei war kaum jemand von ihnen älter als fünfundzwanzig. Viele der jungen Matrosen, die in den letzten Wochen noch zum Seedienst rekrutiert worden waren, hatten die Volljährigkeit noch nicht einmal erreicht. Zwei Wochen alte Bärte sprossen in bleichen Gesichtern, die ausgezehrt wirkten und in denen sich die Entbehrungen der Reise eingegraben hatten: Schlafmangel, minderwertige Ernährung, die drückende Enge innerhalb des Bootes und die beständige Furcht, von feindlichen Schiffen angegriffen zu werden und in der Tiefe ein nasses und kaltes Grab zu finden.

Bislang hatten Hornung und seine Mannschaft Glück gehabt. Die neue Technik des XXI-Bootes ermöglichte ein Aufladen der Batterien auch in getauchtem Zustand und machte es daher für Angriffe aus der Luft sehr viel weniger anfällig als die alte VII-Serie. So war es gelungen, die Blockade zu durchbrechen, die die Alliierten entlang der Küste gezogen hatten, von Gibraltar im Süden bis hinauf nach Norwegen. Der Ärmelkanal lag hinter ihnen, und U-300 steuerte den offenen Atlantik an, Kurs Süd-Südost. Ziel waren jene Koordinaten, die man ihnen vor zwei Tagen in chiffriertem Code durchgegeben hatte.

Mit dem Trubel entlang der Küste war es hier draußen vorbei; mit jeder Seemeile, die das U-Boot zurücklegte, entfernte es sich weiter vom Kriegsgeschehen. Somit hätten Hornung und seine Mannschaft allen Grund zum Aufatmen gehabt, und sie hätten sich darüber freuen können, den wohl schwierigsten Teil der Mission bereits hinter sich zu haben – aber sie taten es nicht.

Denn der Funkspruch, der soeben vom Festland eingetroffen war, hatte das Boot und seine Besatzung mit der Wucht einer Wasserbombe getroffen …

»Meine Herren, ich warte!«, drängte Hornung seine Offiziere, die mit ihm an der Funkerkabine standen. Das waren neben dem Leitenden Ingenieur Baumgartner auch die beiden Wachoffiziere Hansen und Kreiner. Zudem drängte ein Dutzend Matrosen aus beiden Richtungen der U-Boot-Röhre heran. »Was ist Ihre Meinung?«

»Hm …«, machte Baumgartner und strich durch seinen rötlichen Bart. »Könnte eine Finte der Amerikaner sein.«

»Und wenn nicht?«, wandte Kreiner ein. »Wenn es stimmt, was sie im Radio gesagt haben? Wenn der Führer tatsächlich nicht mehr am Leben ist und …«

»Dann wird der Krieg bald zu Ende sein«, sprach Hornung aus, was alle dachten, jedoch niemand laut zu sagen wagte. Die Reaktion der Männer auf Hornungs Worte fiel verhalten aus. Ein erleichtertes Grinsen hier oder dort, jedoch kein lauter Jubel. Jedem war klar, dass das Ende des Krieges auch die Niederlage bedeutete, und so sehr die meisten der Männer sich wünschten, nach Hause zurückzukehren – die Frage war, wie viel davon noch übrig sein würde, nachdem die Siegermächte in Deutschland einmarschiert waren.

Hornung schürzte die Lippen.

Er war schon lange kein Hurrapatriot mehr und den Durchhalteparolen aus Berlin hatte er niemals Glauben geschenkt. Dennoch war er seltsam erschüttert. Dass aber ausgerechnet Großadmiral Dönitz, der Oberbefehlshaber der U-Boot-Waffe, zum Nachfolger des Führers ernannt worden sein sollte, wollte ihm einfach nicht in den Kopf …

»Es muss eine Finte sein!« Hansen war sich inzwischen sicher. »Ausgerechnet Dönitz! Warum nicht Charlie Chaplin? Der sieht dem Führer wenigstens ähnlich!«

Einzelne lachten und auch Hornung verzog das Gesicht zu einem Grinsen. Der erste Wachoffizier hatte recht. In den letzten Monaten waren die Alliierten verstärkt dazu übergegangen, den Äther mit Falschmeldungen zu verseuchen – Propaganda, die die U-Boot-Fahrer dazu bewegen sollte, sich zu ergeben. Dass ausgerechnet der »Führer der U-Boote« zum neuen deutschen Staatsoberhaupt ernannt worden sein sollte, stank zehn Seemeilen gegen den Wind nach einer Lüge.

Gelegenheit, die Meldung auf ihre Richtigkeit zu überprüfen, hatten die Männer von U-300 nicht. Zum einen befanden sie sich auf einer Geheimmission und hatten Funkstille zu wahren, zum anderen war bereits seit mehreren Tagen keine Nachricht von Seiten der Admiralität mehr eingegangen.

Das Boot war auf sich gestellt und Hornung hatte eine Entscheidung zu treffen …

»Meine Herren«, sagte er, »zurück auf die Posten! Kurs halten und weitermachen wie bisher.«

»Jawohl, Herr Kaleu!«

»Führer hin oder her – wir haben unsere Befehle. Man hat uns mit einer heiklen Mission betraut, und diesen Auftrag werden wir nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen, bis uns jemand sagt, dass dieser Krieg vorüber ist. Verstanden?«

»Verstanden, Herr Kaleu!«

»Dann an die Arbeit!« Hornung nickte seinen Leuten auffordernd zu, die sich daraufhin sofort zerstreuten. »Und Sie, Gruber«, wandte sich der Kommandant an den Funker, »halten weiterhin die Ohren offen. Ich möchte wissen, was auf dem Festland vor sich geht. Ist das klar?«

»Ich werde mein Bestes tun, Herr Kaleu.«

»Ich weiß.« Hornung klopfte dem Unteroffizier ermunternd auf die Schulter, dann wandte er sich ab und kehrte in die Zentrale zurück. Auf dem Weg dorthin war er in Gedanken bei der Fracht, die das Boot, sein Boot, geladen hatte – jenen rätselhaften Metallkasten, der statt zweier Torpedos im Bugraum untergebracht war.

Hornung wusste nicht, worum es sich dabei handelte, und er fragte sich, inwiefern es für den Kriegsverlauf tatsächlich noch entscheidend sein konnte, was U-300 in seinen stählernen Eingeweiden verborgen hielt. Konnte die geheimnisvolle Fracht die Wende bringen? Konnte sie die Niederlage ersparen?

Hornung ertappte sich dabei, dass er es hoffte …

Homicide Squad, 6th Police Precinct

Manhattan, New York City

Gegenwart

Früher hatten sie ihn »Tiger« genannt.

Damals, als er noch jung und tatendurstig gewesen war.

Bevor ihn die Vergangenheit eingeholt hatte. Bevor ihn der Job ausgelaugt hatte. Bevor er zur Flasche gegriffen und darüber alles verloren hatte, das ihm je etwas bedeutet hatte.

Noch immer stand das Bild von Lorna und den Kindern auf Winston Seymours Schreibtisch – eine bittere Reminiszenz an die Vergangenheit. Winston hatte es nie über sich gebracht, die Fotografie zu entfernen, auch wenn er jedes Mal, wenn sein Blick darauf fiel, einen leisen Stich im Herzen empfand. Das Bild war auf der Strandpromenade von Coney Island aufgenommen worden, mit dem Vergnügungspark im Hintergrund. Es zeigte Judy und Sam mit Zuckerwatte in den Händen, und es erinnerte Winston daran, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der er es gut gehabt hatte. Oder, anders gesagt, in der nicht alles um ihn herum beschissen gewesen war.

Warum nur war der verdammte Traum zurückgekehrt?

Staub bedeckte das Bild, das in einem goldfarbenen Rahmen steckte. Winston hütete sich davor, den Staub abzuwischen, gerade so, als fürchtete er, damit alte Wunden aufzureißen. Es war gut, wenn sich Staub über die Vergangenheit legte. Vielleicht, so hatte Winston einst gehofft, würde dann irgendwann auch der Schmerz vergehen. Aber wie es aussah, war jede Hoffnung vergeblich.

Zeit, dass es zu Ende ging.

In wenigen Tagen würde das Bild zusammen mit dem Tischwimpel der New York Mets, dem hölzernen Stifthalter, einem halben Dutzend ausgetrockneter Filzschreiber und der grünen Unterlage, auf der Sergeant Seymour die letzten zwanzig Jahre seines Lebens Formulare ausgefüllt und Protokolle geschrieben hatte, in einen braunen Karton wandern, den er sich unter den Arm klemmen und nach Hause tragen würde, so wie Millionen anderer Pensionäre vor ihm. Seine Zeit im aktiven Polizeidienst ging zu Ende und es war gut so. Der Tiger hatte schon lange seinen Biss verloren – und seit vergangener Nacht träumte er wieder …

»Sergeant Seymour!«

Das heisere Organ von Lieutenant Sutton, dem Leiter der Homicide Squad, scholl quer durch das Großraum­büro. Es übertönte das Stimmengewirr und die allenthalben klingelnden Telefone.

»Ja, Sir?«

»In mein Office, Sergeant – sofort! Es gibt Arbeit.«

»Na klar, Sir.« Winston erhob sich von dem alten Schreibtischstuhl, der sich mit leisem Knarzen für die Entlastung bedankte, und durchquerte den Raum mit gemessenen Schritten. Im Lauf von Jahrzehnten hatte er sich an die Hektik gewöhnt, die beinahe zu jeder Tages- und Nachtzeit auf dem Revier herrschte – einen Außenstehenden hätten der hohe Geräuschpegel und das ständige Kommen und Gehen vermutlich verstört.

Durch eine Tür, die zur Hälfte aus Glas war und auf der der Name »Wayne P. Sutton, Detective Lieutenant« zu lesen war, betrat Winston das Office seines Vorgesetzten. Das Büro des Leiters der Homicide Squad – der Mordabteilung – glich eher einem Aquarium – es befand sich am hinteren Ende des Großraumbüros, und die oberen Hälften der drei Wände, die es umgrenzten, bestanden aus Glas; man konnte Jalousien daran herunterlassen, wenn man sich unbeobachtet unterhalten wollte, doch das war nicht der Fall.

Sutton, der hinter seinem Schreibtisch saß, das blonde Haar streng gescheitelt und die Ärmel seines weißen Hemdes hochgekrempelt, war das, was altgediente Cops einen hotshot nannten: ein agiler, durch und durch motivierter Enddreißiger, der im Polizeidienst rasch Karriere gemacht hatte. Erst vor kurzem war Sutton zum Leiter des Morddezernats im 6. Revier befördert worden. Wahrscheinlich, so sagte sich Winston, sah er noch einen tieferen Sinn in dem, was er tat. Und während er auf einem der Besucher­stühle im Büro seines Vorgesetzten Platz nahm, fragte sich Winston, ob er jemals auch so erbärmlich naiv gewesen war …

»Nun, Sergeant? Wie geht es Ihnen?«

»Danke der Nachfrage, Sir, mir geht’s gut«, versicherte Winston, der nie ein großes Talent für Smalltalk gehabt hatte. »Nur noch wenige Tage, und die Sache ist für mich ausgestanden.«

»Sicher.« Sutton nickte. »Sie freuen sich wohl schon auf den Ruhestand?«

»Kann ich nicht sagen, Sir.« Winston zuckte mit den Schultern. »Ich war noch nie im Ruhestand, wissen Sie.«