cover-image_LangerMottoparty.png

Kathrin Langer

L(i)eben ist ..

.. eine Mottoparty

31828.png

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.

 

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen ­Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

 

Copyright © 2019 by Maximum Verlags GmbH

Hauptstraße 33

27299 Langwedel

www.maximum-verlag.de

 

1. Auflage 2019

 

Lektorat: Dr. Rainer Schöttle

Korrektorat: Gisela Wunderskirchner

Satz/Layout: Alin Mattfeldt

Covergestaltung: Alin Mattfeldt

E-Book: Mirjam Hecht

 

Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Made in Germany

ISBN 978-3-948346-05-8

Inhalt

Impressum

Inhalt

Widmung

Kapitel 1 Ein Sonntag Ende Mai 1994

~ Früher Vormittag ~

Kapitel 2 14 Jahre später – 2008

~ Ein beliebiger Sonntagmorgen ~

Kapitel 3 24 Jahre später – 2018

~ Juli ~

~ August ~

~ September ~

~ Oktober ~

~ Silvester ~

Kapitel 4 25 Jahre später – 22. Januar 2019

~ Vormittags ~

~ Früher Abend ~

~ Etwas später am Abend ~

Kapitel 5 22. Januar 2019

~ Später Abend ~

Kapitel 6 Vorbereitungen

~ 23. Januar 2019 ~

~ 24. Januar 2019 ~

Kapitel 7 Wiedersehen – 25. Januar 2019

~ Gegen Mittag ~

~ Irgendwo zwischen Bremen und Lüneburg ~

~ Kurz nach 14 Uhr ~

~ Gegen 17.40 Uhr ~

Kapitel 8 Der Tag danach – 26. Januar 2019

~ Der Morgen ~

~ Der Abend ~

~ Die Nacht ~

Kapitel 9 Nicht mehr und nicht weniger – 29. Januar 2019

~ Katerstimmung ~

~ E-Mails ~

Kapitel 10 Prüfung – 2 Wochen danach

~ Die Fahrt ~

~ Plau am See ~

Kapitel 11 Alles auf Anfang

~ Lauschangriff ~

~ Entscheidung ~

Rezepte

Sophies Apple-Crumble

Sophies Sonntagsbraten – Lammkeule mit ­Thymiankartoffeln

Sophies Stoffwechsel-Shake

Sophies schnelles Gurken(abend)brot mit Quark

Sophies solide Lasagne

Sophies ultimative Party-Himbeer-Baiser-Sahne-Speise

Hellis verführerische Tagliatelle in Spinat-­Gorgonzola-Sauce

Sophies zuckersüßer Becher-Butterkuchen

Sophis Ohne-Reue-Genießen-Filetsteak mit ­Raclette-Spinat

Hellis liebestaumeliger Norklicht

Die Autorin: Kathrin Langer

Zehn Fragen an … Kathrin Langer

Vorankündigung

L(i)eben ist .. .. eine Rhabarberschorle

Seit September im Handel

Seit Oktober im Handel

Widmung

Für S.

Kapitel 1
Ein Sonntag Ende Mai 1994

»Better stand tall when they’re calling you out
Don’t bend, don’t break, baby, don’t back down.«
(aus dem Rocksong »It’s my life« der Rockband

»Bon Jovi«; Album: »Crush«; Text: Jon Bon Jovi, ­Richie Sambora, Max Martin; Label: Island Records

(Universal Music))

Früher Vormittag ~

Angespannt klopfte Sophie mit dem Zeigefinger auf das Lenkrad, während ihr Jon Bon Jovi wie ein Mantra »It’s my life« in die Ohren brüllte. Wobei er nichts für das ­Brüllen konnte. Sophie hatte die Lautsprecher in ihrem gold­farbenen Golf I, der allen mechanischen Naturgesetzen zum Trotz noch nicht das Zeitliche gesegnet hatte, bis zum Anschlag aufgedreht, sodass die altersschwachen Standardlautsprecher fast aus den Türen herausvibrierten und mit dem einhergehenden Geräusch scheppernd Jons Stimme übertönen wollten. Lautsprecher und Jon Bon Jovi sangen jeder auf seine Weise gegeneinander an und Sophie saß mittendrin. Sie kannte das schon und ließ sich davon nicht irritieren, ihr Zeigefinger klopfte weiter.

Inzwischen hatte er sich dem Takt von »It’s my life« ­angepasst, dennoch brachte die Musik keine Entspannung in ihren Körper. Sie war von einer inneren Unruhe ­getrieben und hätte zu gern das Gaspedal heruntergedrückt, doch vor ihr tuckerte ein Trecker stoisch dahin und an ­Überholen war auf der kurvenreichen Landstraße nicht zu denken. ­Allein schon dieses Schild, das an dem mächtigen Hinterteil des landwirtschaftlichen Gefährts angebracht war und eine fette schwarze Fünfundzwanzig in einem roten Kreis zeigte, machte sie ganz zappelig.

Sie senkte kurz ihren Blick auf den Tacho und ­stellte fest, dass ihr Vordermann noch nicht einmal seine ­erlaubte Höchstgeschwindigkeit nutzte und nur knapp fünfzehn Stundenkilometer auf den Asphalt brachte. Da wäre ich ja mit dem Fahrrad schneller gewesen und hätte mich vor allem ohne Risiko vorbeitreten können, dachte Sophie bei sich und zog genervt die Augenbrauen hoch. Sie konnte nur beide zusammen hochziehen, obwohl sie grad ­letzte Woche ewig vor dem Spiegel gestanden und versucht ­hatte, nur eine zu heben. Irgendwann hatte sie, wie schon ­viele Male davor, aufgegeben. Jetzt war es egal, dass sie es nur mit ­beiden konnte, denn im Moment hatte sie kein ­Publikum, dem sie ihr Missfallen mit dieser Geste wortlos ­demonstrieren wollte. Ihre Freundin Anja konnte es, dieses Ding mit nur einer Braue, und Sophie beneidete sie dafür. Natürlich nur im Geheimen. So, wie sie auch nur im ­Geheimen geübt hatte.

Jetzt schien der Trecker vor ihr noch langsamer zu ­werden. Machte der Fahrer das extra? Um sie zu ärgern? Was sollte das? Sophie war schließlich nicht so früh auf­gestanden, weil sie entschleunigt werden wollte! Wieder zuckte ihr Fuß, doch noch immer wagte sie mit ihrem klappernden Auto und lediglich Bon Jovi als Mitfahrer kein Überholmanöver. Diese Straße, die immer wieder von Dörfern mit grünen Ortsschildern unterbrochen wurde, war ihr nicht geheuer. Auch nicht nach den knapp zwei Jahren, die sie hier regelmäßig entlangfuhr. Der Fahrweg war einfach zu kurvig und hinter jeder Biegung konnte ein Einheimischer lauern, der gerade seinen unerfüllten Traum von einem Fahrertraining auf dem Nürburgring auslebte.

Schicksalsergeben fuhr Sophie also im Schnecken­tempo des Treckerfahrers weiter und dachte unwillkürlich an eine Polonaise, bei der man immer aufpassen musste, seinem Vordermann nicht in die Hacken zu treten. Sie seufzte auf und entschied sich, aus der Not eine Tugend zu machen. Zuvor verwies sie allerdings ihre Lautsprecher und Jon Bon Jovi in die Schranken, indem sie an ihrem Blaupunkt-Radio die Lautstärke herunterregelte. Im ­Anschluss hob sie ihre griffbereite Hand vertikal nach oben und ­drehte sich den Rückspiegel so zurecht, dass sie sich selbst Auge in Auge gegenübersaß.

Sophie drehte behutsam. Ihr Rückspiegel war ­sensibel. Sie wusste aus leidiger Erfahrung, dass er sich bei einer zu groben Behandlung gern aus seiner Verklebung von der Frontscheibe löste, um dann wie ein Mordwerkzeug in ­ihrer Hand zu liegen. Mordwerkzeug! Wie kam sie denn jetzt auf den Gedanken? Sophie schüttelte über sich selbst den Kopf, während ihr Blick für einen Augenblick zurück auf die Straße und den Trecker vor ihr huschte. Nichts ­hatte sich an der Situation geändert.

Sie wandte sich wieder dem Spiegel zu, der ihr schon bei schneller Musterung ihre Ahnung bestätigte: Die ­dunklen Ringe von der gestrigen durchsumpften Nacht unter ihren Augen hatten sich durch die vorhin noch schnell aufgelegte Puderschicht hindurchgearbeitet.

Mist, aber irgendwie bin ich ja auch selbst schuld, dachte Sophie mit einem winzigen Anflug von Resignation. Sie war extra früh aufgestanden, obwohl der Abend zuvor bis in den Morgen gedauert hatte. Sie war mit Anja tanzen gewesen und sie hatten es ordentlich krachen lassen. So wie nahezu jeden Freitag und Samstag.

Sophie fuhr regelmäßig am Wochenende nach Hause – nicht umsonst hatte sie sich eine Uni in der Nähe ­gesucht. Sie mochte nicht nur das Gewohnte, sie mochte vor allem ihre Freunde und die Stadt, in der sie geboren und groß geworden war und in der sie noch immer ihr ­Zimmer in der Wohnung ihrer Mutter hatte. Dennoch hatte sie an diesem Wochenende an der Ostsee getanzt und gefeiert. Aber der kleine Ort Timmendorfer Strand zählte für ­einen echten Hamburger sowieso als Stadtteil und nicht als schleswig-holsteinisches Ostseebad zum Erholen. Im Sommer lag man tagsüber am Strand, am besten Brücke rechts, wie der schmale Abschnitt rechter Hand direkt neben der See­brücke kurz genannt wurde und wo es mehr um Sehen und Gesehen werden ging als um einen entspannten Tag am Meer. Frauen zogen hier die Bäuche ein und Männer ­führten nicht nur ihre Muskeln vor, sondern ebenso die neueste Badehosenkollektion. Und ganz gleich ob Frau oder Mann, wer sich zum Dabeisein an der Brücke rechts entschieden hatte, der tat das nur vorgebräunt. Weiße Haut war hier verpönt.

Sophie machte das alles mit. Warum, wusste sie selbst nicht genau. Manchmal, in besonders selbstkritischen ­Momenten, sagte sie sich, dass es eben einfacher war, mit der Masse mitzuschwimmen, obgleich sie sich selbst nicht als Mitschwimmerin sehen wollte, aber das war ein anderes Thema, über das Sophie nicht gern nachdachte.

Auch den gestrigen Tag hatte sie gestaltet wie ­unzählige Hamburger, die das schöne Wetter nutzten, um sich an der Brücke rechts zu präsentieren und in der Masse aufzugehen. Obligatorisch war dann auch das nächtliche ­Tanzen im ­Timmendorfer Club Nautic oder zum Ein­stimmen nach­mittags der Besuch im Café Wichtig, das eigentlich Café ­Engels Eck hieß, was jedoch kaum einer wusste. Auch ­Sophie ­wusste das nur, weil ein Timmendorfer mit ihr ­studierte und er sich neulich über die Schnösel-­Hamburger ­aufgeregt hatte, die regelmäßig am Wochenende – also dann, wenn auch er dort war – in sein Heimatörtchen ­einfielen, die Preise hoch­trieben und er mit seinem Handtuch keinen freien Flecken mehr am feinen Sandstrand fand. In ­diesem Zusammenhang ließ er den richtigen Namen vom Café Wichtig fallen.

Sophie hatte verständnisvoll zu seinen Worten ­genickt, sich jedoch auch irgendwie ertappt gefühlt. Sie hatte sich gefragt, ob er sich ihr gegenüber ausließ, weil er sie an ­»seinem« Strand gesehen hatte und ihr durch die ­Blume mitteilen wollte, dass er sie auch für eine Schnösel-­Hamburgerin hielt. Oder meinte er im Gegenteil eine ­Verbündete in ihr gefunden zu haben? Sie war sich da nicht so sicher gewesen, da ihr derzeitiger Umgang an der Uni alles andere als schnöselig war und von dem sie wusste, dass sich die Geister an ihm schieden. Ihr eigener auch, was jedoch nichts an ihrer Verliebtheit änderte. Er hieß Helli. Eigentlich Michael Hellweg, aber alle Welt nannte ihn ­Helli. Sophie mochte keine Spitznamen, mochte sie noch nie, und glücklicherweise war bisher auch noch niemand auf die Idee gekommen, ihren Namen dermaßen zu verunstalten. So würde sie es nämlich empfinden.

Hellis richtigen Vornamen hatte sie erst gekannt, nachdem sie sich zum ersten Mal geküsst hatten. ­Vorher hatte sie nicht nachgefragt, weil sie andere Gedanken ­bewegten, und danach war es für sie zu spät gewesen, sich noch ­umzugewöhnen – »Helli« hatte sich über die Tage schon zu sehr in ihr Hirn eingebrannt, als dass sie diese Bezeichnung einfach durch ein herkömmliches »Michael« hätte ­ersetzen können. Das wäre mit der Umerziehung ­eines Links­händers auf Rechts gleichgekommen. Also war sie über ihren ­Schatten gesprungen und nannte ihre neue Liebe wie alle anderen an der Uni Helli, wenn sie ihm nicht gerade ganz anders geartete Kosenamen in die Ohren flüsterte, die auch nur für seine bestimmt waren.

Sophie musste spontan lächeln. Allein bei dem ­Gedanken an Hellis Ohren und Läppchen wurde ihr ganz seltsam zumute. Irgendwie warm ums Herz – und gleich­zeitig war sie aufgeregt. In einem seiner Ohrläppchen ­steckte ein Ohrring. Auch so eine Sache. Ähnlich wie der Spitzname und der ganze Mann. Aber Ohrring hin oder her, er hatte diese wunderbaren Härchen an seinen ­Läppchen, die man nicht sah, aber fühlte, wenn man an seinen Ohren saugte. Ihre Freundin Kristin hielt sie für ­bekloppt, aber für Sophie waren genau diese kleinen, kaum sichtbaren, dafür aber umso borstigeren Härchen ein Sinnbild von ­Männlichkeit. Denn welche Frau bitte schön hat schon ­winzige ­borstige Härchen an ihren Ohrläppchen? Sophie kannte keine, ­allerdings war sie auch noch keinem ­Frauenohr so nahe ­gekommen. Und wenn sie ehrlich war, war Helli auch der erste Mann, bei dem sie Ohrläppchen­härchen festgestellt hatte. Bisher hatte sie sich nicht ­sonderlich für die Ohren ihrer Freunde interessiert. Bei Helli schon. Alles an ihm ­interessierte sie.

Sophie stutzte innerlich. War Helli ihr Freund? Also – ihr richtiger Freund? Er war momentan der Junge, mit dem sie sich traf und der ihr Herzklopfen bereitete, aber waren sie zusammen? Sicher war sie sich da nicht und das lag nicht an ihren Gefühlen ihm gegenüber … Sophie ­schüttelte den Kopf so, als wollte sie eine lästige Fliege vertreiben. Ihr stand jetzt überhaupt nicht der Sinn danach, über den ­Status ihrer Beziehung mit Helli nachzudenken. Das würde sie nur aufregen und immerhin war der Kommilitone der Grund, für den sie sich heute morgen aus dem Bett in der Ostseewochenendwohnung von Anjas Eltern nach knapp zwei Stunden Schlaf herausgerollt hatte. Mit der Aussicht auf Helli war das gar nicht schwer gewesen und auch im Moment war sie absolut nicht müde, obwohl ihr Spiegelbild eine andere Sprache sprach. Dafür war die Sehnsucht viel zu groß.

Sie war definitiv verliebt. So richtig. So wie noch nie. Dabei war sie schon einundzwanzig und studierte im ­vierten Semester. Bereits siebeneinhalb Jahre zuvor ­hatte sie festgestellt, dass ihre Barbiepuppen sie nicht mehr großartig ­fesselten – höchstens dann, wenn sie Ken mit ins Spiel ­gebracht hatte. Das hatte sicherlich daran ­gelegen, dass ­Sophie in diesem zarten Alter ihren ersten richtigen Kuss bekommen und daraufhin Feuer gefangen hatte. Es war im Sommerurlaub in Frankreich gewesen, und der Junge war nicht nur ein Jahr älter als die damals Vierzehn­jährige und Franzose, sondern auch recht erfahren. Auf ­jeden Fall ­hatte er, sein Name war Guillaume, Sophie nicht nur ­küssend überwältigt, sondern ihren gesamten ­Körper ­prickeln ­lassen, als er seine Zunge in ihren Mund gesteckt und ­daraufhin ihr bislang fremde Rollenspielchen ­veranstaltet hatte. Seitdem hatte Sophie nur noch küssen wollen. ­Zumindest so lange, bis es in ihren sexuellen ­Aktivitäten eine Weiterentwicklung gegeben hatte.

Den Trecker vor ihr fest im Blick musste Sophie jetzt in sich hineinschmunzeln, denn irgendwie war das ja ­überall so im Leben, das wusste man schon von Eva und dem ­Apfel: Hatte man erst einmal von einer ­verlockenden Frucht ­gekostet und Geschmack daran ­gefunden, ­wollte man sich immer wieder daran gütlich tun, bis auch das ­irgendwann nicht mehr reichte, man mehr ­wollte oder ­geboten ­bekam und sich beispielsweise plötzlich den Apfel warm mit ­Vanillesoße zu Gemüte führte. Den Apfel mit Vanillesoße hatte Sophie bis knapp vor ihrem ­siebzehnten Geburtstag genossen. Sie war also nicht früh, aber auch nicht spät dran gewesen, als sie die nächste Stufe mit ­Vergnügen erklomm, die einem Apple Crumble gleich­gekommen war.

Wie zur Bestätigung brummte Sophies Magen ­anklagend vor sich hin – sie hatte seit dem Eis gestern Nach­mittag im Cafe Wichtig noch nichts wieder ­gegessen. Allerdings ­reagierte ihr Körper sowieso immer bei dem ­Gedanken an Apple Crumble. Ihr Magen ­knurrte dann grummelnd und in ihrem Mund lief alles Wasser ­zusammen, das sie ­produzieren konnte. Sie liebte ­diese Nachspeise aus der ­englischen Küche, was wohl auch der Grund war, ­weswegen sie Apple Crumble mit dem Geschlechtsakt gleichsetzte. Geschlechtsakt, was für ein dämlicher ­Begriff! Aber bumsen, ficken, vögeln waren hässliche ­Worte, die auch gar nicht das ausdrückten, was Sophie empfand, wenn sie »dabei war«. Der Ausdruck »Sex machen« war ihr ­wiederum zu einseitig und »Liebe machen« zu viel des ­Guten, »miteinander schlafen« hörte sich irgendwie langweilig an. Dann blieb sie doch lieber sachlich und auf eine gewisse Weise neutral und nannte es in Gedanken ­»Geschlechtsakt« – zumindest in diesem Moment jetzt in ihrem goldfarbenen Golf hinter einem Trecker mehr ­rollend als fahrend auf der Landstraße zwischen Hamburg und Lüneburg. Sie war ja eh mit sich allein und würde es auch nicht laut vor anderen sagen.

Ihren ersten »Geschlechtsakt« hatte Sophie mit Jan erlebt. Der zwei Jahre Ältere war genauso unerfahren und verliebt in sie gewesen wie sie in ihn. Sie waren zu diesem Zeitpunkt bereits ein Dreivierteljahr zusammen, als »es« stattfand, und auch danach noch ein paar Jahre. Jan hatte sie in eine andere Welt versetzt. Nicht in der ­Horizontalen, sondern gesellschaftlich. Während Sophies Heimat ein ­einfaches multikulturelles Viertel war, war der Arztsohn Jan im grünen Speckgürtel Hamburgs aufgewachsen. Er war der Prinz gewesen, der sie hätte rausholen können. Das hatte ­Sophie zumindest anfänglich gedacht, ­wobei sie in dieser Hinsicht stark von den ­tschechoslowakischen ­Märchenfilmen geprägt war, insbesondere und wie so ­viele von Drei Nüsse für Aschenbrödel. Sie hatte sogar in ­ihrer ­kleinen Schatzkiste, die aus Mädchentagen stammte und bis ­heute überdauert hatte, drei ­aneinanderhängende ­Haselnüsse, die sie auch jetzt noch manches Mal heraussuchte und in der Hand begutachtete. Sie tat es immer dann, wenn sie sich sehnlichst etwas wünschte und ­überlegte, ob sie wie die Prinzessin aus der Asche eine Nuss dafür verwenden sollte, um diesen Wunsch zu bekräftigen. Bisher hatte sie die ­Nüsse jedoch stets unverrichteter ­Dinge ­wieder zurück in die ­Kiste gebettet, um sie für wirklich wichtige ­Wünsche aufzubewahren. Ob ich sie jemals ­brauchen ­werde?, ­fragte sich Sophie jetzt. Momentan war sie wunschlos glücklich und sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass sich das ändern würde. Allerdings hatte sie es damals auch zu Jans Zeiten so gefühlt und es war anders gekommen. Sie hielten immer noch Kontakt, aber der war eher der ­Romantisierung der gemeinsam miteinander ­verbrachten ­Entdeckungszeit ihrer Körper geschuldet als einem freundschaftlichen ­Verhältnis. Jan war kein Kämpfer, der sich durch Dornen­hecken schlagen oder Türme erklimmen würde, um seiner Liebsten nahe zu sein. Er war geduldig und hielt es eher mit Worten als mit Taten. Sicher wäre er ein guter ­Minnesänger gewesen, doch da diese Zeiten ­vorbei waren, hatte er sich damals während ihrer ­gemeinsamen Zeit nach seinem zwölfmonatigen Grundwehrdienst für das ­Jurastudium entschieden. Sophie hatte sich hingegen den Kulturwissenschaften zugewandt und das bedeutete das Aus für die Jugendliebe.

Es hatte nichts mit den Studienorten zu tun, Jan ­studierte in Hamburg und Sophie in Lüneburg. ­Diese ­Entfernung war gut überbrückbar, lagen doch nur etwa fünfzig ­Kilometer zwischen den beiden Städten. Nicht überbrückbar war für Sophie der Dünkel, den Jan mit ­Aufnahme seines Studiums genauso wie seine Kommili­tonen an den Tag legte. Hatte es ihn vorher nie gestört, meinte Sophie ­unmittelbar nach seinem Antritt im Rechtshaus eine gewisse Scham bei ihm zu spüren, wenn sie in Turnschuhen und alter zerlöcherter Jeans dort auftauchte. ­Juristen trugen nach Sophies ­Beobachtung schon ­während des Studiums Anzug und Barbourjacke oder waren ­zumindest ­konservativ und markentreu gekleidet. Wer sich lässig geben wollte, hatte Segelschuhe von Timberland an den Füßen, eine dunkelblaue Jeans von Replay und ein Polo von Lacoste an.

Kulturwissenschaftler stellten sich anders zur Schau, um die Wahl ihres Studiums auch optisch deutlich zu ­machen. Sie waren klamottentechnisch eine Mischung aus Sozial­pädagogen und Betriebswirten. Vielleicht lag es ­daran, dass der Studiengang noch recht jung war – in ­Lüneburg war er erst fünf oder sechs Jahre zuvor aus ­einzelnen ­Bildungszweigen zusammengerührt worden und dies mit der wohl im ­Vorfeld gut kalkulierten ­Folge, dass die ­ehemalige Hochschule ­damit zur Universität aufgerückt war. Kulturwissenschaftler hingen also dazwischen. ­Zwischen den ­althergebrachten Studiengängen, die zu ­einem ver­einigt worden waren, und einem bunt ­gemischten Kleiderschrank, der weiße Blusen genauso ­beherbergte wie ­schwarze ­T-Shirts, wovon mindestens ­eines mit dem ­Aufdruck von KISS-Bassist Gene ­Simmons versehen war, der unablässig dem Gegenüber seine ­überaus lange ­Zunge herausstreckt. Auf diese Weise mussten ­Kulturwissenschaftler sich nicht entscheiden, nicht für einen Weg, nicht für ein Outfit und schon gar nicht, wer sie eigentlich sein wollten. Alles ging, nichts musste und das zeigten sie auch nach außen.

Ein Grund mehr, warum dies der optimale Studiengang für Sophie war. Die junge Frau hatte zeitlebens das Empfinden, irgendwo dazwischenzuhängen. Sie hatte sich noch nirgends so richtig dazugehörig gefühlt, machte bei den einen mit und schielte zu den anderen. Sie wollte es so. Wollte sich nicht bekennen, kein ultimatives ­Statement ­abgeben, weil sie nie wusste, wie sie am nächsten Tag ­dachte und worauf sie Lust hatte. Sie ließ sich lieber ­treiben und pickte sich auf ihrem Weg das Beste heraus. So wie aktuell mit Helli. Diesem Jungen aus einer mittelgroßen Kreisstadt, der Sophies Herz berührt hatte, weil sie sich in ihm selbst erkannte.

Sie runzelte die Stirn, ließ es jedoch ganz schnell ­wieder bleiben, als sie es bemerkte, weil ihre Oma ihr eingebläut hatte, dass man davon tiefe Falten bekam, die einer Frau nicht gut zu Gesicht stünden.

Sie überlegte: Ja, es stimmte, sie sah sich in ihm und er kam ihr trotz seiner vielen Freunde und Bekannten, die sich um ihn scharten, allein mit sich vor. So, wie sie sich auch wahrnahm. Dennoch war Helli anders als sie. Er stand zu sich. War immer ganz bei sich. Er war authentisch. Das machte ihr sogar manchmal Angst. Jetzt auch wieder. Sie fragte sich, wie er sie in ihrer Uneindeutigkeit ­eigentlich mögen konnte. Oder hatte er sie vielleicht noch gar nicht durchschaut? Aber was wäre, wenn er es früher oder ­später tat? Wollte sie das? Noch hatte er wie sie die rosarote Brille auf. Sie machten erst seit ein paar Wochen Sachen ­miteinander. Schöne Sachen. Bettsachen. Und hier war er definitiv der beste Apple Crumble mit dem besten ­Vanilleeis, den Sophie bisher gekostet hatte. Gut, sie ­hatte noch nicht allzu viele Vergleichssubjekte vorzuweisen, aber einer war seit ihrem ersten Mal mit Jan ­dazugekommen und er war in keinerlei Hinsicht der Rede, geschweige denn ­einen weiteren Gedanken wert. Helli schon, und – da war sich Sophie sicher – das würde sich auch nicht ändern, wenn sie keinen Kontakt mehr hätten. Was sie nicht hoffte, aber er war einfach ein Mensch, den man nicht vergessen konnte. Und das, was sie miteinander machten, würde sie in fernen Zeiten als alte Frau bestimmt auch noch ihren ­Freundinnen im Pflegeheim erzählen. Denn Helli war für sie definitiv mehr als nur ein Naturtalent, was seine körperlichen Fertigkeiten anging. So brachte er Sophie nicht nur zum Stöhnen, sondern gab ihr ein Gefühl der Leichtigkeit, das seinesgleichen suchte, und alles nur, weil sie ­miteinander redeten und redeten und redeten und das selbst, während sie es miteinander taten. Dann fielen aber nicht diese Einwortsachen wie »tiefer«, »ja«, oder mal zwei Wörter wie »Oh Baby«. Vielmehr erzählten sie sich Dinge, die sie sich auch erzählen würden, wenn sie sich gerade auf einer Party begegnet wären und in die Küche verzogen hätten, um sich näher kennenzulernen.

Gut, gab Sophie vor sich selbst zu, da sie merkte, dass sie sich gerade in diesen schönen Gedanken hinein­steigerte, zweifellos war es auch nur reines Geplänkel und nicht unbedingt tiefgründig, aber es brachte Spaß und war häufig eben auch lustig. Natürlich war ihr Gerede dabei – eigentlich war Plaudern der bessere Begriff – nicht ganz so flüssig, eher atemlos und abgehackt, aber das tat dem gegenseitigen Verständnis keinen Abbruch.

Sophie lächelte glücklich vor sich hin. Plötzlich ­empfand sie sogar gegen den Treckerfahrer vor sich ­keinen Groll mehr. Die warmen Gedanken an Helli ­durch­flutenden sie dermaßen, dass sie in diesem Moment die ­ganze Welt ­hätte umarmen können. Konnte es wirklich sein, dass sie mit ­einundzwanzig Jahren den Mann ­ihres Lebens ­gefunden hatte? Natürlich, sie lernten sich noch immer kennen, aber in ihr war da dieses ganz ­eigen­artige, bisher nie ­da ­gewesene Gefühl, wenn sie nur an ihn ­dachte. Und das hatte kaum mit Sex zu tun. Selbst wenn sie nicht gerade miteinander im Bett waren und sich staunend vor Glück berührten, brachte Helli sie zum Lachen. Er ­erzählte zwar gern ­Witze, über die Sophie sich regelmäßig vor ­Lachen ausschütten ­konnte und die ihr immer wieder ­bestätigten, dass sie den ­gleichen ­Humor hatten, aber das war es nicht. Es war einfach ­seine Art, wie er das Leben sah und nahm. Helli war der ­positivste Mensch, den Sophie kannte. Selbst eine ­verhauene ­Klausur, der Stimmungskiller eines ­jeden Studenten, konnte ihm nichts anhaben. Neues Spiel, ­neues Glück war seine ­Devise, und er sah in allem nur das Gute. Suchte regelrecht danach und freute sich wie ein kleines Kind, wenn er es gefunden hatte. Allein, dass sie ­diesem Menschen mit seiner ­bejahenden Art begegnet war, ­empfand Sophie als noch viel größeres Glück als das beste ­Vanilleeis auf dem besten Apple Crumble.

Normalerweise prüfte Sophie im Kino den Humor der Männer, die grundsätzlich für sie infrage kommen konnten. Sie schleppte dann ihren jeweils Auserkorenen in irgend­eine Komödie und achtete haargenau auf die ­Szenen, über die er lachte. Wenn es ausschließlich die ­gleichen ­waren wie die, über die sie selbst sich nicht mehr ­einbekam, war ­dieser ­erste Test bestanden. Ein Befriedigend ­bekam er, wenn er mit ihr zusammen lachte, aber auch mal ­allein für sich an ­anderen Stellen – das konnte sie durchgehen lassen, ­schließlich war niemand perfekt. Wenn er aber ­grundsätzlich über ­anderes lachte als Sophie, hatte er ­verloren, und genauso war er sie direkt wieder los, wenn sie sich durch sein Lachen fremdschämte. Das passierte, wenn es ein paar Dezibel zu laut oder auch Aufmerksamkeit ­heischend klang und die ­Menschen sich nach der merkwürdigen Geräuschquelle die Köpfe verdrehten, obwohl sie im dunklen Kino nichts ­erkennen konnten. Natürlich konnte Sophie ebenfalls nicht ausmachen, wer sich alles umdrehte, aber sie spürte das. Sie hatte auch gleich gespürt, dass sie mit Helli nicht ins Kino würde gehen müssen, als sie ihn zum ersten Mal in der ­Cafeteria der Uni hatte sitzen sehen.

Sie hatte sich gerade eine Cola-light gekauft und sich nach einem Platz umgeschaut, auf dem sie gemütlich die nächsten eineinhalb Stunden verbringen konnte, denn erst dann war ihre nächste Vorlesung dran gewesen. Ihre ­Augen waren an ihm hängen geblieben und hatten sich, sosehr sie sich auch bemühte, nicht wieder von ihm lösen wollen. ­Helli saß mit einem ganzen Trupp zusammen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Sophie noch nicht gewusst, dass er ­Helli ­gerufen wurde. Sie wusste gar nichts über ihn, denn sie hatte ihn ­zuvor noch nie gesehen, geschweige denn ­kennengelernt. Das wiederum hätte sie gewusst. An dem Tag schien die Sonne warm vom Himmel und die ­Gruppe hatte sich im Außenbereich der Cafeteria Stühle in einem Kreis ­zusammengestellt. Ein paar Gesichter aus der ­Runde ­hatte Sophie vom Sehen gekannt, zwei Mädchen davon etwas besser. Sie studierten wie sie selbst Kultur­wissenschaften und bis zu diesem Tag im März hatte ­Sophie keinen Draht zu ihnen gefunden. Sie hatte gewusst, dass die beiden aus Köln stammten, und bevor sie es erfuhr, ­hatte sie es geahnt, denn die beiden Freundinnen waren stets überschwänglich fröhlich und für Sophies nordisches Gemüt oft etwas zu laut. Auch in jenem Moment an der Tür zum Außenbereich hatte sie das Getöne der Mädchen aus der Runde ­heraus­gehört, ohne jedoch zu verstehen, was genau die beiden ­sagten. Im Grunde war es Sophie auch gleichgültig gewesen, da sie nach wie vor nur Augen für den Jungen gehabt hatte, der deutlich hervorstach. Sie hatte ihren Kopf schiefgelegt und überlegt, dass er ­aussah wie ein Kulturwissenschaftler. Dann hatte sie ­jedoch ­daran ­gezweifelt, dass er KuWi ­studierte. Schließlich hätte sie ihn in diesem Fall ­wenigstens schon einmal wahrnehmen ­müssen, selbst wenn er nicht wie sie im vierten Semester war, da sie in ihrem Studiengang eine überschaubare ­Anzahl an Studenten waren.

Sie hatte ihren Blick noch einmal über die ­Runde ­schweifen lassen, die sich angeregt unterhielt und aus der immer wieder ein heiseres Lachen hervordrang, das aus der Kehle des Unbekannten kam – bis auf die der beiden ­Mädchen gehörten die Gesichter, die sie kannte, alle zu ­BWLern. Gerade, als ihre Augen wieder bei dem ­Jungen angekommen waren und sie erneut in seinen Anblick ­versinken wollte, hatte sich eine Hand auf ihre Schulter ­gelegt. Sophie war augenblicklich herumgewirbelt und ­hatte sich Martin gegenüber gesehen.

»Na, was träumst du hier herum?«, hatte Martin ­gefragt.