Rainer Innreiter

 

 

 

 

Der Leichenbaum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Twilight-Line Medien GbR
Redaktion „Dunkle Seiten“
Obertor 4
D – 98634 Wasungen

www.twilightline.com
www.buch-wasungen.de

2. Auflage, Februar 2016
ISBN (Print) 978-3-941122-13-0

eBook-Edition

© 2008 – 2016 Twilight-Line Medien GbR
Alle Rechte vorbehalten.

 


Inhalt

 

 

Puppen

 

Leichenbaum

 

Schmarotzer

 

Tory

 

Die Toten beneiden, die Lebenden belachen

 

Erwachen

 

 


Puppen

 

 

Jenny starrte fassungslos auf die kaputte Puppe, die reglos auf dem alten Wickeltisch, der schon Mum gute Dienste geleistet hatte, lag. Ausgerechnet Cassie hatte es erwischt, ihre Lieblingspuppe!

„Ich dumme, dumme Pute“, flüsterte Jenny wehklagend und keine zwei Sekunden später liefen salzige Tränen ihre Wangen hinab.

Das spindeldürre ausgerissene Ärmchen lag in ihrer linken Hand, während die rechte immer noch das hübsche Seidenjäckchen hielt, das sie Cassie hatte anziehen wollen. Draußen war es hell und nicht zu heiß – ein idealer Herbsttag, um mit einer Puppe auf der Veranda zu spielen. Seit Mum gestorben war, hatte sie niemanden mehr, mit dem sie reden konnte. Niemanden, außer ihren Puppen. Instinktiv hatte sie gewusst, dass es Mum nicht gefallen hätte, wenn sie noch mit Puppen spielte.

„Mit dreißig sollte man bereits mit beiden Beinen im Leben stehen“, hatte sie zu sagen gepflegt. Meist dann, wenn sie in schwülen Sommer- oder lauen Herbstnächten auf der Veranda im Schaukelstuhl saß, Eistee trank und mit ihrer einzigen Tochter das Gespräch suchte. Jenny erinnerte sich gerne an diese Abende, wenn der Mond freundlich auf sie herablächelte, der alte Schaukelstuhl monotone Knarzgeräusche im Rhythmus der Schaukelbewegungen von sich gab, die Eiswürfel zart gegen das mit Comicfiguren aus den Flintstones-Zeichentrickfilmen verzierte Glas schlugen und sie das wohlige Gefühl hatte, dass alles in bester Ordnung sei. Ein Gefühl, dass sie mit jedem Atemzug in sich aufsog, denn es war selten und somit kostbar genug, es in ihrem Innersten zu verwahren und aufzusparen für die schlechten Zeiten. Meist hatte sie diese anhand der Vorzeichen erkennen und sich in Sicherheit bringen können. Aber manchmal war der Hurrikan über sie hinweggefegt, noch ehe sie so recht gewusst hatte, was los war, und wenn sie sich im Auge dieses Sturmes befunden hatte… Schmerzhafte Erinnerungen schlängelten sich hoch und sie schloss die Augen im verzweifelten Bemühen, an etwas Schönes zu denken.

Die Tage mit Dad, als er noch gelebt und die kleine Farm bewirtschaftet hatte. Wie hatte sie es geliebt, die Hühner und Kaninchen zu füttern, im Sommer das Heu zu riesigen Ballen zu formen, ihr einziges Pferd zu bürsten, ihm heimlich kleine Leckereien zu verabreichen oder die Birnen von den Bäumen zu pflücken, um anschließend mit Dad in die Stadt zu fahren und sie auf dem Markt feilzubieten.

Inzwischen war Dad seit vielen Jahren tot. Wie viele Jahre es waren, wusste sie nicht mehr. Sie hatte aufgehört zu zählen, als schließlich auch Mum sie für immer verlassen hatte. Alle hatten sie verlassen. Die Bonnellis von der erheblich größeren Farm gegenüber waren in einen anderen Bundesstaat gezogen, dessen Name sie sich nicht gemerkt hatte. Jenny hatte schon als Kind kein besonders gutes Gedächtnis gehabt. Sie hatte die Bonnellis sehr gemocht, bis auf den ältesten Sohn, Paul oder Prescott, der sie frech ständig an den unmöglichsten Körperstellen berührt hatte, wenn er sich unbeobachtet wähnte. Dad hingegen hatte die ganze Familie nicht ausstehen können und von ihnen nur in verächtlichsten Tönen gesprochen. Trotzdem waren die „beschissenen Ithaker“, wie er sich meist auszudrücken pflegte, zu seiner Beerdigung erschienen und hatten Jenny auf ihre Weise zu trösten versucht. Bei Paul oder Prescott war es ein Griff an die zarten Knospen ihrer Mädchenbrüste gewesen, als er sie alleine hinter der Kapelle erwischte.

Immerhin hatte er sie eines gelehrt: Sie war hübsch. Sie mochte gemäß Mums Einschätzung bestenfalls den Verstand eines Huhnes besitzen, aber wenigstens war sie hübsch und dieser Umstand hatte sie zumindest für kurze Zeit beinahe so etwas wie ein normales Leben führen lassen. Knapp ein Jahr lang war sie mit Bo gegangen und durfte sich erwachsener fühlen, als sie es war.

Aber natürlich hatte auch er sie verlassen. Er musste es, nachdem Mum ihm schlimme Dinge an den Kopf geworfen und mit der Polizei gedroht hatte. Jenny schluckte hart und wischte die Tränen mit dem Handrücken weg. Sie durfte jetzt bloß nicht verzweifeln. Am besten, sie radelte in die Stadt und besorgte eine neue Puppe, wenngleich, das stand fest, keine an ihre geliebte Cassie heranreichen würde.

 

Douglas Framton, den sie im Staatsgefängnis auf Long Island Redhead genannt hatten, weil sich sein ganzes Gesicht puterrot färbte, wenn er außer sich vor Zorn geriet, nahm einen letzten, tiefen Zug von der Chesterfield, bis er beinahe nur noch den Filter zwischen den Fingern geklemmt hielt, und beobachtete die Leute. Es war Freitagnachmittag und das Gewusel rund um und innerhalb der Megamall nervte und beruhigte ihn zugleich.

Nerven deshalb, weil es ihn an seine Knastzeit erinnerte, an dieses klaustrophobische Gefühl der Beengtheit, wenn sich der Gestank von Fürzen, Schweiß und Urin auf engstem Raum staute und er fürchtete, ersticken zu müssen. Fast unablässig schob sich ein neues Bataillon an Einkaufswütigen an ihm vorbei und auf jeden angenehmen Duft nach Parfüm und reifen, jungen Frauenkörpern kamen dutzende Belästigungen seines empfindlichen Geruchssinns.

Und dennoch beruhigte ihn der Wulst an Menschen, denn er anonymisierte ihn, drängte ihn aus dem Blickfeld neugieriger Augen, die es überall gab. Schließlich war er nicht hier, um seine Wochenendeinkäufe zu erledigen oder im Abverkauf eine neue Hose zu erstehen. Er war hier, weil er etwas brauchte, das mit Geld nicht zu erwerben war.

Douglas schnippte die Kippe zu Boden, was ihm den tadelnden Blick eines älteren Typen, der wie ein in Bermudashorts und Hawaiihemd gezwängter Geier aussah, einbrachte. Scheiß drauf. Was konnte man ihm noch antun? Er hatte sein halbes Leben in Erziehungscamps und Gefängnissen verbracht, war gedemütigt, geschlagen, von vier Gefängnisaufsehern halbtot geprügelt worden. Der Alte sollte es nur wagen, den Mund aufzumachen. Es wäre sein letztes Mal gewesen.

Als hätte dieser tief in sein finsteres Herz geblickt, wandte er sich erschrocken von Douglas ab, wich so weit, wie nur möglich, von ihm entfernt aus und hastete durch die Eingangspforte.

Douglas lächelte grimmig. Ihm konnte nichts und niemand mehr Angst einjagen. Die Hölle auf Erden hatte er hinter sich. Er hatte sie wie Schnupftabak aufgesogen und wieder ausgespuckt.

Was heute geschehen würde, lag nicht mehr in seiner Hand. Falls sie ihn erwischten, hatte er eben Pech gehabt. Vielleicht würde er es sogar auf eine Schießerei ankommen lassen.

„Scheiß drauf“, murmelte er und schloss sich der schnatternden Schar der unablässig strömenden Pilger auf dem Weg in ihr Konsumnirvana an.

 

Er taxierte die vorbeieilenden Gesichter. Die meisten bemerkten seine Blicke nicht oder taten zumindest so. Bei dem einen oder anderen hübschen Körper blieben seine Augen hängen, bis sie außer Sichtweite gerieten. Ein Film, den er mal in der Schule gesehen hatte, fiel ihm plötzlich ein. Er handelte von der Wanderung der Lachse, die, wenn er sich recht erinnerte, dorthin zurückkehrten, wo sie einst geboren wurden. Sie kehrten unter enormer Anstrengung an ihren Geburtsort zurück, um ein letztes Mal zu laichen.

Unwillkürlich musste er grinsen – ja, das wäre ein würdiges Ende! Ein letztes Mal an den Ort seiner kriminellen Geburt zurückkehren und laichen… Sein Blickstrahl wanderte umher und er versuchte, in den Gesichtern zu lesen. Ob eine der jungen Frauen auch nur ahnte, wie schmal der Grat zwischen einem unbeschwerten Shopping-Tag und einem vielleicht letal endenden Martyrium für sie war? Viermal war es gutgegangen, erst beim fünften Mal hatten sie ihn erwischt, und das auch nur, dessen war er sicher, weil er nachlässig geworden war. Sein Glück war es gewesen, stets an einem anderen, weit entfernten Ort zuzuschlagen, sodass man ihm, vielleicht aus Schlamperei, nur zwei Vergewaltigungen nachgewiesen und zur Last gelegt hatte. Dummerweise hatte er sich unter anderem die Tochter eines einflussreichen Lobbyisten vorgenommen, der alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, ihm nicht nur die Höchststrafe aufzubrummen, sondern zudem seinen Aufenthalt im Knast so qualvoll wie nur möglich zu gestalten. Und eines musste man dem reichen Arschloch lassen, dachte Douglas: Er hatte es geschafft. Die meisten anderen hätten in dieser Situation das gewählt, was man euphemistisch „Freitod“ nannte, obwohl nicht viel Freiheit darin bestand sich das Leben zu nehmen, um die Qualen nicht länger erdulden zu müssen.

Aber nicht er. Schließlich hatte er bereits in seiner Kindheit gelernt, was es hieß, die Zähne zusammenzubeißen, wenn Widerstand zwecklos war, und die Schläge zu erdulden. Schließlich endeten auch sie irgendwann einmal.

Douglas verspürte Lust auf eine weitere Zigarette, doch er wollte nicht unnötig Aufmerksamkeit erregen, indem er sich eine ansteckte. Ein miniberocktes Mädchen trippelte keck an ihm vorbei. Nein, zu leicht, entschied er und schlenderte an den Auslagen vorbei, um sich gewissermaßen inspirieren zu lassen. Aber er fand nichts, das ihn wirklich antörnte. Wobei das Problem darin bestand, selbst nicht zu wissen, was genau er suchte. Wenn er gar nichts fand, würde er sich auf dem Parkplatz umsehen. Das hatte ihm beim zweiten und dritten Mal interessante Erfahrungen beschert, an die er sich gerne zurückerinnerte.

Sein erstes Opfer hatte sich zufällig ergeben. Ihm hatte die junge Frau gefallen und deshalb war er ihr gefolgt. Wenn man die Sache aus einem sachlichen Blickwinkel betrachtete, fand er jedenfalls, traf ihn gar keine Schuld. Sie hätte misstrauisch werden müssen, als er ihr unablässig folgte; mit der Polizei hätte sie ihm drohen können; oder damit, um Hilfe zu schreien. Stattdessen hatte sie alles wie gelähmt über sich ergehen lassen, nachdem er unter einer Brücke, die rücksichtsvollerweise von keinen Straßenlaternen beleuchtet wurde, über sie hergefallen war und sie zu Boden gedrückt hatte.

Gleich einer Puppe hatte sie da gelegen, wie ein besonders großes Exemplar jener, die in den Schaufensterauslagen des Spielzeugladens aus riesigen blauen Augen ins Nichts starrten. Douglas hatte nur einen flüchtigen Blick durch die Scheiben geworfen, denn hier würde er mit Sicherheit nichts Geeignetes finden. Jedenfalls hatte er das angenommen, bis er wie vom Donner gerührt stehen blieb. Er hatte sie gefunden, unzweifelhaft! Und er kannte sie, jene Frau, die unsicher zwischen zwei Regalen stand und auf geradezu groteske Weise fehl am Platz wirkte. Douglas dachte scharf nach und kniff dabei die Augen zusammen. Bereits nach kurzer Zeit wusste er es wieder: Jennifer, die alle nur Jenny nannten!

Einen Moment lang wurden ihm sogar die Knie weich, als wäre er ein dummer, verliebter Teenager. Sie waren gemeinsam zur Junior High gegangen und aus unerfindlichen Gründen hatte sie ihn scharf gemacht. Vielleicht hatte es an ihrer verletzlichen Erscheinung gelegen, oder daran, dass sie sich im Gegensatz zu den meisten anderen Mädchen nicht wie eine vierzigjährige Bahnhofsnutte schminkte und kleidete, oder an ihren schüchternen, erschrockenen Blicken, wenn sie, was selten genug geschah, angesprochen wurde. Oder an all diesen Gründen zusammen, räsonierte er und betrat den Laden fast wie unter Trance stehend.

Er wich einem plärrenden Jungen aus, der von seiner Mutter wie ein Wasserskiläufer von einem Motorboot hinterhergezogen wurde, und steuerte direkt auf Jennifer zu, die entweder besonders sehnsüchtig auf eine der Puppen oder schlichtweg ins Nichts starrte. Dunkel konnte er sich an diese leeren Blicke erinnern. Wenige Wochen, bevor er wegen einer Lappalie im Jugendheim gelandet war, hatte sie ein paar Tage in der Schule gefehlt. Als sie wiederkam, leuchteten zwei dicke Beulen wie Mini-Neonröhren auf der Stirn. Manchmal, in einer der gemeinsamen Unterrichtsstunden, hatte er sie beobachtet und diese besonderen Blicke bemerkt.

Douglas stellte sich direkt neben sie, ohne dass sie jedoch Notiz von ihm nahm.

„Hey“, sagte er schließlich und bemühte sich um ein gewinnendes Lächeln, das schwer fiel, wenn man ans Verlieren gewöhnt war.

Sie schrak auf wie eine Katze, die man während ihres Schlafes mit eiskaltem Wasser überschüttete. Kurz fürchtete er sogar, sie würde schreiend davonlaufen.

„Ich bin’s doch nur, Doug! Erinnerst du dich nicht?“, versuchte er sie rasch zu beruhigen.

Nichts in ihrem Blick oder ihrer Mimik ließ auf irgendeine Form des Erkennens schließen.

„Wir waren auf derselben Schule. Geographie bei Sergeant Ugly?“

Den wirklichen Namen des Lehrers wusste er selbst nicht mehr, nur noch seinen Spitznamen. Seltsamerweise schien aber ausgerechnet dieser Name ein paar Glocken in ihr zum Klingeln zu bringen.

„Oh. Ja. Douglas“, sagte sie so leise, dass es fast wie ein Selbstgespräch klang.

„Gefallen dir die Puppen?“, fragte er, immer noch ein Lächeln auf den Lippen.

Sie zuckte wie unter einem Schlag zusammen. Meine Güte, dachte Douglas, die ist ja immer noch so verschroben wie damals.

„Ist schon okay“, versicherte er ihr. „Muss dir doch nicht peinlich sein.“

Dennoch starrte sie mit einer Mischung aus Schrecken und Scham zu Boden.

„Soll ich dir eine kaufen?“, bot er an und erntete weder eine Antwort noch einen Blick. Einen Moment lang erwog er, sie einfach stehen zu lassen, wie damals, wenn sie vor dem Wasserspender darauf wartete, an die Reihe zu kommen, und dabei oft genug nach hinten durchgereiht wurde, ohne Protest zu erheben.

Aber dann sah sie auf und schaute ihm sogar kurz und scheu ins Gesicht, was er als ermutigendes Signal deutete.

Er überlegte: Wäre es nicht Ironie des Schicksals, ausgerechnet sie zu seinem vielleicht letzten Opfer zu machen? Vermutlich musste es so sein und seinem Schicksal konnte man bekanntlich nicht entrinnen. Nun gut, dachte er, dann sollte es eben geschehen.

Diesmal war sein Grinsen echt.

 

„Mein Fahrrad“, sagte sie mit heller Stimme, die einem jungen Mädchen angemessener schien, und deutete mit den Fingern in die Ferne, „steht dort drüben.“

„Wieso nehmen wir nicht meinen Wagen und fahren irgendwo hin, wo wir ein wenig reden können? Ich wette, du hast viele aufregende Dinge erlebt.“

Jenny sah ihn ehrlich erstaunt an. Dann sagte sie etwas kleinlaut: „Nein, eigentlich nicht. Dad ist tot, Mum ist gestorben und jetzt bin ich ganz alleine. Nur meine Puppen sind mir geblieben und heute, stell dir vor, heute ist Cassie kaputt geworden.“

Sie plapperte fröhlich drauflos, als würde sie über etwas reden, dass ihm ohnehin klar sein müsste. Douglas nickte, ehe er mit dem Kinn auf seinen Wagen wies. „Das ist meine kleine Lilly. Sag’ Hallo zu Lilly.“

„Hallo, Lilly“, folgte sie seiner Aufforderung und stieß ein glucksendes Lachen aus.

„Also, komm, lass uns eine kleine Spritztour machen, ja? Ein wenig plaudern und so.“

Er bemerkte, wie sie sich umblickte und anscheinend scharf über seinen Vorschlag nachdachte.

„Du bist doch bestimmt nicht gerne alleine, oder?“

Jenny schüttelte den Kopf und da wusste er, dass er sie am Haken hatte. Zufrieden lächelte er. Vielleicht war sie doch nicht die Letzte.

Wenn alles weiterhin dermaßen glatt ablief, stand einer Verlängerung seiner Karriere nichts mehr im Wege.

 

„Da vorne“, sagte sie unnötigerweise.

Das Anwesen stach alleine durch seine aus allen Löchern, dem Unkraut, der abblätternden Farbe schreienden Verwahrlosung heraus. Eine mannshohe Pyramide aus rostbraunen Schindeln erhob sich neben der Eingangstür, die nur noch von der unteren Angel gehalten wurde. In der Fliegentür gähnten riesige Löcher, die ganzen Insektenschwärmen genug Platz ließen.

Douglas’ Überraschung war nicht gespielt. „Hier wohnst du? In dieser Bruchbude?“

Jenny warf ihm einen gekränkten Blick zu.

„Entschuldige“, brummte er und schon lächelte er wieder. In dieser verlassenen Gegend würde garantiert niemand ihre Schreie hören. Es war der perfekte Ort für seine kleinen, nun ja, Spielereien.

Als sie die Tür weit öffnete, was ein rein formaler Akt war, da diese bei der geringsten Windbrise nach innen schwang, kramte Douglas in der linken Tasche seiner Jeans nach dem Springmesser, fand es und zog es ohne jegliche Hast heraus. Der Griff lag gut in seiner Hand und erzeugte ein wohliges Gefühl der Vertrautheit. Was Wunder, hatte es ihm doch schon einige Male wertvolle Dienste erwiesen.

Die Klinge federte mit einem Zischlaut, wie ihn vielleicht eine Kobra drohend erzeugte, heraus. Er und sein Messer waren bereit für ein bisschen Spaß.

Nicht bereit war er hingegen für den miasmatischen Gestank, der ihm wie eine unsichtbare Woge entgegenschlug. Douglas keuchte und rang um Atem. Nicht einmal in der Zweimann-Zelle, die er mit vier Mithäftlingen teilen musste, hatte die Luft ein solches Ausmaß an Verpestung erreicht.

Er wollte Jenny fragen, was zum Henker einen dermaßen grauenhaften Gestank verursachte, aber es hatte ihm buchstäblich die Sprache verschlagen. Ein heftiger Würgreiz kroch die Speiseröhre hoch und hätte sein Frühstück mehr als ein Spiegelei umfasst, hätte er mitten auf den mottenzerfressenen und dreckstarrenden Läufer gekotzt. Aber sein fast leerer Magen pumpte lediglich etwas Magensäure hoch, die er mühsam hinunterschluckte.

Hier konnte er nicht bleiben, unmöglich! Immer noch sprachlos wandte er sich zum Gehen oder vielmehr Flüchten um.

Er kam gerade mal einen Schritt, ehe etwas Schweres gegen seinen Hinterkopf krachte und er nur noch bruchstückhaft durch einen trägen, schwarzen Schleier erkannte, wie er haltlos zu Boden sackte.

 

Zum einen war es der unerträgliche Gestank, der in seiner empfindlichen Nase förmlich zu explodieren schien, zum anderen das elektrische Surren, das ihn aus seiner Bewusstlosigkeit mit abnormer Geschwindigkeit, als hätte er einen Lichtschalter betätigt, in die Wirklichkeit zurückkatapultierte.

Seine Dankbarkeit hierfür hielt sich in bescheidenen Grenzen, vor allem, da er sich an einen Stuhl gefesselt vorfand. Eine selbst für ihn völlig neue Erfahrung, auf die er gerne verzichtet hätte. Hinter ihm befand sich das einzige Fenster des kleinen, düsteren Zimmers und warf einen breiten Lichtkegel, in welchem Staubwölkchen tänzelten, über seine Schultern.

Was er für elektrisches Summen gehalten hatte, war ein Schwarm Fliegen, der einer dunklen, bösartigen Kreatur gleich über der Kommode vor ihm kreiste. Zunächst hatte sein Verstand sich geweigert, das leblose Etwas, das auf einer völlig verdreckten Decke auf eben jener Kommode lag, für etwas anderes als eine Puppe zu halten. Aber welches Unternehmen stellte Puppen mit Armstümpfen her, aus denen Muskelgewebe hervorlugte?

Douglas starrte die Leiche des Säuglings unwillkürlich an. Es war schier unmöglich, der abartigen Faszination des Anblicks nicht zu erliegen. Er hatte wilde Prügeleien mitgemacht, war seinerseits übel zusammengeschlagen worden, hatte Frauen vergewaltigt, einem Sechzehnjährigen das Nasenbein gebrochen, weil ihm dieser, angeblich unabsichtlich, an den Arsch gegriffen hatte. Aber ein Kind, mehr noch, ein hilfloser Säugling…

In diesem Augenblick knarrte die Tür und Jenny trat ein. Sie wirkte wie ausgewechselt: Vergnügt und lachend betrat sie den Raum nicht, nein, sie schien vielmehr hereinzuschweben. In der rechten Hand hielt sie einen Beutel.

Douglas wollte sie anbrüllen, was zum Teufel hier vor sich ging, brachte aber nur ein krächzendes „Was ...“ zustande.

Seine Gastgeberin grinste ihn unschuldig an. „Ich freue mich ja so, dass du wieder bei mir bist, Bo, Geliebter!“

Bo? Douglas zog die Stirne kraus und leckte über die spröden Lippen. „Bo? Ich bin Douglas, wie du…“

Sie beachtete seine Worte gar nicht und tätschelte seine Wangen. „Ich habe gewusst, dass du mich nicht alleine zurücklassen wirst. Jetzt, wo meine Eltern tot sind, können sie nichts mehr gegen unsere Beziehung haben. Und niemand wird unser Baby wegnehmen, nein, niemand.“

Der Sack landete zu seinen Füßen und hinterließ beunruhigende, raschelnde Geräusche.

„Endlich werden wir eine richtige Familie sein, Bo! Es wird herrlich werden, wenn du und ich und unser Baby draußen auf der Veranda sitzen und plaudern und Eistee trinken. Darauf freust du dich doch auch, oder?

Douglas konnte sie nur fassungslos anstarren. Sie starrte eine Zeitlang zurück, dann fiel sie auf die Knie und kuschelte sich an seinen Bauch. Wenn seine Beine frei gewesen wären, hätte er ihr wenigstens einen kräftigen Tritt verpassen können.

„Ach, Bo. Ich habe dich so vermisst!“

Er schaute wieder auf und sein Blick kehrte unweigerlich zu dem Säugling zurück. Plötzlich bemerkte er etwas, das er vermutlich deshalb nicht sofort entdeckt hatte, weil es selbst an diesen irrwitzigen Umständen gemessen zu absurd war.

Aus dem winzigen Bauch lugten geknickte Strohhalme heraus, wie bei einer lädierten Strohpuppe.

Wie bei einer Strohpuppe… die Erkenntnis entzog seinem Gesicht jegliche Farbe.

Dieses verrückte Weibsstück hatte nicht nach Puppen gesucht, sondern nach etwas, dass sie in Puppen verwandeln konnte. In den Augenhöhlen des Babys reflektierten Glasmurmeln das einfallende Sonnenlicht. Es wirkte fast so, als zwinkerte der Säugling zustimmend.

„Nein“, stöhnte Douglas, nachdem er erkannt hatte, was sich in dem Beutel zu seinen Füßen befand.

Unbeirrt von seinem Entsetzen sprang Jenny hoch, zog die oberste Kommodenschublade auf und entnahm mehrere Gegenstände, die sie auf der Ablage verstaute.

Die Zwirnknäuel und Nadeln brauchte sie vorläufig nicht.

„Nein, bitte nicht“, keuchte ihr Douglas atemlos entgegen.

Sie musste mehrmals schneiden, um durch das Fettgewebe zu dringen. Douglas kreischte, bettelte, flehte, fluchte, schrie noch lange, bis sie die Organe endlich aus seinem Leib geschält hatte, um Platz für das Stroh zu schaffen.

 

 

 


Leichenbaum

 

 

Jener Tag, der die kleine, verträumte Stadt Friedburg aus ihrem Dornröschenschlaf riss und in einen nächtlichen Alptraum stürzte, zeichnete sich durch keine außergewöhnlichen Ereignisse aus. Kein böses Omen, kein schlechtes Vorzeichen kündete von dem Unheil, das sich über seine Bewohner mit der Unabwendbarkeit einer biblischen Plage legen sollte.

Entgegen ihrem Namen hatte die Stadt niemals eine Burg beherbergt. Frieden allerdings herrschte in ihr, abgesehen von den üblichen Geplänkeln, familiären Tragödien und Streitigkeiten, seit ehedem.

Die großen Kriege mit ihren Schrecken hatten zu keiner Zeit Einzug in ihr gehalten. Armeen hatten das von den damaligen Großstädten fernab gelegene Städtchen nie behelligt, alliierte Bomber hatten weitaus lohnendere Ziele im Visier gehabt.

Der Grundstein ihres Untergangs war Jahrhunderte zuvor gelegt worden, an einem Platz, den Bürgermeister Ernst Jackosch am frühen Nachmittag des verhängnisvollen Tages eilenden Schrittes aufsuchte. Es war ein schwüler Juli-Beginn und Jackosch hatte der Sinn nach weitaus ruhigeren, weniger schweißtreibenden Aufgaben gestanden.

Er war nicht mehr der Jüngste, und seine Pfunde waren mehr als die Stimmen bei der letzten Wahl, die er nur knapp für sich entscheiden hatte können, gewachsen.

„Ich hätte Sie nicht geholt, wenn die Situation nicht dermaßen brenzlig wäre“, entschuldigte sich Amtsleiter Prödl in jenem unterwürfigen Ton, der Jackosch zuwider war.

Er lockerte seine Krawatte, dachte kurz nach und entschied schließlich, dass er sie gar nicht benötigte, nahm sie ab, rollte sie zusammen und stopfte sie in die Sakko-Tasche. Dann knöpfte er den obersten Knopf seines Hemdes auf.

Eine Sekunde lang durchströmte ihn ein erfrischendes Gefühl. Der Anblick der Aktivitäten auf dem Marktplatz kehrte den Effekt ins Gegenteil um: Mit einem Mal wurde ihm heiß vor Zorn.

Seine Blicke suchten den Feuerwehrkommandanten Kalt. Er sah ihn neben dem Trinkwasserbrunnen stehen, geistig abwesend wirkend, eine Zigarette rauchend. Hinter ihm, zum Einsatz bereit, der Leiterwagen. Rund um ihn vier Helfer, die sich die Zeit offenbar mit Scherzen vertrieben. Ihr Lachen hallte über den Platz.

Was seinen Puls beinahe in einen vierstelligen Bereich jagte, war das Kamerateam. Wie Geier nährten sie sich von allem, das nur halbwegs lecker aussah und zerrten an den Knochen von Kadavern, stets auf der Suche nach etwas, dass sie verschlingen konnten.

Tatsächlich kam die Bezeichnung Kadaver dem Mittelpunkt des Interesses sehr nahe: Die uralte Eiche war wenig mehr denn ein Gerippe, das seine Wurzeln so tief in das Fleisch des Lebens geschlagen hatte, dass es nicht einmal im Tode umfiel und verrottete.

Jackosch schnaufte verärgert und verlangsamte seine Schritte, als er über die Waschbetonplatten ging. Er wollte Überlegenheit und Souveränität ausstrahlen, was sich mit Hektik nun wirklich nicht sonderlich gut vertrug.

Fürs erste ignorierte er das Fernsehteam und suchte das Gespräch mit Kalt.

Als dieser den Bürgermeister erspähte, sah er auf und lächelte verkniffen. Er nahm noch einen tiefen Zug von der Zigarette, dann schnippte er sie kunstvoll in den Mülleimer.

Mit ironischem Respekt nickte er Jackosch zu und tippte gegen seinen Helm, als wäre er ein viktorianischer Gentleman.

„Wie lange ist sie schon da oben?“

Kalt wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn. Er konnte diesen blasierten Wichtigtuer nicht leiden, achtete jedoch seine Arbeit und sein Durchsetzungsvermögen. Er sah hoch und der Blick des Bürgermeisters folgte ihm.