Kapitel 4


Brennendes Fleisch. Zischen und Brutzeln wie Steak auf einer Garplatte. Es hören, es riechen, aber niemals sehen. Um Brody jubelten die Menschen, lachten sogar. Jemand schrie in einer fremden Sprache, überall Siegesfanfaren. Inmitten des Lärms und der Verwirrung lehnte Brody gegen die Wand des Busdepots, die Augen tot in ihren Höhlen. Seine Beine waren schwer verbrannt. Erschüttert von Terror und Schmerz, erblindet und mit einem Pfeifen in den Ohren, aber am Leben.

Stunden zuvor bewegte er sich noch mit seiner Einheit durch einen Busbahnhof in Kairos Innenstadt. Sie hatten einen Anruf von einer anderen Einheit bekommen, dass eine Bombe dort lokalisiert und entschärft werden und sie das Gelände überprüfen sollten, nachdem das gesamte Depot geräumt worden war, bis auf einen kleinen Schlafraum im hinteren Teil. Feldbettreihen, Ventilatoren, Töpfe mit eisgekühltem Wasser und Schöpfkellen. Solche Orte konnten auch Aufständischen gehören, die von einer Geheimbasis zur nächsten zogen.

Brody erinnerte sich, dass der Bereich, den sie erkunden sollten, neben einer Reihe Telefonkabinen um die Ecke einer Bank lag. Die Einheit marschierte schnell und geordnet. Brody blieb immer ganz hinten, darum lief er meist rückwärts. Sie stoppten und gingen neben der Tür in die Hocke. Alle Zivilisten lagen auf dem Boden, duckten sich hinter Schaltern, Topfpflanzen und Fahrplantafeln. Brody klopfte auf die Schulter seines Vordermanns, der den Klaps an den Späher weitergab. Wortlos verschwand dieser um die Ecke.

Als der Mann vor ihm aufstand, tat Brody es auch. Kurz drehte er sich nach vorn, um seine Position zu checken, und erblickte sie: eine in Klebeband eingewickelte Milchkanne zwischen zwei Mülleimern. Ein Stück Angelschnur. Er hatte kaum Zeit, seinen Gedanken zu beenden, geschweige denn etwas zu rufen, bevor das Schienbein des Spähers die Schnur berührte. Das Klicken des gezogenen Stifts hallte.

Die Soldaten verharrten zunächst erschrocken. Dann brach die Formation auf. Die Männer verstreuten sich und einige unzusammenhängende Schreie drangen über ihre Lippen, als der selbst gebastelte Sprengsatz detonierte. Brody rechnete mit einer Schockwelle, umherfliegenden Fragmenten, Schlackeklumpen, Kugellagern, Holzschrauben. Aber nichts dergleichen geschah. Die anfängliche Explosion war nur eine grausame, demütigende Wand entzündeten Phosphors, blendend wie der Blitz eines Zaubertricks. Danach folgte das Herz der Bombe. Er konnte sie nur hören: ein Knall, ein wütendes Zischen. Hitze schlug ihm ins Gesicht. Dann ertönte Geschrei.

Der Corporal erzählte ihm später, dass es das Innere einer Blendgranate mit einem halben Liter Feuerzeugbenzin und Lampenöl gewesen war. Eine Molotow-Stolperfalle. Alle Männer waren bei lebendigem Leibe verbrannt, blind und unfähig wegzulaufen. Als Schlusslicht des Trupps hatte Brody den Korridor noch nicht ganz erreicht und so als Einziger überlebt. Alle anderen waren vor Ort gestorben, die Haut verkohlt, die Hirne in den Schädeln gekocht.

»Sie haben Glück, dass Sie blind geworden sind, mein Sohn«, sagte der Corporal. »Sie hätten die Jungs todsicher nicht sehen wollen, als wir Sie fanden.«

Es machte keinen Unterschied. Zu hören, wie sie brannten, als er eilig die Handschuhe auszog und seine Augen rieb, während sie ihn brauchten, war gleichermaßen grausam. Er hatte nicht mehr tun können, als dasitzen und in ihre Richtung zu starren, ohne etwas in der Schwärze seiner Sicht zu erkennen.

Einer hatte nach seiner Mutter geschrien, ein anderer nach seiner Frau Helen. Ein weiterer rief zu Gott. Trotz seiner Verletzungen dankte Brody dem Schicksal, dass sein bester Freund die Einheit eine Woche zuvor verlassen hatte. Er wäre an der Spitze der Truppe gewesen und ganz sicher gestorben.

Bald darauf wurde es ruhig, doch das Zischen hielt noch lange an.

 

Die Bohnermaschine stieß gegen die Wand und riss Brody aus seinen Erinnerungen. Er begrub die fürchterlichen Bilder in seinem Kopf und hielt einen Moment inne, bevor er seine Arbeit fortsetzte. Sie kamen alle paar Tage, vor allem, wenn er seine Linsen und das Sonar nicht trug. Wenn es keine visuelle Ablenkung gab, funktionierte seine Vorstellungskraft am besten. Der Filmvorführer seiner Erinnerungen war immer glücklich, wenn er die Rolle mit dem schlechten Zeug für eine Nachmittagsvorstellung fand.

Brody warf einen Blick zurück auf die längst abgeriebene Politur. Er scheuerte bloß die Seele aus dem Klarlack. Er stellte das Gerät ab und sah auf die drei Meter Turnhallenboden, die er ausbessern musste, bevor er gehen konnte.

Nachdem er den Schaden mit einer neuen Lackschicht bedeckt hatte, stellte er das Frisch-gewischt-Schild auf und ging wieder nach unten.

Samantha dankte ihm für seine Arbeit und teilte ihm die Anzahl seiner verbleibenden Stunden mit: 295. »Na bitte, Sie kommen voran«, kommentierte sie und hing das Register wieder an den Nagel. Sie legte seine Sachen auf den Tresen und er steckte sie ein.

»Was ist los?«, fragte er im Wissen, dass sie irgendeine Lebensweisheit äußern würde, egal ob er danach fragte oder nicht.

»Nur Sie«, seufzte Samantha. »Alle paar Tage kommen Sie hierher und arbeiten Ihr Stundenprotokoll ab. Ich frage mich, was Sie täten, wenn Sie nicht laufend Ärger hätten. Ob Sie dann auch noch kommen würden.«

»Ich denke, das würde ich«, sagte Brody. Die Gespräche mit ihr taten gut. Er fühlte eine Verbindung zu der freundlichen alten Dame, die er schwer greifen konnte. War sie wie eine ältere Schwester für ihn? Oder eine weise Großmutterfigur, die Lebenshilfe ausspuckte wie ein Automat, dessen Rat stets zum Empfänger passte, der nie darum bat, ihn aber immer brauchte?

»Ich frage mich, warum Sie immer die Probleme aller lösen wollen und sich nicht um Ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Ich meine, die Dinge, die Sie für die Leute tun, den Ärger, in den Sie sich verstricken … man könnte meinen, Sie seien lebensmüde oder so was.«

Zufrieden, dass seine Sachen in den richtigen Taschen lagen, knöpfte Brody seinen Mantel zu. »Ich bin nicht lebensmüde«, murmelte er.

Sie warf ihm einen Ich-weiß-dass-Sie-mir-Lügengeschichten-erzählen-junger-Mann-Blick zu, den er noch von seiner Großmutter kannte.

»Was? Ehrlich nicht.«

Sie nahm einen tiefen Atemzug und veranschaulichte ihre folgenden Sätze mit großen, überdeutlichen Gesten. »Es ist ein ewiger Kreislauf. Sie geraten in Schwierigkeiten, weil Sie jemanden verprügeln, dann werden Sie hergeschickt, um Ihre Arbeit zu machen, Sie treffen eine traurige Seele, die will, dass Sie ihr helfen, was Sie auch tun, geraten innoch mehr Schwierigkeiten, belügen die Polizei, sagen, dass Sie die Mädchen im romantischen Sinne treffen, obwohl die Wahrheit offensichtlich ist, und so beginnt es wieder von vorn und geht immer weiter und weiter.« Sie kreiste mit einem Finger in der Luft. »Was haben Sie davon?«

»Was haben Sie davon?«, fragte er unbeabsichtigt barsch.

»Ich bleibe auf dieser Seite des Schreibtischs. Sicher, manchmal mache ich jemandem ein Bett oder ich schiebe einem Kind einen Hotdog in die Mikrowelle, wenn seine nichtsnutzigen Eltern es hier absetzen, aber ich laufe nicht herum und suche Ärger. Dieses Geschäft wird Sie umbringen. Sie sollten sich ein nettes Mädchen angeln und mit dem Schwindel aufhören. Sagen Sie mir nur, warum Sie sich so viel Schmerz aussetzen. Sagen Sie mir, was Brody davon hat.«

»Ich weiß es nicht, Samantha«, entgegnete er und benutzte ihren Namen, um seinen Ernst auszudrücken. »Wahrscheinlich habe ich gar nichts davon. Aber das ist okay für mich.«

Der Automat war nun leer und Samantha schüttelte den Kopf. »Denken Sie daran, was ich gesagt habe.«

»Werd ich.«

»Kommen Sie diese Woche noch mal?«, rief sie ihm nach.

Als die Glastüren beiseiteglitten und die ganzjährig angebrachte Weihnachtsdekoration klingelte, sagte Brody über die Schulter: »Wahrscheinlich. Wenn ich mich nicht vorher umgebracht habe.« Er lächelte. Die hydraulischen Türen schlossen sich und sperrten ihn in die kalte Luft aus.

 

Als Brody in eiligem Tempo lief, um den 3:45-Uhr-Zug zu erwischen, vibrierte sein Handy gegen den Oberschenkel. Auf dem Display erschien: Du steckst in Schwierigkeiten. Eine selbst gewählte Überschrift, die er seiner Bewährungshelferin zugeteilt hatte.

Zähneknirschend ging er ran und sah sich nach dem Zug um, in der Hoffnung, eine Ausrede zum Auflegen zu bekommen.

»Ich habe heute viel zu tun, also bekommen Sie die Kurzfassung: Ich bin enttäuscht. Das ist Punkt eins. Punkt zwei: Ich dachte, wir hätten über die Mitternachtfaustschlagstelldicheins gesprochen.«

»Es war nicht so schlimm, wie es sich anhört …«

»Punkt drei«, fuhr Chiffon fort, ohne seine Unterbrechung zu beachten, »weitere hundert Stunden wurden auf Ihre Registerkarte gesetzt.«

»Okay.« Brodys Schultern sanken. Was sollte er auch tun? Ablehnen? Der Zug kam um die Ecke gefahren und er atmete erleichtert auf. »Ich steige gleich in den Zug und i…«

»Sie haben Glück. Im Ernst. Läge es in meiner Hand, würde ich dafür sorgen, dass Sie Zeit bekämen, Ihren Hitzkopf in den Haftanstalten von Minnesota zu kühlen. Aber nach derzeitigem Stand kleben die Beschränkungen wie Tipp-Ex am Kapitolgebäude, daher mein Geschenk an Sie: Hundert kleine Gelegenheiten, das Leben in den Twin Cities zu verbessern und eine erhöhte Dosis dessen, was ich bereits verschrieben habe – Perspektive.«

»Danke, Chiffon«, zwang er sich zu sagen.

»Miss Doyle ist korrekt«, korrigierte sie. »Detective Pierce hat mich gebeten, Ihren Termin nach oben zu verschieben, also streichen Sie sich's im Kalender an. Diesen Freitag, der Tag nach Thanksgiving. In aller Früh. Mein Büro. Ist das klar? Angekommen?«

»Ja. Klingt gut. Danke sehr.«

»Wir sehen uns. Bis bald.«

Brody legte leise fluchend auf. Er fluchte ein zweites Mal, als er in die Bahn stieg und keinen freien Sitzplatz fand. Er hielt sich an einer Stange fest und ließ den Ruck der anfahrenden Bahn in einem übelkeiterregenden Geschwindigkeitsrausch an seinem Körper zerren.

Er dachte daran, was Nathan ihm letzte Nacht erzählt hatte, dass Anfang nächsten Jahres das Schlupfloch-Gesetz geändert würde. Er wusste, was Chiffon, Miss Doyle, von ihm und seinen Taten hielt. Viele ihrer Kunden waren die Männer, denen er in Kneipen Besuche abstattete. Ließe er im Januar immer noch die Fäuste fliegen, würde er sicher im Gefängnis landen. Äußerst unwahrscheinlich, dass er vom Lohn als Nummernschild-Presser in einer Bodega Batterien für sein Linsenladegerät kaufen könnte.

Natürlich wäre es möglich, dass sie am Freitag beschloss, den Hebel einer Falltür zu ziehen und ihn in eine Zelle fallen zu lassen. Dann bekäme der Begriff Black Friday eine ganz neue Bedeutung.

Kapitel 7


Der Morgen brach an und Brody stopfte das Ladegerät in seine Tasche, ohne zu wissen, wie viel Energie seine Linsen über Nacht abbekommen hatten. Er entfernte die Batterie aus dem Gehäuse und schüttelte sie nahe des Ohrs. Fest. Er warf sie in den Müll im Badezimmer, bevor er nach unten ging. Bereits auf dem halben Weg wusste Brody von Kaffee auf dem Ofen sowie Speck und Eiern in der Pfanne. Der Geruch verriet, dass es keine Imitate waren. Trotz des vor ihm liegenden Tages, an dem er in der Kälte Chicagos umherlaufen und eine junge Frau davon überzeugen musste, aus dem Militär auszutreten, war ihm ein wenig Freude vergönnt.

In der verpixelten Darstellung der Küche erspähte er Thorp in seinem Morgenmantel. Mit der brutzelnden Pfanne in der Hand drehte dieser sich um und hielt inne. »Das musst du also tragen, hä? Verdammte Scheiße, sieh sich einer dieses Ding an. Gott, siehst du dämlich aus.«

Thorp hatte es letzte Nacht schon gesehen oder vielmehr vor ein paar Stunden, schließlich war es fast drei Uhr gewesen, als Brody vom längst vergangenen Gewehrfeuer aus den blechernen Ordi-Lautsprechern geweckt wurde. Doch offenbar wollte er das Sonar erst jetzt kommentieren. Seltsam, wie verändert er seit letzter Nacht wirkte. Hinter der Fassade munterer Kontaktfreudigkeit meinte Brody, einen Freund seines Vaters zu erkennen, der gefühlsstabilisierende Medikamente schluckte. Einem Moment die Hände in den Taschen, schroff und geknickt, nur um eine Pille und ein Glas Wasser später über alles zu lachen. Vielleicht war es dasselbe mit Thorp. Womöglich nahm er beruhigende Tabletten. Oder aber sein Freund war jetzt einfach so und er musste sich erst daran gewöhnen.

»Danke«, spottete Brody, ging zum Tisch und nahm vorsichtig Platz. Er hatte beschlossen, die gleiche Kleidung zu tragen wie gestern im Zug: gestärktes Button-down-Hemd, Krawatte und eine lockere Hose. Wenn er eine Krawatte trug, reagierten die Menschen umgänglicher. Und in Fort Reagan erhielten selbst die bestgekleideten Männer nur schwer Antworten, darum wollte er sein Möglichstes versuchen.

Thorp legte zwei Schinkenstreifen auf Brodys Teller. »Es macht mich wirklich fertig, dich dieses Ding tragen zu sehen.«

»Ich kann es auch abnehmen. Nur, dass würde mit das Frühstücken nicht einfach machen«, lächelte er.

»Schreib dich ein, diene deinem Land, werde ein Held. Am Arsch. Wohl eher: Schreib dich ein, dir wird Schreckliches widerfahren, werde nach Hause geschickt mit jeder erdenklichen Sorte Scheiße, die dich verkorkst hat, und …«

Brody hob die Hand. »Schon gut. Versteh mich nicht falsch, mich schmerzt es auch, was geschehen ist, aber lass uns nicht wieder mit dem Scheiß anfangen. Lass uns einfach nur frühstücken, und dann mach ich mich auf den Weg, um mit deiner Schwester zu reden, okay?«

»Tut mir leid«, sagte Thorp und stellte die Pfanne auf die Ofenplatte. »Ich will keine Wunden aufkratzen, aber das mit dir macht mich einfach fertig. Ich hätte dort sein sollen. Ich hätte mich zusammenreißen, mich, du weißt schon, behandeln lassen und mit dir gehen sollen, einfach warten, bis der Mist abgekühlt ist, bevor ich anfange, von posttraumatischem Stress zu faseln.«

»Vergiss es«, entgegnete Brody streng und nahm seine Gabel.

Thorp stand neben dem Tisch und beobachtete ihn Speck und Eier über den Teller nachjagen. Plötzlich nahm er seinen Mantel und ging mit einer Zigarre vor die Tür.

Brody blieb am Küchentisch sitzen und aß, was er erwischte. Er schaute nach Thorp, doch mit dem Sonar konnte er nicht mal durch sauber poliertes Glas blicken. Er leerte seinen Kaffee, schmeckte die bittersüße Schlacke aus halb geschmolzenem Zucker am Grund des Bechers, und nahm sein Handy, um ein Taxi zu rufen.

Als er nach seinem Namen und der ID-Kartennummer gefragt wurde, legte er auf. Er hatte vergessen, dass er völlig pleite war. Er ging nach draußen und schlurfte durch das feuchte Gras, dessen stiefeldurchnässender Tau erst nach einer Weile kalt seine Zehen berührte. Er näherte sich Thorp, der neben einem Baum auf dem Hügelkamm stand und die Felder überblickte.

»Hey, Kumpel«, sagte Brody seinen Mantel enger ziehend. Es war ein kühler Morgen und er fragte sich, ob Frost oder Tau das Gras bedeckte.

»Tut mir leid wegen gerade«, meinte Thorp. »Manchmal dreh ich ein bisschen am Rad wegen der ganzen Sache. Du bist der Erste und Einzige aus dem Dienst, den ich hier draußen habe, und ich glaube, ich war noch nicht bereit dafür. Normalerweise komme ich damit ganz gut klar. Es ist nur wegen Nectar und dir hier ziemlich schwer, nicht an diese elenden Tage zu denken.«

»Verständlich«, meinte Brody. Er sah auf seine Füße und dann in Thorps Augen, sich vorstellend, wie grün sie außerhalb der pulsierenden weißen Kugeln der Sonarbilder aussahen.

»Was ist los?«, fragte Thorp.

»Weißt du was?«, begann er. »Ich sag einfach, wie es ist, denn es führt ja eh kein Weg daran vorbei: Ich bin komplett blank. Und ich brauche ein Taxi nach Chicago, wenn ich mit Nectar reden soll. Könntest du mir eine Fahrt spendieren?«

»Ja, ja. Natürlich, kein Problem.« Thorp holte sein Handy heraus und rief die Taxigesellschaft an.

Sie liefen wieder ins Haus zurück und warteten im Wohnzimmer auf die Ankunft des Wagens. Brody stand am Fenster, starrend auf den Rasen, den er nicht sehen konnte. Wenn er schon ertragen musste, seinen Freund nach nicht mal einen Tag um Geld zu bitten, könnte das Schicksal doch wenigstens einen menschlichen Fahrer schicken.

Gib mir wenigstens das.

 

Brody war nicht besonders glücklich. Als das Taxi in die Kieseinfahrt einbog, erkannte er, dass es von keinem echten Fahrer gesteuert wurde. Er musste dafür nicht mal durch die Windschutzscheibe sehen. Die verdammten Dinger bremsten schleichend und wendeten so sorgfältig wie ein kleiner Hund, der nachts unschlüssig eine Treppe hinunterstieg, als könnte ihm jeder Schritt zum Verhängnis werden. Er seufzte.

Nachdem er eingestiegen war, hörte er die lässige elektronische Frage: »Wo möchten Sie gern hin, Sir oder Madam?«

»Chicago«, antwortete Brody mit deutlichem Widerwillen, hoffend, das Taxi mochte dies erkennen und ihm den Gefallen tun, aus Versehenwoanders hinzufahren. Es wäre das erste Mal gewesen, dass er sich über eine unkooperative Technik gefreut hätte.

Während der Fahrt schaltete er sein Handy wieder an. Eine Reihe von Pieptönen teilte ihm mit, dass eine Fülle Nachrichten auf seinem Anrufbeantworter waren. Sie kamen alle von seiner Bewährungshelferin. Er rief sie sofort an.

»Mr. Calhoun«, sprach Chiffon, als hätte sie stundenlang gewartet. Und wahrscheinlich hatte sie das auch. Ihre Stimme war angenehm und optimistisch, trotz des ungeduldigen Untertons.

»Ich wollte nur zurückrufen.« Brody biss sich, das Schlimmste erwartend, in die Faust.

Es folgte ein Moment bitteren Schweigens.

»Ich sehe, Sie haben den Bundesstaat verlassen«, betonte sie.

»Einen Freund besuchen.«

Zu schnell, schimpfte er. Du hast das viel zu schnell gesagt.

»Es geschieht hoffentlich nicht wieder dasselbe wie bei den meisten Ihrer Freunde. Sie scheinen eine Menge davon zu haben, die Sie ständig um Gefallen bitten. Ich hoffe ehrlich, dass Sie nicht gegen Ihre Bewährungsauflagen verstoßen, indem Sie den Staat verlassen, umsolch einen Freund zu besuchen.«

»Ich hätte Ihnen sagen sollen, dass ich den Staat verlasse. Tut mir leid. Ich treffe mich mit einem Freund aus dem Dienst, aber es ist bloß Illinois und ich meide große Städte.«

»Lügen Sie mich nicht an. Ich sehe, dass Sie gerade in Chicago sind, während wir hier reden.«

»Ich weiß, aber es gibt kein Lebensmittelgeschäft in der Nähe. Ein Mann muss essen, oder?«

Wieder zu schnell. Willst du im Gefängnis landen?

Chiffon seufzte. »Hören Sie mir zu. Habe ich Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit? Wir könnten dieses Gespräch auch von Angesicht zu Angesicht führen, zum Beispiel in einer Arrestzelle.«

»Sie haben meine ungeteilte Aufmerksamkeit, das versichere ich Ihnen.«

»Und ich habe einen Riecher für Kinkerlitzchen. Die Sachen, die Sie mir verklickern wollen, stinken zum Himmel. Wir haben eine Abmachung. Was das Gesetz betrifft, ist seine Geduld mit Ihnen überspannt. Für alle Nasen, die Sie buchstäblich zertrümmert haben, und alle Zehen, auf die Sie bildlich getreten sind, sollten Sie jetzt im Knast sitzen. Immer und immer wieder lasse ich Sie davonkommen, was nicht heißt, dass es richtig ist, was Sie tun. Nein. Aber wenn Sie sich während Ihres Aufenthaltes nicht benehmen, habe ich keine andere Wahl, als Ihren Fall neu zu bewerten. Der Januar naht, ich erinnere Sie nur daran.«

»Ich verstehe«, sagte Brody, bevor er die Freisprechfunktion anschaltete und das Handy auf den Sitz warf. Er zog das Sonar von der Stirn und steckte es in die Kartentasche seiner Cabanjacke. Er setzte eine Linse ein und blinzelte die Farbe in die Welt zurück. Dann setzte er die zweite ein und wartete, bis er mit beiden Augen richtig sehen konnte. Unmittelbar danach blinkte die Ladeanzeige so hell und schrecklich, wie ein umgestürztes, brennendes Fahrzeug. 01:59:59.

»Sagen Sie mir nicht, was Sie vorhaben, wohin Sie wollen oder warum Sie in Chicago sind. Ich will es nicht wissen. Besuchen Sie einfach Ihren Freund, gehen Sie auf die Aussichtsplattform des Willis Towers, essen Sie einen Hotdog und schauen Sie sich ein Baseballspiel an. Machen Sie sich einen schönen Tag, wenn Sie wollen, aber fahren Sie mit dem ersten Zug nach Hause und hinterlassen Sie alle Bürger der Stadt wie sie sind, nämlich unversehrt. Verstanden?«

»Ja, Ma'am.«

»Alles klar. Wir haben einen Termin … wann?«

»Freitag«, antwortete er. »Ich werde da sein. Keine Sorge.«

»Bleiben Sie anständig. Bis bald, Mr. Calhoun.«

»Ja. Danke. Auf Wiedersehen.« Brody klappte sein Handy zu und spürte wieder diese Anspannung, der er durch das anständige Frühstück kurz entkommen war. Er hasste die Anrufe seiner Bewährungshelferin, aber heute klang jedes Wort dieser Frau wie eine schlechte Diagnose nach der anderen, jede Silbe und kurze Pause wie ein Schnitt über die Kehle. Er hielt das Handy an sein Kinn und kaute gedankenverloren an einer Ecke. Da er glaubte, es bräche ein Zahn, wenn er noch fester zubiss, legte er es weg und rang seine Hände.

Als schrie sein Gewissen nicht schon laut genug, plagte ihn nun auch eine unbestreitbare Tatsache: Wenn er wieder in Schwierigkeiten geriet, war es das. Er hätte keine Optionen mehr. Kein Gemeindezentrum, keine Samantha, keine aufgeladenen Linsen. Er wäre ein blinder Mann in einem Gefängnis mit einem ernsten Mangel an Freunden.

Brody ignorierte das Rauchverbot, das ihm ins Gesicht starrte, und zündete sich eine Zigarette an. Das Taxi hielt am Straßenrand vor der eingezäunten, in zwei Hochhäusern eingebetteten Militärbasis. Er setzte eine Sonnenbrille auf, da das Carotin noch juckte und seine Augen selbst im sanften Schein des Morgenlichts tränten.

»Wir hoffen, Sie genießen Ihr Ziel.«

Brody wusste nicht, wie er zurückkommen sollte, aber darüber würde er später nachdenken. Er stieg aus und der Wagen reihte sich wieder in den dichten Verkehr der Rushhour ein.

Brody stand ein paar Minuten vor der hohen Betonmauer Fort Reagans, rauchte seine Zigarette zu Ende und ging dann zum Tor. Er hatte gehofft, dass die Sicherheitsmaßnahmen seit seinem letzten Aufenthalt gelockert worden waren und es kein Wachhäuschen mit Schranke für Fahrzeuge mehr gab. Doch alles sah aus wie vor zehn Jahren. Er klopfte ans Glas.

Der behelmte Wachmann sah vom Bildschirm auf. Seine Augen verengten sich bei Brodys Anblick mit der dunklen Kleidung und der wehenden, schwarzen Seidenkrawatte.

Aus Höflichkeit nahm Brody die Sonnenbrille ab. Er erinnerte sich, dass es beim Militär ein Muss war, bei Gesprächen die Brille herunterzunehmen, ob Zivilist oder nicht. Ganz gleich wie sehr die Sonne blendete, Anstand hatte Vorrang. Er zuckte im Morgenlicht zusammen. Jeder Strahl schien sich mit einer Klaue in seinen Schädel zu graben.

»Hi, ich bin hier, um eine Freundin zu sprechen. Sie ist eine neue Rekrutin.«

»Besuchszeit für Zivilisten ist von Mittag bis drei, Sir.«

»Ja, aber das hier ist ein Notfall. Ihr Bruder ist krank«, sagte er, und glaubte nicht mal zu lügen.

Der Wachmann musterte Brody erneut von Kopf bis Fuß, lehnte sich in seinen Klappstuhl zurück und drückte den Knopf einer Gegensprechanlage. Mit gedämpfter Stimme sprach er hinein und erhielt beinahe augenblicklich eine Antwort. Als er sich wieder nach vorn lehnte, schlugen die Vorderbeine seines Stuhls gegen den Boden seiner winzigen Kabine. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und fragte: »Wie lautet der Name der neuen Rekrutin?«

»Nectar Ashbury.«

Er klickte ein paarmal auf seinem Bildschirm, schloss den Film, den er angesehen hatte, öffnete das Verzeichnis der neuen Rekruten und bat Brody, den Nachnamen zu buchstabieren, was er auch tat. Ein zweites und drittes Mal ging er die Liste durch. »Sorry, keine neuen Rekruten hier unter diesem Namen. Ist sie verheiratet oder hat sie ihren Namen geändert? Kommt häufig vor, vor allem wenn sie nicht wollen, dass jemand sie findet und versucht, sie umzustimmen.« Er funkelte ihn an.

»Ist schon in Ordnung. Wahrscheinlich nur ein Missverständnis meinerseits. Vielen Dank für Ihre Bemühungen.« Brody steckte seine tauben Hände in die Manteltaschen und schlenderte davon. Er war sich sicher, auch noch einen Block entfernt von den Kameras der Basis beobachtet zu werden.

Er bog um die Ecke, dann um eine andere, lief eine kurze Gasse entlang und betrat ein Café. Er hatte kein Geld für eine Bestellung, ging nur in die Herrentoilette und verriegelte die Tür. Das konnten sie ihm nicht verbieten. Klobrille und Deckel klapperten unerwartet laut, als sie auf die Schüssel fielen. Er zog seinen Mantel fest um sich, damit er nichts Schmutziges berührte, was in diesem Raum alles hätte sein können, setzte sich und rieb die Hände über das Gesicht. Zwischen den blinkenden Lichtern und schreienden Menschenmassen um ihn herum, alles laut, stinkend und lärmend in dieser unvertrauten Welt, brauchte er einen Ort, an dem er sich beruhigen konnte hier in Chicago. Diese beengte Kabine bot etwas Behaglichkeit, doch sie reichte nicht. Das Summen der Leuchtstoffröhren, die Gespräche der Leute im Café und der sanfte Jazz, der in solchen Lokalen stets gespielt wurde … er musste einen spontanen Schutz vor alledem erschaffen, hier und jetzt.

Brody stand auf und schaltete das Licht aus. Der Klang summender Lichter verschwand aus der stickigen Luft des Lärms, doch die übrigen Schichten blieben. Er ging zurück in die Kabine, legte die Hände auf die Ohren und kniff die Augen so fest zusammen, dass sie beinahe schmerzten.

Nun konnte er denken, verarbeiten.

Mit seiner Aktion hatte Brody wahrscheinlich die Sicherheitsleute in Fort Reagan aufgescheucht. Ob die Polizei benachrichtigt worden war? Vielleicht hingen vorne Holo-Capture-Einheiten und Kameras, die nicht nur filmten, sondern auch Größe und Körperform erfassten. Es war bei Banken und bestimmten Regierungsgebäuden üblich. Warum nicht auch hier? Brody sah sich bereits von den Cops in Thorps Haus abgeholt, was seinen Freund auf die Palme brächte und noch mehr Chaos stiften würde. Genügten nicht schon die Kameras der Stadt, um ihn zu verfolgen? In diese Straße, dieses Café, diese Toilette? Was dann? Und woher kamen auf einmal diese Gedanken?

Brody nahm die Hände von den Ohren. Er trat zur Wand und tastete nach dem Lichtschalter. Nie hatte er sich als sonderlich paranoid betrachtet, also wo kam das plötzlich her? Hatte Chicago einen derartigen Einfluss auf ihn?

Er spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht. Ungeachtet seiner panischen Empfindungen, verließ er die Toilette, überquerte den Gastraum und ging hinaus in die Kälte. Aber mit jedem Schritt, den er machte, wurde er das Gefühl nicht los, dass jedes Detail, jeder Schwung seiner Beine, jede Bewegung seiner Krawatte beobachtet wurde. Was immer diese Gedanken hervorrief, er befahl ihnen, damit aufzuhören.

Kapitel 11


Paige parkte schief auf dem Platz vor dem Mini-Markt. Dann brach sie zusammen. Sie hielt sich am Lenkrad fest und ließ den Kopf so weit hängen, dass ihre Stirn gegen das Polster in der Mitte des Lenkrads stieß. Ihre Teddybär-Mütze rutschte vom Kopf und fiel in den Fußraum.

Brody hob sie auf, klopfte den Staub ab und legte sie auf die Sitzbank. Er suchte nach möglichen Schaulustigen, nach Menschen im Laden, die sie schräg anstarrten. Unbeteiligte würden wohl davon ausgehen, er hätte mit ihr Schluss gemacht oder mit ihrer Schwester geschlafen. Er schnippte seine Zigarette aus dem Fenster und schloss es. Ihr Weinen wurde nicht mehr vom Stadtlärm überdeckt und er fühlte sich wie mit einer heulenden Frau in einem Sarg begraben. Brody ließ sie ausweinen, doch gleichzeitig wollte er unbedingt die Plätze tauschen, damit sie endlich aus dieser Hölle rauskamen.

Brody war eine solche Situation gewohnt. Die meisten geschlagenen Frauen, die er im Gemeindezentrum traf und die ihm von der Prügel sowie den Gründen dafür erzählten, die er niemals nachvollziehen konnte, wurden zu einem schluchzenden Häufchen Elend. Er fragte sich, ob es eine Art Reinigung von den schrecklichen Dingen darstellte, die sie mit sich herumtrugen. Oder aber sie durchlebten die Gewalt einfach nur aufs Neue.

Was es auch war, Paige, die er bisher als starke Frau kennengelernt hatte, so im Kern erschüttert zu sehen, brachte sein Blut zum Kochen. Der Riese im Diner musste schon Schrecklicheres getan haben, als sie verbal in der Öffentlichkeit einzuschüchtern. Ihre raue Art wies Brody darauf hin, was sie wahrscheinlich anfangs über ihn dachte. Eine misshandelte Frau sah in jedem Mann einen potenziellen Schläger. Kurz dachte er an Marcy und wie sie bald diesen Schutzmechanismus aufbauen würde.

Als ihr Schluchzen allmählich erstarb, fragte er: »Sind Sie okay?« Er wollte seine Hand auf ihre Schulter legen, ließ es aber.

Es dauerte fast eine Minute, bis sie bejahte. Sie richtete sich auf und wischte mit ihren Zeigefingern über die Augenwinkel. Ihr Gesicht war geschwollen, die Augen rot, ihre Unterlippe zitterte leicht.

Er sah weg, denn er konnte es nicht ertragen.

»Das ist noch nie passiert. Normalerweise kommt er in den Laden, brüllt, schlägt vielleicht gegen die Wand und wir gehen zum Safe und bezahlen ihn. Ich hab noch nie«, sie gluckste, »sein verdammtes Auto geklaut. Wo sollen wir hin?«

00:14:59.

»Ich weiß einen Ort«, sagte Brody und öffnete die Tür. Sie rutschte auf den Beifahrersitz, ohne auszusteigen, und er setzte sich hinter das Lenkrad. Dann startete er den Wagen und fuhr wieder auf die Straße. Kurz nach der Stadtgrenze mussten sie anhalten, damit er seine Linsen herausnehmen und das Sonar aufsetzen konnte. Bis dahin hätte er sie sicher nicht fahren lassen. Sein Hals war noch wund.

 

Als sie die Felder erreichten, trübte sich Brodys Sicht allmählich. Er lenkte den beigefarbenen Fairlane über die Schulter fast in den Graben. Die Fahrt über hatten sie geschwiegen und als Paige fragte, warum sie anhielten, war ihre Stimme noch gemartert vom Weinen.

Brody klappte die Sonnenblende herunter und ihm fielen haufenweise Parkscheine in den Schoß. Er warf sie auf die Rückbank, öffnete den Spiegel und sah sein verschwommenes Antlitz allmählich verblassen. Schatten befleckten es. Brody zog das Ladegerät aus seiner Tasche und entfernte die erste Linse.

»Sie müssen reich sein«, meinte Paige.

Er sah sie an, ein Auge blind, das andere verdunkelt, als wäre ein Gewitter ins Auto gezogen.

»Diese Dinger sind nicht billig.«

»War ein Gefallen von einem befreundeten Optiker«, sagte er, bevor er die zweite Linse herausnahm und in den Behälter legte.

»Also sind Sie ohne die komplett blind?«

Er stieg aus und klemmte sich das Sonar an die Stirn. Durch die offene Tür zeigte er auf das kleine, flache Gerät. »Nicht komplett. Aber Sie müssen fahren. Es sei denn, Sie wollen mit fehlender Windschutzscheibe ankommen.«

Paige rutschte ans Steuer. Sie war jetzt ruhig genug, um ihr das Auto anzuvertrauen.

Brody ging zur Beifahrerseite und mit dem letzten Ping, bevor er die Tür öffnete, bemerkte er eine Gestalt in der Ferne hinter sich, die einem grob kartierten Skelett entsprach. Er drehte sich um und erblickte ein Rudel Artificial-Erntehelfer, die langsamen, gleichmäßigen Schrittes näher kamen. Ein Blick nach unten verriet, dass sein Fuß auf dem lockeren, bröckligen Boden von jemandes Eigentum stand. Er entschuldigte sich, aber es nützte nichts. Sie liefen zielstrebig weiter. Schnell kletterte er auf den Beifahrersitz und sie fuhren davon. Der Knoten, den sie ohne Weiteres aus seinen Gliedmaßen hätten formen können, ließ ihn schaudern.

Brody fischte sich eine Zigarette aus der fast leeren Schachtel und zündete sie an. Die womöglich bald unfreiwillige Pause von seinen schlechten Gewohnheiten wollte er schon lange mal einlegen, tat es aber bislang nie. Mit dem Sonar tastete er das Innere des Autos ab, neigte den Kopf hin und her, auch wenn es unnötig war. Er wedelte eine Rauchwolke weg. Sein Gehirn hatte daran schwer zu schaffen, und die erforderte Rechenleistung machte alles andere unschärfer.

Er kurbelte das Fenster einen Spalt herunter und schon wurde die Darstellung besser. Durch die Windschutzscheibe konnte er nichts erkennen. Er sah Paige in Form gestapelter Netzgitterwürfel und Polygone, mit beiden Händen am Lenkrad und geradem Rücken, der nicht einmal die Lehne berührte. Brody schaltete das Radio an, um die klaustrophobische, tote Leere zu füllen.

»Wir fahren also zu Thorps Haus?«

»Ja. Kennen Sie den Weg?«

»Nectar hat mich ein paarmal mit rausgenommen. Meistens, wenn sie Geld und mich als moralische Unterstützung brauchte. Ich hab mich nie wirklich mit ihm verstanden, aber es war gut zu sehen, dass sie Familie hat, zu der sie gehen kann, auch wenn er ein bisschen hirnverbrannt ist.«

»Er meint es gut«, sagte Brody, der es sich gemütlich machte und den unteren Teil seines Mantels hervorzog. »Und ich hoffe, Sie haben recht, dass Nectar nur auf einer Selbstfindungstour und die Sorge bloß eine simple Paranoia von Thorp ist.«

»Sie waren in Fort Reagan, nehme ich an?«

»Ja, aber keine Spur. Sie hat sich nie eingeschrieben.«

»Na, das ist doch gut.« Paige kicherte. »Sagen Sie Thorp nicht, dass ich das gesagt hab. Eigentlich würde er mir wohl zustimmen, aber er ist wie ein Kippschalter bei dieser Marine-Sache.«

»Army«, korrigierte er.

»Oh, richtig, Army. Sorry.«

Für einen Augenblick drang nur die süße Melodie einer alten Oper aus den schrecklichen Lautsprechern.

»Sie haben sich beim Militär kennengelernt?«

»Ja, während der Einführung.«

»War er immer so …?« Sie kreiste mit einem Finger an der Schläfe. »Tut mir leid, ich sollte nicht so über ihn reden. Ihr Jungs seid Freunde.«

»Nein«, sagte Brody. »Darüber, wie er ist, meine ich. Er war nicht immer so. Wir haben viel Zeug durchgestanden und seitdem ist er nicht mehr ganz richtig. Ihn nahm das ziemlich mit.«

»Hat er den Stift gezogen und die Granate fallen lassen oder so was?« Sie grinste.

Brody entschied, direkt zu sein, da ihm ihre Haltung nicht gefiel. Auch wenn Thorp oft Mitleidstouren abzog, war es nach all den Erlebnissen verständlich. »Er hat ein Kind erschossen.«

»Jesus.« Sie unterdrückte ein Keuchen. »Tut mir wirklich leid, das wusste ich nicht. Oh mein Gott. War es ein Unfall oder …? Wie ist es passiert?«

»Das Kind war ein Soldat. Sie trainieren sie dort jung. Wir haben nur die allgemeine Ordnung gewahrt und hatten irgendwann die Meldung von einem Mann bekommen, der in einer Bärenfalle steckte. Wir dachten, es wäre ein Witz, dass uns eine andere Einheit reinlegen wollte. Wir gingen trotzdem und sahen genau das. Wir stemmten die Falle auf und merkten, dass der Arm eine Fälschung war. Sofort wussten wir um den Hinterhalt. Da war ein Kind am Ende der Gasse mit einem Sturmgewehr.«

»Warum sollten sie das einem Kind antun?«, fragte sie entsetzt.

»Um unseren Ruf zu schädigen. Die wollten uns sowieso nie dort.« Brody atmete tief durch. »Ich zögerte; Thorp feuerte.«

»Ist das Kind gestorben?«

»Nicht sofort. Nachdem wir die Situation unter Kontrolle hatten, nahmen wir den Jungen mit zur Basis und brachten ihn zur Krankenstation. Thorp wich nicht von seiner Seite, saß nur da und beobachtete jeden Atemzug. Er aß nicht, sprach nicht und ging auch nicht zu den Übungen, selbst als unser Kommandeur ihm mit einer Klage wegen Gehorsamsverweigerung drohte. Er weigerte sich zu gehen, als wäre er mit dem Sitz verwurzelt gewesen. Bis das Herz des Jungen eine Woche später aufgab.« Es war alles in Brodys Kopf, jede Stunde eines jeden Tages, und er konnte es dennoch mit traumähnlicher Leichtigkeit aussprechen.

»Ich fühle mich wirklich schlecht, wie ich Thorp behandelt habe«, meinte Paige einen Moment später. »Ich hab ihm alle Arten von Scheiße an den Kopf geknallt, wenn er Nectar kein Geld leihen wollte, besonders weil er auf einer Goldmine sitzt.«

Brody hatte nichts mehr zu sagen. Er lauschte der halben Sekunde Stille zwischen den Songs im Radio, in der Hoffnung, der nächste wäre ein wenig optimistischer.

Kapitel 14


Als Brody das obere Badezimmer verließ, wurde die Welt wieder scharf. Er wartete, bis die Ladeanzeige kam, und war angenehm überrascht.04:59:59. Das wäre genug Zeit, um nach Chicago zu fahren, Paige abzusetzen, Nectars Wohnung aufzusuchen und wieder zurückzukommen. Er beschloss, Sebs Auto vorläufig zu behalten und am Bahnhofsparkplatz abzustellen, ehe er den Zug heimwärts nahm.

Beim Heruntergehen merkte Brody, wie viel ruhiger er sich in Thorps Haus fühlte. Doch etwas lebte dort mit seinem Freund, das er nicht leugnen konnte: ein ansteckendes Misstrauen. Jeden Moment, den er allein war, kam ihm die Idee von Nectar als Geisel, angeschlossen an eine Autobatterie. Wochen endloser Qualen. Es wurde immer schwieriger diese Bilder aus dem Kopf zu bekommen. Er verdrängte die ungewollten Illusionen mit der Vorstellung, in ihre Wohnung zu gehen und sie auf der Couch mit der Frage vorzufinden, wer zum Teufel er war. Erleichtert würde er die verrückte Geschichte erklären und Thorps Vermutungen beseitigen.

 

Auf der Fahrt nach Chicago blieb Paige ruhig. Im Radio lief eine Talkshow. Das Thema war die neue Fettabsaugungsklinik, die kürzlich in der Mall of America eröffnet hatte. Paige schaltete auf ihren Lieblingssender, von dem sie glaubte, dass er sogar Brody gefallen könnte, da er modernen Rock spielte; oder zumindest das, was sie als solchen bezeichnete. Für ihn waren es nur verzerrte Laute und Schreie, aber immer noch besser als der vorherige Sender, darum protestierte er nicht.

Der Song endete, und nach der Senderkennung folgten die Kurznachrichten, die genauer über das Massaker berichteten. Der Nachrichtensprecher verwies auf den Killer Alton Noel, den Ex-Marine. Die Namen der Mordopfer wurden genannt, doch bevor der erste ausgesprochen war, schaltete Paige das Radio aus.

Nach ein paar Minuten weiteren Schweigens sah Brody zu ihr rüber. Sie ging die Kontaktliste ihres Handys durch und löschte einige Einträge.

»Brauchen Sie die nicht?«

»Nicht, wenn ich nicht mehr mit denen rede. Ich halte mich nicht viel mit Leuten auf. Manchmal tausche ich Nummern mit jemandem und gehe einmal mit ihm aus. Nach einer Weile rufe ich an, und entweder geht keiner ran oder sie meinen, sie hätten schon was vor. Ziemlich viele Worte, um mir zu sagen, dass ich langweilig bin. Die meisten behalten die Nummern, falls sie mal 'ne Party schmeißen, aber ich nicht. Das war's. Ich lösche sie. Mach's gut. Schönes Leben, Arschloch.«

»Verstehe.«

Die Straße war nun wieder asphaltiert und die Farmen wichen nach und nach neuen Wohngebieten, merkwürdigen Tankstellen und miesen Speiselokalen.

»Da geh ich grad meine Liste durch und wen sehe ich? Nectar. Die ganze Sache mit Ihnen und Thorp, und ich bekomme sie nicht mal zu Gesicht? Obendrein weiß sie nicht, dass ich um sie besorgt war. Sie kommt irgendwann zurück mit einem rasierten Schädel und britischem Akzent und hat keinen Schimmer, welch Unruhe sie in euer Leben gebracht hat. Nein, ich lösche sie. Scheiß drauf. Und ihre Schlüssel? Können Sie behalten und ihr zurückgeben, wenn Sie sie finden.«

»Okay.«

»Mit Nectar ist es so verflucht ärgerlich. Sie ist ein cooles Mädel und hat was im Kopf, aber sie kapiert es einfach nicht. Sie hört sich an, was andere für die einzig wahre Wahrheit halten und folgt ihnen, bis ihr langweilig wird. Und dann muss ich mir anhören, wie Mateusz dies gesagt hat oder Abby das.«

»Sind das Freunde von ihr? Kennen Sie ihre Nachnamen?«

»Nein, ich meine, wenn sie über sie spricht, kommt eine Flut Geschichten, und ich erinnere mich nur an die Namen, die sie am meisten erwähnt. Abby ist wohl Nectars neues Vorbild und Mateusz ist nur irgend'n Typ, einer ihrer wechselnden Vielleicht-Stecher. Ich wollte es nicht wirklich wissen, deshalb hab ich nicht gefragt. Würde mich wundern, wenn sie selber seinen Nachnamen oder den von irgendwemkennt.« Sie blickte aus dem Fenster, während sie die Stadtgrenze Chicagos überquerten.

Brody machte einen geistigen Vermerk: Mateusz. Abby. Er wollte Paige noch mehr fragen, aber ihr Limit schien erreicht. Wenn Nectar einen Freund oder sonstige enge Freunde hatte, gäbe es dazu Hinweise in ihrer Wohnung. Telefonnummern, auf einen Kalender gekritzelte Termine, irgendwas.

Eine Weile fuhren sie schweigend weiter. Der Asphalt polterte unter den abgenutzten Rädern des Fairlane.

Paige grinste vor sich hin und sagte: »Nectar ist ein bisschen schräg, aber die meiste Zeit echt süß. Manchmal auch wie ein schelmisches Äffchen. Das ist immer anders. Sie kann dir Suppe bringen, wenn du dich scheiße fühlst, aber dann macht sie einfach Todesküsse auf dein Lieblingsshirt und kichert sich einen ab.«

»Todesküsse?«, fragte er verwirrt.

»Haben Sie das nie mit jemandem gemacht, als Sie noch jünger waren? Sie ziehen an einer Zigarette und nehmen ein Stück Kleidung von Ihrem Freund. Am besten was Weißes. Dann blasen Sie den Rauch durch den Stoff und machen diesen fiesen gelben Fleck. Der Kuss des Todes. Wäscht sich raus, ist aber wie ein Knutschfleck auf den Klamotten.«

»Und was bringt das?«

»Es heißt, dass man ein Geheimnis für diese Person hat. Zumindest ist das der Grund, warum sie es macht. Schauen Sie mal.« Paige zog den Kragen ihres Mantels runter. Dort war ein schwacher gelber Fleck in Form angespitzter Lippen zu sehen. Nectars Lippen. Ihr Todeskuss.

Brody fühlte sich, als wären ihm gerade unwiderlegbare Beweise für die Existenz von Geistern vorgelegt worden.

 

Sie bogen um eine Ecke, vorbei am Zugwaggon-Diner, dann um eine andere und erreichten schließlich Mama Wash.

Paige starrte ein paar Momente aus dem Fenster in das Geschäft ihrer Mutter. Die Scheiben waren beschlagen vom Dampf, aber es gab keine Schatten dahinter. Das Geschlossen-Schild hing an der Tür, doch laut Paige vergaßen sie oft, es zu drehen, wenn sie aufmachten, also bedeutete das nicht viel. Sie bat Brody, zu warten, und stieg aus, bevor er die Chance hatte, abzulehnen. Sie zog an der Vordertür. Verschlossen.

Paige kam zurück zum Auto und lächelte. »Also dann, es sind noch ein paar Sachen zu erledigen, um die ich mich schon vor diesem lustigen Abenteuer hätte kümmern müssen.«

»Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht nach Hause bringen soll?«, fragte Brody mit den Händen am Lenkrad.

»Ja. Mom wird heute nicht wiederkommen, nicht nach diesem Schreck. Darum muss ich unsere Bestellungen für morgen fertigmachen. Halte die Kunden immer zufrieden, richtig?« Paige lächelte erneut, aber es wirkte gezwungen. Das Wanken in ihrer Stimme war wieder da. Sie hatte Angst, doch er wusste, dass sie sich nicht umstimmen ließ.

02:59:59 blinkte es auf und stupste ihn an.

Bald wäre es dunkel und es fielen bereits erste Flocken, so klein und weich wie Sperlingsfedern. Dennoch wollte er sicherstellen, dass es Paige gut gehen würde. Sie war ihm eine große Hilfe gewesen und er war ihr dafür sehr dankbar.

»Viel Glück bei der Suche nach diesen Quittungen«, sagte sie.

»Danke. Rufen Sie mich an, falls Seb kommt, um nach dem Auto zu suchen.«

»Oh, ich bin sicher, das wird er. Auf den Kerl geschissen. Machen Sie's gut.« Sie schloss die Tür und ging zu Mama Wash.

Er wartete, bis sie die Eingangstür passiert und sie verschlossen hatte, ehe er fuhr. Aus den leicht ignorierbaren Schneeflocken auf der Windschutzscheibe wurden schnell große Ansammlungen. Als er die Scheibenwischer anschaltete, funktionierte nur einer, und zwar der auf der Beifahrerseite. Schon bald musste er sich halb in die Mitte beugen, um die Straße zu sehen. Zum Glück war Nectars Wohnung nicht weit. Wenige Ampeln und musikalische Kreuzungen später kam er an, musste aber mehrfach den Block auf der Suche nach einer Parklücke umrunden, in die das massive Auto passte. Dann endlich machte ein Pick-up einen Platz frei. Ihm fiel wieder ein, warum er kein Auto besaß.

Kurz darauf stand er in Nectars Wohnung. Er zog die Tür hinter sich zu und schloss beide Riegel. Eine ganze Minute stand er einfach prüfend da. Aus TV-Cop-Dramen wusste er, wie grundlegende Polizeiarbeit ablief: Auf Anzeichen eines Kampfes achten, auf Notizen und Briefe sowie offen herumliegende Dinge, nach denen jemand gesucht hatte. Er sah nichts Außergewöhnliches. Nichts wirkte durchwühlt oder entwendet. Die Wohnung war durchgängig sauber und ordentlich.

Er trat auf den weichen, beigen Teppich, warf einen Blick auf die lindgrüne Vinylcouch und ein paar Stühle. Auf dem Tisch lagen nur Magazine über Mode und Promiklatsch.

An der gegenüberliegenden Wand fiel ihm etwas ins Auge. Er bückte sich und sah einen daumengroßen Router darin stecken, drapiert mit einem gestrickten Teewärmer. Den flackernden Lichtern nach zu urteilen, lief er noch. Das alte Gerät erinnerte Brody an sein Handy und das ganze Zeug in Thorps Scheune. Es bestand keine Notwendigkeit mehr für einen persönlichen Router, denn die drahtlose Verbindung überspannte bereits das Land, als Brody noch in die dritte Klasse ging. Ein derartiger WLAN-Router wurde üblicherweise auf dem Schwarzmarkt erworben und mit der Fähigkeit ausgestattet, Signale zu verschlüsseln. Er war im Grunde so belastend wie einst Pager oder Münztelefone.

Immerhin ein Zeichen, dass Nectar nicht vollständig im Flower-Power-Himmel schwebte und allen elektronischen Geräten abgeschworen hatte. Irgendwo musste ein Ordi sein, die beste Quelle für persönliche Informationen. Er betrachtete es als Fährte zu einem potenziellen Goldschatz in der Wohnung und begann mit der Suche.

Als er einen Wandschrank in der Küche öffnete, erwachte eine Reihe Lichter flackernd zum Leben. Unter ihnen ruhte eine beeindruckende Sammlung winziger Eichensetzlinge in Kartontöpfen, allesamt verwelkt und vergilbt. Unter ihren bröseligen Blättern erkannte Brody ein halb verdecktes Banner. Er schob die jungen Bäume beiseite. Ihre Stiele brachen wie vertrocknete, alte Knochen. Auf dem handbemalten Sackleinen-Banner stand: Jedes neue Leben ist ein weiterer Schritt nach vorn. Darunter folgte durch die grobe Pinselführung kaum lesbar:Das ist der Weg von The Mothers.

Er durchsuchte den unteren Teil des Schranks und fand darin einen großen Eimer Blumenerde mit einer Plastikschaufel, eine Gießkanne und ein paar ungenutzte Kartontöpfe. Als er den Eimer heranzog, wurde der modrige Geruch stärker. Er krempelte den Ärmel hoch, schob seine Hand bis zum Grund und tastete nach Ungewöhnlichem. Nichts. Brody klopfte den Dreck ab, schloss den Schrank und ging weiter, während er das Banner-Mantra rezitierte, bis er es auswendig konnte.

The Mothers.

Das Bad war tadellos, die Toilette kürzlich gereinigt worden und der Duschvorhang roch gummiartig, also neu. Im Schrank lagen viele ordentlich zusammengelegte Handtücher, jedes mit einem leichten Karateschlag gefaltet. Er nahm den Deckel vom Spülkasten und spähte hinein. Alles, wie es sein sollte. Kein Ordi, oder, wie in seiner Wohnung, wasserdichter Beutel mit Messingschlagringen. Der Wäschetrockner im Wandschrank war leer, das Flusensieb sauber.

Er betrat das Schlafzimmer nebenan und fand ein gemachtes Bett mit Kissen und einer gefalteten Decke am Fußende vor. Nectars Besitz durchzogen gedämpfte Grün-Braun-Töne. Von der Farbpalette schloss Brody auf einen umweltbewussten Menschen, jemanden, der gerne Zeit in der Natur verbrachte, sich sogar an einen Baum ketten oder ein ganzes Wochenende lang Setzlinge in öffentliche Parks pflanzen würde. Darauf schien sie vorbereitet.

Er durchstöberte ihre Schubladen, zog die Hand aber zurück, als er bis zum Knöchel in Blusen steckte.

Warum wühle ich hier in ihren Sachen?

Flugtickets oder Quittungen, ausgedruckte Kaufverträge aus dem Internet, dafür war er hier. Brody verließ kopfschüttelnd das Schlafzimmer und dachte daran, wie er den Deckel des Spülkastens abgenommen hatte.

Was zur Hölle hab ich da drin gesucht? Was hatte ich erwartet zu finden?

In der Diele mit einem rekalibrierten Sinn für das, was er suchte, sah er nichts Offenes, das er durchgehen könnte; keinen Posthalter oder irgendwas an der Vordertür. Er nahm einen tiefen Atemzug und hielt ihn mit Blick auf die zugezogenen Fenster im Wohnzimmer. Die transparenten Vorhänge filterten das graue Licht des wolkigen Nachmittags.

Brody zog eine Bilanz dessen, was er fühlte. Er schob zwei Finger in den Hemdkragen, lockerte die Krawatte, öffnete den obersten Knopf seines Hemds und schließlich seinen Mantel. Es half nicht. Die Spannung war noch da, die schuppige Haut allgegenwärtig.

Er wendete auf dem Absatz und ging ein weiteres Mal ins Schlafzimmer. Wieder öffnete er die Schubladen. Als er in die ordentlich gefaltete Unterwäschesammlung spähte, erinnerte er sich: Sie ist aus der Stadt. Sie findet sich selbst. Sie ist nur auf Seelensuche.

Die nächste Schublade enthielt unzählige Socken in verschiedenen Farben und ein seidiges Knäuel Strumpfhosen in der Ecke. Er drückte auf die länglichen Formen, um sicherzustellen, dass nichts im Inneren verborgen lag.

»Ich muss sie finden«, murmelte er.

Brody verzog das Gesicht wegen dieses Satzes und steckte die Hände in die Taschen. Beim Aufblicken begegnete er seinem Abbild im Ankleidespiegel, sah orangefarbene Augen, vor Frustration auf Halbmast hängend. »Tu das nicht. Sieh dich einfach um, finde ihren Ordi, eine Flugticketrechnung, eine Busfahrkarte, und dann geh.«

Doch sobald er den Augenkontakt unterbrochen hatte, wanderten seine Hände wie von selbst wieder in die Schublade. Erneut dachte er an seine ermahnenden Aussagen, hörte aber nicht auf, denn er wusste, gegen den Griff zu kämpfen, zog ihn nur enger. Brody seufzte, als er die nächste Schublade mit Jeans und Stoffhosen öffnete. Manche der Sachen wirkten neu, andere mit ihren ausgefransten Löchern Jahrzehnte getragen.