Cover

Survivor Dogs - Dunkle Spuren. Ein namenloser Verräter

SURVIVOR DOGS

Staffel I

Die verlassene Stadt (Band 1)

Ein verborgener Feind (Band 2)

Gefährliche Freunde (Band 3)

Die finstere Gefährtin (Band 4)

Der Düstere See (Band 5)

Sturm der Hunde (Band 6)

Staffel II – Dunkle Spuren

Ein Rudel in Aufruhr (Band 1)

In tiefster Nacht (Band 2)

Ein namenloser Verräter (Band 3)

Alle Abenteuer auch als Hörbücher (Staffel I)
und Printausgabe bei Beltz & Gelberg

www.survivordogs.de

Hinter dem Namen Erin Hunter verbirgt sich ein ganzes Team von Autorinnen. Gemeinsam konzipieren und schreiben sie die erfolgreichen Tierfantasy-Reihen WARRIOR CATS, SEEKERS und SURVIVOR DOGS.

Für Abby Carmichael

Mit besonderem Dank an Gillian Philip

SURVIVOR DOGS – HUNDELISTE

WILDHUNDERUDEL

Sweet: kleine Schnellhündin mit kurzem grauem Fell; Rang im Rudel: Alpha

Lucky: Männchen mit dichtem gold-weißem Fell; Rasse: Sheltie-/Retriever-Mischling; Rang im Rudel: Beta

Jäger:

Schnapp: kleine Hündin mit braun-weißem Fell

Bruno: großes Männchen mit braunem dichtem Fell und ernstem Gesicht; Rasse: Schäferhund-/Chow-Chow-Mischling

Bella: Hündin mit dichtem gold-weißem Fell, Luckys Wurfschwester; Rasse: Sheltie-/Retriever-Mischling

Mickey: schlankes Farmhund-Männchen mit schwarz-weißem Fell; Rasse: Border Collie

Sturm: schwarz-braunes Scharfhundweibchen

Pfeil: schwarz-braunes Scharfhundmännchen

Raschel: dürres graues Männchen

Woody: stämmiges braunes Männchen

Patrouillenhunde:

Mond: schwarz-weiße Farmhündin, Mutter von Käfer und Dorn

Zuck: brauner Hatzhund mit schwarzen Flecken und nur drei Beinen

Flitz: schlanke Hatzhündin mit braun-weißem Fell

Daisy: kleine Hündin mit weißem Fell und braunem Schwanz; Rasse: Westie-/Jack-Russell-Mischling

Hark: dürres Männchen mit drahtigem Fell und vernarbter Schnauze

Fächel: kleines braunes Weibchen mit breiten Ohren und kurzem Fell

Hatz: kleine Hündin mit gelbem Fell

Käfer: schwarz-weißes Männchen mit struppigem Fell

Dorn: schwarzes Weibchen mit struppigem Fell

Kraus: kleines schwarzes Weibchen

Sunshine: kleine Hündin mit langem weißem Fell; Rasse: Malteser; Rang im Rudel: Omega

PROLOG

Die Bäume waren entsetzlich hoch! Ihre roten Stämme ragten unendlich weit in den blauen Himmel hinauf – so weit, dass Leck beim Hinaufstarren die Augen schmerzten. Da hüpfte sie doch lieber ihren beiden Wurfbrüdern weiter durchs hohe Gras hinterher. Die kleinen Gestalten waren vor ihr gerade noch zu sehen. Alle drei hatten Mühe, mit Martha Schritt zu halten, der riesigen schwarzen Wasserhündin, die sie durch den Wald führte.

So ein Abenteuer gefällt mir!, dachte Leck. Sie kniff die Augen zusammen und stellte sich vor, dass das Gras der Wald war und sie selbst ein riesiger Hund. Gerade schob sie sich durch dichtes Gebüsch – das konnten ungeheuer mächtige Wälder in der Ferne sein, jenseits des Graswalds mit seinen gelbgrünen Stängeln …

Nein, dachte sie und blinzelte. Ich brauche mir doch gar kein anderes Abenteuer auszudenken. Das hier mit Martha genügt völlig! Sie legte einen Zwischenspurt ein, um Grunz und Wackel wieder einzuholen. Martha wandte den Kopf nach hinten und blickte mit ihren dunklen Augen voller Zuneigung zu ihnen dreien zurück.

»Es ist nicht mehr weit«, knurrte sie leise.

»Und was ist das für eine Überraschung?«, quiekte Grunz.

»Ja, sag doch, Martha, bitte!«, fiepte Wackel, der kleinste der Welpen.

»Aber, aber, mein Kleiner!« Martha blieb stehen und leckte ihm über den Kopf. »Damit würde ich doch die Überraschung verderben!«

»Ich will es jetzt sehen!«, jaulte Leck. Sie flitzte durchs Gras an Martha vorbei, die barsch eine Warnung bellte.

Gerade noch rechtzeitig. Leck kam kurz vor einem feuchten, sandigen Abhang zum Stehen und starrte ehrfürchtig nach vorn. Nun schoben sich auch Grunz und Wackel neugierig neben sie und klappten erstaunt die Kiefer herunter.

»Was ist das?«, japste Grunz.

Martha hockte sich hin und ihre Augen funkelten. »Das, meine Kleinen, ist der Fluss. Hier wohnt der Flusshund … und hier ich bin am glücklichsten!«

Leck starrte auf die dunkle, rasch strömende Fläche, die bis an den Rand ihres Gesichtsfeldes zu reichen schien. Falls es da ein anderes Ufer gab, war es nur ein ganz verschwommenes Grün. Sie hatte natürlich schon helles Wasser in Rinnsalen plätschern gesehen und kleine schäumende Wasserfälle, die über Bachkiesel rauschten, und tiefe, stille Teiche zwischen den Bäumen. Aber das hier war so völlig anders. Mitten im Fluss brauste es in weißen Strudeln über Felsblöcke hinweg. In der Nähe der Welpen war die Oberfläche glatter und schwärzer, aber Leck erkannte sehr wohl, wie rasch das Wasser strömte. Der große Fluss kam ihr gewaltig vor, großartig und gefährlich.

Und aufregend!

»Ich möchte hineinspringen!«, bellte Grunz.

»Ich auch!«, jaulte Leck, die sich nicht ausstechen lassen wollte.

Wackel machte einen unsicheren Schritt zurück. »Ich mag ihn nicht.«

»Nun mal langsam, Welpen.« Martha schüttelte ihren großen Kopf. »Ich werde euch das Schwimmen beibringen, aber zuerst müsst ihr lernen, den Flusshund zu achten. Wenn ihr nicht genügend Respekt vor ihm habt, kann er euch leicht fressen!«

Leck spürte, wie ihr ein Schauer über die Flanken lief, und nickte. So aufregend der Fluss auch sein mochte, glaubte sie Martha doch jedes Wort. Martha hatte sich um die mutterlosen drei Welpen gekümmert und hatte immer auf Leck und ihre Wurfbrüder aufgepasst. Leck vertraute ihr von ganzem Herzen. Sie setzte sich gehorsam hin, obwohl ihr Schwanz noch immer voller Energie auf die Erde schlug.

»Die Gerüche«, sagte Wackel verwundert und schnupperte am sandigen Boden. »Sie sind alle so verschieden! Ich rieche Wasser … und Wasserpflanzen, die sind wie ganz nasses Gras … aber was ist das für ein Duft?«

Martha schnüffelte sachte an der Erde. »Das ist Flusskaninchen«, erklärte sie ihm. »Wir nennen es so, weil es ein bisschen nach Kaninchen riecht – aber es ist ein Jäger, genau wie wir. Es fängt Fische – der Fluss ist voll von Fischen und manche von ihnen können sogar beißen

»Ooh«, hauchte Wackel.

»Wenn sie mich beißen«, erklärte Grunz, »dann beiße ich zurück! Dann wird ihnen das leidtun.«

Martha lachte.

»Was ist sonst noch im Fluss?«, fragte Leck.

»Da gibt es Flussratten«, antwortete Martha, »und Aale – das sind lange, glitschige Fische. Und manchmal gibt es sogar Schlangen. Und Vögel, die unter Wasser schwimmen können!«

»Toll«, japste Wackel.

»Der Flusshund hält sehr viel Leben in seinen Pfoten«, erklärte Martha, »und auch dem Wald bringt er Leben. Der Flusshund ist es, der dafür sorgt, dass die Bäume so groß werden und das Gras grün. Er ernährt alle Wesen und sorgt sich um alle Dinge, die wachsen.«

»Er ist ein ganz besonderer Geisterhund«, flüsterte Leck voller Ehrfurcht.

»Ja«, pflichtete Martha ihr nachdenklich bei. »Das ist er. Und wenn man im Fluss schwimmt, dann ist das, als würde man mit ihm spielen. Ich möchte, dass ihr auch kennenlernt, wie das ist – aber seid vorsichtig! Wenn der Flusshund ausgelassen ist, kann er euch hierhin und dorthin ziehen, sogar unter die Oberfläche. Und er ist sehr stark!«

Leck nickte energisch. »Ja, das glaube ich auch.« Plötzlich hielt sie es nicht mehr für so eine gute Idee, ins Revier des Flusshundes einzutauchen. Das Wasser sah so dunkel aus, so kalt und tief … Leck tapste ein paar Schritte rückwärts und schauderte.

Dann spürte sie, wie Marthas warme Zunge ihr übers Ohr fuhr. »Keine Angst, Leck. Vergiss nicht: Der Flusshund ist unser Freund – wenn wir ihn achten. Schau mir zu!«

Die große schwarze Hündin trottete selbstsicher zum Ufer und beugte den Kopf ein klein wenig. Dann schnellte sie los und tauchte in die Flut, dass es nur so spritzte und silbern glitzerte. Wackel jaulte entsetzt auf, aber Martha drehte sich mühelos in der Strömung, schüttelte das Wasser von ihren Ohren und ließ die Zunge vergnügt hängen. Leck sah, wie sie unter der Wasseroberfläche mit den kräftigen Beinen arbeitete.

»Seht ihr, wie ich mich bewege, ihr Kleinen?«, bellte sie Richtung Ufer. »Kämpft nicht gegen die Strömung an; lasst es zu, dass der Flusshund euch trägt. Er kann sanft sein, aber auch wild. Und ihr dürft niemals zu weit hinausschwimmen!«

Grunz schob sich näher ans Wasser, nervös zwar, doch voller Eifer. Leck hatte nicht vor, ihm den Vortritt zu lassen. Martha sah so glücklich aus – ja, noch besser: Das Schwimmen sah aus, als würde es Spaß machen! Leck stupste Grunz entschlossen beiseite und watete an einer etwas geschützten Stelle ins Wasser.

»Es ist gar nicht kalt«, kläffte sie, als sich das Wasser um ihre Vorderpfoten kräuselte. »Es ist herrlich und kühl!«

»Genau!«, pflichtete Grunz bei und sprang hastig neben ihr hinein. Wackel sah weniger entschlossen aus, tippte mit der Pfote ins Wasser und zog sie wieder zurück, während Leck und Grunz rasch in Marthas Nähe wateten, sodass ihnen das Wasser bald bis an die Flanken reichte.

Leck drängte mutig weiter, immer schneller und sicherer – bis sie plötzlich keinen Sand mehr unter den Pfoten spürte. Da war nichts! Sie japste und sank unter die Oberfläche, ruderte aber instinktiv mit den Pfoten und bemerkte, dass sie wieder aufstieg. Jetzt war ihr Kopf wieder über Wasser, sie konnte atmen, sie konnte sich bewegen …

»Ich schwimme, kläffte sie begeistert.

»Ich auch!« Grunz stieß, von der leichten Strömung abgetrieben, gegen sie.

»Das ist herrlich! Komm rein, Wackel!« Vor lauter Begeisterung kippte Leck zur Seite, und ein Nasenloch geriet unter Wasser, doch Martha schob ihr die breite Schnauze unter den Bauch und richtete sie auf, bevor sie allzu sehr in Panik geriet. Leck schnaubte und strampelte heftig, zog die Pfoten dann wieder ruhiger durchs Wasser und fand in der sanften Umarmung des Flusshundes das Gleichgewicht. Martha zog nun weiter draußen ihre Kreise, behielt die Welpen aber im Auge.

Wackel blickte sehnsüchtig herüber, trotzdem blieb er ängstlich. Er war nun auch ein Stück weit hinausgewatet, doch seine Pfoten wollten die Sicherheit des Ufers nicht verlassen. Leck beobachtete ihn und kläffte aufmunternd.

»Schau her, Leck!«, bellte Grunz angeberisch. Leck wandte den Kopf und sah, dass er im tieferen Wasser schon auf halbem Weg zu Martha war. Sein kleiner Körper zuckte, während er keuchend voranpaddelte. »Der Flusshund ist überhaupt nicht schlimm – das ist doch ganz leicht!«

Plötzlich quiekte Wackel erschrocken auf und Leck wandte sich ganz um: Grunz schwamm immer noch unbeirrt auf Martha zu, aber Leck sah voller Entsetzen, dass ihr größerer Bruder unversehens in die Fänge des Flusshundes geraten war. Der große Geisterhund bäumte sich auf, packte Grunz und zerrte ihn stromabwärts.

Er hat nicht genügend Ehrfurcht gezeigt!, dachte Leck völlig außer sich. »Grunz! Grunz, komm zurück!«

Doch ganz offensichtlich konnte er das nicht. Sein Kopf geriet für einen Augenblick unter Wasser, und als er wieder auftauchte, würgte und prustete er, die Augen vor Schreck weit aufgerissen. Wieder wurde er von einer Welle überspült. Er schwamm jetzt nicht mehr, sondern lag dem Flusshund hilflos in den Pfoten, während er ihn immer weiter stromabwärts zog.

Leck heulte vor Angst auf, verstummte aber, als sie von Martha energisch Richtung Ufer geschoben wurde. Während ihre kleinen Pfoten am Grund scharrten und schließlich Halt fanden, hatte Martha im Wasser schon wieder kehrtgemacht und schwamm Grunz mit weit ausgreifenden Zügen hinterher. Leck krabbelte heftig keuchend ans Ufer und Wackel drückte sich zitternd an ihre Flanke. »Wird Martha ihn einholen können?«, winselte er. »Oh, Martha, bitte rette ihn!«

»Ich kann ihn gar nicht mehr sehen!«, wimmerte Leck. Ihre Beine waren ganz ohne Kraft und das Flusswasser in ihrem Fell fühlte sich nun viel kälter an.

»Ich auch nicht … nein! Dort!« Wackel hechelte verzweifelt und reckte die Ohren, so hoch er konnte.

Leck sah einen dunklen Umriss, der immer größer wurde, als sich Martha gegen die Strömung voranarbeitete. Im Maul hielt sie einen schlaffen, triefenden kleinen Körper. Die Zeit kam Leck unerträglich lange vor, bis die große schwarze Hündin ans Ufer watete und das winzige leblose Wesen im Sand ablegte.

»Grunz!«, rief Wackel verzweifelt.

Leck brachte nicht einmal ein Winseln zustande. Ihr Maul war wie ausgetrocknet und sie fühlte sich wie zu Eis erstarrt. Ihr Wurfbruder sah mit einem Mal so winzig aus, ein nasses Bündelchen aus Fell und Knochen. »Martha, er rührt sich nicht!«

»Still jetzt«, sagte Martha entschlossen. Sie atmete tief ein, hob dann eine massige Vorderpfote und stieß sie Grunz in die weichste Stelle seiner Flanke.

Leck verschlug es den Atem und sie fiepte. Das musste wehgetan haben, aber Martha wusste doch bestimmt, was sie tat, oder?

Als Grunz sich nicht rührte, stieß Martha ihn noch einmal und dann noch einmal.

Plötzlich zuckte Grunz zusammen und in einem heftigen Hustenkrampf lief ihm Wasser aus der Schnauze.

»Den Geisterhunden sei Dank.« Martha seufzte erleichtert.

Es sah einfach fürchterlich aus, dachte Leck: Alle Muskeln an Grunz’ Körper zitterten, und seine Beine zuckten hilflos, während sich seine kleine Brust immer wieder unter heftigem Husten zusammenzog.

Aber allmählich konnte Leck auch wieder Freude empfinden. Selbst wenn ihr Wurfbruder durchnässt, vor Schmerz gekrümmt und zitternd dalag – er war am Leben! Sie winselte laut und voller Inbrunst aus Dankbarkeit gegenüber Martha – und noch mehr dankte sie dem strengen und doch gnädigen Flusshund.

Du hast Grunz nicht verschluckt – du hast ihn wieder freigelassen! Danke, gütiger Flusshund! Du hast mir meinen Bruder doch nicht weggenommen …

Ich schwöre, dass ich dich immer achten werde.

1. KAPITEL

Wie hatte das geschehen können?

Scharfkantige Lichtsteinscherben, schoss es Sturm durch den Kopf, hatten in der Beute gesteckt, die das Rudel gerade fressen wollte. Zwei fette, wunderbare Hirsche, der beste Beutehaufen seit vielen Reisen der Mondhündin – doch ein Hund hatte das Festmahl durch seinen feigen Anschlag gestört. Aber warum?

Das Rudel war noch immer wie betäubt vor Abscheu. Bella, die gleich hinter Sturm stand, winselte verstört, und selbst ihr treuer Partner Pfeil, ein Scharfhund genau wie Sturm, war im Augenblick zu entsetzt, um sie zu trösten. Er stand neben Sturms Schulter und zitterte vor Schreck. Die meisten schwiegen und starrten mit gesträubtem Nackenfell vor sich hin. Fächels ungläubiges Geheul schien immer noch widerzuhallen – und Sturm wusste genau, wie sie sich fühlen musste.

Sturm hegte schon seit einer Weile den Verdacht, dass ein Hund im Rudel gegen alle anderen arbeitete, aber selbst sie konnte kaum glauben, dass einer von ihnen so etwas Entsetzliches getan hatte. Alle waren sie so glücklich gewesen, die wunderbare Jagdbeute zu teilen – und nun lag der Dritte Hund des Rudels röchelnd und winselnd am Boden, während ihm Schnapp die heimtückischen Scherben aus dem blutüberströmten Maul zog. Vorsichtig ließ sie die mörderisch scharfen Splitter fallen. Da lagen sie, glitzernd und voller Blut.

Daisy hielt Zucks rotbraunen Kopf mit ihren kleinen Vorderpfoten fest, leckte sein Ohr und winselte kläglich: »Bitte, du musst stillhalten. Gleich hast du es geschafft.«

»Oh nein, oh nein. Oh, Zuck. Du Armer!«, wimmerte Sunshine, die Daisy und Schnapp helfen wollte und die vor ihren Pfoten liegenden Lichtsteinsplitter aufhob und auf einem kleinen Haufen sammelte.

Seit Fächel ihr Klagegeheul angestimmt hatte und es dem Rudel endlich dämmerte, dass es einen Verräter in seinen Reihen hatte, waren die Hunde wie angewurzelt stehen geblieben und hatten einander entsetzt angestarrt. Nun drehte sich aber die kleine Kraus herum und richtete ihre Augen auf Pfeil, dass es Sturm eiskalt den Rücken hinunterlief. Ihr Blick war eine eindeutige Anklage. Sturm sah sie zornig an, doch dann bemerkte sie, dass nun auch Bruno den Kopf wandte. Einer nach dem anderen drehten die Rudelgefährten die Köpfe und starrten Pfeil an.

Sie trauen ihm nicht. Und das nur, weil er ein Scharfhund ist!

Aber ich bin doch auch eine Scharfhündin, und ich habe die ganze Zeit versucht, sie zu warnen …

Ihr pochte das Herz in der Brust – vor Angst, aber mehr noch, weil sie das alles ungerecht fand. Pfeil hatte doch ebenso wenig Grund wie sie, den Beutehaufen mit Lichtstein zu verderben. Trotzdem verdächtigten ihn alle im Rudel als Ersten.

Bruno behielt seine Gedanken nicht länger für sich. »Ich habe es euch gesagt«, zischte der stämmige Hund durch seine scharfen Zähne. »Ich sage es schon die ganze Zeit. Einem Scharfhund ist nicht zu trauen.«

Sturm kribbelte es vor Ärger unter dem Fell, aber Bruno starrte Pfeil feindselig an und fauchte: »Ich wollte diesen Scharfhund von Anfang an nicht in unserem Rudel haben!«

In Sturm kochte die Wut hoch und wurde stärker als ihre Angst. Seit vielen Reisen des Sonnenhundes hatte sie nicht mehr richtig geschlafen und befürchtet, sie sei der böse Hund im Rudel. Sie hatte sich vor dem gefürchtet, was passieren konnte, wenn sie wieder schlafwandelte. Nun war ihr klar, dass sie nichts mit den schrecklichen Dingen zu tun hatte, die dem Rudel zugestoßen waren. Nach all dem, was sie sich in ihrer Sorge zugemutet hatte, machte es sie nun umso wütender, dass tatsächlich ein Verräter im Rudel sein Unwesen trieb. Aber dass Bruno Pfeil für diesen Verräter hielt, nur weil er – wie Sturm – ein Scharfhund war, das war das Allerschlimmste.

»Wie kannst du es wagen, Bruno? Pfeil hat das nicht verdient, er hat nichts getan!« Es tat ihr gut, endlich einmal ihre ganze Wut an diesem Hund auszulassen, der kaum je eine Gelegenheit versäumt hatte, abfällig über Scharfhunde zu reden. »Pfeil hat von Anfang an immer treu zum Rudel gehalten – auch wenn du das nicht begreifen willst!«

»Ha«, knurrte Kraus leise. »Wir hätten es wissen müssen.«

Sturm wirbelte zu der kleinen schwarzen Hündin herum und bog die Ohren nach vorn. »Was willst du damit sagen? Sprich es nur aus!«

»Aber gern«, meinte Kraus, die in Zucks Rudel früher Omega gewesen war, spöttisch. »Ist doch klar, dass die Scharfhunde zusammenhalten.«

Bevor Sturm etwas entgegnen konnte, ließ Flitz ein tiefes Knurren vernehmen. »Du brauchst Pfeil nicht zu verteidigen, Sturm. Er ist anders als du – er gehört noch nicht lange zu uns. Du hast dem Rudel deine Treue bewiesen, aber was wissen wir über ihn? Nichts.«

»Nichts«, wiederholte Hatz, »außer, dass er sein letztes Rudel verraten hat. Oder etwa nicht?«

»Jetzt mal langsam!« Bella sprang nach vorn und stellte das goldene Rückenfell auf. »Pfeil hat die Scharfhunde verraten, um uns alle zu retten! Es gibt keinen Grund, ihm das vorzuwerfen. Außerdem kann er die Beute gar nicht verdorben haben – ich weiß das ganz sicher! Ich war die ganze Zeit mit ihm zusammen, seit er die Beute mit den anderen Jägern ins Lager zurückgebracht hat.«

»Tatsächlich?« Der große, etwas verwahrlost wirkende Hark neigte den Kopf zur Seite und kniff die Augen zusammen. »Und du hast ihn seither nicht mehr aus den Augen gelassen, was? Warst nicht einmal für einen Augenblick abgelenkt?«

»Jeder Hund ist mal abgelenkt«, brummte Woody. »Besonders, seit Alphas neuer Wurf da ist. Du kannst Pfeil nicht die ganze Zeit im Blick gehabt haben, Bella.«

»Doch, das habe ich!«, blaffte sie trotzig. »Ich weiß immer, wo Pfeil ist. Immer!«

»Ach!«, höhnte Kraus und schüttelte den Kopf. »Wirklich? Wie kommt denn das, Bella?«

Kraus hat plötzlich so viel zu sagen, dachte Sturm verbittert, jetzt, wo es gegen die Scharfhunde geht.

»Das würde ich auch zu gerne wissen.« Flitz zog ihre Schnauze kraus und äugte zu Bella hinüber. »Wie kommt es, dass du so gut über Pfeil Bescheid weißt, Bella? Gibt es da etwas, das du uns erzählen solltest?«

Bella überlegte kurz, hob den Kopf, und Sturm sah, dass in ihrer Kehle ein Muskel zuckte. Ihr schlug das Herz selbst bis zum Hals, denn sie wusste, was nun kommen würde. Würde Bella jetzt die Wahrheit preisgeben? Gerade jetzt wäre so etwas dem Rudel doch kaum begreiflich zu machen!

Das Nackenhaar der Hündin mit dem goldenen Fell war immer noch gesträubt, als sie die Zähne bleckte. »Ja«, antwortete sie trotzig. »Pfeil und ich sind Partner, und das schon eine ganze Weile.«

Es blieb lange still, abgesehen von Zucks schmerzlichem Wimmern, als Schnapp zurücktrat, weil sie ihre schwierige Aufgabe beendet hatte.

Nun meldete Fächel sich zum ersten Mal seit ihrem Schreckensgeheul wieder zu Wort. Ihre Stimme klang unsicher, sie war jedoch in der Stille klar zu hören.

»Aber in diesem Fall … Alpha?« Sie wandte sich zu ihrer schlanken Anführerin um, der Schnellhündin. »Es tut mir leid, aber in diesem Fall können wir Bellas Zusicherung nicht gelten lassen, oder? Wenn sie Pfeils Partnerin ist, wird sie ihn doch auf jeden Fall verteidigen.«

»Nein!«, bellte Lucky, der Beta des Rudels mit dem goldfarbenen Fell, laut. »Ich kenne Bella besser als ihr alle« – Sturm bemerkte seinen zweifelnden Blick auf Pfeil, als wollte er sagen: wenn auch nicht so gut, wie ich dachte –, »und sie wäre niemals mit einem Hund zusammen, der sich gegen sein eigenes Rudel stellt. Wenn Pfeil böse wäre, dann wäre meine Wurfschwester nicht seine Partnerin.« Mit einem Blick auf Bella hielt er kurz inne, um wieder zu Atem zu kommen, schüttelte sich ein wenig und leckte sich unsicher die Lefzen. Trotz dieser Worte konnte er seine Überraschung über Bellas Mitteilung nicht verbergen.

Nun, sagte sich Sturm, es war ja auch ein Schock, es so zu erfahren. Bestimmt hätte Bella es ihrem ranghöheren Wurfbruder lieber zu einem besseren Zeitpunkt erzählt.

»Da bin ich mir nicht so sicher.« Das war Flitz, die sich auf ihre Hinterläufe niedergelassen hatte und nachdenklich mit dem Schwanz auf den Boden tippte. Ihre Augen funkelten. »Es wäre ja nicht das erste Mal, dass sich Bella widerwärtige Verbündete wählt.«

Mickey, der gütige alte schwarz-weiße Farmhund, knurrte wütend: »Das ist doch lange her, Flitz. Jetzt zerr das nicht wieder hervor wie alte, vergammelte Beute.«

Sturm wippte unbehaglich hin und her. Sie wusste, worum es ging: Bella hatte sich damals mit einer Horde Füchse eingelassen, um den ehemaligen Alpha des Rudels, einen Halbwolf, zu zwingen, das Revier zu teilen. Das war unverantwortlich gewesen und hatte katastrophal geendet, wie Sturm von Bella selbst erfahren hatte.

Jetzt war wahrlich nicht der Zeitpunkt, daran zu erinnern! Bella bereute diese Dummheit von ganzem Herzen, und es gab keinen Grund, ihr das nachzutragen. Aber natürlich ging es dabei auch um Pfeil. Sturm spürte, wie sich ihre Schnauze kräuselte.

Alle hatten sich inzwischen Alpha zugewandt und warteten, was sie Fächel wohl entgegnen würde. Die graue Schnellhündin wirkte nachdenklich, hatte bislang aber nicht das leiseste Knurren vernehmen lassen.

»Nun, Alpha?« Bruno nickte Fächel zu und blickte dann seiner Anführerin direkt ins Gesicht. »Bist du derselben Meinung wie dein Beta oder hat Fächel recht? Wirst du dich auf Bellas Wort verlassen, jetzt, wo sie die Partnerin des Scharfhunds ist?«

Sturm stockte der Atem. Das war doch offener Ungehorsam gegenüber ihrem Beta! Sie wusste, dass Bruno nicht gut auf Pfeil zu sprechen war, aber jetzt musste Alpha den stämmigen Kampfhund doch in seine Schranken weisen, oder? Sie hatte eine unglaubliche Wut im Bauch, war aber zu verwirrt, um noch einmal etwas zu sagen. Jetzt liegt es an Alpha, diesen Hunden begreiflich zu machen, wie lächerlich ihre Anschuldigungen sind!

Alpha drehte den schmalen Kopf langsam herum und blickte einem Hund nach dem anderen in die Augen. Ihr Tonfall war eine Mischung aus Enttäuschung und Ärger, und sie knurrte kühl: »Es ist zu früh, um mit der Pfote auf einen bestimmten Hund zu zeigen. Alle hier müssen sich erst einmal beruhigen und aufhören, nach trockenen Knochen zu schnappen.« Sie nickte Zuck zu, der erschöpft vor Schmerz und mit bebenden Flanken am Boden lag. »Zuck ist verletzt worden. Wir haben jetzt keine Zeit für zerstörerische Streitereien!«

»Aber, Alpha!«, bellte Bruno.

»Wir müssen dieser Sache hier und jetzt ein Ende machen …«, winselte Woody, »… und der Schuldige ist höchstwahrscheinlich Pfeil!«

»Das ist doch offensichtlich, oder nicht?«, knurrte Flitz beleidigt.

»Es reicht!« Alphas Fauchen war tödlich. Sie sagte nichts mehr, sondern starrte ihnen nur in die Augen, bis jeder Hund nervös flüsterte und brummte und dann betreten schwieg. Auch Sturm ließ die Schnellhündin dabei nicht aus. Sie funkelte sie so eindringlich an, dass bei ihr jeder Widerspruch im Keim erstickt wurde. Sturm biss die Zähne zusammen und unterdrückte den Drang, sich jaulend über diese Ungerechtigkeiten zu beschweren.

»Und jetzt«, erklärte Alpha, als sie den Eindruck hatte, dass sie alle Rudelmitglieder erst einmal beruhigt hatte, »sollten wir aufhören, hier zu schnattern und zu quieken wie eine Horde Eichhörnchen – gehen wir schlafen. Zuck braucht Ruhe und Pflege. Schnapp, Daisy und Sunshine: Danke, dass ihr so rasch gehandelt habt und euch von diesem Gezänk nicht habt ablenken lassen. Ich als eure Alpha habe die Aufgabe, herauszufinden, wer das getan hat – und das werde ich auch, da könnt ihr sicher sein. Aber durch Streit und das Verbreiten von Gerüchten wird die Wahrheit nicht ans Licht kommen.« Wieder ließ sie den Blick in die Runde schweifen. »Ich erwarte, dass jeder Hund morgen früh hellwach ist. Nachtpatrouille: Macht euch bereit und zieht eure Runden. Schon möglich, dass es in diesem Rudel einen Verräter gibt, aber das bedeutet nicht, dass nicht auch andere Feinde dort draußen lauern. Zurück an die Arbeit, ihr alle.«

Sie machte elegant kehrt und stolzierte auf ihre Mulde zu, Beta auf ihren Fersen. Während die beiden Anführer fortgingen, konnte Sturm unter den missmutigen Hunden immer noch gesträubtes Nackenfell und gefletschte Zähne ausmachen. Antworten hatte auch Alpha ihnen nicht gegeben, aber in einem musste Sturm ihr beipflichten: Solange Zuck verletzt in ihrer Mitte lag, war nicht der Zeitpunkt für Streit und Anschuldigungen. Er schien zwar nicht wirklich schwer verletzt zu sein, litt aber ganz offensichtlich noch an Schmerzen – der eiskalte Vorsatz dieser Tat musste ihn mindestens ebenso verletzt haben wie die scharfkantigen Splitter.

Und dann schienen es alle mit einem Mal sehr eilig zu haben, in ihre Schlafmulden zu kommen. Hatz, Dorn, Käfer und Kraus fanden sich rasch zu Patrouillentrupps zusammen und machten sich auf den Weg aus dem Lager.

Trotz ihres Ärgers über die Sturheit und Dummheit im Rudel wünschte sich Sturm fast, sie könnte mit ihnen gehen. Alles wäre jetzt leichter, als in der Jägermulde ihre Sorgen aufs Neue durchzukauen.

Und obwohl sie mehr als genügend Schlafkreise drehte und sich bemühte, wirklich alle Muskeln zu entspannen, kam sie auf ihrem Schlafpolster aus Blättern und Moos einfach nicht zur Ruhe. Zuletzt gab sie es mit einem schweren Seufzer ganz auf und ließ ihre Ohren sinken.

Warum hatte Alpha nicht mehr gesagt? Sie hätte dem Rudel leicht befehlen können, die lächerlichen Angriffe gegen Pfeil einzustellen; sie hätte die wilden Spekulationen verbieten können, die haltlosen Vorwürfe, die den Zusammenhalt des Rudels nur noch weiter untergruben. Gewiss, am Ende hatten die Hunde das Gezänk aufgegeben, aber nur widerwillig, und Sturm war sich sicher, dass das Gemurmel heimlich weiterging. Alpha hatte ihnen nur vorübergehend das Maul verboten, aber sie hatte nichts gegen diese furchtbaren Verdächtigungen oder die Feindseligkeit gegenüber Pfeil unternommen.

Und das nur, weil er ein Scharfhund ist, dachte Sturm und presste die Kiefer aufeinander. Nur aus diesem einen Grund hassen sie ihn. Das ist so ungerecht!

Trotzdem – als Sturm unruhig den Kopf wandte und ihr Blick auf Pfeil fiel, konnte sie eine gewisse Freude nicht verhehlen. Noch in der vorigen Nacht hatten er und Bella auf entgegengesetzten Seiten der Mulde geschlafen, um ihre Beziehung vor dem Rudel geheim zu halten. Jetzt lagen sie aneinandergeschmiegt da, sodass sich ihre Schnauzen berührten, und Bellas Schwanz lag über seiner schlanken Flanke.

Sturm bemerkte, dass Pfeil ebenso wenig schlafen konnte wie sie selbst; sie sah den Glanz seiner furchtsamen Augen, als er auf den Muldenhügel hinausblickte. Aus Zuneigung und Solidarität kroch sie an seine andere Seite und kam an seiner Flanke zur Ruhe. Dankbar wedelte er mit dem Schwanz. Sturm hörte sein trauriges, halb unterdrücktes Seufzen, als er in einem weiteren Versuch, Schlaf zu finden, die Augen schloss.

Plötzlich war das Rascheln von Pfoten im trockenen Laub zu hören und sowohl Sturm als auch Pfeil rissen die Köpfe hoch. Es war aber nur Zuck, der auf seinen drei Beinen und mit schmerzverzerrter Schnauze zum Eingang der Mulde humpelte. Voller Sorge richtete sich Sturm auf. Pfeil starrte Zuck nur an. Seine dunklen Augen verrieten seine Unruhe und sein Herzschlag pochte ihm in der schlanken Kehle.

»Zuck!«, rief Sturm leise. »Geht es dir besser?«

Der Dritte Hund nickte, verzog aber bei jeder Bewegung das Gesicht. Im fahlen Mondschein konnte Sturm erkennen, dass sein Maul voller abtrocknender Blutreste war. Seine Schnauze war geschwollen und schien sehr empfindlich zu sein. Zuck hatte in die Hinterkeule des Hirschs, auf die seine Wahl gefallen war, herzhaft hineingebissen; Sturm wollte sich gar nicht vorstellen, wie es sich anfühlte, wenn man Lichtstein mit den Zähnen zerbiss und sich die Splitter ins weiche Fleisch im Maul bohrten. Trotzdem sprach Zuck mit fester Stimme.

»Pfeil, ich glaube nicht, dass du etwas damit zu tun hast«, murmelte er und zuckte abermals zusammen. »Ich will, dass … du das weißt. Ich weiß – so etwas würdest du nie tun.«

»Danke.« Pfeil stützte sich hoch und stellte die Ohren auf. »Aber jetzt solltest du lieber nicht reden, Zuck. Das muss sehr wehtun.«

»Ja«, gab der Dritte Hund mit einem schiefen Lächeln zurück. »Ziemlich. Aber ich wollte, dass du das weißt.«

Pfeil ging auf ihn zu und leckte ihm behutsam die Schnauze. »Mir bedeutet das mehr, als ich sagen kann, Zuck. Wirklich, danke.«

Sturm war so erleichtert, dass sie zitterte. Zuck weiß, dass Pfeil nicht schuld ist, dass er kein böser Hund ist.

Doch leider genügte das nicht. Auch die anderen Hunde mussten von Pfeils Unschuld überzeugt werden.

Aber welcher Hund hat es dann getan? Das ging über Sturms Vorstellung. Der Anblick von Zucks blutiger Schnauze war für sie fast nicht zu ertragen. »Du solltest dich ein bisschen ausruhen, Zuck«, sagte sie leise. »Mach dir keine Sorgen wegen uns.«

»Ja, das sollte ich«, stimmte er ihr zu, drehte sich langsam um und entfernte sich humpelnd von ihrer Mulde. »Gute Nacht, meine jungen Hunde.«

Sie sahen ihm nach, wie er sich zurückzog, und zitterten beide vor Anspannung. Sturm leckte sich die Lefzen. »Armer Zuck!«, murmelte sie.

»Es ist nicht zu glauben, oder?« Pfeil seufzte noch einmal, aber er schien jetzt ruhiger zu sein, und als er sich auf dem Moosbett zusammenrollte, schlief er rasch ein. Kurz darauf hörte Sturm ihn leise schnarchen. Sie legte sich wieder dicht neben ihn und bemerkte, dass sein Herzschlag auch sie langsam in den Schlaf lullte.

Und ich brauche diesen Schlaf … Aus Angst vor dem Dunkel in mir habe ich so lange versucht, wach zu bleiben … ich hatte Angst, dass ich wieder schlafwandle und vielleicht meine Rudelgefährten verletze, ohne es zu wissen. So lange habe ich befürchtet, ich könnte es gewesen sein, die Raschel ermordet hat – wenn auch unwissentlich. Aus lauter Angst vor meinem inneren Scharfhund habe ich nicht zu schlafen gewagt. Aber jetzt bin ich mir sicher, dass ich nicht die Schuldige bin. Ich bin nicht der böse Hund in diesem Rudel. Das weiß ich jetzt …

Sie musste sehr tief eingeschlafen sein, denn als sie aufwachte, schreckte sie mit einem heftigen Zucken ihrer Muskeln hoch. Sturm schüttelte sich und versuchte, sich im Licht der Sterne zu orientieren. Ihre Pfoten zuckten; sie hatte offenbar von einer Jagd geträumt – einer ganz gewöhnlichen Jagd, stellte sie erleichtert fest, keiner schrecklichen Prophezeiung. Ihre Rudelgefährten schliefen noch; sie konnte ihre tiefen Atemzüge hören, leises Schnarchen und hin und wieder ein Wimmern oder gedämpftes Jaulen. Es roch nach Körperwärme, trockenem Fell, Gras und Moos. Eine Pfote kratzte ruckartig ein Ohr und fiel dann schlaff zurück; ihr Besitzer schlief fest. Außer den feinen Geräuschen der Nacht herrschte Stille.

Nein. Keine völlige Stille.

Sturm reckte ein Ohr hoch, denn es waren Stimmen zu hören. Es mussten mindestens drei Hunde sein, die sich leise unterhielten, wahrscheinlich draußen am Rand des Lagers.

Das hört sich nach Bruno an.

Sturm war sofort hellwach. Bruno war nicht zur Patrouille eingeteilt – also warum war er wach und sprach mit einem solch leisen, eindringlichen Knurren? Sturm kroch zum Eingang der Mulde, sah sich um und schlich weiter zum nächsten Gebüsch, dem sie vorsichtig bis in die Nähe der Hunde folgte. Wieder war Brunos Stimme zu hören.

»Dann sind wir uns also einig?«

Sturm zählte fünf Hunde: Bruno, die Jägerin Schnapp, die dünne braun-weiße Flitz, die Pfeil angeklagt hatte, dann die kleine schwarze Kraus, die ausgerechnet jetzt erstmals das Wort ergriffen hatte, um die Scharfhunde zu kritisieren, und dann der große, struppige Woody. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt, doch die Nacht war so still, dass Sturm nur den Kopf drehen und die Ohren spitzen musste, um alles genau zu verstehen.

»Ja, abgemacht.« Das war Kraus. »Wir werden ihn abwechselnd im Auge behalten.«

»Aber wir müssen vorsichtig sein«, bemerkte Woody. »Wir dürfen nicht auffallen.«

»Und das nicht nur in Pfeils Nähe«, fügte Flitz an. »Da sind ja noch andere Hunde, die nicht begreifen, welche Gefahr er darstellt.«

»Das Dumme ist nur«, sagte Bruno, »dass er vielleicht gar nichts tut, solange er beobachtet wird. Vielleicht wartet er ja, bis er alleine ist. Das muss er eigentlich sogar, wenn er etwas Böses vorhat.«

»Aber genau darum geht es ja«, entgegnete Schnapp. »Wenn wir ihn ständig beobachten, dann hat er gar keine Chance, etwas zu tun. So kommen wir zwar nicht an Beweise, aber dafür schützen wir das Rudel.«

»Das stimmt«, pflichtete Bruno bei. »Dauernde, unauffällige Beobachtung, das ist es, was wir brauchen. Und kein Wort zu Alpha oder Beta, und zwar egal, was ihr tut. Die wären ganz und gar nicht damit einverstanden.«

»Da hast du recht«, meinte Woody barsch. »Aber wenn Alpha einem Scharfhund traut, dann brauche ich das noch lange nicht.«

Unter Nicken und leisem Knurren zerstreuten sich die Verschwörer wieder. Sturm bemerkte entsetzt, dass die Hunde direkt bei ihr vorbeikommen mussten. Sie duckte sich so rasch und leise wie möglich ins hohe Gras. Als die Schritte ihrer Pfoten näher kamen, hielt sie den Atem an und atmete erleichtert wieder aus, als die Hunde, ohne etwas zu bemerken, an ihr vorbei waren und zu ihren verschiedenen Schlafmulden gingen.

Sturm blieb still liegen und versuchte, trotz ihres klopfenden Herzens leise zu atmen. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Als alles ruhig war, schlich sie zurück zur Jägermulde. Pfeil, der noch nichts von der Verschwörung ahnte, schlief dicht beim Eingang, und seine Flanken hoben und senkten sich ruhig. Bruno, Schnapp und Woody mussten so vorsichtig hineingekrochen sein, dass sie ihn nicht aufgeweckt hatten.

Gleich jenseits des Eingangs schwebte über den Bäumen die Mondhündin am Himmel. Die leuchtende Geisterhündin hatte sich von den Hunden am Boden abgewandt und ihre Hinterkeulen so gedreht, dass sie nur zur Hälfte zu sehen war. Sturm fragte sich, ob sie das wohl aus Wut über die Verdächtigungen, Ränke und Streitereien im Rudel getan hatte.

Das würde mich kein bisschen wundern.

Sturm war nach wie vor müde, aber der Schlaf wollte einfach nicht kommen. Zu sehr nagte die Sorge unter ihren Rippen und ihr war flau im Magen.

Ich weiß nicht, was mit diesem Rudel geschehen ist. Ich weiß nicht, wer Schuld daran hat, wer so bösartig sein könnte. Ist es einer der Hunde, die sich hier heimlich abgesprochen haben – oder vielleicht ein anderer?

Sie wusste es nicht. Aber das unheilvolle Brennen in ihren Gedärmen ließ keinen Zweifel, dass etwas Schreckliches mit ihrem Rudel geschehen war.

2. KAPITEL

Sturm streckte sich ausgiebig, scharrte mit den Klauen im Gras und gähnte. Die Mondhündin – wütend oder nicht – war längst in ihrer Mulde verschwunden, um den Tag zu verschlafen; stattdessen war der Sonnenhund aufgegangen, hielt sich aber hinter dichten Wolken verborgen. Vielleicht ist er genauso wütend auf uns wie die Mondhündin, dachte Sturm. Er gibt uns zwar sein Licht, will uns aber nicht ansehen. Wärme schenkt er uns heute jedenfalls nicht.

Die tief hängenden dunkelgrauen Wolken stimmten Sturm seltsam wehmütig. Dann begriff sie: Sie hatten genau die Farbe von Raschels Fell. Mit einem Stich im Herzen musste sie an den dürren und stets so eifrigen kleinen Hund denken und es schnürte ihr die Kehle zusammen. Raschel war auf brutale Weise ermordet worden, ohne jedes Erbarmen, und noch immer wusste das Rudel nicht, wer es getan hatte.

Er wollte mein Freund sein, ging es Sturm durch den Kopf, und die Trauer drückte sie wie ein Stein in der Brust. Er bewunderte mich zu einer Zeit, als ich überhaupt nicht mit mir im Reinen war und mich selbst nicht besonders mochte. Er tat alles, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn er doch jetzt nur hier wäre, mir die Ohren mit seinem Unsinn volljaulen und mir auf Schritt und Tritt folgen würde, wie es Alphas Welpen bei ihr tun.

Ich fand ihn immer so lästig. Und jetzt wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass er mir einmal wieder auf die Nerven geht …

Aber das würde nie mehr geschehen. Ein hinterhältiges, mörderisches Mitglied dieses Rudels hatte auf grausame Weise dafür gesorgt.

Vor dem Mord an Raschel war alles im Rudel so viel besser gewesen.

Sturm setzte sich auf die Hinterbeine und kratzte sich am Ohr. Dann stutzte sie.

Stimmte das? War es wirklich