Massey, Sujata Der Brautkimono

1

Für die meisten Menschen ist es kein gutes Zeichen, wenn mitten in der Nacht das Telefon klingelt.

Ich finde es ganz normal, denn der Anrufer könnte ein amerikanischer Kunde sein, der nicht an den Zeitunterschied zu Japan denkt, oder mein bester Freund Richard Randall, der wieder einmal die letzte U-Bahn verpaßt hat und einen Platz zum Schlafen braucht.

»Rei Shimura Antiquitäten«, krächzte ich, nicht ganz sicher, ob ich noch träumte oder schon wach war.

»Spreche ich mit Rei?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang wie die meiner Mutter, die allerdings über den Zeitunterschied hätte Bescheid wissen müssen.

»Ja, Mom«, seufzte ich, damit sie merkte, daß ich bereits geschlafen hatte.

»Nun, ich bin nicht Ihre Mutter …«

»Verzeihung. Wie, sagten Sie, war Ihr Name?« Der super-betonte, fast britische Akzent, der aber tatsächlich amerikanisch war, hatte mich getäuscht. Um zwanzig vor drei morgens in Tokio klang er merkwürdig klar.

»Mein Name ist Allison Powell. Ich bin Textilkuratorin des Museum of Asian Arts in Washington, D.C. Haben Sie schon von uns gehört?«

»Natürlich«, antwortete ich, mit einem Schlag hellwach. Als Studentin hatte ich das Museum in der Nähe der Embassy Row einige Male besucht. Ich erinnerte mich noch an den hübschen Vorraum mit den schwarz-weißen Marmorfliesen, an die schöne Sammlung von Utamaro-Holzschnitten und andere wunderbare asiatische Antiquitäten – chinesische Terrakottafiguren, koreanische Seladonschalen, Kaschmir-Shawls. Orte wie dieser hatten mich bei der Ausstattung meines eigenen Antiquitätengeschäfts inspiriert.

»Haben Sie ein paar Minuten Zeit? Ich möchte Ihnen gern einen Vorschlag machen.«

Ich hatte den Verdacht, daß Allison mich bitten wollte, sie bei ihrem nächsten Japan-Besuch herumzuführen. Erst einen Monat zuvor hatte eine mir unbekannte Frau aus Los Angeles vor meiner Tür gestanden und mich gebeten, sie nach Kyoto und zurück zu begleiten – natürlich auf eigene Kosten.

Bemüht, nicht allzu unhöflich zu klingen, sagte ich: »Lassen Sie mich raten. Sie kommen nach Japan und brauchen jemanden, der Sie herumführt? Da könnte ich Ihnen einen hervorragenden englischsprechenden Führer empfehlen …«

»Nein, eigentlich wollte ich Ihnen die Gelegenheit zu einer Reise verschaffen«, erklärte mir Allison aufgeräumt. »Wir planen eine Ausstellung mit Kimono aus der Edo-Zeit. Ich weiß, es ist ziemlich kurzfristig, aber ich wollte Sie fragen, ob Sie zur Eröffnung in einem Monat kommen möchten.«

»Hat meine Mutter Ihnen diesen Floh ins Ohr gesetzt?« fragte ich argwöhnisch, weil Mum schon das ganze Jahr auf mich einredete, ich solle sie und meinen Vater doch endlich einmal daheim in den Staaten besuchen.

»Ich kenne Ihre Mutter nicht, aber ich weiß, daß Sie sich hervorragend mit japanischen Textilien auskennen.«

»Danke«, sagte ich, immer noch mißtrauisch. »Allerdings frage ich mich, von wem Sie meine Privatnummer haben, denn die stand in keinem meiner Artikel.«

»Wir haben die Information von einem Mitglied unseres Beratungskomitees. Es tut mir wirklich leid, daß ich so kurz vor dem Termin anrufe, Rei. Eigentlich sollte jemand vom Morioka-Museum sprechen, aber er hat im letzten Augenblick abgesagt. Deshalb brauchen wir so dringend jemanden wie Sie. Wir könnten Ihnen ein Tageshonorar sowie die Reisespesen zahlen.«

»Ach, tatsächlich?« Also war ich nur die zweite Wahl. Aber ich konnte mir ihr Angebot ja mal anhören.

»Herr Nishio hätte dreitausend bekommen«, flötete Allison.

»Das reicht ja kaum für eine einzige Nacht in Washington …« Dreitausend Yen entsprachen etwa dreißig Dollar.

»Nun, dreitausend Dollar sind ein bißchen mehr als das, was ein amerikanischer Kurier normalerweise für eine zehntägige Reise erhalten würde. Allerdings beziehen Sie ja kein Gehalt von einem japanischen Museum, also könnte ich versuchen, noch einmal fünfhundert Dollar für Sie herauszuhandeln. Wären Sie damit einverstanden?«

Sie hatte Dollar gemeint, nicht Yen. »Ich verstehe nicht ganz. Wofür ist das Geld?«

»Für sieben Tage Hotel, Verpflegung sowie andere Unkosten haben wir zweitausend Dollar veranschlagt, und für zwei kurze Vorträge über den Kimono in der späten Edo-Zeit kommen noch einmal tausend dazu. Die Flugtickets werden über ein gesondertes Budget finanziert …«

»Darum könnte ich mich selbst kümmern«, sagte ich hastig. Ich wußte, daß meine Kontakte in Tokio mir einen viel preiswerteren Flug organisieren konnten.

»Kein Problem, solange Sie Business Class fliegen, wenn Sie die Kimono transportieren. Falls Sie das Budget unterschreiten, können Sie den Differenzbetrag behalten. Auf dem Rückweg steht es Ihnen frei, Economy zu fliegen. Die Kimono werden drei Monate lang bei uns in den USA bleiben. Möglicherweise werden wir Sie danach noch einmal für den Rücktransport anheuern, vorausgesetzt, Sie haben Interesse …«

Während Allison weiterredete, überschlug ich im Kopf ihr Angebot: ohne das Geld für die Flüge fünfhundert Dollar pro Tag, eine Wahnsinnssumme. Wenn ich den Auftrag übernahm, machte ich durch die Reise sogar noch Profit.

»Ich muß erst einen Blick in meinen Terminkalender werfen«, sagte ich und schaltete die antike Laterne neben meinem Bett ein, die ich mit einem elektrischen Kabel ausgestattet hatte. »Darf ich mir Ihre Telefonnummer notieren für den Fall, daß das Gespräch unterbrochen wird?« Oder falls ich aus diesem Traum erwachen sollte.

»Aber natürlich.« Allison gab mir eine Nummer mit 202er-Vorwahl durch, dann ihre Faxnummer und ihre E-Mail-Adresse.

»Ähm, ich habe keinen Internetanschluß.«

»Was?«

»E-Mail ist hier in Japan nicht so verbreitet wie in den Staaten. Deshalb habe ich noch keinen Anschluß beantragt.« Die Wahrheit sah ein wenig anders aus: Ein solcher Anschluß war in Japan viel teurer als in den USA, und außerdem verunsicherte mich die Vorstellung, nicht telefonisch oder brieflich mit jemandem zu kommunizieren, weil es mir zu unpersönlich erschien. Mein Freund Takeo hingegen schwor darauf. Er verbrachte mehrere Stunden täglich am Laptop.

»Das klingt nach einer echten Antiquitätenfanatikerin«, sagte Allison lachend. »Aber egal, dann schicke ich Ihnen die Unterlagen eben auf die altmodische Art. Ich glaube, Ihre Faxnummer habe ich bereits.« Sie ratterte sie herunter. Das überraschte mich, denn ich konnte es mir nicht leisten, Werbeanzeigen für mein Antiquitätengeschäft in internationale Kunstzeitschriften zu setzen. Vermutlich hatte Allison hervorragende Kontakte in Japan.

Nachdem ich aufgelegt hatte, konnte ich vor lauter Aufregung nicht mehr einschlafen, also stand ich auf, um mir eine Tasse Kamillentee zu machen. Wenn ich es schaffte, mit fünfhundert Dollar eine Woche auszukommen statt einen Tag, würden dreitausend übrigbleiben, die ich auf mein Konto einzahlen konnte, auf dem Ebbe herrschte, seit ich die regelmäßigen Einkünfte für meine Kunst- und Antiquitätenkolumne in der Gaijin Times verloren hatte. Jetzt mußte ich alle möglichen Aufträge annehmen, die irgendwie mit Antiquitäten zu tun hatten, um das Geld für die Miete zusammenzubekommen. Ich hatte noch nie im Ausland über japanische Antiquitäten gesprochen – obwohl ich nur die zweite Wahl des Museums für diesen Job war, empfand ich das Angebot als großes Glück.

Schließlich ging ich wieder ins Bett, aber bereits zwei Stunden später weckte mich das Surren des Faxgeräts in der Ecke meines Schlafzimmers erneut auf. Allison hatte Wort gehalten und mir einen vorläufigen Reiseplan sowie eine Kontaktadresse und die Nummer des Morioka-Museums in West Tokyo geschickt, wo sich, so stand es in dem Fax, die Kimono aus der Edo-Zeit befanden, die ich nach Amerika begleiten sollte.

Ich wußte, daß tagtäglich Museumsstücke von Flughäfen auf der ganzen Welt in andere Länder transportiert wurden – nur ich selbst hatte noch nie damit zu tun gehabt. Würden die Verantwortlichen des japanischen Museums mir vertrauen?

Ich warf einen Blick in den Spiegel und schüttelte den Kopf. Nein, dieser zottelhaarigen, schlitzäugigen Amerikanerin, die in Japan schon mit zu vielen Leichen zu tun gehabt hatte, würden sie bestimmt nicht vertrauen. Dazu kam, daß ich mit meinen achtundzwanzig Jahren immer noch ledig war und folglich eine wenig vertrauenswürdige Frau, die für jede finanzielle Transaktion und jeden Umzug einen Mitunterzeichner brauchte. Vielleicht war Allison Powell bereit, mir eine Chance zu geben, aber sie kannte nicht meine ganze Geschichte – im Gegensatz zu den Leuten hier in Japan. Sonst wäre sie mit Sicherheit nicht auf die Idee gekommen, mich anzurufen.

2

»Schätzchen, dir würd’ ich noch nicht mal meine beste Vintage-Levi’s anvertrauen, und du sollst eine Sammlung antiker Kimonos nach Amerika begleiten?« Mein bester Freund in Tokio, der fünfundzwanzigjährige Kanadier Richard Randall, rührte kopfschüttelnd Zucker in seinen Kaffee.

»Gebildete Menschen wissen, daß der Plural von ›Kimono‹ kein ›s‹ hat«, sagte ich mit eisiger Stimme. Wir saßen im Appetito, meinem Lieblingssanduitto – der japanischen Form einer Sandwichbar. Die gemeinsame Mittagspause im Appetito war so etwas wie eine freitägliche Tradition für Richard und mich geworden, weil er an diesem Tag an der Sprachenschule It’s Happening weniger Stunden geben mußte als sonst.

»Na schön, dann also Kimono. Jedenfalls wirst du die Dinger nirgendwohin begleiten.«

»Tja, wahrscheinlich hast du recht. Na ja, war ein schöner Traum.« Wie deprimierend, daß Richard meine Befürchtungen teilte, denn in den letzten Tagen hatte ich mich in die Vorstellung, nach Washington zu fliegen, geradezu hineingesteigert. Mit einem Blick auf das merkwürdige kleine Gebäckstück auf meinem Teller, das die Inhaber des Lokals »cheezu bagel« nannten, fügte ich hinzu: »Ich hätte solche Lust auf einen amerikanischen Bagel. Ganz zu schweigen von richtigem Käse. Ich habe die Schnauze voll von Kraft-Scheibletten für Singles aus überteuerten Supermärkten für Ausländer.«

»Du gehörst aber der Zielgruppe für so was an.« Richard kicherte. »Das ist das Problem. Wer würde wohl einer alleinstehenden jungen Frau, die nicht mal die japanische Staatsangehörigkeit hat, japanische Kulturgüter anvertrauen? Und warum hat das amerikanische Museum dich und nicht jemanden vom Morioka-Museum gebeten, die Sachen zu begleiten? Da ist doch was faul.«

»Der Typ vom Morioka hat abgesagt, also steckten die Amerikaner in der Zwickmühle. Sie wollen bestimmte Kimono aus diesem Museum. Da wäre es doch unhöflich, den Textilkurator von einem anderen japanischen Museum zu bitten, daß er die Exponate aus dem Morioka begleitet. Glaube ich wenigstens. Na ja, vielleicht weiß ich schon bald mehr.« Eineinhalb Stunden später hatte ich einen Termin mit dem Leiter, dem Textilkurator und dem Archivar des Museums.

»Du hast doch noch nie für ein Museum gearbeitet«, sagte Richard.

»Allison meint, ich habe einen Ruf als Kennerin japanischer Textilien. Wenn das stimmt, haben die Leute vom Morioka eine gute Meinung von mir.«

»Nun gib mal nicht so an, Schätzchen. Dein toller Ruf kommt höchstens daher, daß dein Name immer wieder in den Revolverblättern steht.«

»Die Fotos haben die Reporter nur wegen Takeo gemacht«, widersprach ich. Seit etwa einem halben Jahr war ich mit einem ziemlich coolen jungen Mann meines Alters namens Takeo Kayama zusammen, der seine Tage damit verbrachte, über die Restaurierung historischer japanischer Häuser nachzugrübeln und unterschiedliche Umweltgruppen zu beraten. Weil Takeo der Sohn des Großmeisters einer berühmten Ikebana-Schule war, verfolgte die Öffentlichkeit seine Unternehmungen mit Interesse, besonders wenn er zu einer förmlichen Ikebana-Gala in Jeans und Greenpeace-T-Shirt erschien. Mir war es egal gewesen, was Takeo an jenem Abend trug, aber als unser leidenschaftlicher Abschiedskuß an einem Taxistand am nächsten Tag Millionen von Lesern in Form eines Fotos präsentiert wurde, wäre ich vor Scham fast gestorben. Seitdem hatten Takeo und ich es nicht mehr gewagt, uns zusammen in der Öffentlichkeit zu zeigen. Jetzt verbrachten wir die meiste Zeit in seinem Landhaus, wo wir so ziemlich das einzige taten, was an einem Ort ohne Fernseher möglich ist.

»Ha! Vielleicht suchen sie ja im Internet Informationen über dich und finden Fotos von deinem früheren Freund.«

»Bitte erinnere mich nicht daran!« Ich wollte Hugh Glendinning vergessen, den schottischen Anwalt, der mich etwas mehr als ein Jahr zuvor verlassen hatte. Als ich Takeo kennenlernte, war ich zu dem Schluß gekommen, daß es mir nur nutzen konnte, mit einem Japaner zusammenzusein. Bei wem sonst konnte ich sicher sein, daß er mit mir in meiner Lieblingsstadt leben wollte? Nun, »zusammensein« war vielleicht nicht der richtige Ausdruck, denn davon konnte bei Takeo und mir nicht die Rede sein – und auch nicht vom Heiraten. Takeo stammte aus einer berühmten Familie, und vermutlich hätte ich bei seinem Vater bessere Karten gehabt, wenn es mir gelungen wäre, mir eine solide finanzielle Basis zu schaffen.

Ermutigt durch den Gedanken, wie sehr die Zusammenarbeit mit einem namhaften japanischen Museum mir beruflich nutzen würde, verabschiedete ich mich von Richard und machte mich auf den Weg zu meinem Termin. Zwanzig Minuten später hatte ich die boutiquengesäumten Straßen um die Omote-Sando hinter mir und erreichte den Eingang des Morioka-Museums, eines kleinen eleganten Stuckgebäudes, das die Bomben im Zweiten Weltkrieg überstanden hatte und seit nunmehr dreißig Jahren zahlreiche kostbare Textilien beherbergte.

Ein Angestellter begleitete mich zum Vorzimmer des Direktors, das mit Plakaten vergangener Ausstellungen und modernen Rosenholzmöbeln ausgestattet war: eine Gruppe von vier Stühlen, jeder davon mit einem winzigen Tischchen. Drei der Stühle standen einem einzelnen gegenüber. Mir war sofort klar, auf welchem ich sitzen würde.

Herr Shima, der Archivar des Museums, bot mir einen Platz an, doch ich wußte, daß es besser war, mich nicht zu setzen, bevor der Direktor erschienen war. Insgeheim fragte ich mich beim Anblick von Herrn Shimas fadem grauem Anzug aus einem Wollgemisch, wieviel er tatsächlich von Textilien verstand. Es war interessant, daß das Morioka sich einen Archivar leistete, dessen Funktion darin bestand, Buch über die Bestände des Museums zu führen. In den meisten amerikanischen Museen gab es eine solche Stelle, doch in Japan war dieser Job noch relativ neu – offenbar nahm das Morioka seine Sammlung ziemlich ernst. Interessant fand ich es außerdem, daß Shima nicht das klassenprimushafte Aussehen vieler anderer Museumsangestellter besaß. Er war Mitte Vierzig und wirkte körperlich gut in Form. Die Haare trug er modisch kurz. In seinem Alter war er vermutlich verheiratet. Aber bei dem Blick, mit dem er mich taxierte, hätte es mich nicht überrascht, wenn er Hostessenbars besuchte oder neben der Ehefrau noch eine Geliebte hatte.

Dabei war ich recht dezent gekleidet. Um meine Leidenschaft für japanische Textilien zu demonstrieren, hatte ich mich für ein knielanges schwarzes Kleid und eine mit pink-orangefarbenen Ikat-Pfeilen gemusterten Haori – eine Art Kimonojacke – entschieden. Das war mir als bessere Lösung erschienen als ein Kostüm, denn alle meine Kostüme stammten aus den frühen neunziger Jahren und waren somit aus der Mode.

Ich verbeugte mich tief, als Shima mich Herrn Ito, seinem Chef, vorstellte, der rund wie ein Buddha war, was in Verbindung mit seinem blauen Anzug, der sich über seinem dicken Bauch spannte, einen interessanten Effekt ergab. Sein Alter war schwer zu schätzen; vermutlich hatte er die Sechzig bereits überschritten. Ich wußte nicht, wie seine Einstellung mir gegenüber war, also hielt ich mich an die japanische Etikette und entschuldigte mich ausführlich dafür, ihn von der Erledigung seiner Pflichten abzuhalten.

Herr Nishio, der eigentlich in die Staaten hätte fliegen sollen, kam fünf Minuten später herein. Er entschuldigte sich kurz bei Shima und Ito, bevor er sich leicht vor mir verbeugte – eine Geste, die nur wenig Achtung vor mir ausdrückte. Er musterte meine Kleidung mit ungläubigem Blick. Hätte ich mich doch konservativer gekleidet! Vielleicht dachte Nishio, eine Frau, die es wagte, einen alten Haori zu tragen, würde auch nicht davor zurückschrecken, in einen der antiken Museumskimono zu schlüpfen, wenn sie sich unbeobachtet fühlte.

Ich reichte Nishio meine Visitenkarte, wie ich es zuvor schon bei den beiden anderen Männern getan hatte, doch statt sie zu lesen, steckte er sie in die Tasche wie ein Kaugummipapier, das er später wegwerfen würde.

Nun, dachte ich, Nishio war ja nicht der Chef. Vielleicht wirkte er so verkrampft, weil er die Reise nach Washington nur ungern abgesagt hatte. Normalerweise freuen Japaner sich über jede Gelegenheit, im Ausland Luxusgüter, wie zum Beispiel die Hermès-Krawatte, die er um den Hals trug, zu kaufen, weil sie dort viel billiger sind als in Japan.

Nach einer Weile setzten wir uns, die drei auf die Stühle nebeneinander, ich auf den einzelnen, genau, wie ich es erwartet hatte. Ich zog an meinem Haori, um das Stückchen Oberschenkel, das unter meinem Kleid hervorlugte, zu verdecken. Eine Angestellte in meinem Alter kam mit einem Tablett voll kleiner Tassen mit grünem Tee herein. Sie bediente mich zuerst, wie es sich gehörte, da ich Gast war, doch ich achtete darauf, nicht vor den Männern an meinem Tee zu nippen.

»Sie möchten also an Nishio-sans Stelle nach Washington reisen«, sagte Shima, der Archivar. Sein Tonfall verriet mir, daß ihm der Gedanke, ich könnte für das Museum nach Amerika fliegen, nicht gefiel.

»So würde ich das nicht ausdrücken. Man hat mir gesagt, daß er leider nicht selbst fliegen kann«, erwiderte ich.

»Eigentlich hätten wir die Reise zusammen machen sollen«, sagte Shima. »Als Archivar bin ich für die Sicherheit unserer Bestände verantwortlich. Nishio-san ist unser Textilkurator und Experte für traditionelle religiöse Gewänder. Wir haben vor vier Jahren schon einmal gemeinsam einige Altargewänder zu einer Ausstellung des Museum of Asian Arts begleitet.«

»Das war sicher eine wunderbare Ausstellung. Ich werde mich bemühen, Sie nicht zu enttäuschen. Vielleicht haben Sie schon von meiner Spezialisierung auf antike japanische Möbel gehört. Während meines Studiums an der University of California in Berkeley habe ich auch eine Arbeit über Kimono geschrieben.«

»Dann kommen Sie also aus Kalifornien?« fragte Herr Ito.

»Ja, ich bin dort geboren, doch mein Vater stammt aus Yokohama«, sagte ich, wie immer darum bemüht, mein japanisches Erbe zu betonen.

»Dann kennen Sie Washington also gar nicht.« Itos Stimme klang entschieden.

Ich hatte die falsche Seite meiner Identität betont! Hastig sagte ich: »O doch! Ich habe als Studentin im Museum of Asian Arts recherchiert. Und die Familie meiner Mutter lebt in der Gegend …«

»Wie gut kennen Sie die Angestellten des Museums?« fragte Ito scharf.

Verdammt, ich hätte meine Mutter nicht erwähnen sollen. Das war nicht professionell. Etwas gedämpfter sagte ich: »Ich habe mich mehrmals mit Powell-san unterhalten, und ich glaube, mein berufliches Verhältnis zu ihr als gut bezeichnen zu können.«

»Powell-san möchte, daß Sie einige Kostbarkeiten aus unserer Sammlung zu ihrer Ausstellung nach Washington begleiten«, meldete sich Shima zu Wort.

»Ja, das Museum of Asian Arts hat mich gebeten, einige Stücke nach Washington zu bringen. Soweit ich weiß, haben Sie bereits eine Reihe von Textilien für diese Reise freigegeben.«

»Die Anfrage ist sehr kurzfristig. Das macht die Sache … schwierig«, sagte Shima mit einem Seitenblick auf seinen Chef.

Aha. Jetzt wurde mir klar, was hier lief. Die Museumsleitung hatte sich gegen eine Teilnahme an der Ausstellung des Museum of Asian Arts ausgesprochen. Herr Ito, der Museumsleiter, spielte den guten Cop, Shima den bösen und Nishio den stummen. Doch das wichtigste: Sie waren alle gegen mich.

Ich wandte mich allen dreien zu: »Da ich in den Staaten aufgewachsen bin, würde ich Ihnen gern etwas zur amerikanischen Museumskultur sagen. Amerikanische Museen planen viele Monate im voraus. Die Highlights der Ausstellungen werden in Zeitungen und Zeitschriften beschrieben. Powell-san hat eine Ausstellungseröffnung mit sechshundert Gästen geplant – darunter auch hohe japanische Würdenträger. Während der dreimonatigen Ausstellung werden bis zu zehntausend Besucher, die sich schon jetzt auf die Schätze aus dem Morioka-Museum freuen, die Kimono bewundern. Wenn Sie Ihr Angebot zurückziehen, wird der Ruf des amerikanischen Museums unter Umständen dauerhaft geschädigt.«

»Sie glauben wirklich, daß unsere Kosode – die Kurzarm-Kimono – der Höhepunkt der Ausstellung werden?« fragte Herr Ito nach einer Weile.

»Natürlich! Und mein Vortrag, in dem ich nicht nur über Ihre Leihgaben sprechen werde, sondern auch über die Bedeutung des Morioka als führendes Textilmuseum Japans.«

Ich hatte das Gefühl, Boden zu gewinnen. Schließlich sagte Nishio: »Soweit ich sehe, kennen Sie sich mit amerikanischen Museen aus, auch wenn Sie noch nie für eines gearbeitet haben. Aber Sie müssen zugeben, daß es höchst ungewöhnlich für ein Museum ist, einer freiberuflichen Antiquitätenhändlerin, die weder ein eigenes Geschäft noch Beziehungen zu einem Museum in diesem Land hat, eine solche Aufgabe zu übertragen.«

Mit einem verlegenen Lächeln sagte ich: »Ich weiß, daß ich jung bin und nicht so viel Erfahrung besitze wie Sie. Vermutlich hat Powell-san mich auch wegen meiner Zweisprachigkeit gewählt.«

»Glauben Sie, hier gibt es niemanden, der Englisch spricht?« fragte Shima.

Das Morioka hatte noch nie Ausländer beschäftigt; das hatte ich vier Jahre zuvor bei einer Bewerbung um ein Praktikum erfahren. Aber das konnte ich jetzt nicht sagen; es hätte zu aggressiv geklungen. Statt dessen meinte ich mit großen Augen: »Soweit ich weiß, war Nishio-san die erste Wahl für diese Aufgabe, doch offenbar konnte er sie nicht wahrnehmen.«

Herr Ito sah Shima überrascht an, Nishio senkte den Blick.

Shima sagte: »Das stimmt. Er muß die nächste Ausstellung in unserem Haus vorbereiten und während meines Urlaubs einige meiner Aufgaben übernehmen. Es tut mir leid, aber …«

»Das ist absolut verständlich«, sagte Ito mit forscher Stimme. »Shima-san hat in den letzten fünf Jahren keinen einzigen Tag frei genommen. Die japanische Regierung hält die Vorgesetzten der Firmen an, ihre Angestellten zu Urlauben zu ermuntern, damit diese keinen Herzinfarkt wegen Überarbeitung erleiden.«

Shima hüstelte. »Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich meinem Museum in dieser Zeit nicht dienen kann und wir dem amerikanischen Museum Unannehmlichkeiten bereiten. Vielleicht sollten wir Fräulein Shimuras Reisepläne nächste Woche dem Komitee vorlegen.«

Schluß mit den Ausreden und falschen Entschuldigungen! Ich sah den Männern in die Augen und sagte: »Das Problem ist nur, daß ich heute in zwanzig Tagen fliegen muß. Wenn Sie kein Interesse daran haben, Ihre Kimono für die Ausstellung zur Verfügung zu stellen, muß ich Miss Powell rechtzeitig Bescheid geben, damit Sie einen Ersatz aus einem anderen Museum organisieren kann.« Natürlich war das ein Bluff; ich wußte genau, daß Allison nur die Kimono aus dem Morioka wollte, und außerdem wäre es völlig unmöglich gewesen, so kurzfristig Ausstellungsstücke aus anderen Museen zu beschaffen.

Schweigen. Ich fragte mich, ob ich zu weit gegangen war.

»Wir werden uns bemühen, Ihnen so bald wie möglich Bescheid zu geben«, sagte Ito. »Aber bitte verstehen Sie, daß japanische Museen sehr gewissenhaft planen.«

»Das gilt auch für die amerikanischen«, erklärte ich. »Die Vorbereitung für diese Ausstellung läuft seit zwei Jahren. Es ist traurig, daß wegen interner Schwierigkeiten möglicherweise das Hauptexponat fehlen wird.«

Wir tauschten noch ein paar Höflichkeiten aus, bevor ich das Museum mit nichts als dem vagen Versprechen verließ, daß einer seiner Angestellten mich anrufen würde. Ja, sicher. Der Spruch kam mir bekannt vor.

3

»Wieviel, glaubst du, würde mich eine Geschlechtsumwandlung kosten?« fragte ich Takeo Kayama, als ich am nächsten Abend zusammengerollt neben dem Heizlüfter in dem ansonsten traditionell eingerichteten Wohnraum des Landhauses seiner Familie in Hayama lag. Wir hatten gerade eine Tintenfisch-Mais-Pizza an einem niedrigen Kotatsu verzehrt – ein Tischchen mit einem winzig kleinen Heizkörper darunter, der uns die Füße wärmte. Bis auf das Tischchen, einige Zabuton – Sitzkissen – sowie ein schlichtes Gesteck aus Pampas-gras und Bittersüß in der Schmucknische war der Raum leer.

»Sie würde dich die Möglichkeit kosten, mit mir zu schlafen«, antwortete Takeo. Wie er sich so in seinem schwarzen Pullover und seiner schwarzen Jeans auf dem Tatami räkelte, sah er wie ein attraktiver Einbrecher aus. Nur seine dicken Wollsocken störten.

»Wenn ich Japaner wäre und obendrein noch ein Mann, würde das Morioka-Museum mich die Kimono bestimmt nach Amerika begleiten lassen. Dann müßte ich mich jetzt nicht schlaflos im Bett wälzen und grübeln.« Allzuviel Schlaf würde ich in Takeos Haus ohnehin nicht bekommen, weil die Shoji – die Schiebetüren – von den heftigen Winden der beginnenden Taifunsaison hin- und hergerüttelt wurden.

»Mich freut’s, daß du nicht nach Amerika fährst. Mir ist es lieber, wenn du hier bei mir bist.« Träge lächelnd zog Takeo mich an sich.

»Und was ist, wenn’s doch klappt? Begleitest du mich dann? Die Sache würde ungefähr eine Woche bis zehn Tage dauern.« Ich wußte, daß es kein Zeitproblem gäbe, weil Takeo keinen festen Job hatte. Er war Mitglied mehrer Umweltorganisationen, widmete sich der Renovierung des Landhauses der Familie, arbeitete im Garten und beschäftigte sich mit Blumenstecken.

»Ich bin seit meinem Examen in Santa Cruz nicht mehr in den Staaten gewesen. Wie lange ist das her? Sechs Jahre?«

»Dann wird’s aber Zeit. Am Ende der Reise könntest du mit mir meine Eltern in Kalifornien besuchen. Davor wären wir in Washington – da gibt’s eine Baumschule und einen botanischen Garten, die dich bestimmt interessieren würden.«

Takeo schnaubte verächtlich. »Für mich gäbe es keine größere Qual, als wieder in ein Land zu fahren, in dem Ketchup als Gemüse durchgeht und jeder sich eine Schußwaffe kaufen kann. Außerdem gefällt mir der Gedanke nicht, daß du dich irgendwo anders aufhältst als im Museum, im Hotel oder bei deinen Eltern. Es ist einfach zu gefährlich dort.«

»Na schön«, sagte ich, »dann lade ich dich eben wieder aus. Ich bin jetzt schon so lange nicht mehr in meiner Heimat gewesen, daß ich wahrscheinlich sogar die Sprache verlernt habe.« Ich rollte von ihm weg und wartete darauf, daß er mich wieder zu sich heranzöge. Als er das nicht tat, fragte ich: »Takeo, wieso sagst du immer, die Welt ist gefährlich? Wir gehen nie aus. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann wir das letzte Mal im Kabuki-Theater waren, einen ausländischen Film im Ebisu Garden Cinema gesehen haben oder bei meiner Tante Norie zum Abendessen gewesen sind.«

»All das hat mit Konsum zu tun. Du willst immer nur ausgehen und Geld ausgeben.«

»Doch nicht bei meiner Tante.«

»Auch der müßten wir irgendein Geschenk mitbringen.«

»Das kaufe sowieso immer ich«, sagte ich.

»Nun reit doch nicht auf solchen Sachen rum. Als wir uns kennenlernten, hat mich am meisten an dir beeindruckt, daß du die einzige Frau warst, die nicht immer irgendwas von mir wollte. Aber jetzt möchtest du mich überall herumzeigen wie ein wertvolles Ausstellungsstück.«

»Glaubst du, die Presse ist hinter mir her? Wärst du nicht plötzlich auf der Straße über mich hergefallen, hätte man uns überhaupt nicht fotografiert.«

»Schieb das nicht mir in die Schuhe! Du bist nämlich diejenige, für die sie sich interessieren.«

»Ich? Die Tochter einer unbekannten Innenausstatterin und eines Psychiaters? Ich bin wohl kaum so interessant wie der junge Erbe des achtreichsten Mannes von Japan.« Am liebsten hätte ich mir auf die Zunge gebissen, als die Worte heraus waren, weil ich Takeo nicht an seinen Vater erinnern wollte.

»Die Leute interessieren sich nicht für deine Eltern, sondern für dich«, sagte Takeo. »In den vergangenen beiden Jahren sind in den Zeitungen immer wieder kurze, aber gut plazierte Artikel über Rei Shimura erschienen. Du hast der Polizei bei der Aufklärung von Morden geholfen, du hast lange verloren geglaubte historische Schätze gerettet, und du würdest jede Nacht Tanzen gehen, wenn in deinen Stammclubs nicht immer wieder Razzien durchgeführt werden würden.«

»Falls das ein Kompliment sein soll, kannst du es dir an den Hut stecken«, sagte ich eingeschnappt. »Weißt du was, ich bleibe heute nacht nicht hier. Es fahren immer noch ein paar Züge in die Stadt.«

Takeo zuckte mit den Achseln. »Wie du willst.«

»Danke für die Pizza und deine ausgesuchte Freundlichkeit.« Ich benutzte den besonders höflichen japanischen Ausdruck bewußt sarkastisch. Eigentlich hatte ich erwartet, von den Museumsleuten enttäuscht zu werden, nicht von meinem Freund, mit dem ich erst eine Stunde zuvor im Bett gewesen war. Als ich Takeos Haus an jenem Abend verließ, fühlte ich mich nicht besonders gut.

In der nächsten Woche hörte ich weder etwas von Takeo, dem ich eine Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte, noch vom Museum. Am Donnerstag besuchte ich meine Tante Norie zum Abendessen, die die Hälfte der Zeit versuchte herauszukriegen, warum Takeo nicht dabei war. Ich konnte ihr ja schlecht erklären, daß er lieber im Haus seiner Familie mit mir schlief, als mit uns allen Shabu-Shabu zu essen.

Am Freitagmorgen klingelte dann endlich das Telefon. Herr Shima erklärte mir, die Museumsleitung habe beschlossen, daß ich sieben Kimono zum Museum of Asian Arts bringen dürfe – nicht wie ursprünglich geplant acht, weil eine neuerliche Untersuchung ergeben habe, daß eines der Stücke zu empfindlich war.

Nachdem ich aufgelegt hatte, stieß ich einen Freudenschrei aus. Ich hatte gewonnen! Auch wenn ich nur sieben Kimono mitnehmen durfte – ich konnte mit einer Spesenkasse von fünfhundert Dollar pro Tag nach Washington.

Am folgenden Montag ging ich ins Morioka, um mir die Kimono anzusehen. Herr Shima begrüßte mich mit einem matten Lächeln.

»Shimura-san, es freut mich, Ihnen sagen zu können, daß Sie die Kosode-Sammlung begleiten werden.«

»Die Freude ist ganz meinerseits. Danke für Ihre Bemühungen«, sagte ich und fragte mich dabei, ob Shima sich tatsächlich freute oder ob er nur den Regeln des Tatamae folgte – der oberflächlichen Höflichkeit, die dafür sorgt, daß gesellschaftliche Begegnungen in Japan so glatt verlaufen, wie der Sand in einem Zen-Garten gerecht ist. Manche Ausländer halten Tatamae für unaufrichtig. Meiner Meinung nach hilft es, Auseinandersetzungen zu vermeiden und auch bei Uneinigkeiten einen Kompromiß zu finden.

Nishio wirkte noch immer nicht allzu glücklich darüber, mich zu sehen. Schweigend zog er ein Paar makellos weißer Baumwollhandschuhe an, um einen langen Karton aus säurefreier Pappe zu öffnen, aus dem er ein flaches, in Seidenpapier eingeschlagenes Rechteck holte. Auch meine Tante und ich bewahrten unsere Kimono so auf. Das säurefreie Seidenpapier sowie eine stärkere äußere Reispapierhülle schützten sie gegen die alles durchdringende Feuchtigkeit der japanischen Luft, obwohl die Lagerräume des Museums vermutlich klimatisiert waren.

Nishio entfaltete den Kimono und legte ihn auf einen langen, mit einem sauberen Musselintuch bedeckten Tisch. Bei dem Kleidungsstück handelte es sich um einen leuchtend roten Furisode aus Seide, also um einen Damenkimono mit langen Ärmeln. Er hatte ein elegantes Muster aus Wandschirmen, Wolken und Fächern in Shibori- und Yuzen-Färbetechniken sowie Stickereien aus Seiden- und Metallfäden. Der Stil war prächtig und elegant zugleich.

»Dieser Kimono ist seit mehr als dreißig Jahren nicht mehr dem Licht ausgesetzt worden«, sagte Shima. »Es freut mich, daß sein Zustand sich nicht verändert hat. Natürlich sind unsere Lagerräume klimatisiert, aber trotzdem macht man sich immer Sorgen.«

»Was für ein hervorragendes Beispiel für den Stil der Edo-Zeit.« Ich streckte die Hand nach einem Ärmel aus, zog sie jedoch sofort wieder zurück.

»Bitte berühren Sie die Stücke nicht ohne Handschuhe«, sagte Nishio in scharfem Tonfall.

»Sie wird die Objekte berühren müssen, wenn sie sie aushändigt«, wandte Shima fast etwas schüchtern ein. »Wir sollten ihr ein Paar Handschuhe geben.«

»Sind Sie sicher? Danke.« Ich zog die Handschuhe an und ließ die Fingerspitzen über die Stickereien gleiten. »Ich habe noch nie ein so schönes Stück wie dieses gesehen. Die Stickereien sind vollständig erhalten, und das Muster wirkt fast schon verwegen. Das ist Nuishime-Shibori.« – Eine in der Edo-Zeit beliebte Färbetechnik.

»Die Schnürbatik ist Kanoko und Nuishime-Shibori«, erläuterte Shima. »Jetzt wird Nishio-san Ihnen zeigen, wie wir unsere Kimono zusammenlegen; die Ärmel werden umgelegt. Dabei verwenden wir säurefreies Seidenpapier als Zwischenschicht, um eine Beschädigung des Materials zu verhindern. Sie müssen das beherrschen, falls man am Zoll von Ihnen verlangt, einige der Kimono auseinanderzufalten.«

Nishio legte den Kimono mit langsamen, sehr bedächtigen Bewegungen wieder zusammen, die mich an die eines Schauspielers im No-Theater erinnerten.

»Jetzt zu Nummer zwei«, sagte Shima.

Dabei handelte es sich um einen sogenannten Kosode, ein Stück mit kürzeren Ärmeln, normalerweise von reiferen Frauen getragen als der rote Furisode. Er war mit einem anmutigen Muster aus schneebedeckten Orchideen in zwei kombinierten Shibori-Färbetechniken geschmückt. Dazu kamen Stickereien mit Seiden- und Metallfäden.

Das dritte Stück war ein Juban, ein Unterkimono für Männer und Frauen, aus cremefarbener Seide mit Büchermuster. »Ein Frauen-Juban«, sagte ich. »Eine Seltenheit. Aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts?«

»Wieso glauben Sie, daß er einer Frau gehört hat?« fragte Shima mich.

Darauf hatte ich keine gute Antwort, denn die Farben der Bücher auf dem Kleidungsstück – Grün- und Purpurtöne – wurden sowohl von Männern als auch von Frauen getragen. »Die Schrift darauf ist Hiragana, die einfache Silbenschrift. In der Edo-Zeit konnten nicht alle Frauen Kanji lesen.«

Nishio räusperte sich. »Dieser Juban hier sowie der Kimono mit dem Orchideenmuster gehörten Ryohei Tokugawas Frau.«

Natürlich kannte ich den Tokugawa-Clan, die letzte Shogun-Dynastie, die Japan regierte, aber von Ryohei Tokugawa hatte ich noch nie etwas gehört. Es war sinnlos, mein Unwissen zu verbergen. »Handelt es sich um einen Verwandten des Shogun?«

»Ja, um einen Cousin von Yoshinobu – dem letzten Shogun«, fügte Nishio für den Fall hinzu, daß ich nicht einmal das wußte.

»Haben Sie viele Kleidungsstücke von Ryoheis Frau?«

»Ein paar. Etliche ihrer Kimono wurden an Hofdamen weitergegeben. Eine ausführliche Beschreibung befindet sich in dieser Kopie des Tagebuchs, die wir für Sie vorbereitet haben.«

Den Text der Fotokopien würde ich übersetzen lassen müssen, weil meine Kanji-Kenntnisse nicht gerade gut waren. »Wenn es Ihnen nicht zu viel ausmacht: Könnten Sie die Sachen kommentieren, während wir sie uns ansehen?«

»Ja, machen Sie das«, wies Shima seinen Kollegen an.

Nishio sprach stockend, als fiele es ihm schwer, sein Wissen mit mir zu teilen. Er zeigte mir die zahlreichen winzigen Altersschäden eines schwarzen Festkimono mit dem Tokugawa-Wappen sowie den alten Sojasaucenfleck auf einem mit Kirschblüten bestickten Mädchenkimono. Man ging davon aus, daß das Kind, das den Kimono getragen hatte, die Tochter von Ryohei und seiner Frau gewesen war.

Nach den Tokugawa-Kimono wandten wir uns den anderen zu, die mir zu meiner Überraschung sogar noch besser gefielen. Ich seufzte entzückt auf beim Anblick eines Furisode in kühlem Blau mit einem Muster aus Wandschirmen sowie eines anderen auffälligen langärmeligen Stücks, auf dem sich Stickereien von Bächen, Blumen und Pavillons mit Grillenkäfigen aus Bambus befanden – Grillen waren die beliebtesten Musikanten der Zeit. Nishio erklärte mir, diese Kimono stammten alle von der Frau eines Teehändlers, die zur gleichen Zeit gelebt hatte wie die Gattin von Ryohei Tokugawa.

Mich wunderte es, daß der prächtigere Kimono der Frau eines Teehändlers, nicht der aus der Shogun-Familie, gehört hatte. Ich war schon gespannt auf die Übersetzung der Fotokopien, damit ich mich in die Geschichte vertiefen konnte.

»Kennen Sie den Namen des Teehändlers?« fragte ich.

»Otani.« Shima nannte einen der häufigsten Namen in Japan. »Die Otani-Erben haben uns eine große Sammlung überlassen, darunter auch einen prachtvollen Uchikake, den Frau Otani vermutlich bei ihrer eigenen Hochzeit getragen hat. Die Otanis sind während des Kriegs verarmt und verkauften während der Besatzungszeit einige Erbstücke an einen amerikanischen Offizier. Dieser Amerikaner hat sie dann in den sechziger Jahren wiederum an unser Museum veräußert.«

Mir kam da so eine Idee, aber die wollte ich nicht aussprechen, bevor ich sie genau durchdacht hatte. »Wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht, würde ich gerne auch noch den Rest der Otani-Sammlung sehen. Ich möchte so viel wie möglich erfahren, bevor ich vor einem amerikanischen Publikum spreche.«

Shima hob die Augenbrauen.

»Es wäre einfacher, wenn Sie sich vom Bibliothekspersonal zuerst die Dias zeigen lassen; wenn Sie dann immer noch Interesse haben, kann ich Ihnen die Kimono selbst bringen lassen.«

»Wunderbar.« Ich war froh über die Gelegenheit, mir etwas allein anzusehen, ohne ständig die Männer im Rücken zu haben.

Schon wenige Minuten später brachte mir eine beflissene junge Frau in der kleinen Bibliothek des Museums die Dias und die dazugehörigen Notizen. Ich verhielt mich wie immer in solchen Situationen und kopierte alles, um die Texte später übersetzen zu können. Mit den Dias kam ich besser zurecht. Die Familie des Teehändlers hatte eine riesige Auswahl an Kimono besessen, die aus einer Zeitspanne zwischen dem frühen 19. Jahrhundert und den zwanziger Jahren des 20. stammten. Mich interessierten besonders die Stücke aus dem frühen 19. Jahrhundert, und genau, wie ich vermutet hatte, trugen einige von ihnen Muster, die für eine Kurtisane angemessen gewesen wären: exquisite Blumenornamente sowie Teehäuser und Symbole für ein Räucherstäbchenspiel. Das waren keine Kimono für eine typische Hausfrau – nicht einmal eine reiche. Allmählich konnte ich mir ein Bild von der Frau machen, der sie gehört hatten, doch ich würde mich noch ein bißchen mehr in die Angelegenheit vertiefen müssen, bevor ich mir ganz sicher wäre.

Das letzte Dia, das ich mir anschaute, zeigte den Uchikake, von dem ich bereits gehört hatte. Es handelte sich um ein scharlachrotes Seidensatinstück mit Mandarinentenpärchen auf einem Teich, aus dem Shibori-Wassertropfen aufspritzten. Das anmutige Bild wurde vervollständigt durch blühende Kirschbäume, die sorgfältig auf den Kimono aufgestickt waren. Dieser Kimono wirkte nicht so prächtig dekadent wie manche der anderen, die Shima mir gezeigt hatte, sondern eher romantisch, ja, sogar ein bißchen verspielt. Er würde sich hervorragend als Höhepunkt meines Vortrags eignen.

»Shima-san bittet Sie, ins Sitzungszimmer zurückzukommen. Er hat inzwischen den Uchikake geholt, den Sie sehen wollten«, teilte mir die Bibliotheksangestellte mit, nachdem ich mich ungefähr eine halbe Stunde lang mit den Sachen beschäftigt hatte.

Shima hatte den Kimono also selbst geholt und nicht auf Nishio gewartet, dachte ich. Das war wirklich nett von ihm. Ich eilte ins Sitzungszimmer zurück.

Dort lag der Brautkimono schon auf dem Tisch ausgebreitet. Ich sah Shima, bevor er mich entdeckte. Er stand über den Tisch gebeugt und musterte den Stoff. Zumerstenmal an jenem Tag wirkte sein Gesicht angespannt, und ich wurde nervös. Vielleicht war der Kimono beschädigt oder besonders empfindlich. Jeder einzelne Fleck oder Riß müßte dokumentiert werden – und ich wäre dafür verantwortlich, daß keine neuen Schäden dazukämen. Wenn der Kimono sich bereits in schlechtem Zustand befand, verringerte sich die Wahrscheinlichkeit, daß ich ihn mitnehmen dürfte.

Ich räusperte mich leise, damit Shima meine Anwesenheit bemerkte.

»Da sind Sie ja, Fräulein Shimura. Interessant – ich habe diesen Kimono schon seit Jahren nicht mehr betrachtet.«

Ich stellte mich neben ihn, um das Stück ebenfalls zu begutachten. Jetzt waren die Details noch deutlicher zu erkennen als zuvor auf den Dias: Die Enten tauchten, spielten oder flogen übers Wasser – fast alle paarweise. Nun fiel mir wieder ein, was Mandarinenten bedeuteten: Sie waren das Symbol der ehelichen Treue. Zusammen mit den glückverheißenden Kirschblüten machten sie den Kimono zu einem höchst passenden Kleidungsstück für eine Braut. Er schien sich in ausgezeichnetem Zustand zu befinden – natürlich waren die Farben an manchen Stellen verblichen, aber die Nähte schienen intakt zu sein, und ich konnte auch nirgends Flecken oder andere Schäden entdecken.

»Das ist ein ganz besonderes Stück«, sagte ich. »Es vermittelt mir ein Gefühl für die romantische Freude, die die Frau bei der Hochzeit mit dem Teehändler wohl empfunden hat.«

»Über ihre Gefühle wissen wir nichts«, sagte Shima. »Meiner Ansicht nach handelt es sich tatsächlich um ein interessantes Stück, aber längst nicht so interessant wie einige andere.«

»Sie wissen so viel über Textilien, Shima-san. Sie könnten auch eine andere Stelle als die des Archivars bekleiden, neh? Vielleicht sogar eines Tages die des Museumsleiters«, schmeichelte ich ihm. Es stimmte ja auch, daß er mitteilsamer war als Nishio und sich mit Textilien vielleicht sogar besser auskannte.

»Nett von Ihnen, das zu sagen, aber ich habe nicht die nötige Ausbildung«, antwortete er, obwohl ich sehen konnte, daß er sich über mein Kompliment freute.

»Ihnen ist sicher auch aufgefallen, daß bei den Kimono, die ich nach Amerika begleiten soll, einzig und allein ein Uchikake fehlt. Wenn ich diesen Hochzeitskimono mitnehmen könnte, ergäbe das eine perfekte Illustration des Lebenslaufes einer Frau in der Edo-Zeit.«

Shima sah mich an, als hätte ich etwas Unschickliches gesagt. »Aber das Museum of Asian Arts hat diesen Kimono nicht angefordert.«

»Weil die Verantwortlichen den Bezug nicht erkannt haben«, sagte ich. Ich merkte, daß das möglicherweise überheblich klang, und fügte rasch hinzu: »Ich meine, sie hatten nicht die Gelegenheit, sich mit Ihnen zusammenzusetzen und mit Ihrer Hilfe etwas über die komplexe Geschichte der Kleidungsstücke zu erfahren. Sie haben mir eine ganz besondere Welt eröffnet, und dafür bin ich Ihnen sehr, sehr dankbar.« Ich schloß mit einer angedeuteten Verbeugung.

Shima schwieg eine Weile, dann meinte er seufzend: »Nun, vermutlich kann ich die Erlaubnis dazu geben. Schließlich erwarten die Verantwortlichen des Museums acht Kimono. Es ist noch Platz in dem Karton.«

»Danke«, sagte ich. »Die Ausstellungsbesucher in Amerika werden sich freuen. Und ich habe so die Möglichkeit, einen inhaltlich überzeugenden Vortrag zu halten.«

Shima nahm einen Bogen Briefpapier vom Tisch und notierte darauf die Bestandsnummer des Uchikake sowie einige japanische Schriftzeichen. Vermutlich handelte es sich um eine kurze Beschreibung des Stücks, denn ich erkannte die Kanji-Zeichen für »Edo-Zeit«, »rot« und »Ente«. Dann drückte er sein persönliches Siegel auf das Papier und heftete es an einen Verleihschein.

»Ich hoffe, das Museum weiß die Leihgabe genauso zu schätzen wie Sie. Darf ich Ihnen etwas Persönliches sagen, Fräulein Shimura?« fragte Shima.

Ich nickte, unsicher, was jetzt kommen würde.

»Bei Ihrem ersten Besuch hatte ich nicht den Eindruck, daß Sie sich mit historischen Textilien auskennen, doch jetzt habe ich gesehen, wie Sie sich damit beschäftigen, und was noch wichtiger ist: Sie haben Achtung vor diesen alten Kimono. Ich bin angenehm überrascht und glaube, daß alle Beteiligten zufrieden sein werden.«

Am liebsten hätte ich ihn umarmt, aber das wäre übertrieben gewesen.

Statt dessen machte ich eine tiefe Verbeugung.

4

Die Zeit bis zu meiner Abreise verflog nur so, während ich mich in meine Kimono-Studien vertiefte und den Terminplan überprüfte, den Shima für mich erstellt hatte. Ich sollte Business Class mit All Nippon Airways nach Washington fliegen, und neben mir war ein Sitz für die beiden Kartons mit den Kimono reserviert, weil das Museum sowohl die Sicherheitsvorkehrungen als auch den Schutz vor Temperaturschwankungen im Frachtraum von Jets für unzureichend hielt. Ich hatte über eine Ticketagentur, die oft mit Richard Randalls Sprachschülern zusammenarbeitete, den billigsten Preis für den Flug herausgefunden.

Es handelte sich um ein Pauschalangebot, zu dem die Übernachtung in einem preiswerten Hotel nach Wahl gehörte; ich entschied mich für das billigste, das Washington Suites. Dazu kam eine Handvoll Gutscheine, einlösbar in einem nahe gelegenen Einkaufszentrum. Ich legte gleich einmal fünfhundert Dollar für Schuhe und Kleidung beiseite, die ich mir in Japan nicht leisten konnte, und stellte eine Einkaufsliste für Amerika zusammen: Laufschuhe, schwarze Pumps für alle Tage, schwarze Pumps für den Abend, Sandalen mit Riemchen. Außerdem wünschte ich mir ein modisches Kostüm. Damit wäre mein Besuch bei der Familie Otani, die in einem geräumigen Haus am Rande von Kawasaki wohnte, wahrscheinlich auch erfolgreicher ausgefallen.

»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen«, hatte Koichi Otani, der grauhaarige Patriarch der Familie, gesagt, und skeptisch die Haori-Jacke gemustert, die ich wieder zu meinem schlichten schwarzen Kleid trug.

»Es freut mich ebenfalls sehr, Sie kennenzulernen«, sagte ich und folgte ihm in einen schlichten, ganz in Weiß gehaltenen Wohnraum. Ich kam mir dort vor wie ein pink-roter Pfeil – allerdings wie ein orientierungsloser. Ich vermutete, daß Herr Otani Informationen über die Geschichte der Kimono-Sammlung hatte, wußte aber nicht so recht, wie ich sie ihm entlocken sollte. Also begann ich höflich: »Ich bin sehr beeindruckt von der Sammlung, die einmal Ihrer Familie gehört hat.«

»Glauben Sie, sie ist mehr wert als der Preis, für den wir sie verkauft haben?« fragte Herr Otani. Er war früher Wertpapierhändler gewesen, das hatte ich im Verlauf meiner Nachforschungen mit Hilfe der für ihre Genauigkeit bekannten staatlichen Familienregistrierung in Japan herausgefunden. Besonders interessant erschien mir das, was er mir selbst am Telefon gesagt hatte: Die Sammlung bestand zum größten Teil aus Kimono seiner Urururgroßmutter Ai, die 1850 in die Familie Otani eingeheiratet hatte.

»Das ist sie sicher. Gibt es Aufzeichnungen darüber, wieviel der amerikanische Offizier Ihrem Vater 1948 für die Kimono gezahlt hat?« fragte ich.

»Er hat nicht mit Geld, sondern mit Reis und Holzkohle bezahlt. Beides hat einen Winter lang gereicht.«

Ich wurde rot, weil ich mich für das Verhalten der Amerikaner im Ausland schämte. Immerhin versuchte ich selbst auf den Tokioter Flohmärkten den größten Profit für mich herauszuschlagen – genau wie der Offizier seinerzeit. »Ich habe bis jetzt nur vier der Kimono von Ai gesehen. Die drei, die offiziell geschätzt wurden, sollen zusammen einen Wert von etwas mehr als zwanzig Millionen Yen haben.« Das entsprach etwa zweihunderttausend Dollar.

»Aha. Soweit ich weiß, hat mein Vater damals insgesamt fünfzehn Kimono weggegeben, dem, was Sie soeben gesagt haben, nach zu urteilen, also ein großer Wert. Aber ich erinnere mich noch, daß das Haus in jenem Winter angenehm warm war. Und das allein zählt, nicht wahr?« Er lächelte, doch seine Augen verrieten seine Traurigkeit.

Die Sache begann, schwierig zu werden. Ich sagte: »Tja, Otani-san, beim Anblick der Kimono Ihrer Urururgroßmutter sind mir noch ein paar Fragen durch den Kopf gegangen. Sie sind so prächtig und erlesen … besonders die mit den längeren Ärmeln, die wohl vor Ai-sans Hochzeit getragen wurden. Auch die abgebildeten Sujets sind außerordentlich glanzvoll. Kennen Sie diese Kimono?«

»Sie lagen immer in Reispapier gehüllt in einer Tansu