Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

1. Veda – Das Ritual der Bindung

2. Hen Ogledd – Der Alte Norden

3. Cyrhaeddiad – Die Ankunft

4. Centenarius – Der letzte Feldherr

5. Caneuon – Die Lieder der Barden

6. Unicornis – Das Einhorn

7. Nos Calan Gaeaf – Die erste Winternacht

8. Brân – Rabe

9. Marwolaeth – Tod

10. Bywyd – Leben

11. Bruma – Wintersonnenwende

12. Nosau Duon – Schwarze Nächte

13. In altera vita, et alio tempore – In einem anderen Leben, zu einer anderen Zeit

14. Gwirionedd – Wahrheit

15. Ffynnon – Die Quelle

16. Aequinoctium – Tagundnachtgleiche

17. Cynhesrwydd yr haul – Die Wärme der Sonne

Nachwort der Autorin

Dank

Bonusmaterial:

Blogger fragen, Jessica Bernett antwortet

 

Jessica Bernett

 

 

Elayne

Band 1: Rabenkind

 

 

Fantasy

 

Elayne 1: Rabenkind

Eine Prophezeiung, der sie nicht entkommt. Eine Bürde, die sie kaum tragen kann. Eine Liebe, zart, zerbrechlich und bedroht von Lügen, Intrigen sowie dem Spiel der Macht.

Die junge Elayne von Corbenic wächst im Norden Britanniens in einer düsteren Festung auf. Ihr Vater, König Pelles, ist besessen von einer Vision, die Elaynes Mutter kurz vor ihrem Tod gehabt haben soll. Demnach wird Elayne die Mutter des größten Helden aller Zeiten. Dafür opfert der König alles: das Wohlergehen seines Volkes und die Liebe seiner Tochter.

 

 

Die Autorin

Jessica Bernett wurde an einem sonnigen Herbsttag im Jahr 1978 als Enkelin eines Buchdruckers in Wiesbaden geboren. Am liebsten würde sie die ganze Welt bereisen und an jedem Ort einige Monate verbringen. Aktuell lebt sie mit ihrem Mann, ihren beiden Kindern und zwei Katzen in Mainz.

Sie liebt starke Frauenfiguren, die sie in spannende Geschichten verwickelt, und tobt sich in allen Bereichen der Fantasy aus, von historischer Fantasy über Urban Fantasy bis hin zur Science Fantasy.

Wenn sie nicht gerade mit ihren Kindern in Abenteuern versinkt, schreibt oder von neuen Geschichten träumt, tummelt sie sich mit Vorliebe auf Conventions, um sich mit Gleichgesinnten über Lieblingsserien, Filme und Bücher auszutauschen.

www.sternensand-verlag.ch

info@sternensand-verlag.ch

 

1. Auflage, März 2018

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2018

Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss | julianeschneeweiss.de

Lektorat: Sternensand Verlag GmbH | Martina König

Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Jennifer Papendick

Satz: Sternensand Verlag GmbH

Druck und Bindung: Smilkov Print Ltd.

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

ISBN Taschenbuch: 978-3-906829-77-7

ISBN E-Book: 978-3-906829-76-0

 

 

 

 

Für die traurige Seele einer Dreizehnjährigen

 

 

1. Veda – Das Ritual der Bindung

Der Nussbaum lächelte.

Elayne kniff die Augen zusammen und versuchte, genauer hinzusehen. Doch, sie war sich sicher: Er lächelte. Natürlich hatte er keinen Mund, keine Lippen, die sich wie die Sichel eines Halbmondes nach oben biegen konnten. Auch waren da keine Wangen, die sich zu kleinen Äpfeln formten, und keine Augen. Der Baum hatte kein Gesicht. Kein menschliches zumindest.

Sie legte den Kopf schief. Eine Strähne ihres schwarzen Haares fiel ihr in die Stirn und sie strich sie hinter ihr Ohr. Ja, auch so konnte sie es sehen. Wie zart sich die grünen Blätter im ersten warmen Hauch des Frühlings bewegten. Wie majestätisch sich der alte Baum über der Hochzeitsgesellschaft aufrichtete, die sich unter ihm versammelt hatte. Das Blätterspiel des heiligen Baumes ließ kleine Schatten und Sonnenstrahlen über das Paar tänzeln.

Elayne sah ihren Großvater an, der neben ihr stand. Ob er es ebenfalls sah? Doch sein liebevoller Blick galt allein dem Brautpaar, obwohl auch über sein bares Haupt und die buschigen Augenbrauen das Schattenspiel der Blätter zog.

Veneva und Ened hielten sich an den Händen, hatten nur Augen füreinander. Wie wunderschön Elaynes Ziehschwester aussah. Die grüne Farbe und die golden bestickten Borten ihres Gewandes passten sehr gut zu Venevas grüngelben Augen. Auf ihren langen rötlichen Locken trug sie einen Kranz aus Frühlingsblumen.

Ihr Bräutigam war ein zurückhaltender junger Mann von schmaler Gestalt. Die Farbe seines Haares ähnelte dem Braun der Baumrinde. Und mochte sein Äußeres auch keine Besonderheiten aufweisen, war der Blick seiner grauen Augen doch voller Güte und Wärme.

»Hebt nun eure rechten Hände«, bat die Dorfälteste Muirne und das Paar tat wie geheißen. Mit einem neuen roten Stoffband umwickelte sie die ineinander verschränkten Hände.

Ihre eigene Haut war alt und runzelig. Generationen von Dorfbewohnern hatte sie bereits das Band der Ehe umgelegt.

Dann hob sie lächelnd den Blick und sah über die Menschen hinweg, die sich im Halbkreis um das Brautpaar herum aufgestellt hatten. Alle Bewohner Glannoventas waren anwesend und auch die Eltern und Verwandten Eneds, die in einem Dorf weiter südlich wohnten, waren gekommen.

»An diesem heiligen Ort, bezeugt von all euren Freunden und Verwandten, bindet ihr euch heute aneinander. Für das Leben, in Tag und Nacht.« Muirne legte ihre Hand auf die der beiden. »Versprecht ihr, eins zu sein, euch treu zu sein und füreinander zu sorgen, für all die Tage, die euch noch bevorstehen?«

»Wir versprechen es«, sagten beide gleichzeitig, sich ansehend, als seien ihre Seelen bereits fest miteinander verbunden.

Muirne nickte zufrieden.

Venevas älteste Schwester brachte einen Steinkrug und einen Becher. Auch sie trug ihr bestes Gewand, dessen gelbbrauner Ton zur rötlichen Farbe ihres gewellten Haares passte.

Nachdem die Priesterin des Dorfes das Band wieder gelöst hatte, übernahm sie Krug und Becher, um sie feierlich an Veneva zu übergeben.

Die Braut schenkte den roten Met ein und hielt ihn dem Bräutigam entgegen. »Möge dein Durst stets gelöscht werden.«

Ihre Stimme klang so feierlich, dass Elayne eine Gänsehaut verspürte.

Der frisch angetraute Mann nickte, nahm den Becher und trank ihn in wenigen Zügen aus, ohne ihn abzusetzen. Venevas Schwester übergab ihm nun einen kleinen Laib Brot, den er teilte.

»Möge dein Hunger stets gestillt werden«, sprach er, während er seiner Braut einen Teil des Brotes reichte.

Elayne hörte den Magen des Großvaters knurren. Der alte Mann lächelte sie verlegen an. Sie nahm seine Hand, deren Haut von vielen Sommern gegerbt war und deren Knochen sich so dürr und hart anfühlten wie die abgefallenen Zweiglein des Nussbaums.

Dem Brautpaar wurde eine Schale gereicht, in der sich Getreidesamen befanden. Diese verstreuend, schritten sie um den Stamm des Baumes, während sie ihr Gelübde beendeten: »Möge unsere Verbindung fruchtbar sein und das Leben durch uns fortschreiten.«

Die Dorfälteste nickte Großvater zu.

»Ah, nun bin ich an der Reihe«, sagte dieser leise, tätschelte Elaynes Hand, als er sich von ihr löste, und trat vor, um Muirnes Platz einzunehmen.

Lächelnd sah er in die Runde. Er räusperte sich, doch als er sprach, klang seine Stimme kräftig und voller Überzeugung.

»Wir können unser ganzes Leben lang danach streben, Gutes zu tun. Wir können nach unseren Gesetzen leben, der treueste und ehrbarste Mensch werden. Doch was wäre all das ohne die Liebe? Es ist die Liebe, die dieses Leben erfüllt. Wir sehen sie in den Augen unserer Kinder. In den Herzen der uns Vermählten. Und in dem Stolz unserer Eltern. Wir sehen sie am ersten Frühlingstag, wenn die Sonne das Grau des vergangenen Winters durchbricht. Im Sommer in der Pracht der Blüten und der süßen Früchte. Im Herbst, wenn die Ernte eingebracht wird. In der ersten Schneeflocke des darauffolgenden Winters. Die Liebe ist das höchste Geschenk, das uns Gott geben konnte. Und sie ist das höchste Gebot. Dieses Geschenk gilt es, zu schätzen und weiterzugeben. Wenn wir in Liebe handeln, tun wir Gottes Werk und vollenden seinen Willen.«

Er atmete tief ein und breitete die Arme aus. Die Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach des Nussbaums fielen, bündelten sich in der Mitte seiner Handflächen.

»Halten wir dieses Geschenk in Ehren. Lasst uns danach leben. Lasst uns heute die Liebe feiern, die Veneva und Ened geschenkt wurde, denn sie ist wahrhaft göttlich.« Eine kurze Pause entstand, bevor er die Hände wieder faltete und dem Brautpaar lächelnd zunickte. »Meine Glückwünsche, ihr beiden, und Gottes Segen.« Er ging auf das frisch vermählte Paar zu und küsste zunächst die Braut und dann den Bräutigam auf die Stirn.

Veneva und Ened reichten einander erneut die Hände. Als sie sich endlich küssten, klatschten die anwesenden Gäste und riefen ihnen Glückwünsche zu. Einer nach dem anderen trat zu den beiden, um sie zu umarmen und zu küssen.

»Du siehst wunderschön und glücklich aus«, lächelte Elayne, als sie zu ihrer Freundin kam. Sie drückte sie fest.

»Vielen Dank, Elayne.« Veneva erwiderte ihr Lächeln freudestrahlend. »Danke auch für diese wunderschöne Tunika.« Sie strich ehrfürchtig an ihrem schlanken Körper hinab. Sie wusste, dass es ein Kleid aus der Truhe war, in der die Habseligkeiten von Elaynes Mutter aufbewahrt wurden. Kein Mädchen aus dem Dorf hatte je einen solch kostbaren Stoff getragen.

»Ich werde sie wahrscheinlich sowieso nie selbst tragen. Und dir steht sie viel besser«, winkte Elayne ab. »Bitte behalte sie. Sie ist ein Hochzeitsgeschenk.«

»Ich danke dir so sehr.« Veneva erwiderte ihre Umarmung und zwinkerte ihrer Ziehschwester dann zu. »Ich werde sie zu deiner Hochzeit tragen.«

Jetzt lachte Elayne und hielt ihre Freundin an beiden Händen. »Falls ich jemals heirate, würde ich mich sehr darüber freuen«, flüsterte sie. Danach umarmte sie auch Ened, der im ersten Moment schüchtern wirkte. Er wusste noch immer nicht, wie er mit Elaynes königlicher Abkunft umgehen sollte.

»Vielen Dank, hohe Dame. Danke für deine Anwesenheit und die Geschenke.« Seine wachen grauen Augen wechselten unsicher von ihr zu seiner Braut.

»Nenn mich einfach Elayne«, bat sie und sah ihn freundlich an. »Jeder im Dorf nennt mich so. Ich gehöre hierher, wie Veneva selbst, und sie ist wie eine Schwester für mich, da ihre Mutter meine Amme ist.«

Er lächelte und Elayne freute sich, dass Veneva einen so liebenswürdigen Mann gefunden hatte. Und noch mehr darüber, dass die beiden Corbenic als ihre Heimat gewählt hatten. Zwar würde Veneva nun nicht mehr in der Festung leben, in der sie gemeinsam aufgewachsen waren, aber sie blieb dennoch so nah, dass sie sich jeden Tag sehen konnten.

Elayne hoffte sehr, dass ihre Ziehschwester noch Zeit für sie haben würde, nun, da sie verheiratet war. Sie vermisste schon jetzt jene kleinen Geheimnisse, die sie als Kinder geteilt hatten, wenn sie Gebäck aus der Küche stibitzt und sich im Wald Geschichten von Helden und Ungetümen ausgedacht hatten.

 

Elayne suchte ihren Großvater und fand ihn auf der anderen Seite des Nussbaums in ein Gespräch mit Venevas Mutter vertieft.

»Du kannst stolz sein, Brisen«, sagte er gerade. »Alle sechs Töchter sind nun mit guten Männern verheiratet.« Er legte sich seinen Umhang über die Schultern, da der Westwind auffrischte.

Elayne half ihm dabei, die Fibel zu befestigen, die zwei ineinander verschlungene Fische darstellte.

»Ob die Männer alle gut sind, wird sich zeigen.« Elaynes Amme lachte ihr tiefes, herzliches Lachen.

Trotz der acht Kinder, die sie geboren hatte, war sie von schlanker Gestalt. Ihre einzigen beiden Söhne waren verstorben, der eine bei der Geburt, der andere im letzten Winter, der so vielen im Dorf und in der Festung das Leben gekostet hatte. Brisens helle Wangen leuchteten und die Fröhlichkeit in ihrem Wesen wirkte ansteckend.

Elayne ging zu ihrer Amme und drückte sie fest.

Brisen küsste sie auf das schwarze Haar, das sie heute früh zu einem Kranz geflochten hatte. »Jetzt fehlt nur noch diese Kleine hier, dann habe ich mein Werk vollbracht«, bemerkte sie in mütterlichem Tonfall.

Nun war es am Großvater, zu lachen. In seiner Stimme klangen Güte und Erfahrung. »Kinder bleiben Kinder, egal wie groß sie werden und ob sie ihr eigenes Haus führen. Die Sorgen bleiben. Dein Werk wird nie vollendet sein.«

»Ich bleibe dir ewig erhalten, liebste Brisen«, meinte Elayne und löste sich von ihr. »Vater hat zum Glück überhaupt kein Interesse daran, mich zu verheiraten.«

»Gut so«, brummelte der Großvater. »Du bist noch ein Kind und wir wollen dich bei uns behalten.«

»Ich bin fünfzehn, nur einen Monat jünger als Veneva«, widersprach Elayne.

»Bist du sicher?« Großvater tat so, als müsse er nachrechnen. »Es kommt mir wie gestern vor, dass du mit Honig verschmierten Fingern in der großen Halle herumgerannt bist und auf meinen Schoß gekrabbelt kamst.«

Elayne hakte sich bei ihm unter. »Ganz sicher. Kommt, ihr beiden, sonst verpassen wir noch das Fest im Dorf.«

Die Hochzeitsprozession hatte sich in Gang gesetzt, um von den Hügeln hinunter in die Bucht zu schreiten. Einer der jüngeren Männer spielte Flöte, ein anderer Trommel, und so zog die Gesellschaft lachend und tanzend ins Dorf ein.

In der Mitte des Dorfplatzes war das Feuer errichtet worden, man hatte Bänke aufgestellt und die Häuser mit bunten Stoffbändern und Blumen geschmückt. Ein riesiger Kessel voller Eintopf wartete dort, aus dem es köstlich duftete. Eine Ziege war geschlachtet worden, das Fleisch köchelte mit Gemüse und wurde von Brisen, die sich selbst um das Festmahl gekümmert hatte, mit Schnittlauch abgeschmeckt.

Nach dem Essen überreichte der Vater des Bräutigams sein Geschenk, einen stattlichen Hammel, denn die Männer in Eneds Familie waren seit vielen Generationen Schäfer. Venevas Bräutigam würde die Tradition fortsetzen und eine eigene Herde aufziehen.

Elayne wusste nicht, welchen Preis man für ein solches Tier zahlen musste, doch die sprachlose Freude des jungen Mannes ließ sie ahnen, dass das Tier sehr wertvoll war.

Eneds Mutter, von der er ganz offensichtlich die hagere Figur und die grauen Augen geerbt hatte, überreichte einen eigenen Kessel für die junge Familie.

Brisen hatte die Aussteuer seit einigen Wochen zusammengestellt: Kleidung, Decken, Geschirr aus einfachem Ton. Dem Brautpaar würde es an nichts fehlen.

Elayne freute sich so sehr über all die Liebe, mit denen man ihre Freundin und deren Gemahl beschenkte. Nichts anderes hatten die beiden jungen Menschen verdient.

Umso lauter wurde jedoch jene kleine Stimme in ihr, die hauchte, wie bitter es war, dass Elaynes Vater nicht an den Feierlichkeiten teilnahm. Das Dorf versorgte die nahe gelegene Festung, in welcher König Pelles regierte, stetig mit Lebensmitteln und die Bewohner halfen ihrem Herrscher auch sonst, wenn Not am Mann war. Es wäre nur gut und recht gewesen, dass Elaynes Vater sich bei Hochzeiten seiner Untertanen blicken ließ. Zumal Veneva zusammen mit Elayne in der Festung aufgewachsen war und dem König treu gedient hatte, ebenso wie Brisen es heute noch tat.

Doch seit dem Tod von Elaynes Mutter trauerte der König. Seit acht langen Jahren. Deshalb nahm er an keinen Festlichkeiten mehr teil, sondern verschanzte sich in der Festung und lebte in seinen Erinnerungen.

Musik spielte auf und riss Elayne aus ihren Gedanken. Die Menschen erhoben sich von den Bänken und klatschten im Takt, während das Brautpaar in ihre Mitte schritt und begann, zu Flöte und Trommel zu tanzen.

Wie es Brauch war, nahm der Bräutigam sodann die Brautmutter und anschließend Venevas Schwestern zur Hand. Elayne lachte erfreut, als er schließlich zu ihr kam und sie mit einer zaghaften Verbeugung zum Tanzen aufforderte.

 

Die Sonne blieb ihnen lange erhalten und sanfte Wellen wogten an den Strand der Bucht, in der das Fischerdorf lag.

Der Tag verging viel zu schnell. Bald näherte sich die Sonne dem Horizont und tauchte das Meer in goldenen Schein. Elayne begab sich zu ihrem Großvater, der auf einer der Bänke saß und nun zu ihr hochsah.

»Wir sollten uns auf den Heimweg machen«, sagte sie sanft und lächelte. Ihre Wangen waren vom vielen Tanzen und Lachen gerötet. »Sonst brechen wir uns in der Dunkelheit ein Bein in den Kaninchenlöchern.«

»Sehr umsichtig, meine Kleine.« Großvater tätschelte ihre Hand und ließ sich von Elayne aufhelfen. »Oh, ich hätte auch tanzen sollen«, ächzte er, während er sich an ihrem Arm abstützte. »Meine alten Knochen vertragen das Herumgesitze nicht.«

»Hm, die Großmutter des Schmieds ist im letzten Winter Witwe geworden«, grinste Elayne und hob vielsagend die Augenbrauen. »Sie hätte sich bestimmt gefreut, mit dir zu tanzen.«

»Wir gehen wohl doch lieber«, brummte ihr Großvater und zog sie von der Bank weg.

Elayne lachte und gemeinsam verabschiedeten sie sich von dem Brautpaar und den anderen Gästen, um in die Festung zurückzukehren.

Brisen blieb in dieser Nacht in Glannoventa. Die Verbindung ihrer jüngsten Tochter musste ausgiebig gefeiert werden.

 

Die Stimmen und die Musik des Dorfes hallten noch lange hinter Elayne und ihrem Großvater nach, während sie den Hügel hinaufliefen, hinter dem der Pfad begann, der sie zu ihrem Zuhause führte.

»Du bist so still, meine Kleine«, bemerkte er nach einer Weile und sah sie an. Sie befanden sich bereits auf Augenhöhe, da Elayne im letzten Jahr noch einmal gewachsen war. »Woran denkst du? Bereitet es dir Kummer, dass dein Vater keine Anstalten macht, einen Mann für dich zu finden?«

Elayne schüttelte den Kopf und seufzte leise. »Nein, nicht wirklich. Ich habe an die Zeremonie gedacht. Sie war sehr schön.«

Großvater nickte, während er ihr einen Arm um die Schultern legte. »Ja, das finde ich auch. Ein sehr schöner Tag für eine Hochzeit, die Freude der Menschen war allgegenwärtig.«

»Großvater?«

»Ja?«

»Ich glaube, Gott hat gelächelt, als er uns sah. Ich habe es in dem Baum gesehen.«

Er drückte ihre Hand ganz fest. »Das ist wirklich ein sehr schöner Gedanke, mein Liebstes.«

2. Hen Ogledd – Der Alte Norden

Leichter Nieselregen fiel auf Elaynes rabenschwarzes Haar, als sie hinaus auf die Wehrmauer trat. Er machte ihr nichts aus, sie war ihn gewohnt, wie auch den Wind, der von ihrem Umhang Besitz ergreifen wollte. Sie schlang das ungefärbte Stück Wolle enger um sich und hielt Ausschau nach ihrem Vater.

Der König stand auf der Brüstung, gekleidet in eine alte blaue Tunika. Kein Umhang, keine Kapuze schützten ihn vor dem Regen. Sein Blick war stur auf die Ebene gerichtet, die sich vor seiner Festung ausbreitete. Jenseits der äußeren Mauer lagen Wiesen und Haine, bevor das Gelände westlich zum Meer abfiel und sich nordöstlich tief bewaldete Hügel erhoben.

»Wir bekommen Gäste«, erklärte er knapp, als Elayne neben ihn trat.

Sie folgte seinem Blick, konnte aber im Dunst des Nieselregens niemanden ausmachen. »Komm mit rein, sonst bist du gleich ganz durchnässt«, bat sie sanft.

Darauf ging er nicht ein. »Gib Brisen Bescheid und suche deinen Großvater.«

Sie versuchte noch immer, in der Ferne die Besucher auszumachen. »Wen erwarten wir?«

»Ich weiß es nicht«, gestand König Pelles, ohne sie anzusehen.

Elayne hatte einen traurigen Verdacht. Ob ihre Mutter ihm wieder im Traum erschienen war? Es war nicht das erste Mal, dass ihr Vater etwas wusste, bevor die Situation eintrat. Dann rückte sein Blick in die Ferne, er war für niemanden ansprechbar.

 

Elayne eilte zurück in die große Halle. Sie hatte keine Ahnung, wann die Gäste eintreffen würden. Besser war es, sich direkt vorzubereiten.

»Brisen!«, rief sie und ihre Stimme hallte zurück.

Sie konnte sich an Zeiten erinnern, als Corbenic stets gut besucht gewesen war, von edlen Herren und ihren Damen, Kriegern, Dienstboten und Barden. Damals war sie ein Kind gewesen … und ihre Mutter hatte noch gelebt. Seit ihrem Tod waren die Besucher ausgeblieben. König Pelles zog sich zunehmend zurück, er legte kaum mehr Wert auf Gesellschaft.

Heute aber schien er sich sogar auf die Besucher zu freuen, sonst hätte er sich längst in sein Gemach zurückgezogen und seiner Tochter und ihrer Amme den Empfang der Gäste überlassen.

Brisen kam aus einem Nebenraum in die Halle geeilt. »Kind, was schreist du so?« Sie hatte ihr blondes Haar zu einem wirren Knoten gebunden. Nur die Sorgenfalten in ihrem Gesicht ließen darauf schließen, dass sie älter war, als sie aussah.

»Vater sagt, es kommen Gäste. Wir sollen alles vorbereiten. Wo ist Großvater?«

Brisen seufzte. Sie hielt ein halb gerupftes Huhn in der Hand. »Dann brauchen wir wohl ein paar mehr hiervon. Der Alte ist am Fluss.«

 

Elaynes Großvater hatte sich auf einem Baumstumpf niedergelassen, hielt seine Angelrute über dem Wasser und ließ sich durch das Erscheinen seiner Enkeltochter nicht ablenken. Gehüllt war er in seinen ehemals roten Umhang, der nun nur noch dreckig-braun aussah. Die Kapuze hatte er tief ins Gesicht gezogen.

Elayne musste lauter sprechen, um das Rauschen des Flusses zu übertönen. »Großvater, Gäste nahen. Vater möchte, dass du in die Festung kommst.«

»Ich bleibe lieber an der frischen Luft.« Der alte Mann hob sein runzeliges Gesicht, betrachtete den grauen Himmel und nickte. »Der Regen könnte schlimmer sein. Drinnen ist es mir zu stickig.«

»Beißen denn die Fische bei diesem Wetter überhaupt?«, wollte Elayne zweifelnd wissen, während sie auf die grauen Wellen des Flusses schaute.

Der Alte gab einen belustigten Laut von sich. »Die sind doch schon nass. Was soll ihnen der Regen ausmachen?« Dann lächelte er seine Enkelin gutmütig an. »Wer kommt denn? Der Ältestenrat des Dorfes? Ein Händler, der sich über See zu uns verirrt hat?«

»Vater weiß es nicht. Er …« Sie biss sich auf die Lippe. »Er hatte wieder diesen Blick …«

Großvater brummte. »Na, dann komme ich wohl besser doch mit.« Er reichte ihr einen Eimer, in dem sich zwei fette Lachse befanden, und stützte sich auf ihrer Schulter ab, damit er aufstehen konnte.

Elaynes Schritte verursachten schmatzende Geräusche, als sie langsam den Weg zur Festung zurücktrotteten. Fast hätte sie einen ihrer Stiefel verloren, weil er im Matsch stecken blieb. Sie waren ihr viel zu groß, weil sie ihrem Vater gehörten, aber sie hielten die Füße trockener als Bundschuhe.

»Was gibt’s zum Abendessen?«, erkundigte sich Großvater, während sie sich der Festung näherten.

»Brisen hat ein Huhn gerupft.«

»Hoffentlich sind unsere Gäste nicht so anspruchsvoll.«

»Großvater!«

»Kind, glaube mir. Ich habe schon viel Besseres gegessen als den Hühnereintopf von deiner Amme.«

»Es gab aber auch schon Schlechteres.«

»Auch wieder wahr.«

Die Frau, die früher für sie gekocht hatte, war letztes Jahr am Husten gestorben. Wie auch viele andere Menschen in Corbenic. Seitdem hatte Elaynes Amme die Aufgabe des Kochens übernommen. Brisens Töchter, die unten im Dorf lebten, halfen ebenfalls aus. Und Elayne selbst versuchte, sie zu unterstützen, wo sie konnte.

In ihren Diensten standen außerdem der alte und der junge Liam, Vater und Sohn. Sie halfen im Stall bei den Pferden, Ziegen und Kühen. Alle anderen Bediensteten hatten im Laufe der Zeit die Festung verlassen und sich neue Arbeit gesucht oder sich im Dorf niedergelassen, da es innerhalb der Mauern nicht genug zu tun gab und sie so den Launen des Königs aus dem Weg gehen konnten.

 

»Oh, wir sind zu spät«, stellte Großvater fest, als sie endlich beim weit geöffneten Tor des Schutzwalls ankamen. Pferde, Packesel, Bedienstete, Hunde, ein großes Wirrwarr aus Gepäck und Menschen erwartete sie hier.

Etwas unsicher drängte sich Elayne an ihren Großvater. »Wer ist das?«

»Erfahren wir sicher gleich.« Mit Bedauern fiel sein Blick auf die Fische im Eimer. »Den Lachs werden wir wohl doch teilen müssen.«

Durch das Durcheinander auf dem Hof gelangten sie in die große Halle. König Pelles hatte sich umgezogen. Er trug eine saubere rote Tunika und seinen schmalen Goldreif auf dem schütteren Haupt, so wie es sich für einen König gehörte.

Die Feuerstelle in der Mitte der Halle spendete wohlige Wärme und der Eintopf, der darüber kochte, verbreitete einen Duft, der Elayne das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Von wegen, Brisen konnte nicht kochen – es roch verführerisch nach Rüben und Kräutern.

Ein Mann und eine Frau standen in durchnässter Reisekleidung vor König Pelles. In der Nähe wachte ein junger Krieger aufmerksam und ebenso durchnässt wie seine Herrschaft.

Neugierig musterte Elayne die Frau mit den feuchten dunklen Haarwellen. In diesem Moment drehte sie sich um und das Mädchen sah verlegen zu Boden.

Die Frau aber lächelte und kam zu ihr. Mit kühler Hand berührte sie Elaynes Kinn und brachte sie so dazu, wieder aufzuschauen.

»Wie heißt du, Kind?«, fragte die Dame. Ihre Stimme war melodisch und warm, der Blick aus den grünen Augen wohlwollend. Sie musste etwas jünger als Brisen sein. Zarte Linien lagen in ihren Augenwinkeln, doch ihre Haut war fest und rosig.

»Mein Name ist Elayne.«

»Sie ist meine Tochter«, beeilte sich König Pelles, zu erklären.

Elayne wünschte sich, sie hätte sich zurechtmachen können. So musste sie in ihrer farblosen Alltagskleidung und den matschigen, viel zu großen Stiefeln dem Blick der hohen Dame standhalten. Noch dazu hielt sie den Henkel des Fischeimers in der Hand.

»Ein hübsches Kind«, befand die Fremde. Dann fiel ihr Blick auf den alten Mann, der sich im Hintergrund gehalten hatte. Sie nickte ihm wohlwollend zu. »Es ist mir eine Ehre, Fischerkönig.«

Er kam langsam zu ihnen. »Ach, nicht doch, Morgaine. Hier bin ich einfach nur der Großvater«, meinte er belustigt.

Die Dame war genauso groß wie er, was nichts Ungewöhnliches darstellte, denn der alte Mann war eher klein gewachsen.

Elayne wunderte sich, dass sie den Großvater mit jenem Namen angesprochen hatte. Fischerkönig war er einst genannt worden, hatte er seiner Enkelin einmal erklärt, da er für sein notleidendes Volk einen sehr großen Fisch an Land gezogen hatte, der die Menschen vor dem Hungertod bewahrt hatte. Doch nun war schon seit vielen Jahren ihr Vater Pelles König über das Reich und die Feste Corbenic.

»Elayne, dies ist Morgaine, die Schwester des Königs von Camelot«, stellte König Pelles die hohe Dame vor und Elayne vollbrachte eine Verbeugung, wie sie es vor langer Zeit gelernt hatte.

»Des Rex Britanniae«, wurde er durch den Mann berichtigt, der nun an Morgaines Seite trat. »Artus ist unser aller König, nicht nur der von Camelot.«

Elaynes Herz raste, als sie den groß gewachsenen Mann erkannte. Sein Haupt war bar und stand damit im Gegensatz zu seinem graubraunen langen Bart. Der Blick aus seinen haselnussbraunen Augen ruhte nun auf ihr.

Sie verbeugte sich vor ihm, wie es sich vor einem Mann seines Standes gehörte. »König Uryen«, sprach sie den Onkel ihrer verstorbenen Mutter ehrfürchtig an.

»Es ist lange her«, stellte er fest und musterte sie aufmerksam. »Du bist zur Frau geworden.«

Ihr Vater gab einen Laut von sich, den Elayne nicht deuten konnte. »Wohl kaum. Sie ist noch immer ein Wildfang.«

König Uryens strenger Blick traf nun seinen alten Freund, doch er sagte nichts dazu.

Stattdessen erklärte König Pelles seiner Tochter: »Du darfst deinem Großonkel gratulieren. Er und Morgaine wurden in Camelot vermählt und der König von Rheged führt seine Braut heim nach Caer Luel.«

»Möge Gottes Segen über euch und eurer Verbindung ruhen«, antwortete Großvater statt ihrer. »Seht, dort ist Brisen. Sie möchte bestimmt kundtun, dass die Gemächer für unsere Gäste bereit sind.«

Brisen, die in einiger Entfernung stehen geblieben war, nickte. Sie schien sich in der Nähe der hochgeborenen Gesellschaft unwohl zu fühlen. Doch als sie Morgaine erblickte, leuchteten ihre Augen erkennend auf.

Morgaine lächelte der Amme zu, dann wandte sie sich noch einmal an Elayne. »Ich freue mich auf das Abendessen und darauf, mich mit dir zu unterhalten.«

»Es wird mir eine Ehre sein«, brachte Elayne hervor, ohne zu stottern, doch ihre Stimme blieb ihr dennoch fast weg.

 

Brisen hatte ihre Töchter aus dem Dorf um Hilfe gebeten, die sogleich in die Festung geeilt waren. Elayne freute sich, dass auch Veneva unter ihnen war.

Sie hatten in aller Eile einige der leer stehenden Gemächer gesäubert, frisches Stroh und Wolldecken verteilt sowie Feuer entzündet. Die Gäste nahmen das Angebot gern an.

Später versammelten sich alle in der Halle, um gemeinsam zu speisen. Ein Barde begleitete die Reisegesellschaft. Er saß nah am Feuer und spielte auf einer kleinen Harfe Melodien, die Elayne an alte Zeiten erinnerten. Seine Lieder erzählten Abenteuer von Helden und priesen die Schönheit hoher Damen.

Auf den Bänken, die so lange nutzlos in der Halle gestanden hatten, saßen nun die Gäste zusammen mit ihren Bediensteten und ließen sich Brisens Eintopf schmecken. Der einzige Tisch in der Halle war dem König und seinen hochwohlgeborenen Gästen vorbehalten.

Elayne liebte es, wenn der düsteren Festung Leben eingehaucht wurde. Sie beobachtete König Uryen, der in ein Gespräch mit ihrem Vater vertieft war. Sie konnte nicht genau verstehen, worüber sie redeten, sah aber ihren Vater immer wieder die Stirn runzeln.

Elaynes Aufmerksamkeit wurde auf ihren Großvater und Morgaine gezogen, die sich angeregt über das Fischen unterhielten. Der Fischerkönig nickte immer wieder wohlwollend und warf ab und an einen liebevollen Blick zu seiner Enkelin, die diesen erwiderte.

Sie selbst versuchte vergebens, mit dem wortkargen jungen Krieger, der den König und die Königin von Rheged begleitete, ins Gespräch zu kommen. Er saß mit geradem Rücken zu ihrer Rechten und schien sich mehr für den Wein als für die junge Frau neben sich zu interessieren. König Uryen hatte ihn als Accolon von Gaul vorgestellt und Elayne ging davon aus, dass er die Sprache hier oben im Norden Britanniens nicht sehr gut verstand. So speisten sie eher schweigend und Elayne war froh, als sich Morgaine zu ihnen auf die Bank setzte.

Accolon lächelte seine Herrin strahlend an und diese nickte ihm zu. Doch ihre Aufmerksamkeit galt Elayne. »Ich habe mich mit deinem Großvater unterhalten«, begann sie das Gespräch. »Er ist ein sehr weiser Mann.«

»Ja, das ist er«, stimmte Elayne zu. Sie fühlte sich unsicher. Wie sollte sie sich in der Gegenwart einer solchen Dame verhalten? Was sollte sie sagen? Sie war doch nur ein Kind, das die meisten Tage seines jungen Lebens in den Wäldern und bei den Fischern im Dorf verbracht hatte.

»Er hat mir ein wenig von dir erzählt«, fuhr Morgaine fort, während sie Elayne musterte. »Du bist gern draußen und hilfst ihm beim Fischen.«

Elaynes Wangen röteten sich, verlegen senkte sie den Blick. »Das sind wohl keine Tätigkeiten für eine Dame.«

Morgaine lachte leise. Sie legte ihre Hand unter Elaynes Kinn, damit das Mädchen sie ansah. »Du brauchst nicht verlegen zu sein. Mag sein, dass von der Tochter eines Königs andere Beschäftigungen erwartet werden. Doch du solltest dich nie für das schämen, was du bist. Es freut mich sehr, Cundries Tochter zu einer hübschen jungen Frau herangewachsen zu sehen.«

Elayne sah sie mit leuchtenden Augen an. »Du kanntest meine Mutter?«

»Natürlich«, nickte Morgaine und ließ ihr Kinn wieder los. »Wir verbrachten unsere Jugendjahre gemeinsam auf Avalon.«

Elayne bemerkte, wie grün die Augen der Dame waren. Es schien, als könne sie in die Tiefen ihrer Seele blicken.

»Du bist deiner Mutter Cundrie sehr ähnlich«, murmelte Morgaine. »Deine Augen sind zwar vom gleichen hellen Blau wie die deines Vaters, doch dein Haar und deine Gestalt hast du von ihr.«

Elaynes Herz füllte sich mit Wärme. Sie hatte schon so lange nicht mehr über ihre Mutter gesprochen. Und selten hatte jemand etwas über deren Jugendjahre erzählt. Brisen, die auch auf Avalon aufgewachsen war, hüllte sich oft in Schweigen. Als lägen die Jahre so weit zurück, dass sie selbst sich kaum noch erinnerte.

»Wie … wie war meine Mutter als Mädchen?«, flüsterte Elayne und hing wie gebannt an Morgaines Lippen.

»Sehr vorlaut«, lachte diese und ihre Augen funkelten, als sie sich an Elaynes Mutter erinnerte. »Cundrie redete gern und war selten zurückhaltend. Aber das konnte sie sich erlauben, denn sie hatte außergewöhnliche Fähigkeiten. Wir waren eine kurze Zeit eng befreundet, da sie nur zwei Jahre älter war als ich.«

»Bitte erzähl mir mehr davon«, bat Elayne. »Ich weiß so wenig aus jener Zeit.«

Morgaine lächelte gutmütig und nahm ihr die Neugier nicht übel. »Aber hat Brisen dir nicht von Avalon erzählt? Auch sie wurde dort erzogen.«

»Sie spricht selten von damals. Aber ich weiß, dass man meine Mutter ›Rabe‹ nannte, aufgrund ihrer Fähigkeiten.« Elaynes Hand lag auf jener Stelle ihres Kleides, unter der sich der Anhänger befand, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Ein kleiner Rabe, aus Knochen geschnitzt.

Morgaine winkte eine von Brisens Töchtern herbei und ließ sich Wein in ihren Becher nachfüllen, bevor sie erzählte. »Als meine Schwester Morgause und ich nach Avalon geschickt wurden, waren wir beide zunächst sehr traurig. Ich vermisste meine Mutter und konnte nicht verstehen, warum sie mich fortgeschickt hatte. Zum Glück fand ich schnell Freundinnen, die mich von meinem Kummer ablenkten. Unter anderem Cundrie.«

Morgaine lächelte bei der Erinnerung und Elayne verspürte ein warmes Gefühl in ihrem Bauch, während sie gebannt den Worten der hohen Dame lauschte.

Diese trank einen Schluck und sah in die Flammen der Feuerstelle, während sie weitererzählte. »Bald schon waren deine Mutter und ich unzertrennlich. Wenn wir nicht durch die Priesterinnen unterrichtet wurden oder unsere Alltagspflichten erledigen mussten, zeigte mir Cundrie die schönsten Stellen der Insel. Unser Lieblingsplatz war ein schattiger Fleck unter einem Apfelbaum. Er befand sich auf einem kleinen Hügel und von dort konnte man über das Wasser bis zum Festland sehen.«

Morgaine schüttelte lächelnd den Kopf und wandte den Blick vom Feuer ab und zu Elayne.

»Wir waren Mädchen voller Träume und Sehnsüchte. Dort, unter dem Apfelbaum, malten wir uns unsere Zukunft aus. Wie es wohl wäre, wenn wir selbst Priesterinnen wären und im Dienste der Götter lebten. Oder ob wir zu unseren Familien zurückkehren würden, um dort den Dienst der Götter als Heilerinnen und weise Frauen zu verrichten.«

Sie machte eine Pause, während ein Schatten über ihr Gesicht zog, der sich aber rasch wieder verflüchtigte.

»Ich litt damals oft unter Albträumen. Es war Cundrie, die mich in den finsteren Nächten in den Arm nahm und darauf wartete, dass ich wieder einschlief. Sie selbst hatte oft Träume, die ihr Angst bereiteten, und konnte daher gut nachvollziehen, wie es mir ging.«

»Waren es Träume … oder das zweite Gesicht?« Elayne traute sich kaum, es laut auszusprechen.

Morgaine lächelte geheimnisvoll. »Woher sollten wir das als Kinder wissen? Erst später lernten wir, simple Träume von dem zweiten Gesicht zu unterscheiden.«

Sie trank von ihrem Wein und sah zurück in das Feuer.

»Einer dieser Träume führte Cundrie fort von Avalon. Sie verließ die Insel, kurz bevor sie die Weihen der Priesterschaft erhalten sollte. Sie sagte, sie habe davon geträumt, dass ihr Schicksal nicht auf dieser Insel läge. Sie müsse Avalon verlassen, um ihre Bestimmung und damit den Willen der Götter zu erfüllen.«

Ein bedauerndes Seufzen entwich ihren Lippen, als sie sich an den Abschied ihrer Freundin erinnerte.

»Obwohl wir mittlerweile erwachsen waren, schmerzte mich ihre Abreise sehr. Wir sollten uns erst Jahre später wiedersehen. Da war sie bereits mit König Pelles verheiratet und hatte eine kleine Tochter geboren.«

Elaynes Wangen glühten vor Aufregung. »Hat sie … hat sie dir je gesagt, ob sie ihre Bestimmung gefunden hatte?«

»Nein, darüber sprach sie nie. Aber sie erzählte mir von ihrer hübschen kleinen Tochter, die ihr ganzes Herz mit Liebe und Freude erfüllte.« Morgaine sah sie an. »Wie könnte man da Zweifel daran haben, dass sich der Wille der Götter erfüllt hatte?«

Elayne wünschte sich sehr, sie könnte eines Tages die Insel Avalon mit eigenen Augen sehen. Obwohl sie als Christin erzogen worden war, verspürte sie das Bedürfnis, jenen Ort zu sehen, an dem ihre Mutter aufgewachsen war. So wie sie ihren Vater jedoch kannte, würde das wohl nie geschehen.

Gerade war zwischen ihm und König Uryen eine hitzige Diskussion entbrannt, die Morgaine und Elayne ebenso wie alle anderen Anwesenden in ihren Gesprächen innehalten und zu den königlichen Sesseln blicken ließ.

»Du kannst dich nicht für alle Zeiten hier oben in deiner finsteren Festung verstecken!«, warf Uryen Elaynes Vater vor. »Du trägst eine Verantwortung gegenüber deinem Volk und gegenüber Britannien. Die Sachsen …«

»Ach, erzähl mir doch nichts von den Sachsen!« Pelles’ Wangen waren vom Wein gerötet und er lehnte sich gesättigt in seinem mit Fellen belegten Thron zurück. »Sie kommen nach Süden und Osten. Was sollen sie hier oben bei uns? Hier gibt es nichts für sie.«

»Du irrst dich«, beharrte Uryen und untermalte seine Worte, indem er mit der Faust so fest auf den Tisch schlug, dass die Becher wackelten. »Ihre Schiffe landen auch an der Nordostküste. Sie überfallen die Dörfer, brandschatzen und stehlen. Sie nehmen die Frauen und Kinder und töten die Männer.«

»Das ist nicht mein Problem.« Elaynes Vater verbarg seine Nase in seinem Weinkelch und trank ihn mit einem Schluck leer.

Nun riss König Uryen der Geduldsfaden. Er sprang auf und fuchtelte mit den Armen in der Luft, als wolle er Fliegen verscheuchen. »Wie lange willst du noch hier oben sitzen und dich vor der Welt verstecken?!«

»Das geht dich überhaupt nichts an«, knurrte Pelles.

Uryen verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf seinen Freund hinunter. »Denkst du, Cundrie hätte das so gewollt?!«

Elayne stockte der Atem, als er den Namen ihrer Mutter nannte.

Ihr Vater richtete sich auf und sah seinen Gast an. Sein Blick hätte Eisen schmelzen können. »Hör auf!«, donnerte seine Stimme durch die Halle.

»Nein, das werde ich nicht tun«, erwiderte Uryen kopfschüttelnd und setzte sich wieder an den Tisch, während er Elaynes Vater musterte. »Ich habe dich schon viel zu lange in Ruhe gelassen. Du hattest genug Zeit, zu trauern. Lot und ich brauchen dich. Der Norden von Britannien braucht dich!«

Jetzt lachte Pelles laut auf, dann verfinsterte sich seine Miene und seine Stimme wurde grollend. »Was wollt ihr alten Männer denn ausrichten? Wir haben keine Armee, die wir aufstellen können. Unser Volk kann von dem, was die Erde ihm schenkt, gerade so überleben. Sollen wir es auch noch in einen Krieg mit Wilden schicken?«

So aufgebracht hatte Elayne ihren Vater lange nicht gesehen.

»Schließe dich uns an, Pelles«, bat Uryen eindringlich. »Nur gemeinsam können wir der drohenden Gefahr trotzen. Lass uns Hen Ogledd wieder stark machen.«

»Hen Ogledd, der Alte Norden«, seufzte Pelles und lehnte sich wieder zurück in seinen Stuhl. Mit einem Mal wirkte er erschöpft. Verdrossen starrte er ins Feuer, das inmitten der Halle für wohlige Wärme und Trockenheit sorgte. Für einige Zeit schwieg Pelles und hing seinen Gedanken nach.

Uryen trank von seinem Wein. Er hatte ihn selbst aus dem Süden als Geschenk für seinen Freund und Verwandten mitgebracht. Pelles hatte ihn natürlich für alle geöffnet, sodass der Abend gesellig und die Bäuche gut gefüllt werden sollten. Doch der Wein erhitzte auch die Gemüter.

Die eingetretene Stille zwischen den Königen bot dem Barden Gelegenheit, seiner Harfe besänftigende Laute zu entlocken.

Elayne lauschte den Klängen und der melodischen Stimme des Mannes. Sie hoffte, die beiden Herrscher würden sich nicht weiter streiten. Es war ein solch wundervoller Abend, wie sie ihn schon lange nicht erlebt hatte.

Morgaine unterhielt sich nun mit Accolon und Elayne beschloss, ihrer Freundin Veneva beim Ausschank des Weines zu helfen. Gern hätte sie noch mehr über ihre Mutter in Erfahrung gebracht, aber sie wollte nicht neugierig wie ein kleines Mädchen wirken.

 

Brisen bat Elayne zu später Stunde, noch einmal nach ihrem Vater und dessen Gast zu sehen und ihnen eine Karaffe Wein sowie Brot und Käse zu bringen. Sie hatten sich ins Arbeitszimmer des Königs zurückgezogen.

Trotz geschlossener Tür drangen aufgebrachte Stimmen auf den Gang.

Elayne hielt inne, unsicher, was sie tun sollte. Der Streit der beiden war eindeutig erneut entfacht und der Lautstärke nach zu schließen, würden sie sich nicht so rasch beruhigen. Sie überlegte, zurück in die Küche zu gehen. Andererseits konnte sie durch ihr Erscheinen womöglich den Streit unterbrechen, sodass die beiden Könige wieder zur Besinnung kamen.

Also stellte sie die Weinkaraffe auf den Boden, um eine Hand frei zu haben. Gerade als sie an das Holz der Tür klopfen wollte, fiel ihr Name. Sie hielt inne.

»Elayne wird deinen Sohn nicht heiraten! Das ist mein letztes Wort zu diesem Thema.«

»Du bist ein Narr! Ein alter Narr.« Die Stimme von König Uryen klang wenig freundlich. »Für wen willst du sie aufheben? Für einen König aus dem Süden? Für einen Sachsenhäuptling vielleicht? Denn wenn wir unser Bündnis und den Norden nicht festigen, werden es wohl die Sachsen sein, die bald hier regieren!«

»Meine Tochter ist für Höheres bestimmt!«, donnerte Pelles.

Elayne wurde flau im Magen. Uryen wollte also, dass sie einen seiner Söhne heiratete. Vermutlich den ältesten, Ywein. Sie erinnerte sich an ihn als einen dunkelhaarigen dürren Burschen mit Sommersprossen und einigen frechen Flausen im Kopf.

»Und was genau meinst du damit?!«, fuhr Uryen ihren Vater an. »Ist mein Sohn und Erbe nicht gut genug für deine Abkömmlinge? Die beiden sind fast gleich alt. Sie haben sich immer gut verstanden. Sei doch vernünftig, Pelles! Oder willst du sie etwa deinem schwachsinnigen Neffen Percival geben? Das wäre wirklich Wahnsinn.«

»Ich sagte doch schon, dass sie für Höheres bestimmt ist.«

»Pelles!«

»Gut jetzt, Uryen. Lass uns das Thema wechseln.«

»Nein, wir werden das Thema nicht wechseln. Was hast du mit deiner Tochter vor?«

Jemand ging energisch im Arbeitszimmer auf und ab. Elayne hörte die Schritte. Sie wagte kaum, zu atmen. Noch nie hatte sie ihren Vater über mögliche Heiratspläne sprechen gehört.

Sie hatte gedacht, er werde sich schon an sie wenden, wenn das passende Angebot kam. Worauf wartete er? Denn – so gern sie es auch abstreiten würde – einen Sohn Uryens zu heiraten, war die beste Aussicht, die sich ihr bieten konnte.