Das Buch

Das, was ich im Spiegel sah, verschlug mir den Atem.

Ich war nicht Anna.

Ich war Anto.

Ich steckte im Körper meines Bruders.

Anna und Anto sind Zwillinge – und gehen sich schrecklich auf die Nerven. Bis zu dem Tag, als Anna in Antos Körper aufwacht, und Anto in Annas. Schock! Fragen über Fragen!

Mädchen? Junge? Wer bin ich und wer bist du? Auf einmal purzelt für die beiden alles durcheinander.

Eine furiose Reise in die völlig fremde Welt des jeweils anderen – überraschend, witzig, tiefgehend!

Die Autorin

Autorenfoto

© privat

Gerlis Zillgens war Schauspielerin und Regisseurin, hat fürs Fernsehen gearbeitet und ist mit Leib und Seele Autorin! Wortgewandt und mit fantastisch-komischen Dialogen bringt sie ihren Lesern und Leserinnen so richtig viel Freude am Lesen. Wenn sie nicht gerade schreibt, geht sie auf Lesetour. Oder tanzt Tango und Salsa. Oder turnt herum. Manchmal auch auf der Spiegel-Bestsellerliste.

Mehr über Gerlis Zillgens: www.zillgens.de

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch!

Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autoren und Übersetzern, gestalten sie gemeinsam mit Illustratoren und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

Mehr über unsere Bücher, Autoren und Illustratoren: www.planet-verlag.de

Planet! auf Facebook: www.facebook.com/thienemann.esslinger

Viel Spaß beim Lesen!

Titelbild

Für Eileen und ihre Familie

Babyalarm

»Ihr bekommt ein Baby!«, sagte Frau Kleingedank-Mücke und ihre Augen funkelten vor Freude.

»Nein!«, rief mein Bruder erschrocken.

»Fuck«, jaulte der beste Freund meines Bruders.

Beide starrten entsetzt auf unsere Biologielehrerin. Einen Wimpernschlag lang herrschte Totenstille. Dann brach Tumult in der Klasse aus. Gellendes Gelächter. Schenkelklopfen. Rudi rutschte von der Stuhlkante und landete auf den Knien.

»Anto und Maxim kriegen ein Kind!«

»Halleluja!«, frohlockte Lotte. »Ein Wunder, ein Wunder!« Sie sprang auf, riss die Arme in die Höhe und stieß dabei die Lostrommel um. Die darin befindlichen Kugeln kullerten unter Stühle und Tische, ein paar Jungs stürzten ihnen johlend hinterher, um sie wieder einzusammeln, anderen liefen vor Lachen schon Tränen die Wangen hinunter.

Frau Kleingedank-Mücke versuchte vergeblich, das Chaos wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Da man sie in dem ganzen Getöse nicht mehr hören konnte, sah sie mit ihren wedelnden Händen, dem auf- und zuklappenden Mund und den aufgerissenen Augen aus wie eine verstörte Mischung aus Fisch und Stummfilmstar.

Die Klingel erlöste sie. »Eure weiteren Projekte losen wir dann nach der Pause aus«, quetschte sie zwischen zusammengepressten Lippen hervor, griff gierig nach ihrer Tasche und machte sich im Laufschritt, ohne sich nur noch ein einziges Mal umzusehen, auf ins rettende Lehrerzimmer.

»OH! MEIN! GOTT! Das war die beste Biologiestunde ever. Ich schwör«, rief Mia und sah mit ihrer verlaufenen Wimperntusche aus wie ein lustiger kleiner Pandabär.

Herz

»Du bist da immer noch ganz schwarz!« Ich tippte Mia auf den Wangenknochen unter ihrem rechten Auge. Sie wischte mit ihrem Handrücken darüber, musste aber schon wieder so lachen, dass neue Wimperntusche nachfloss.

Wir hockten auf den alten Traktorreifen in unserer Lieblingsecke, von der aus man einen guten Überblick sowohl über den Schulhof, als auch direkt ins Parterre gelegene Lehrerzimmer hatte. Was logischerweise auch den Lehrern und Lehrerinnen unserer Astrid-Lindgren-Superschule einen prima Blick auf uns erlaubte. Was wiederum erklärte, dass dieser Platz wenig begehrt und selten besetzt war, und Mia und ich ihn in fast jeder Pause nutzen konnten. Dass die Lehrer gute Sicht auf uns hatten, nahmen wir gern in Kauf für die eigene Aussicht. Wenn man sich taktisch geschickt setzte, konnte man uns auch nur von hinten oder ein wenig von der Seite sehen.

»Maxim und Anto sind voll fertig.« Mias Pandaaugen wurden schmaler, je breiter sie grinste. Sie winkte zur anderen Ecke des Schulhofs rüber, in der die beiden ihre Köpfe zusammensteckten und aufgeregt miteinander tuschelten.

»Anto wird ’ne Weile brauchen, um das zu verkraften. Die beiden wollten sich so gern um das Aufpimpen vom Fußballplatz kümmern. Und nun hat das Losglück ausgerechnet seine doofe Schwester Anna und deren coole Freundin Mia damit beschenkt.«

Mia legte einen Arm um meine Schulter und drückte mich an sich. »Ich komm immer noch nicht drüber weg. Wie die beiden geguckt haben, als die Mücke die Loskugel geöffnet und die Namen der beiden vorgelesen hat.« Sie schaute mich an. »Glaubst du, die kriegen das hin mit so einem Babysimulator?«

»Nö. Schon deswegen nicht, weil Anto nachts immer pennt wie ein Murmeltier, das ’ne Extra-Portion Schlaftabletten verputzt hat. Um den morgens zu wecken, braucht es eine trompetende Elefantenkuh samt brüllendem Löwenmännchen. Mindestens.«

Mia konnte gar nicht mehr aufhören zu kichern. »Leider kann man bei Elefanten und Löwen die Weckzeit nicht einstellen.«

Unsere Wohnung lag direkt am riesigen Zoo der Stadt. Und von Antos Zimmer konnte man gut aufs Gelände gucken. Deswegen hatte ich, schon seitdem ich denken konnte, die Zimmer tauschen wollen, aber mein Zwillingsbruder hatte sich immer erfolgreich dagegen gewehrt. Er mochte das Zimmer zum Zoo genauso gern wie ich. Selbst wenn es bei offenem Fenster manchmal mächtig nach Elefantenkacke duftete.

Am Fenster des Lehrerzimmers tauchte die Mücke auf und öffnete es. Sicher hatte sie auch oft das Gefühl, von einer Horde wilder Tiere umgeben zu sein. Sie warf keinen Blick hinaus, sondern nahm mit halb geschlossenen Augen ein paar tiefe Atemzüge, um es dann wieder zu schließen und im Raum zu verschwinden.

Dafür näherten sich nun Bruderherz und Maxim. Wie immer, wenn Maxim mir so nah kam, dass ich seine knallgrünen Augen sehen konnte, begannen meine Füße zu kitzeln, meine Hände zu schwitzen und mein Gesicht war schockgefrostet.

Mein Bruder deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger erst auf mich, dann auf Mia, dann wieder auf mich. »He, ihr zwei Hübschen.« Er sprach ungefähr eine Oktave tiefer als sonst und stellte sich betont breitbeinig hin. Das sah ziemlich albern aus und genauso hörte es sich auch an. Wie eigentlich fast alles, was mein Bruder tat. »Maxim und ich hatten gerade eine coole Idee.«

»Kann ich mir kaum vorstellen«, schoss es augenblicklich aus Mia heraus. Sosehr meine beste Freundin mich lieb hatte, so doof fand sie meinen Bruder. Er hatte sich bei ein paar vergeblichen Datingversuchen ein bisschen danebenbenommen, seitdem war er für sie wie ein rotes Tuch für einen Stier.

Ich brachte, wie immer, wenn Maxim mir so nah kam, dass ich seine süßen abstehenden Ohren sehen konnte, kein Wort heraus.

»Wie wär’s, wenn wir in der Kümmerwoche tauschen«, schlug Anto vor. »Ihr kriegt das Baby, und wir kümmern uns um den Fußballplatz.«

Mia tippte sich an die Stirn. »Nicht knusper in der Pastete, oder was? Denkfabrik pleitegegangen? Zu viel Handy-Strahlung abgekriegt?«

»Wir würden euch auch zu ’nem leckeren Eis einladen.« Maxim lächelte.

Mia gähnte. »Wow, is ja ’n mega Angebot!«

Ich hätte für ein Eis mit Maxim den beiden sofort den Fußballplatz überlassen und das Baby lebenslang adoptiert. Ich brachte aber, wie immer, wenn Maxim mir so nah kam, dass ich das kleine Grübchen in der Wange, direkt über dem linken Mundwinkel sehen konnte, kein Wort heraus.

»’ne Pizza wär auch noch drin«, erhöhte Maxim das Angebot. »Mit freier Wahl. Darf auch eine mit Serrano-Schinken sein.«

Die mit Serrano-Schinken war in unserer kleinen Pizzeria am Zoo immerhin drei Euro teurer als die Margherita.

»Ich bin Vegetarierin. Ich ess keinen Schinken.«

Puh, endlich hatte ich auch mal einen vernünftigen Satz herausgebracht, obwohl Maxim mir so nah war, dass ich seine knallgrünen Augen, die abstehenden Ohren und das süße Grübchen sehen konnte. Meine Gesichtstemperatur wechselte allerdings unmittelbar danach von tiefgefroren zu pizzaofenheiß.

»Selbst wenn wir wollten …«, Mia gähnte demonstrativ, »wird das nichts nützen. Glaub kaum, dass die Mücke uns so lange tauschen lässt, bis wir das Projekt haben, was wir am liebsten machen wollen.«

»Was meinst du denn dazu?«, fragte Maxim und sah mich an.

Augen, Ohren, Grübchen. In meinem Gehirn rollte ein Tsunami von einer Seite zur anderen. Er riss jegliche Form menschlicher Intelligenz mühelos mit sich. Zurück blieb ein unentwirrbares Chaos an Panikwellen, Gedankenfetzen und Gefühlsdusel.

Diesmal war ich es, die durch die Pausenklingel erlöst wurde. Schneller als die Zoo-Gazellen düste ich los Richtung Schuleingang.

Esszimmer-Drama

»Und, wie war’s in der Schule?« Mein Vater zog die Schüssel mit dem Brokkoliauflauf zu sich heran, bohrte den Löffel tief hinein und legte mir ungefragt eine riesige Portion nach.

»Ich bin satt, Papa.«

»Du hast kaum was gegessen.«

»Papa! Bei irgendeinem Mittagessen platze ich, und meine Familie wird von meinen blutigen, dampfenden Innereien vollgespritzt, bevor ich röchelnd krepiere.«

»Alter!« Anto verzog das Gesicht.

Mein Vater sah mich strafend an. »Du kannst einem ganz schön den Appetit verderben, Anna.« Wieder ungefragt tauschte er meinen vollen Teller mit seinem leer geputzten. »Und, wie war’s nun in der Schule?«

Bevor mein Bruder oder ich antworten konnten, ging die Esszimmertür auf, meine Mutter stöckelte auf ihren Arbeits-High-Heels durch den Raum, küsste meinem Vater ein kleines grünes Brokkoliröschen von den Lippen und gab es Gott sei Dank an Antos Stirn weiter, bevor sie mich auf die Wange küsste.

Das Küssen war Ritual. Papa Mund, Anto Stirn, ich Wange. Vermutlich schon seit dem Augenblick, als Anto und ich vor vierzehneinhalb Jahren mit einem Abstand von vierzehneinhalb Minuten das Licht der Welt in der Familie Anders erblickt hatten.

Papa schob auch Mama einen Teller mit einem Berg Brokkoliauflauf hin. Er ging immer davon aus, dass jeder Mensch auf der Welt so viel essen sollte wie er. Dass ein deutlich runder Bauch ihm aber täglich erzählte, dass er selbst zu viel aß, überhörte und übersah er gern, auch wenn Mama es viel Freude bereitete, ihn darauf hinzuweisen.

Mama hatte eine knappe Stunde Mittagspausenzeit, bevor sie wieder in den Hauptbahnhof und dort genervte Reisende über Verspätungen, Ersatzzüge und Entschädigungen informieren musste. Papa arbeitete freiberuflich und sein Schreibtisch stand zu Hause. Deswegen war er grundsätzlich fürs Essen zuständig. Und natürlich nicht nur fürs Essen: Papa bekam in dieser Familie, weil er immer zu Hause war, einfach viel mehr mit als Mama. Er war es, der uns früher bei unseren Hausaufgaben geholfen hat. Er war es, der uns Pflaster auf verletzte Knie klebte und tröstete. Und er war es auch, der unsere Freunde und Freundinnen besser kannte als Mama.

»Und, wie war’s in der Schule?«, fragte Mama.

Ich überlegte, ob es einen Satz gab, den meine Eltern in den letzten acht Jahren häufiger gesagt hatten. Außer vielleicht Anto, räum bitte endlich dein Zimmer auf!, fiel mir keiner ein.

Bruderherz verdrehte die Augen. Er sah immer noch so genervt aus wie in der Biostunde und der Pause danach. Nur, dass das Brokkoliröschen in der Mitte seiner Stirn ihn jetzt lustiger machte. »Doofer Tag. Ich krieg ein Baby, und Anna und Mia wollen sich nicht drum kümmern.«

»Warum sollten wir auch? Wenn das Schicksal will, dass Anto ein Kind kriegt, müssen Mia und ich das doch nicht ausbaden, nur weil wir Mädchen sind.«

Der Bericht über unser Schulprojekt ließ ziemlich merkwürdige Dinge am Mittagstisch geschehen. Mamas Unterkiefer klappte fast bis auf ihren Busen herunter. Papa ließ die Gabel mit grünem Brokkoliauflauf auf seine hellen Jeans fallen. Mama riss die Augen so weit auf, dass man fast nur noch weiß darin sah. Papas Kinnlade folgte der von Mama, rutschte ebenfalls eine Etage tiefer und entließ dabei weiteres Grünzeugs. Das alles sah reichlich unappetitlich aus. Wir waren es, von unseren eher auf gutes Benehmen bedachten Eltern, nicht gewohnt, dass sie sich am Tisch aufführten wie zweijährige Kinder bei ihren ersten selbstständigen Essversuchen.

Dann stiegen sie unvermittelt in einen dramatischen Theaterdialog ein:

Mama: (verstört) Was?

Papa: (tonlos) Was?

Mama: (krächzend) Anto!

Papa: (heiser) Anto!

Mama: (hysterisch rufend) Du bist vierzehn!

Papa: (fassungslos flüsternd) Vierzehn Jahre!

Mir schien, ich hatte selbst in der Kita schon gehaltvollere Theaterdialoge gehört. Anto schaute ratlos zu mir rüber und zuckte mit den Schultern. Ich zuckte zurück.

Manchmal waren Eltern einfach seltsame Wesen.

Mama schnappte nach Luft, riss die Augen noch weiter auf (wer hätte gedacht, dass das möglich war) und setzte zur Abwechslung mal zu einem längeren Monolog an, der inhaltlich aber wenig mehr hergab als der Kleinkind-Dialog mit Papa vorher.

Mama: Vierzehn Jahre! Ich glaub das nicht, das kann ich nicht glauben, ich hab ja nicht mal gedacht, dass du überhaupt schon … aber wenn … du weißt doch … du bist doch aufgeklärt, wir haben doch …

Papa holte Luft und wollte auch etwas sagen. Mama textete unbeeindruckt weiter.

Mama: … über alles schon vor Ewigkeiten gesprochen, und nicht nur einmal – oft, sehr oft … ich habe euch doch alles erklärt … wie konnte das denn …

Papa holte Luft und wollte auch endlich etwas sagen. Mama textete unbeeindruckt weiter.

Mama: … du kannst doch über alles mit uns reden, wir haben dir doch alles … du hast doch auch Biologie, man lernt doch nicht nur was über Bienen und Blümchen, das war doch früher so, das ist doch heute nicht …

Bei Anto und mir machte es klick, wir kapierten gleichzeitig, worum es ging, und stiegen in das Theaterstück ein.

Anto: (augenverdrehend) Mensch, Mama! Alter! Jetzt bist du aber oberpeinlich.

Ich: Ein Babysimulator! Anto und Maxim kriegen so ein Kunstbaby, um das sie sich fünf Tage kümmern müssen.

Mama starrte mich mit offenem Mund an.

Anto: (stöhnt) Eine kleine, doofe, miese Plastikpuppe mit eingebautem Chip, die dich fünfmal die Nacht aufweckt, weil sie trinken und Streicheleinheiten will.

Ich: (sanft lächelnd) Und die Windeln muss man auch wechseln.

Böser Blick von Anto zu mir. Mama klappte ihren Mund zu.

Anto: So was will kein Mensch.

Ich: Aha, aber Mia und ich sollen so was für dich machen, ja?

Anto: (aufgeregt) Ihr seid Mädchen, ihr könnt das besser!

Mama lehnte sich über ihren Teller mit Brokkoliauflauf und küsste Papa auf den Mund. Papa küsste Mama schmatzend und kichernd wie ein Erstklässler zurück.

Ich: (zu Anto) Schwachsinn! Ich spiel auch besser Fußball als du und du bist ein Junge.

Mama und Papa standen auf, fassten sich an den Händen und tanzten um den Tisch.

Anto: (empört) Seit wann spielst du denn besser Fußball als ich?

Ich: Schon immer.

Anto: Pff!

Ich: Selber Pff!

Ende Akt 1.

Papa und Mama setzten sich auf ihre Plätze und wurden wieder siebenunddreißig und vierzig Jahre alt. Papa häufte sich vor lauter Erleichterung noch eine ordentliche Portion auf den Teller. Mama umarmte Anto und küsste ihm das Brokkoliröschen von der Stirn.

»Ach so! Na, sag das doch gleich. Herrje, da hast du uns aber einen ordentlichen Schrecken eingejagt.«

Papa lachte. »Das ist ja ein hübsches Projekt, das finde ich prima. Dann musst du aber endlich dein Zimmer aufräumen, Anto, so ein Baby kann ja nicht in diesem ganzen Chaos leben.«

Anto verdrehte die Augen. »Es lebt nicht, Papa. Es tut nur so und nervt einen damit.«

»Ihr beiden seid noch öfter als fünfmal in der Nacht aufgewacht und habt Terror gemacht, aber ihr hattet keinen Schalter, an dem man euch abstellen konnte.«

»Das Baby hat auch keinen Schalter«, erklärte ich mit breitem Grinsen. »Beziehungsweise, es hat schon so was in der Art, aber nur die Mücke und die Frau von der Beratungsstelle wissen, wie man es damit ausstellt.«

»Wer ist die Mücke?«, fragte Mama.

»Frau Kleingedank-Mücke«, antwortete Papa. »Biologie.«

»Ihr nennt sie Mücke?« Mama sah nicht mehr ganz so glücklich aus.

»Nur, wenn sie nicht dabei ist«, erklärte Papa und tätschelte Mamas Handrücken.

»Das Baby muss man behandeln wie ein echtes«, klärte ich unsere Eltern auf. »Das ganze Programm: Fläschchen, Bäuerchen, Windeln, Streicheln, Wiegen und so weiter. Und alles wird auf einem Chip aufgezeichnet. Wenn Anto und Maxim es versauen, kriegen sie ’ne Sechs und das wär doof, weil die beiden sowieso schon so mies in Bio sind.«

»Für das Projekt gibt’s gar keine Noten!«, fauchte Bruderherz böse zu mir rüber und verabschiedete sich, um Maxim zu besuchen.

»Und du«, fragte Mama mich, »kriegst du auch ein Baby?«

»Nee, Mama.« Ich klimperte mit den Wimpern. »Ich bin doch erst vierzehn!«

Ich stand auf. »Ich schau mal bei Oma vorbei. Sicher findet die es auch prima, dass Anto ein Kind kriegt.«

Annchen, mein Annchen

»Annchen, mein Annchen, bist so schmal wie ein Tannchen«, sang Oma mit ihrer hohen, etwas brüchigen Stimme. Sie drückte mich an sich und streichelte mir über den Rücken. »Wie schön, dass du mich besuchst, meine kleine Lieblingsenkelin.«

»Du hast nur eine Enkelin, Oma!« Ich gab ihr einen Kuss auf den Scheitel. Sie war so klein, dass ich mich dazu nicht mal auf die Zehenspitzen stellen musste.

»Wer weiß, wie viele Enkelinnen ich noch habe?« Oma lächelte geheimnisvoll.

Ich lächelte zurück und sagte nichts. Meine Oma lebte, seitdem ich denken konnte, in mehreren Welten gleichzeitig. Möglicherweise hatte sie tatsächlich in irgendeiner der anderen Welten noch weitere Enkelinnen. Nur konnte die außer Oma niemand wahrnehmen. Das sei alles Quantenphysik, sagte Oma öfter. Die Quantenphysik stelle alles auf den Kopf, was wir glauben zu wissen.

Ich habe mal im Internet nachgeforscht, was Quantenphysik eigentlich ist. Kapiert hab ich quasi nix. Nur so viel, dass Oma wohl irgendwie recht hat. Quantenphysik ist ganz schön durchgeknallt. Aber total seriöse Wissenschaftler beschäftigen sich damit und bekommen Nobelpreise und so.

Mama hält gar nichts von Quantenphysik. Ihre Meinung: Oma ist ein bisschen durchgeknallt, das war sie schon immer. Für Mama ist das in ihrer Kindheit nicht so einfach gewesen, mit Omas anderen Welten klarzukommen. Vermutlich ist sie deswegen zur Bahn gegangen. Dort kommen Fantasiewelten nicht vor. Hätte Papa Romane geschrieben und nicht Gebrauchsanweisungen für Elektrogeräte, hätte sie sich auch bestimmt nicht in ihn verliebt und ihn geheiratet.

»Dann mach ich mal ein kleines Käffchen, für mich und das kleine Anna-Äffchen«, trällerte Oma schief vor sich hin.

Bei ihr gab es immer Kaffee. Mama wollte nicht, dass ich Kaffee trank, aber ich war schließlich schon vierzehn. Und Kaffee war eindeutig besser als schwanger, fand ich.

Oma stellte Käsekuchen auf den Tisch. Der war mega. Absolut Spitzenklasse!

»Hmmm, niemand macht besseren Käsekuchen als du, Oma.«

»Der ist von Opa.« Oma lächelte versonnen. »Er ist der beste Käsekuchenbäcker der Welt.«

»Ja, Oma, das ist er.« Ich drückte sie an mich.

Wäre Mama jetzt hier gewesen, hätte es wieder ewige Diskussionen darüber gegeben, dass Opa doch schon über fünf Jahre tot ist, und dass Oma das immer wieder vergisst. Und dass sie das nicht vergessen darf. Nach fünf Jahren muss man doch mal das Schicksal annehmen. Man kann doch nicht für den Rest des Lebens die Tatsache verdrängen, dass Opa nicht mehr unter uns weilt. Bla, bla, bla. Und so weiter und so weiter.

Aber ich wusste gar nicht, warum Oma das nicht vergessen durfte. Schließlich sah sie glücklich aus und mir war es egal, wer den Käsekuchen gebacken hatte. Hauptsache, er schmeckte so herrlich wie immer.

»Erzähl mir von deinem Maxim!« Oma machte es sich auf der Couch gemütlich, trank ganz langsam und voller Genuss einen Schluck ihres tiefschwarzen Kaffees und schaute mich erwartungsvoll an.

Sie wusste so ziemlich alles über Maxim. Sie war – außer Mia – der einzige Mensch, mit dem ich wirklich über ihn reden konnte. Im Grunde konnte ich mit Oma sogar noch besser reden. Mit Mia stritt ich mich ab und zu und wir waren öfter unterschiedlicher Meinung. Mit Oma stritt ich mich nie. Und ihre fremden Welten, in die sie mich in ihren wilden Geschichten entführte, waren spannender als die meisten Filme, die ich in meinem Leben gesehen hatte. Oft machte sie uns sogar Popcorn.

Mit ihr war ich, seit ich klein war, am liebsten unterwegs gewesen. Oma konnte schon immer irgendwie zaubern. Wenn wir den Zoo nicht nur von Antos Fenster aus sehen, sondern live besuchen wollten, ging Oma mit mir hin und es geschah meist etwas Ungewöhnliches: Das frisch geborene Pandabärchen kroch zum ersten Mal aus seiner Höhle oder ein Tierpfleger hatte ein Gatter nicht richtig geschlossen und niedliche Pinguine watschelten über den Weg. Wenn wir für den Nachmittag einen Schwimmbadbesuch geplant hatten und es morgens aus Kübeln regnete, hörte es ziemlich sicher pünktlich auf und die Sonne schien plötzlich, sobald wir loswollten. Und als die kleine fünfjährige Anna sich so furchtbar schrecklich dringend einen Hund gewünscht hat, stand plötzlich einer in Omas Garten. Er trug kein Halsband und hatte keinen Chip. Oma sorgte dafür, dass ich ihn behalten durfte, obwohl Mama anfangs strikt dagegen war.