Manuela Polaszczyk

 

 

 

 

Spuren der DDR-Vergangenheit

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Twilight-Line Verlag GbR

Hauptstrasse 131

D-63829 Krombach

Deutschland

 

www.twilightline.com

 

 

1. Auflage / April 2009

eBook-Edition

 

© 2009 Twilight-Line Verlag GbR

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Es gab immer Augenblicke in meinem Leben,

an denen das Glück an meiner Tür geklopft hat,

doch es ist nie geblieben.

 

Allerdings habe ich bis heute die Hoffnung

nicht aufgegeben, dass das Glück eines Tages

kommen und auch bleiben wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

 

 

Neues Leben, neue Zukunft, Ankunft in der BRD

 

Neue Menschen, neue Gefühle, Sindelfingen

 

Neuer Anlauf, gemischte Gefühle, Regensburg

 

Ich gehe zurück nach Cottbus

 

Nur weg von Cottbus, neuer Anfang im Westen, neuer Job in Karlsruhe

 

Umschulung, Selbstständigkeit, Hartz IV Empfänger

 

Mein Leben geht trotzdem weiter

 

Die Vergangenheit holt mich ein

 

Auszug aus den Stasiakten

 

Mein Leben heute

 

Nachsatz

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Neues Leben, neue Zukunft, Ankunft in der BRD

 

 

Ich sitze im Bus. Es ist still. Wir haben Angst. Keiner weiß, wo es hingeht. Oder doch? Wir wissen, wir fahren in den Westen. Über die Grenze, über die wir schon so lange wollen. Viele Gedanken gehen mir durch den Kopf. Wie lange habe ich gebraucht diesen Weg zu gehen? Was musste ich alles auf mich nehmen, um so weit zu kommen? Ich habe Dinge erlebt, die ich niemanden wünsche. Dinge, die die Unmenschlichkeit des DDR Systems klarmachen. Dinge die zeigen, dass die DDR Angst hatte. Die sie dazu treibt, grausam ihren eigenen Bewohnern zu begegnen. Nur um ihre Schwäche nicht zu zeigen.

Ich sitze in dem Bus, der aus dem Gefängnis in die BRD, also in die Freiheit, in den Westen, fährt. Bis zur Grenze fahren die Staatsorgane der DDR mit. Im Bus selbst und mit einem Auto dahinter. Wir wissen nicht, ob er wieder umdreht. Wir wissen nichts. Die Fahrt dauert nun schon etwa drei Stunden. Wir sehen die Grenze. Bald, bald sind wir frei. Dann kann jeder so leben wie er es will. Dann kann auch ich selbst über mein Leben entscheiden. Ohne Angst zu haben etwas Falsches zu sagen und ohne Angst zu haben die politische Meinung der Regierung nicht zu vertreten.

Der Schlagbaum ist in Sicht. Wir sind ganz still. Man ist mir schlecht. Müssen wir jetzt raus? Nein. Der Bus hält kurz vor dem Schlagbaum. Nur die von der Stasi steigen aus. Die Tür schließt sich wieder. Jetzt! Jetzt können wir durchatmen.

Der Busfahrer fährt weiter. Er spricht durch ein Mikrophon zu uns. Er sagt, jetzt können wir wie wir wollen. Jetzt sind wir im Westen. Wir überqueren gerade die Markierung zur Bundessrepublik Deutschland. Jetzt, ja jetzt sind wir frei und im Westen.

Hinter dem Schlagbaum hält der Bus wieder. Ein Mann steigt ein. Er begrüßt uns. Es kommt noch jemand. Er reicht jedem von uns eine Tüte. Sie nennen es Fresspaket.

Ein Beutel mit Brötchen. Ich weiß gar nicht wie lange ich keine mehr gegessen habe. Es ist auch eine Schachtel Zigaretten darin. Wir dürfen im Bus rauchen. Einen Apfel und eine Orange, ebenso ein Saft sind dabei. Das ist ja wie Weihnachten.

Ich komme aus der DDR. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal eine Orange in der Hand hatte. Mir ist schlecht. Ich habe Kopfweh, unerträgliches Kopfweh. Aber ich bin im Westen.

So langsam finden wir alle unsere Stimme wieder. Wir lachen, wir weinen. Die Gefühle sind völlig durcheinander. Endlich!

Sollte ich es wirklich endlich geschafft haben? Ich habe 20 Jahre gebraucht wieder hierher zurück zu kommen. In das Land, in dem ich geboren wurde. Eine Chance zu entscheiden, wo ich leben wollte hatte ich nicht. Das haben meine Eltern getan.

Der erste Mann ist immer noch im Bus. Der andere, der die Tüten verteilte, ist wieder ausgestiegen. Wir fahren weiter. Der verbliebende Mann begrüßt uns noch einmal. Er redet und redet. Ich bin mit meinen Gedanken soweit weg und höre gar nicht, was er sagt. Er wünscht uns hier in unserem neuen Lebensabschnitt alles Gute.

Wir fahren nach Gießen in das Notaufnahmelager. Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt. Schon kurz nach der Grenze, nachdem wir unsere Gefühle wieder so ein bisschen auf die Reihe gekriegt haben, schau ich aus dem Fenster. Ich will die Freiheit sehen. Sehen wie es aussieht. Hier ist alles bunter. Selbst die Bäume sind grüner. Es ist nicht zu beschreiben. Ich komme aus dem Gefängnis. Ich habe in den 15 ½ Monaten nur graue Mauern gesehen. Selbst wenn ich aus dem Fenster geschaut hatte, war es nicht so wie hier. Hier ist es bunt. Die Häuser haben einen bunten Anstrich. Sie strahlen Freude aus.

Es ist der 11. September 1985, Spätsommer. Die Blätter an den Bäumen schimmern in allen Farben. Das Grün ist ein saftiges dunkles Grün. Das ist Leben. Hier ist Leben.

Der Bus fährt immer noch. Laut dem Busfahrer sind wir nach der Grenze noch zwei Stunden unterwegs. Dann kommen wir in Gießen an. Losgefahren sind wir vom Gefängnis in Karl-Marx-Stadt gegen 13.00 Uhr. Gegen 16.00 Uhr waren wir an der Grenze, nach zwei Stunden, also gegen 18.00 Uhr sind wir in Gießen. Dann betreten wir bundesdeutschen Boden.

Mir ist immer noch schlecht. Auf der Toilette wechseln sich die Leute im Bus ab. Kein einziger von uns hat weder den Saft noch das Obst vertragen. Manche müssen sich übergeben. Andere kriegen Durchfall. Ich bin beim letzteren dabei. Schlecht war mir ja eh schon. Meine ganze Gesundheit will nicht so wie ich. Mein Kopf zerspringt fast. Ich kann kaum noch aus den Augen schauen. So langsam beruhigt sich mein Magen. Die Aufregung, das Vitamin C. Das sind alles Dinge, die ich nicht mehr wirklich vertrage. Es war einfach zu viel in den letzten Monaten.

Wir sind von der Autobahn runter. Jetzt fahren wir durch einen Ort. Sind wir jetzt da? Sieht so aus. Der Bus hält. Eine Schranke öffnet sich. Wieder eingesperrt? Es sieht anders aus, aber Schranke und Wärterhäuschen? Ich weiß nicht.

Der Bus hält wieder. Wir steigen alle aus. Unser Gepäck wird unten aus den Luken geholt. Jeder sucht sich sein Gepäck und folgt dem Mann aus dem Bus. Bepackt gehen wir alle in ein Haus. An der Tür steht jemand. Auch ein Mann. Er begrüßt uns und bietet Kopfschmerztabletten an. Oh mein Gott...

Tränen laufen mir übers Gesicht. Er gibt mir gleich zwei Tabletten. Kopfweh habe ich seit ich eingesperrt war, aber eine Tablette habe ich fast nie erhalten. Und jetzt kriege ich gleich zwei und er fragt, ob ich Wasser dazu haben möchte. Jetzt weiß ich, ich bin in Freiheit. Das sind Gefühle, die kann ich nicht beschreiben. Man durchlebt es immer und immer wieder.

Anderen geht es ähnlich wie mir. Fast jeder lässt sich was gegen Kopfweh geben. Mit den Tabletten gehe ich weiter in den Raum, in dem wir uns sammeln. Jeder sucht sich einen Platz. Ich natürlich auch. Meine Nerven machen was sie wollen. Ich bin einfach nur fertig.

Auf den Tischen stehen Getränke und Kleinigkeiten zum Essen. Trinken ja. Essen kann ich nicht.

Vorne steht jemand und redet. Er begrüßt uns und heißt uns in unserer neuen Heimat Willkommen. Er teilt uns mit, was wir heute noch machen müssen. Man schickt uns in die Kleiderkammer. Das heißt so. Dort werden wir neu eingekleidet.

Wir erhalten neue Sachen aus dem Westen. Dann zeigen sie uns unsere Zimmer. Wir müssen ja irgendwo schlafen, bis wir weiterziehen. Die Türen stehen offen. Wir können sie selbst schließen. Man, die haben Klinken, richtige Klinken. Es gibt Bäder mit Duschen.

Wir laden unsere Sachen ab. Ich habe immer noch das Paket aus den Effekten, dass wir mitgebracht hatten, in der Hand. Die neuen Sachen und natürlich einen Riesenstapel Papiere, die wir ausfüllen müssen, bevor wir hier wieder weggehen.

Geduscht und umgezogen gehen runter in den Saal, in dem wir vorher waren. Mit den Papieren unterm Arm versuchen wir uns einen Überblick zu verschaffen.

Ich habe die Tabletten genommen, aber mein Kopf ist nicht viel besser geworden. Auf das Geschriebene kann ich mich nicht konzentrieren. Meine Augen tun weh. Ich sehe alles verschwommen. Na ja, was will man auch erwarten, wenn man jeden Tag stundenlang unterm Neonlicht sitzt. Wenn man mit Licht geblendet wurde.

Ich bin erschöpft, aber ich bin frei. Also gehe ich, wie die anderen auch, diese Papiere durch. So nach und nach begreife ich es auch. Der Mann von vorher kommt vorbei und fragt jeden, ob wir klar kommen, ob wir was brauchen und wie wir uns fühlen. Wir haben auch die Möglichkeit zu einem Anwalt zu gehen, der in einem anderen Raum sitzt. Dort sagen sie uns dann etwas über unsere Angehörigen. Ich gehe natürlich dahin. Es ist eine Frau. Sie sagt mir zu aller erst, dass meine Mittäterin schon seit einer Woche hier ist. Das kann nicht sein...

Die hat mich angeschissen. Die hat doch zurückgezogen. Nein, dass kann nicht sein. Doch. Sie sagt, sie ist da und wurde abgeholt. Von wem weiß sie nicht. Man, wenn die mir unter die Finger kommt. Die kann was erleben. Wegen der habe ich ein Jahr mehr bekommen. Schön, ich musste das nicht absitzen, aber es hätte ja sein können. Von dem Schock muss ich mich erst erholen. Sie gibt mir noch die Telefonnummer meines Vaters, auch seine Adresse und diverse Angaben, die ich brauchen werde. Ich bin ja von der Bundesregierung ausgekauft worden. Das ging damals von dem Anwalt Vogel in Berlin, über den Anwalt den mein Vater hier im Westen beauftragt hatte, über die Bundesregierung. Ohne den würde ich noch da drinnen sitzen. Da würde ich nicht mehr lebend rauskommen.

Ich geselle mich wieder zu den anderen. Meine Gedanken sind völlig durcheinander. Ich wische sie beiseite.

Der Mann sagt uns, wir bekommen jeder 150,- DM. Im Fall dass wir in den Ort gehen wollen, gleich 30,- DM und den Rest, wenn wir hier weggehen. Toll, jetzt haben wir sogar Westgeld in der Hand. Richtiges Westgeld. In der DDR haben wir 1 zu 8 getauscht. Ich komme mir vor, als wäre ich im Himmel. Die Türen sind offen. Man kann sich bewegen, wo und wie man will. Wir können Reden, wir können Essen, wir können sogar Alkohol trinken. Der würde mich jetzt bestimmt umhauen.

Ich suche ein Telefon. Die Nummer meines Vaters habe ich ja jetzt. Ich wähle sie. Nichts. Ich wähle noch mal. Nichts.

Kein Anschluss unter dieser Nummer. Was soll das? Ich versuche es noch mal. Nichts.

Ich suche mir ein anderes Telefon. Wieder versuche ich die Nummer anzurufen. Nichts...

Der Mann an der Wache ruft die Auskunft an. Die sagen der Anschluss geht nicht. Ja und jetzt? Wie soll ich jetzt meinen Vater erreichen? Der muss doch wissen, dass ich hier bin. Der muss mich doch holen. Versuche ich es eben später noch mal.

Ich gesell mich wieder zu den Frauen, die mit mir in einem Zimmer sind. Sie wollen in die Stadt gehen. Ich weiß nicht ob ich mit will. Ich gehe mit. Einfach mal schauen. Einfach mal laufen. Wir sind eine Gruppe von fünf oder sechs Leuten. Gemeinsam gehen wir in die Stadt. Beim Pförtner müssen wir uns eintragen. Also doch Kontrollen? Also doch nicht frei? Doch...

Die wollen nur wissen wer raus ist, im Fall das irgendetwas passiert. Schließlich haben wir ja keinen Ausweis.

Nachdem wir die Zettel ausgefüllt haben, gehen wir los. An den Schaufenstern bleiben wir stehen. Wir sehen uns jedes einzelne an. Hier gibt es so vieles. Und immer entdecken wir etwas Neues. An den Gaststätten hängen Preislisten aus. Keiner von uns hat eine Ahnung was was wert ist. So gehen wir in die Kneipe, wo die Preise am billigsten erscheinen. Es ist ein Pup. Billardtisch, genauso wie Spielautomaten sind darin. Solche Automaten habe ich nur im Fernsehen gesehen. Wir setzen uns und bestellen jeder ein Bier. Das trinken wir langsam. Durch unsere Dialekte hört man, dass wir aus dem Osten kommen. Einer vom Nachbartisch fragt uns das auch. Wir kommen ins Gespräch. Der erzählt uns, dass in der letzten Woche auch welche da waren. Eine Frau, die hatte eine ziemlich große Klappe und hatte auch so einen Dialekt wie ich. Ich lass mir die Frau beschreiben. Kerstin! Die ist wirklich hier drüben.

Nach einer guten Stunde in dem Lokal gehen wir wieder zurück ins Lager. Wir sind müde. Keiner von uns fühlt sich gesundheitlich gut. Kopfweh. Magenschmerzen. Durchfall. Nervlich nicht mehr belastbar. Wieder im Lager, gehen wir in die dortige Bar. Wir treffen andere, die mit uns angekommen sind. Sie sitzen auch hier. Wir bestellen uns eine Flasche Sekt und stoßen auf unsere Freiheit an. Auf eine Freiheit, die jeder einzelne schwer erkämpft hat.

Draußen wird es langsam hell. Gegen fünf Uhr morgens rufe ich noch einmal bei meinem Vater an. Nichts.

Meine Cousine hatte mir mal `ne Nummer gegeben, als sie damals zu Besuch war. Die hatte ich mir gemerkt. Versuche ich es halt da. Mehr wie nicht gehen kann es nicht. Ich wähle die Nummer. Meine Hände zittern. Ich weiß gar nicht was ich sagen soll. Meine Verwandtschaft habe ich vor fünf Jahren das letzte Mal gesehen. Kann sogar noch länger her sein. Am anderen Telefon meldet sich ein Mann. Es ist mein Onkel. Ich sage wer ich bin und dass ich in Gießen im Lager bin und mein Vater nicht erreichen kann. Ob er ihm Bescheid gibt. Mein Vater und mein Onkel haben einen Disput. Sie reden wohl nicht miteinander. So habe ich das jedenfalls verstanden. Er gibt dennoch Bescheid. Ich gebe ihm die Nummer vom Lager und lege den Hörer wieder auf. Jetzt kann ich nur noch warten. Wenn mein Onkel zu ihm fährt, wird er ja bald anrufen.

Nun mache ich mich auf den Weg in mein Zimmer. Das Bett ruft. Über achtzig Leute sind wir gewesen, als wir hier ankamen. Jeder von uns muss untersucht werden. Da kommen wir nicht drum herum. Und wer zuerst da ist, hat Glück und muss nicht den ganzen Tag warten. Also nicht ins Bett, sondern in die Warteschlange, die sich jetzt schon beim Arzt bildet. Das wird dauern. Die meisten sitzen auf der Erde. Soviel Stühle gibt es ja auch nicht. Unsere Papiere haben wir dabei. Beim warten haben wir Zeit. Also können wir sie auch hier ausfüllen. Das ist gar nicht so einfach. Die wollen alles Mögliche wissen. Von Familie, vom Werdegang, von der Haft. Das halbe Leben. Mein Kopf dröhnt immer noch. Es ist schon halb acht. Endlich komme ich beim Arzt dran. Er untersucht mich und fragt nach meinem Befinden, nach dauerhaften Schmerzen und was ich für Erkrankungen in der Haft hatte. Beim Abschied erhalte ich noch mal zwei Tabletten für meinen Kopf.

Wieder draußen, nehme ich meine Papiere, die eine andere gehalten hatte und gehe in den Speisesaal. Diejenigen die fertig sind warten da bereits. Wir frühstücken zusammen. Hier gibt es frische Brötchen. Die riechen nach Brötchen. Die sind frisch und knackig. Und frischer Kaffee, richtiger Kaffee. Wer das nicht durchgemacht hat, weiß nicht, wie das ist, wenn man nach so langer Zeit, solche eigentlich einfachen Dinge in der Hand hält. Dinge, die für die meisten alltäglich sind. Für uns hier nicht.

Ein frisches Brötchen mit Butter und Marmelade. Das ist so ein Genuss, da hinein zu beißen, den Kaffee zu trinken, und das alles im Übermaß zu haben. Wir können davon essen und trinken soviel wir wollen.

Wir unterhalten uns. Die Stimmung ist gelöst. So langsam begreift auch der Letzte, dass wir im Westen, in Freiheit sind.

Ich renne aufs Klo. Der Kaffee kommt wieder raus. Mein Magen verträgt halt nichts mehr.

Mein Vater hat noch nicht angerufen. Hat mein Onkel ihm Bescheid gegeben? Ich glaube das schon, aber warum meldet er sich nicht? Ich verstehe das nicht. Der müsste sich doch freuen, dass ich endlich raus bin. Hier im Westen. Frei. Ich verstehe es nicht.

Wir unterhalten uns, füllen nebenbei unsere Papiere aus. Die werden mit jedem Blatt schwieriger. Wir sprechen mit den Leuten von dort. Da ist auch ein Anwalt der gerade mit uns redet. Er spricht von Stiftungen, die uns helfen. Behörden, an die wir uns wenden müssen. Die Anmeldung haben wir ja jetzt, aber alles andere muss noch.

Es geht auf 11 Uhr zu. Mein Vater hat sich immer noch nicht gemeldet. Langsam werde ich sauer. Dann gehe ich eben woanders hin. Irgendwohin. Jemand tippt mich an die Schulter. Ich drehe mich um. Mein Vater steht vor mir.

Ich lasse einen Schrei los und falle ihm um den Hals. Er begrüßt mich. Wir halten uns lange im Arm. Die anderen schauen schon. Dann sagt er, ich soll meine Sachen holen, wir wollen fahren. Klar.

Der Anwalt von dort kommt und sagt, ich muss erst meine Unterlagen abgeben. Auch noch in ein diverses Zimmer. Wieso?

Na sie wollen wissen, wer ich bin und ob ich ein eingeschleuster Spitzel bin. Der Verfassungsschutz befragt mich. Da bin ich ein bisschen sauer drauf. Hab ich nicht erst die Stasi hinter mir? Geht das jetzt hier weiter?

Sie erklären mir, dass es sein muss. Sie sind ja eigentlich auch recht freundlich. Mein Vater darf dabei bleiben. Erst als sie die Antworten hatten, die sie wollten, darf ich gehen.

Ich hole meine Sachen und verabschiede mich von dem einen oder anderen. Mein Vater sein BMW steht vor dem Eingang. Meine Sachen werden verstaut, ich steige ein. Ist schon komisch in so einem Auto zu sitzen. Dahin zu fahren, wo man vielleicht leben wird. Ich weiß nicht was kommt. Ich weiß nur, ich habe es endlich geschafft.

Nach dem Reden meines Vaters, geht die Fahrt etwa drei Stunden. Er lebt in Rheinland Pfalz, zwischen Karlsruhe und Ludwigshafen. Unterwegs halten wir bei einem McDonalds. So komme ich gleich zu meinem ersten Hamburger. Er beißt genussvoll hinein und hakt sich den Kiefer aus. Der Hamburger fliegt gleich woanders hin. Er braucht seine Hand, die er nicht zum Autofahren benutzt, um seinen Kiefer wieder einzurenken. Wenn er nicht so schmerzverzerrt schauen würde, könnte man glatt darüber lachen.

Wir essen unterwegs beim fahren. Schließlich warten ja daheim ein paar Leute. Er sagt, eine Tante hatte vorgestern und eine hat heute Geburtstag. Da sind dann viele andere Verwandte. Na das kann ja heiter werden. Ich will doch eigentlich nur meine Ruhe. Schlafen, baden, ausspannen. Darauf werde ich wohl noch warten müssen.

Die Fahrt dauert. Wir reden nicht viel. Mein Vater konzentriert sich auf den Verkehr. Ich hänge meinen Gedanken nach und schau aus dem Fenster. Was wird mir das Leben bringen? Werde ich das Schlimme von den letzten Monaten vergessen können? Werde ich unbeschwert leben? Werde ich mich von all diesen Qualen erholen und sie vergessen? Ich weiß es nicht...

Mein Kopf hämmert immer noch, wie schon all die vielen Monate. Mein Vater hat Schmerztabletten dabei. Er gibt mir zwei. Sie helfen nicht viel. So nebenbei erzählt er mir, dass meine Mittäterin jetzt auch bei ihm wohnt. Er hat sie aus dem Lager geholt, weil sie angerufen hat. Schließlich sind wir ja zusammen abgehauen. Und da wollte er ihr helfen. Er hofft es ist in meinem Interesse.

Ich muss mächtig schlucken. Nachdem ich mich etwas gefangen habe, erzähle ich ihm, dass diese Frau bei der Stasi gegen mich ausgesagt hat. Ihretwegen wurde ich zu einem Jahr mehr verurteilt. Sie ist schuld, dass die soviel wussten. Natürlich war sie nicht alleine daran schuld, doch das wusste ich zu der Zeit ja nicht. Und jetzt soll ich so tun, als sei nichts gewesen? Das geht nicht.

Er sagt, er hat versprochen, sich um sie zu kümmern. Er kann sie jetzt nicht vor die Tür setzen.

Dann werde ich gehen. Das will mein Vater nicht. Ich soll doch erst mal mit ihr reden. Vielleicht konnte sie nicht anders. Auch ein Satz, den ich erst heute anders richtig einordnen kann. Der drehe ich den Hals um, wenn ich aussteige. Wenn man zu feige ist, soll man andere nicht dafür bluten lassen. Man hat immer die Wahl. Man muss nur selbst entscheiden, was man wählt.

Wir sitzen immer noch im Auto. Mein Vater sagt, wir fahren nicht gleich nach Hause. Erst zur Tante, die ich nicht kenne. Sie hat ja heute Geburtstag und wir wollen dort einen Kaffee trinken und dann weiter fahren.

Sie werden mich alle ausfragen. Ich will das jetzt nicht. Meine Nerven wollen nicht mehr. Mein Kopf wird nicht besser. Nach einigem Hin und Her stimme ich dennoch zu. So kann ich die Meisten auf einmal kennen lernen. Es würden sich doch alle freuen.

Sicher würden sich alle freuen. Die sind ja auch neugierig.

Dort angekommen steige ich nicht gleich aus. Mein Vater macht so, als sei ich nicht mitgekommen. Sie sind irritiert. Dann beginnt er zu lachen. Erst jetzt steige ich auch aus. Jeder begrüßt mich, umarmt mich, gibt mir Küsschen hier und Küsschen da. Ich will das alles gar nicht. Wie eine Puppe lass ich mich hin und her reichen. Ich bin so fertig. Einzig Margot, die Cousine, die mal mit ihrem Mann und Kind in der DDR zu Besuch war, rettet mich und sieht zu, dass ich mich setzen kann und die Leute ein paar Meter Abstand halten. Ich bin ihr echt dankbar dafür.

Jeder fragt mich etwas. Immer die gleichen Fragen. Wie es mir geht? Ob ich froh bin jetzt hier zu sein? Wie es denn war? Was die mit mir gemacht haben? Und so weiter. Man, ich will das vergessen. Ich will nicht darüber reden. Ich kann das auch nicht. Meine Nerven sind am Ende. Ich will davon nichts mehr hören. Ich will nur Ruhe, Ruhe, absolute Ruhe. Ist das so schwer zu verstehen? Ich will doch nur zur Ruhe kommen und abschalten. Vergessen, aber mit diesen Fragen kann ich nicht vergessen. Ich weiß, dass sie es nicht böse meinen. Sie wollen Anteil nehmen, mir helfen, aber so helfen sie mir nicht.

Sie bieten mir Kaffee und auch Torte an. Schließlich ist das ja ein Geburtstag. Den Kaffee trinke ich. Die Torte sieht lecker aus. Aber, wenn ich die esse, muss ich mich übergeben. Also, lass ich es. Wieder wird es nicht verstanden. Ich soll doch essen. Ich hatte doch so lange nichts. Richtig. Aber ich vertrage es auch nicht.

Nach etwa einer Stunde fahren wir endlich.

Jetzt fahre ich nach Hause. Dahin, wo ich zumindest die nächste Zeit leben werde. Solange bis ich mich neu orientiert habe. Bis ich zur Ruhe gekommen und bis ich wieder ich selbst bin.

Mein Vater erzählt mir, dass er mit einer Frau zusammen lebt. Das war seine Jugendliebe. Sie haben sich wieder getroffen, als er hierher kam. Jetzt sind sie wieder zusammen. Aber er hat ihr auch gesagt, wenn ich komme und mich nicht mit ihr verstehe, muss sie gehen. In der Haut der Frau möchte ich nicht stecken. Wo soll sie denn hin, wenn wir uns wirklich nicht vertragen sollten.

Kerstin wird auch da sein. Das alles spielt sich in einer Zweizimmerwohnung ab. Wenig Platz bin ich ja gewohnt. Also wird es schon irgendwie gehen. Ich freue mich nur auf eine Badewanne. Da lege ich mich ne ganze Stunde rein. Auch damit kann er nicht dienen. Er hat nur Dusche. Toll...

Kerstin sehe ich bereits auf der Straße. Sie läuft uns entgegen. Die kennt mein Gesicht. Sie hat Angst. Schließlich weiß sie ja nicht, wie ich reagieren werde. Wir steigen aus. Hier sind auch Verwandte. Oh man, ich dachte, ich kann jetzt mal alleine sein. Noch eine Tante. Die kann aber mit den anderen nicht. Deshalb ist sie hier. Ihr Mann und ihre Kinder sind auch dabei. Die Kinder, meine Cousinen und mein Cousin, sind etwa in meinem Alter. Höflich begrüße ich alle. Auch Katrin, die Freundin meines Vaters. Sie ist nett. Mit der komme ich auch klar. Sie merkt es und ist sichtlich erleichtert darüber.

Weit weg von allen anderen suche ich mir einen Platz. Kerstin begrüße ich nicht. Sie geht mir aus dem Weg. Ich warte nur, bis alle weg sind, dann kriegt sie eine geballert. Sie macht Witze und tut einen auf lustig. Mir ist nicht nach lachen. Anscheinend ist ihr Gefängnisaufenthalt nicht so schlimm gewesen. Sie war ja auch nicht im Zuchthaus, nur im Strafvollzug. Da soll es ja um einiges einfacher sein. Falsch muss man sein, verlogen und link. Dann hat man es leichter.

Ich bin nicht so. Ich sage was ich denke und stehe zu dem, was ich mache. Daher kriege ich es ja auch immer Knüppeldick.

Die Verwandten merken, dass ich meine Ruhe will. Sie verabschieden sich recht bald. Doch sie laden mich ein. Wenn ich es möchte, soll ich kommen. Dann können wir auch über alles reden. Klingt doch schon mal besser, als sich Antworten raus zu quälen.

Ich habe immer noch Kopfweh. Das wird immer schlimmer statt besser. Tabletten helfen nicht. Mir ist schlecht. Meine Augen spielen auch nicht mit. Ich kann kaum was sehen. Mein Vater will mit mir zu seinem Hausarzt fahren. Das will ich nicht. Nur schlafen, nur nicht reden müssen, nur nicht denken müssen. Einfach mal allein sein können. Das will ich.

Sie sind alle weg. Katrin macht Abendessen. Kerstin kommt und redet mit mir, als sei nie etwas gewesen. Mein Vater sieht mich nur an. Er will keinen Streit. Auch das habe ich zu der Zeit nicht verstanden, heute schon. Trotzdem maule ich sie an. Eine Ohrfeige verkneife ich mir. Wir reden miteinander. Was man halt so reden nennt. Wir streiten und schreien. Irgendwann geht auch das nicht mehr. Ich will einfach nur noch Ruhe. Kerstin und ich teilen uns erst mal ein Zimmer und Katrin und mein Vater schlafen im Wohnzimmer. Eine Weile wird das schon gehen. Dann werden wir weiter sehen.

Nach Abendessen ist mir nicht. Langsam legt sich meine innere Unruhe. Ich werde ruhiger. Meine Gedanken schwirren nicht mehr ganz so wild in meinem Kopf herum. Kerstin versteht das nicht. Bei ihr ist alles heile Welt. Bei mir ist nichts heile Welt. Mein Vater nimmt mich in den Arm, versucht mich auf andere Gedanken zu bringen. Geht nicht. Ich bin immer noch im Gefängnis. Meine Gedanken, meine Gestik, alles ist noch gefangen. Gefangen in mir drinnen. Ich kann es nicht einfach abschütteln. Ich bin ein Mensch. Und ich möchte irgendwann wieder als Mensch reagieren, leben können.

Nur momentan sieht es nicht danach aus.

Das war also der erste Tag in meinem neuen, freien Zuhause. Ich habe überhaupt keine Gedanken daran, wie es weiter gehen soll. Ich dachte mein Vater hat dafür gesorgt, dass ich ein Zuhause haben werde. Sieht nicht so aus, aber vielleicht ging es nicht.

In dieser Nacht liege ich noch lange wach. Irgendwann schlafe ich doch ein. Ich habe furchtbare Träume. Sie quälen mich. In denen geht es gerade so weiter wie mein Leben war. Ich werde verfolgt und gejagt. Ich bin verzweifelt und ich habe Angst. Angst verfolgt mich anscheinend weiter in meinem Leben.

Ziemlich verwirrt, wache ich wieder auf. Kerstin liegt im Bett neben meinem. Wir teilen uns ja ein Zimmer. Sie schläft. Gerade so, als wäre nie etwas gewesen. Ich kann das nicht. Zu viele Gedanken sind da. Schmerzen im Kopf und im Magen. Wie geht es weiter? Was wird aus meinem Leben? War der Preis für meine Freiheit, und in den Westen zu kommen, nicht zu hoch? Werde ich wieder Gesund? Werde ich all das Erlebte wieder vergessen können? Ich weiß es nicht...

Vielleicht habe ich ja auch nur falsche Vorstellungen.