ELISABETH HERING

IRRGARTEN DES LEBENS


Kulturgeschichtlicher Roman

Teil 1

Eintausenddreihundertfünfundvierzig Jahre nach unseres lieben Heilands Geburt, und zwar genau am vierundzwanzigsten Dezember, wurden in der schönen Stadt Neapel zwei Kinder geboren: das eine in einem prunkvoll ausgestatteten Schlafraum des Castel Nuovo, das andere in einem feuchten, unterirdischen Kerkerloch des Castel dell’Ovo, das eine in einem mit weichen Daunenkissen ausgestatteten Himmelbett, das andere auf einem Haufen modrigen Strohs. Das eine von einer Königin, das andere von einer zum Tode verurteilten Mörderin.

Die Königin war Johanna die Erste von Neapel. Die Mörderin deren Hofdame Sancia, Gräfin von Marzano.

Dass die Königin von den Mordplänen gegen ihren Gatten gewusst habe, kann weder ich noch sonst jemand mit Bestimmtheit sagen. Kein Richtet hat sie jemals überführt, und sie selbst hat es stets geleugnet. Sancia aber war schuldig. Sie hat es gestanden. Nicht etwa auf der Folter, sondern aus freien Stücken. Und mehr als das: Mit einer seltsamen, für eine Frau unerhörten Todesverachtung rief sie ihren Mitangeklagten zu: „Leugnet nicht! Wir müssen doch alle sterben! Ja, es stimmt: Ich habe von dem Plan gewusst, den König Endre zu erdrosseln, ehe es dazu kam, dass er gekrönt wurde. Ich habe die Zwischenträgerin gemacht, habe den Verschworenen den Weg beschrieben, auf dem sie unbemerkt vor das königliche Schlafzimmer gelangen konnten. Und ich war es auch, die die Herzogin von Durazzo vergiftet hat. Nun tötet mich! Tötet mich gleich!“

Ich war Zeuge dieser Vernehmung. Mein Unstern hatte mich aus meiner Karpatenheimat, dem lieben Zipserland, in diese Stadt am Tyrrhenischen Meer und in die Leibgarde des ungarischen Königssohns geführt, den wir beschützen sollten und dessen Tod wir nicht haben verhindern können. Der Herzog Karl von Durazzo aber, der vorgab, seinen Tod rächen zu wollen, hatte uns dazu ausersehen, die Schuldigen zu bewachen. Niemals im Leben ist mir ein Dienst härter geworden als dieser.

Wie gern hätte ich mich ihm entzogen! Aber konnte ich das, ohne mich selbst verdächtig zu machen, und war nicht jeder Verdächtige schon verloren? Miklós und Tamás zum Beispiel: Hatte nicht der Oberrichter de Beaux, den Johanna mit der Untersuchung des Mordfalles betraut hatte, diese beiden Kammerherren Endres in öffentlicher Sitzung befragen wollen, und hatte nicht der Herzog die Sache an sich gerissen, die Unglücklichen in sein Kastell bringen und dort foltern lassen, bis sie gestanden, was er von ihnen hören wollte? Wer war zugegen gewesen, als sie ihre Schuld zugaben und die Namen der Mitverschworenen nannten, die man dann auf Grund dieser Aussage verhaftete? Und was für eine Rolle spielte der Herzog selbst in dieser dunklen Sache?

Er, und nicht der Oberrichter, führte auch diese Untersuchung. Ich erwartete, dass er die Frau, die ein so unerhörtes Geständnis abgelegt hatte, nun weiter ins Verhör nehmen werde, um auch die Namen derer zu erfahren, die ihre Verbrechen veranlasst hatten. Doch das geschah nicht.

„Du Schändliche!“ herrschte der Herzog sie an, „du wirst deinem Tod nicht entrinnen! Aber mir soll kein Mensch nachsagen können, dass ich das unschuldige Leben des Ungeborenen mit dem schuldigen seiner Mutter dem Henker überliefere. Dein Scheiterhaufen kann warten.“ Sie wollte noch etwas sagen, aber: „Schweig!“ schrie er, „was wir gehört haben, reicht zu für hundert Tode.“ Und als sie trotzdem den Mund öffnete: „Stopft ihr das Maul! Und auch den andern! Sie sind überführt – was brauchen wir ihr Geschrei zu hören.“

Die Knebel waren gleich zur Hand.

Was war das für ein Gerichtsverfahren? Sonst werden Gefangene gefoltert, um ihnen Geständnisse zu erpressen – hier fügte man ihnen die grausamsten Qualen zu und hinderte sie gleichzeitig am Sprechen. Was befürchtete man von ihrer Aussage? Vielleicht gar, dass der Herzog selbst belastet werden könnte, wenn sie den Mund auftäten?

Sancia wurde ihres Zustandes wegen von der Folter verschont. Doch zwang man sie, zuzusehen, wie ihre Mitangeklagten gemartert wurden, zuzusehen, wie ihre Großmutter, die alte Filippa Catanese, unter den Qualen starb und die andern, mehr tot als lebendig, zum Richtplatz geschleift und in die Flammen des Scheiterhaufens gestoßen wurden.

„Nun weißt du“, sagte der Herzog zu der Mörderin seiner Mutter, was dir bevorsteht, wenn du entbunden hast!“ Und zu uns: „Führt sie ins Castell dell’Ovo! Und bewacht sie gut! Ihr haftet mir dafür, dass sie nicht entkommt. Aber auch dafür, dass sie am Leben bleibt! Lasst sie nicht verschmachten. Sorgt für eine erfahrene Hebamme. Und wenn das Kind geboren ist, verständigt mich sofort.“

Wir brachten die Unglückliche in ein unterirdisches Verlies der alten Normannenveste, die, auf einem küstennahen Inselfelsen gelegen, nur über eine Brücke zugänglich ist, und bewachten sie Tag und Nacht.

Die Königin freilich konnte vor kein Gericht gestellt werden, es sei denn, vor das des Papstes. Und kein Richter befragte sie, ob sie mit Schuld trage an der Ermordung ihres Gatten. Doch gab es in Neapel nicht viele, die daran zweifelten. Zu unbegreiflich war ihr Verhalten in der Mordnacht gewesen.

Das Königspaar hatte die heiße Sommerzeit in einem Jagdschloss zugebracht, das neben Aversa in unmittelbarer Nähe wildreicher Forste gelegen war, und Endre, ein leidenschaftlicher Jäger, hatte an jenem Tage ein großes Treiben veranstaltet und sich dann am Abend früher als gewöhnlich mit seiner jungen Frau ins Schlafgemach zurückgezogen. Bald darauf wurde er unter dem Vorwand geweckt, ein Bote wäre mit einer wichtigen Nachricht aus Neapel eingetroffen und müsste den König unbedingt sprechen.

Und als sich dann die Mordbuben auf den Ahnungslosen stürzten, der unbewaffnet und nur halb bekleidet aus dem Schlafzimmer trat, regte und rührte sich die Königin nicht, kam nicht heraus, schrie nicht um Hilfe. Sie wollte geschlafen und nichts gehört haben.

Nichts gehört von dem Getümmel, das entstand, wenn ein kräftiger junger Mann sich gegen seine Mörder wehrt? Die ihn ja nicht mit einem raschen Dolchstich getötet hatten, da es hieß, er wäre durch einen Talisman seiner Mutter gegen Gift und Wunden gefeit, sondern ihn auf die Galerie hinaus zerrten, ihm eine Schlinge um den Hals warfen und ihn über die Brüstung hinunterstürzten, dass er sich erhängte.

Nichts gehört? Wo doch seine alte Amme, die im Untergeschoss schlief, aufgeschreckt wurde vom Aufprall seines schweren Körpers, den die Mörder vom Würgeseil geschnitten und hinunter hatten fallen lassen, um ihn im Garten zu verscharren.

Die Alte stürzte zum Fenster, und als sie sah, was geschehen war, erhob sie ein Geschrei, so dass die Menschen von allen Seiten herbeiliefen: das königliche Gefolge, das italienische Gesinde und auch wir, die man an diesem Abend ungewohnt früh entlassen hatte. Doch es war zu spät: Der König tot und seine Mörder entkommen.

Und bei all dem Tumult konnte Johanna schlafen? Schlafen? Oder zog sie sich das Kissen über den Kopf, um nichts hören zu müssen? Wusste es nicht längst schon alle Welt, wie schlecht sie sich mit ihrem Manne vertrug? Munkelte man nicht sogar davon, dass er Grund zur Eifersucht habe? War der Verdacht wirklich so unbegründet, dass sie es gewesen sei, die Endres Krönung zum König von Neapel hintertrieben und veranlasst hatte, dass der päpstliche Legat bei der Krönungsfeier ihr allein die Krone auf die blonden Locken drückte, während ihr Mann daneben stand – ein Zeuge ihrer Erhöhung und seiner Erniedrigung?

Und nun hatte das Gold, das die Mutter und der Bruder des ungarischen Königssohnes so reichlich in die päpstliche Kurie nach Avignon sandten, Clemens den Sechsten endlich doch bewogen, Endres Recht auf die Krone Neapels anzuerkennen. War er doch der eigentliche Erbe des Königreichs, da sein Großvater Karl Martell älter war als Robert, der Großvater Johannas. Niemals hatte Karl Martell auf den neapolitanischen Thron verzichtet – auch nicht, nachdem der Papst ihm das Recht auf Ungarn zugesprochen und ihn zum König dieses Reiches gekrönt hatte. Und nur als er so unvermutet starb, hatte Robert den Papst veranlasst, Neapel ihm zu Lehen zu geben und die Nachkommen Karl Martells auf Ungarn zu beschränken.

Vielleicht ist es wahr, was man sich zuflüstert, dass Robert selbst den Tod dieses seines Bruders veranlasst habe, indem er einen Priester bestach, ihm beim Abendmahl eine vergiftete Hostie zu reichen. Wahr, dass er den frühen Tod seines geliebten Sohnes Karl als Strafe Gottes für dieses Verbrechen empfand und dafür die beiden Töchter Karls, Johanna und Maria, den ungarischen Prinzen Endre und István anverlobte. Dann aber hatte Gott diese Sühne nicht angenommen. Maria heiratete den Herzog Karl von Durazzo, von dem sie sich hatte verführen lassen, um dem Ehebündnis mit István zu entgehen, und Johanna, die bereits im Alter von sieben Jahren ihrem nur um wenige Monate jüngeren Vetter Endre angetraut worden war, hörte nicht dessen Hilfeschreie, als die Mörder ihn anfielen, tat nichts, um ihn zu retten, sondern schlief – schlief wie eine Tote.

Und war nun mit achtzehn Jahren Witwe. Und erwartete ihr erstes Kind.

Die beiden Frauen kamen also gleichzeitig nieder, erlitten zu gleicher Zeit die Schmerzen, die Gott nach Evas Sündenfall allen Weibern auferlegt hat, ob arm oder reich, hochgestellt oder niedrig, in Palästen oder in Kerkern. Denn der Herr macht keine Unterschiede, und die eine einzige Ausnahme, die es jemals gegeben hat, geschah nicht gegen seine Gerechtigkeit: Die Jungfrau, die eintausenddreihundertfünfundvierzig Jahre früher im Stall von Bethlehem ihr Kind schmerzlos zur Welt brachte, stand zu Recht außerhalb jenes Fluches.

Doch was immer auch Johanna in ihrer schweren Stunde empfunden haben mag, an Schuldbewusstsein, an Angstgefühlen (denn auch sie war bedroht, von Feinden umringt, zu deren ärgsten und gefährlichsten ihre nächsten Verwandten zählten) – wie geringfügig waren all ihre Nöte und Kümmernisse gegenüber dem Grauen, das Sancia gepackt haben muss, als sie den ersten Schrei ihres Kindes vernahm.

Auch ich bangte dieser Stunde entgegen, hoffte, es werde mir erspart bleiben, gerade dann zur Wache eingeteilt zu werden, wenn sich das Schicksal der Unseligen erfüllte. Doch ich hoffte vergebens. Als ich wieder einmal Wachdienst hatte, hörte ich sie stöhnen, fragte: „Ist es soweit?“ Da schrie sie auf wie ein todwundes Tier.

Ich rief in den Hof hinaus nach der alten Camilla, die der Gefangenen Hebammendienste zu leisten hatte, sie kam, ich ließ sie in die Zelle ein, stellte eine brennende Kerze in den dunklen Raum und schloss wieder zu. Mich hielt es aber nicht auf der Steinbank, die für uns Wärter dort in der dicken Festungsmauer ausgespart war; von innerer Unruhe getrieben ging ich auf und ab, und die Bitterkeit des Lebens würgte mir in der Kehle.

Wie groß war unter uns schon seit Jahren der Hass, die Wut, die Empörung über die Behandlung, die unser junger Königssohn in diesem Lande hatte erfahren müssen, und über die Abneigung, die man auch uns Ungarn bei jeder Gelegenheit spüren ließ. „Fremdlinge seid ihr! Habt keine Lebensart! Kennt nur barbarische Sitten!“

Barbarische Sitten? Das aber war neapolitanische Art, Feste zu feiern, wo man auf das Wohl dessen trank, dem man heimlich die Pest an den Hals wünschte. Hatte ich nicht selbst, als ich unserm König bei solchen Festen aufwartete, gesehen, wie Sancia, gehüllt in seidene Gewänder, geschmückt mit Edelsteinketten und goldenen Ringen, der alten Herzogin von Durazzo mit dem bezauberndsten Lächeln zutrank, wohl um sich bei ihr einzuschmeicheln und nachher ein umso leichteres Spiel zu haben, wenn es um die Ausführung des Mordplanes ging? Und hatte ich nicht auch gesehen, wie sie sich in feierlichem Tanz vor unserm jungen König verneigte, der ihr die Ehre gab, ihre Verneigung zu erwidern?

O du herrliches Neapel! Eingebettet bist du in Olivenhaine und Rebenhügel wie eine Perle in ihre Muschel, umspült wirst du von den Wellen eines Meeres, aus dessen Schaum sich die Heidengöttin Aphrodite erhob, wie man mir erzählte (was ich freilich nicht glauben kann), und aus dem mächtigen Bergkegel des Vesuvs, der dich überragt, lodert der Feuerschein gleich einer Fackel, die nachts deine Schönheit beleuchtet. Wie schmücktest du deine Kirchen mit den prächtigsten Bildern der lieben Heiligen, wie bargst du die Gebeine deiner Märtyrer in kostbare Schreine, an denen die Pilger ihre inbrünstigen Gebete zum Himmel schicken. Aber wer schützt den frömmsten deiner Söhne davor, beim Abendmahl vergiftet zu werden mit einer Hostie, die ihm ein von seinem Bruder bestochener Priester reicht?

Bestochen? Und wer hatte Sancia bestochen, die ihre Verbrechen doch kaum aus eigenem Antrieb beging? Doch wem nützten sie? Vielleicht der alten Herzogin von Tarent? Wollte sie einen ihrer Söhne als Herrscher von Neapel sehen und mit Johanna verkuppeln? Und stand ihr dabei die alte Herzogin von Durazzo im Weg, die das gleiche mit einem ihrer Söhne vorhatte?

Ja, versippt und verschwägert und dabei verfeindet bis auf den Tod waren sie alle, die gesamte feine Gesellschaft, die über uns Ungarn spottete und uns verachtete. Nicht umsonst sagt man: Neapel ist ein Paradies – aber es wird von Teufeln bewohnt!

Solche und ähnliche Gedanken gingen mir durch den Kopf, während ich unruhig im feuchten Gang des Gefängnisses auf und ab schritt, das flackernde Licht meines Öllämpchens die Ecken ausleuchten ließ und auf jedes Geräusch horchte. Doch nichts Verdächtiges war zu hören. Nur das Stöhnen und Wimmern der Gebärenden schnitt mir ins Ohr. Wie lange dauerte das schon? Und wie lange würde es noch dauern? Und was folgte dann?

Mitleid? Darf man auch Mitleid haben mit einer Mörderin?

Und warum solltest gerade du, Lorenz, Sohn des Steinmetzen Henning aus Leutschau kein Mitleid mit ihr haben dürfen? Steckte nicht auch dein Messer zwischen den Rippen eines Menschen?

Als ich diese Frage in meinem Inneren vernahm, war mir, als hätte sich mir eine schwere Hand auf die Schulter gelegt, so dass ich zusammenfuhr. Doch nein, niemand stand hinter mir als mein eigener Schatten, gegen den ich mich verteidigte.

„Ja – aber es war ein Raufhandel, in dem ich mich meiner Haut wehren musste! Wäre mein Messer dem des anderen nicht zuvorgekommen, läge ich nun statt seiner acht Schuh tief unter der Erde.“

„Und dennoch wusstest du, dass es ein Mord war. Sonst hättest du dich nicht wochenlang in den Wäldern versteckt, sondern dich gestellt und ehrlich bekannt.“

„Ich habe mich gestellt! Nicht einem der irdischen Richter, auf dessen Gerechtigkeit kein Verlass ist, wohl aber dem Erbarmen Gottes. Nach Rom bin ich gepilgert – barfuß und im Büßergewand, gebetet habe ich an dem Grabe des heiligen Apostels und Märtyrers Petrus, bin vor seinem Altar auf den Knien gelegen, habe von Almosen gelebt, bis …“

„Bis die Königin von Ungarn nach Rom kam und du froh warst, dass sie dich in ihren Dienst nahm.“

„Froh? Gewiss freute ich mich, als ich erfuhr, dass Königin Erzsébet in Rom erwartet wurde.“

In dem Heim, das König István der Heilige in Rom zur Unterkunft der ungarischen Pilger gestiftet hat und in dem auch ich ein Unterkommen fand, brach ein unbeschreiblicher Jubel aus, als uns diese Nachricht erreichte, und wir drängten uns in die Reihen derer, die unsere Königin bewillkommneten und hochleben ließen, als sie sechsspännig in die Ewige Stadt einfuhr.

Ein Empfang wurde ihr bereitet, den keiner, der dabei gewesen ist, jemals vergessen wird. Selbst die Colonna und Orsini vergaßen ihre Feindschaft und empfingen die hohe Frau an der Tiberbrücke. An der Schwelle des Petersdomes aber wurde sie erwartet von den Kardinälen, die in ihren scharlachroten Gewändern einen feierlichen Anblick boten. Und längs des ganzen Weges drängte sich die Menge Kopf an Kopf und lenkte das Auge ab von dem trostlosen Anblick, den diese Stadt bietet, seit der Heilige Vater seinen Sitz von Rom nach Avignon verlegt hat: die Paläste verfallen, weite Plätze von Gras überwuchert und von Schafherden statt von Menschen bevölkert – instand gehalten nur die Adelssitze, diese zu Festungen ausgebauten Wohntürme, die mit grimmigem Hochmut auf die Verkommenheit und das Elend ihrer Umgebung herabsehen.

All dies aber bedrückte an jenem Tage niemanden. Bettler, Pilger, Straßenjungen, Marktweiber, Handwerker, Bürger und Edelleute in buntem Gemisch drängten sich heran – darunter auch ich. Sie hatten gut jubeln, streute doch die Königin mit vollen Händen ihre Münzen unter das Volk, das einen solchen Aufzug in letzter Zeit selten genug zu sehen bekommen hatte: die Damen in den Karossen, alle mit ihrem diademartigen Kopfputz, die Reiter auf glänzend aufgezäumten Pferden in ihren eng anliegenden, mit Silberhafteln geschlossenen Röcken, wie sie in meiner Heimat getragen werden.

Als ich sie sah, überfiel mich das Heimweh gleich einem Sturm und verlieh mir die Kraft, mich bis zum Portal des Petersdomes vorzudrängen, in den die Königin mit ihrem Gefolge eingetreten war. Und als sie herauskam und ganz nahe an mir vorbeiging, konnte ich mich nicht beherrschen und rief laut: „Éljen Erzsébet, a magyar királyné!“

Sie stutzte und wandte sich mir zu.

„Du bist ein Madjar?“ fragte sie.

„Zu dienen – ein Ungar, aber kein Madjar.“

„Wieso das?“

„Ein Zipser Sachse.“

Wie leuchtete ihr Gesicht da auf!

„Die Zipser“, sagte sie, „die haben sich bei Rozoony wacker geschlagen und ihrem König, meinem Gemahl, den Thron gerettet.“

„Ja, vor dreißig Jahren. Mein Vater war auch dabei.“

Ihre Blicke maßen mich von oben bis unten. Ich schämte mich meiner Lumpen, schlug die Augen nieder und bereute, mich bemerkbar gemacht zu haben. Fast wünschte ich, sie möchte vorbeigehn, ohne ein weiteres Wort an mich zu verschwenden, aber: „Pista!“ rief sie und winkte einen ihrer Diener heran. „Nimm diesen jungen Mann mit dir und kleide ihn ein. Solche Leute können wir brauchen.“

Diese Worte trafen mich wie ein Keulenschlag.

Nicht, dass ich darüber empört gewesen wäre, wie man über mich verfügte, ohne auch nur nach meiner Einwilligung zu fragen. Der Gedanke, dass ein Bettler, wie ich einer war, es nicht als den größten Glücksfall seines Lebens empfinden würde, in königlichen Dienst genommen zu werden, konnte einer so hochgestellten Frau gar nicht kommen. Aber diese plötzliche Änderung meiner Lage brachte mir blitzartig zu Bewusstsein, was ich bis dahin ängstlich vermieden hatte, mir klarzumachen: dass mir mein früheres Leben für alle Zeiten verloren war. Wohl konnte ich durch aufrichtige Buße und Reue die Vergebung Gottes erlangen – und war dieses königliche Angebot nicht vielleicht gerade ein Zeichen dafür? –, niemals aber, nie wieder, die Aufnahme in eine Bauhütte, in den Kreis jener ehrsamen Genossenschaft, die das edelste Gewerbe ausübt, das Menschenhänden auszuführen möglich ist: Gebäude zu errichten, würdig, die Gläubigen zur Anbetung Gottes zusammenzuführen. Parlierer war ich gewesen am Bau der Kirche der heiligen Anna in Großgarden. Verlobt mit Hedwig, der Tochter meines Werkmeisters, der mir Bürge sein und sich dafür einsetzen wollte, dass mir der Bau der Predigerkirche in Niederau anvertraut werde. Mit den Geheimnissen der Quadratur und Triangulatur hatte er mich vertraut gemacht; die rechten Maßverhältnisse zwischen Chor und Langhaus, zwischen Hauptschiff und Seitenschiffen waren mir bekannt, mit Zirkel und Richtscheit verstand ich umzugehen wie auch mit dem Zeichenstift. Die Hallenkirche, die ich bauen wollte, stand mir lebhaft vor Augen: Ähnlich der in Großgarden sollte sie werden, doch etwas verändert in den Maßen, die Seitenschiffe sollten nicht nur die Hälfte der lichten Chorweite haben, sondern zwei Drittel, der Chor sollte höher hinaufgezogen werden, und die Vorsprünge des Querschiffes müssten so weit hervorragen, wie die Seitenschiffe breit wären.

Schon war der Tag bestimmt, an dem das Gelände ausgemessen werden sollte, als mich mein Teufel in den Abgrund riss.

Das Würfelspiel ist den Angehörigen einer Bauhütte zu Recht verboten, wird aber dennoch immer wieder heimlich betrieben. So habe auch ich auf meiner Wanderschaft oft den Lederbecher geschüttelt, hütete mich freilich davor, das in Großgarden oder Niederau zu tun, wo mich jedermann kannte.

Doch eines Tages führten mich meine Geschäfte weit über Land, und unterwegs kehrte ich in einer Waldschenke ein. Dort saß eine Schar fröhlicher Gesellen beisammen, fahrende Schüler in ihren Gugelmützen, Handwerksburschen, Fuhrleute oder was sonst sich an Volk auf den Landstraßen herumtreibt. Mir waren sie alle fremd.

Oder nicht? Der in den bunten Kleidern eines Spielmannes war doch der Lautenschläger Jelus Pörtzgen. Ich kannte ihn gut, hatte einige Bauarbeiten auf der Burg des Junkers von Hermshofen beaufsichtigt, in dessen Dienst er stand, und er hatte mich und meine Leute oft mit seinen frechen Späßen belustigt oder auch in Harnisch gebracht.

Nun erkannte auch er mich, trat auf mich zu und hotte mich in jene Runde. Dort ging̵’s hoch her. Man trank und sang und erzählte. Den Ton gab Jelus an, mit seiner Laute wie mit seinen Späßen. Und dann warf er die Würfel auf den Tisch. „Wer hält mit?“

Keiner antwortete.

Er sah herausfordernd in die Runde, begegnete aber nur abweisenden Mienen. Da wandte er sich an mich und sagte spöttisch: „Die haben Angst um ihre armseligen Groschen! Aber Ihr werdet doch wohl ein solcher Knauser nicht sein!“

Und mir zuckte es in allen Fingerspitzen, ich griff nach dem Würfelbecher, schüttelte ihn und: „Sechserpasch!“ rief Jelus, „seht Ihr, welches Glück Ihr habt!“

Da war es um mich geschehn.

Denn das Glück blieb mir nicht treu. Schon nach dem dritten Wurf verlor ich und verlor.

Endlich stieß mich einer der Schüler an und flüsterte: „Merkt Ihr denn nicht, dass Ihr betrogen werdet?“

So leise das gesagt war, der Lautenschläger hatte es dennoch verstanden und lachte höhnisch.

„Freilich wird er betrogen – und zwar von meinem Junker, der seine Braut verführt hat!“

„Das lügst du, Bube! Aber die Würfel will ich sehen, die du in deinem Ärmel versteckt hast!“ Und ich griff nach ihnen. Doch er schleuderte sie mit einem Ruck von sich und drang mit dem Messer auf mich ein.

Es half ihm nichts. Seine Hände, gewohnt, die Saiten zu rühren, verfehlten ihr Ziel, die meinen, geübt, mit dem Meißel dem härtesten Stein beizukommen, trafen das ihre nur zu gut. Und dann stürzte ich hinaus in die Nacht. Darum also – darum musste ich wohl froh sein, dass ich in die Schar jener ungarischen Söldner aufgenommen wurde, die mit Erzsébet übers Meer gekommen waren und mit der sie die Leibwache ihres Sohnes verstärken wollte. Alle Wege, die mich in mein früheres Leben hätten zurückführen können, waren mir durch jene unselige Tat verbaut.

So sehr hatte ich mich in diese quälenden Erinnerungen eingesponnen, dass ich die Schritte gar nicht hörte, die den Gang entlangkamen, und ich erst aufschrak, als mich eine Hand am Ärmel berührte. Es war der Junge, der zu dieser Stunde immer das Abendbrot brachte.

„Sancia wird kaum Hunger haben“, sagte ich, nahm ihm aber dennoch das Essen ab.

„Sie nicht, aber du vielleicht“, antwortete er.

Seine Stimme machte mich stutzig, ich leuchtete ihm mit der Ampel ins Gesicht und erschrak derart, dass ich sie fast fallen ließ.

„Marita – du?“

Sie hielt mir mit der Hand den Mund zu.

Marita war eines der Küchenmädchen im Kastell, jung, zierlich, mit flinken, anmutigen Bewegungen. Die Burschen waren hinter ihr her. Ich beteiligte mich nicht an den Balzspielen, die man um sie herum aufführte, muss aber gestehen, dass ich Freude daran fand, zu sehen, wie sie die Zudringlichen abfertigte: weder schroff noch herausfordernd – sozusagen mit der linken Hand.

„Sie tut, als wäre sie etwas Besseres“, hörte ich die Abgeblitzten sagen und dachte bei mir: Das ist sie auch.

Und doch zwang ich mich, ihre Blicke nicht zu suchen, und ging ihr, wenn es sich machen ließ, aus dem Weg. Nein, ich wollte mich in diesem Land in keine Liebschaft einlassen! Hatte nicht der unvergleichliche Erzähler Boccaccio, als er noch in Neapel weilte, die Hofgesellschaft mit so manchen vergnüglichen Geschichten unterhalten? Die sich dann fortpflanzten von Mund zu Mund, bis sie auch zu meinen Ohren gekommen waren. Und wie hatte ich gelacht über den betrogenen alten Ehemann, dem sein verschmitztes junges Weib ein Schnippchen nach dem anderen schlug. Und Genugtuung darüber empfunden, wenn der Liebhaber eines Tages dann die Quittung für all seine Hinterlist erhielt, sobald sein Sündenregister voll war.

Nein, ich mochte keine der Rollen spielen, die mit so viel Witz vorgetragen wurden und den Zuhörern so sichtlich Vergnügen bereiteten: weder die des Hahnreis noch auch die des Ehebrechers. Und so ging ich denn allen Versuchungen geflissentlich aus dem Wege.

Aber als Maritas Hand meinen Mund berührte, machten sich meine Lippen selbstständig und streckten sich so vor, dass mir ganz beklommen zumute wurde und ich mich mit einem Ruck losriss.

„Was willst du hier?“ fragte ich, nicht eben freundlich.

Was ich erfuhr, konnte ich kaum glauben. Marita behauptete, Sancias, der Mörderin, Schwester zu sein.

Mir stieg die Galle hoch vor so viel Unverfrorenheit. „Für wie dumm hältst du mich eigentlich?“ fragte ich brüsk. „Ein Küchenmädchen die Schwester der Gräfin Marzano?“

„Sie ist nicht als Gräfin zur Welt gekommen“, antwortete Marita. „Ihre Großmutter Filippa war eine Wäscherin aus Catania, die das Glück hatte, die Amme von Johannas Vater, dem Thronerben Karl zu werden. Und sie wusste sich so beliebt zu machen, dass man sie nach dem Tod ihres ersten Mannes mit einem Günstling König Roberts verheiratete. So wurde sie geadelt und konnte ihre Enkelin zur Gräfin machen.“

„Und warum dann nicht auch dich?“

„Ich bin nicht ihre Enkelin.“

„Wie das? Sancias Schwester willst du sein, aber nicht Filippas Enkelin?“ „Wir haben nur denselben Vater, nicht auch dieselbe Mutter.“

Eine dieser Geschichten, wie sie hier so häufig sind.

Nach dem unerhörten Glück, das der Wäscherin Filippa in den Schoß gefallen war, kamen viele Catanesen nach Neapel in der Hoffnung, durch sie zu Ehre, Ansehen und Vermögen zu gelangen. Unter ihnen auch Maritas Mutter, Filippa nahm sie in ihren Dienst, und Filippas Schwiegersohn verliebte sich in das hübsche junge Mädchen, Sancias Mutter aber kam ihrem Mann auf die Schliche und jagte die Nebenbuhlerin aus dem Hause, die dann auch bald nach Maritas Geburt verstarb.

Die arme Kleine wäre verkommen wie so viele uneheliche Kinder, wenn nicht ihr Vater sich ihrer angenommen hätte. Von einem Diener, dem er sich anvertraute, ließ er seine Tochter zu einer Frau bringen, die einen Säugling hatte und gegen eine Summe Geldes bereit war, das Kind mit den ihren aufzuziehen. Doch durften weder seine Frau noch seine Schwiegermutter etwas vom Dasein dieser Unerwünschten erfahren.

Eines Tages jedoch wurde er in eine Fehde verwickelt, aus der er nicht wiederkam. Als man erfuhr, dass er gefallen war, überreichte der Diener der damals sechzehnjährigen Sancia einen Abschiedsbrief ihres Vaters, aus dem sie entnahm, dass Marita ihre Schwester war. Vielleicht hatte ihm in Todesahnung das Gewissen geschlagen, denn er beschwor sie, sich des Kindes anzunehmen, ohne der Mutter und Großmutter das Geheimnis zu verraten.

„Du giltst als mein einziges Kind, ich hinterlasse Dir ein großes Erbe“, schrieb er, und verlange auch nicht, dass Du es mit Deiner Schwester teilst. Aber ich beschwöre Dich, lasse sie nicht zugrunde gehn – sie hat außer Dir niemanden auf der Welt.“

Diese Worte des Toten ließen das junge Mädchen nicht unberührt. So bat sie den Diener, sie in das Haus zu bringen, in dem Marita wohnte – sie wollte sich die Schwester doch gerne einmal aus der Nähe besehen.

Maritas Zieheltern führten das kärgliche, mühsame Leben der Leute ihres Standes und waren von früh bis spät auf den Beinen. Die Mutter Emilia unterhielt am Markt einen Gemüsestand, der Vater Filippo holte ihr mit seinem Eselkarren die Ware herbei. Die Kinder mussten, sobald sie einigermaßen dazu tauglich waren, zum Lebensunterhalt mit beitragen: Die Jungen brachten den Stammkunden die Ware ins Haus, kehrten, wenn am Nachmittag sich der Markt geleert hatte, die Abfälle zusammen und luden sie auf Vaters Karren. Denn je mehr Kompost Filippo am nächsten Morgen zum Gärtner schaffte, von dem er seine Ware bezog, desto wohlfeiler konnte er sie bekommen. Marita aber, als das älteste Mädchen, hatte sich um die jüngsten Geschwister zu kümmern.

Emilia war streng und resolut. Wenn sie nach Hause kam und etwas auszusetzen fand, hatte sie die Rute schnell bei der Hand. Nicht, dass sie die eigenen Kinder geschont hätte. Aber am meisten hatte Marita auszustehn. Sie bekam es zu fühlen, dass sie die Ungeliebte war.

An jenem Tag, an dem Sancia sie aufsuchte, war etwas besonders Schreckliches geschehen. Der zweijährige Paolo, der ihr anvertraut war, kletterte in einem unbewachten Augenblick auf eine Bank, um sich vom Bord eine Schale Milch zu langen, – verlor das Gleichgewicht, purzelte hinunter, ließ die Schale fallen, sie zerbrach, die Milch floss aus und ein scharfer Splitter verletzte ihn am Bein, dass es blutete.

„Ich hörte ihn schreien“, erzählte Marita, „stürzte hinzu, sah die Bescherung, wusste nicht, was ich zuerst tun sollte: die Milch aufwischen, die Scherben verschwinden machen, das Kind aufnehmen und trösten. Da hörte ich draußen die Stimme der Mutter, und aus Angst vor dem, was nun folgen musste, tat ich nichts von alledem, stand wie erstarrt.“

Und das Strafgericht ließ denn auch nicht auf sich warten. Mit einem Blick hatte Emilia erkannt, was vorgefallen war, rief wütend: „Wozu füttere ich dich noch, du unnützes Ding?“, griff nach der Rute, hob dem armen Kind den Rock auf, und ihre Schläge brannten auf seiner nackten Haut. Wehren konnte es sich nicht, nur weinen und wimmern, und das pflegte die böse Frau nicht zu erweichen. Und doch hielt sie diesmal schon nach den ersten Streichen inne, denn eine fremde Stimme ließ sich vernehmen: „Warum schlägst du das Kind?“ Da hob Marita den Kopf, und durch den Schleier ihrer Tränen sah sie im Türrahmen eine Gestalt stehen, so zauberhaft, wie sie noch keine je erblickt hatte: ganz in schwarzen Samt gekleidet, aber mit Gold und glitzernden Juwelen prächtig geschmückt. War es ein menschliches Wesen? Oder vielleicht gar … eine Fee?

Es war Sancia. Sie wiederholte ihre Frage, und als sie auch diesmal keine Antwort bekam, trat sie auf die Kleine zu und fasste sie bei der Hand.

„Bist du Marita?“ fragte sie.

Das Kind brachte kein Wort heraus, nickte nur.

„So komm mit mir!“

Da zog Sancia die Kleine zur Tür hinaus und setzte sie in den Wagen, der vor dem Hause stand.

Jetzt erst gewann Emilia ihre Fassung wieder und erhob ein Geschrei, dass die ganze Nachbarschaft zusammenlief. Aber der Diener, der hinter Sancia ins Haus getreten war, beschwichtigte sie mit einem Geldstück, schwang sich auf den Bock, und die Leute starrten sprachlos hinter ihnen her.

Sancia hatte sich durch diese Tat, die so ganz aus dem Augenblick geboren war, selbst in Verlegenheit gebracht, und als sie eine Weile durch die Straßen Neapels gefahren waren, ließ sie halten und fragte nachdenklich: „Was machen wir nun?“ Zu sich ins Castel Nuovo, wo sie mit ihrer Großmutter, der Erzieherin der zukünftigen Königin, lebte, konnte sie das arme Kind ja nicht bringen. Doch der Diener wusste Rat. Er hatte eine Verwandte, die im Castel dell’Ovo Köchin war, der vertraute er Marita an. Und er verstand es auch, mit geschickten Andeutungen allen dort zu verstehen zu geben, dass das Kind unter dem Schutz sehr hoher Gönner stehe, so dass man es mit schwerer Arbeit verschonte und es nicht schlecht behandelte. Dennoch behielt Marita ein scheues, in sich gekehrtes Wesen, hielt Abstand von ihren Arbeitsgenossen, ging allen losen Reden und Anzüglichkeiten aus dem Wege, beteiligte sich an keinem rohen Scherz, keinem Klatsch, keinen Zuträgereien, so dass die einen für sie eine Einfältige, die andern sie für eine besonders Durchtriebene hielten. Und doch war sie keines von beiden.

Marita bekam Sancia nicht wieder zu sehen und erfuhr auch nicht, wer jene gütige Fee gewesen war, die ihrem Leben eine so glückliche Wendung gegeben hatte, bis zu dem Tage, an dem Endre in der Kirche von San Gennaro, dem Schutzheiligen Neapels, aufgebahrt wurde.

Der ganzen Stadt hatte sich eine ungeheure Erregung bemächtigt. So unbeliebt der ungarische Königssohn zu seinen Lebzeiten gewesen war – man empfand ihn in seiner Schwerfälligkeit, seiner Steifheit, ja Plumpheit als einen Fremdkörper, den die arme, schöne, leichtlebige, geistvolle Prinzessin dulden musste, und man verstand, dass sie ihn nicht lieben noch leiden mochte –, so sehr änderte sich nach seinem Tode die Stimmung zu seinen Gunsten. Man betrachtete ihn als unschuldiges Opfer einer tragischen Schicksalsverflechtung, und es gab viele, die an den Tod Konradins erinnerten, jenes letzten Hohenstaufen, den Endres Urahn am Markt von Neapel hatte enthaupten lassen. Sie meinten, der Tod des Anjou-Prinzen sei nun die Sühne hierfür, denn die Sünden der Väter sollten heimgesucht werden bis ins dritte und vierte Glied. (Und Endre war das vierte Glied.) Und die Vorahnung eines drohenden Verhängnisses lag in der Luft.

Am Abend jenes Tages also ließ Sancia die Schwester zu sich kommen. „Erkennst du mich?“ fragte sie.

„Herrin“, antwortete Marita, „wie könnte ich jemals vergessen, dass Ihr es wart, die mich …“

„Sag nicht Herrin zu mir, ich bin deine Schwester.“

Marita konnte das in jenem Augenblick ebenso wenig fassen wie ich, als sie es mir sagte. Wohl hatte man es ihr früh genug beigebracht, dass sie nicht das Kind ihrer Zieheltern war, und sie hatte es an der Lieblosigkeit, mit der sie behandelt wurde, nur allzu schmerzlich zu fühlen bekommen, aber wessen Kind sie war, hatte ihr niemand gesagt, weil niemand es wusste. Und die Küchenmagd hätte selbst in ihren kühnsten Träumen eine solche Enthüllung niemals für möglich gehalten.

In kurzen Worten erklärte Sancia es ihr und sagte dann: „Wenn ich sterben muss, nimm dich meines Kindes an, so wie ich mich deiner angenommen habe.“ Und sie weinte.

Jetzt erst sah Marita, dass Sancia schwanger war. Sie fiel ihr um den Hals. Sagte – zum ersten und einzigen Mal – „Schwester!“, sagte: „Weine nicht. Die meisten Frauen bleiben am Leben. Meine Ziehmutter hat zehn Kinder geboren und stand nach jeder Geburt am dritten Tage wieder auf den Beinen, schonte sich nicht.“

Doch Sancia flüsterte: „Nicht vor der Geburt habe ich Angst, sondern …“ Sie sprach es nicht aus.

Der Diener trat ein. „Es ist höchste Zeit, Herrin. Sie muss jetzt gehn. Niemand darf sie hier finden.“

Das alles erzählte mir Marita, freilich nicht so ausführlich wie jetzt ich, sondern hastig, in abgerissenen Sätzen und fast tonlos, indem sie sich so nahe an mein Ohr neigte, dass ich die Nähe ihres Körpers beinahe schmerzhaft empfand. Und dann sagte sie: „Gott hat mein Gebet erhört. Ich flehte ihn an: ‚Lass das Kind in der Nacht geboren werden! Und lass Lorenzo die Wache haben – er ist der einzige, der mir helfen kann.‘“

„Helfen – wie?“

„Indem du es zulässt, dass ich Sancias Kind in diesem Korb, in dem ich das Essen brachte, zum Kerker hinaustrage.“

„Marita!“ entfuhr es mir viel zu laut, aber gleich dämpfte ich wieder die Stimme, „das ist doch unmöglich. Man wird mich fragen, wo das Kind geblieben ist, und wenn ich es nicht sage, wird man mich …“

„Man wird dich nicht fragen. Das Kind wird neben der Unglücklichen liegen.“ „Welches Kind?“

„Der kleine Junge, den die alte Camilla in ihrer Tasche hineintrug.“

„Und warum diese Komödie?“

„Ach, Lorenzo, verstehst du nicht? Was glaubst du, werden die Anverwandten des Grafen Marzano mit diesem armen kleinen Wesen anfangen? Schon schreien sie aus, dass es ein Bastard wäre, im Ehebruch gezeugt vom Grafen Terlizzi, dem man wegen des Mordes am König Endre ebenfalls den Halsprozess macht.“

„Und das Schicksal, dem du Sancias Kind entziehen willst, soll nun der arme Junge erleiden, den ihr der Wöchnerin unterschiebt?“

„Und welches, denkst du, hätte er sonst zu erleiden? Er ist ein Bastard. Von seinen Verwandten einer Engelmacherin übergeben, die ihn mir verkauft hat.“

Mir verschlug es die Sprache.

Jetzt wird sie mir Geld anbieten, dachte ich. Und wenn sie das tut, dann kann ich nein sagen und ihr die Tür weisen. Unwillkürlich rückte ich zur Seite und wartete auf ein Wort von ihr. Doch sie blieb stumm.

So bedrückend war diese Stille, dass ich wünschte, das Schreien der Kreißenden würde ihr ein Ende machen. Doch selbst von dort kam kein Laut, so dass ich das Schweigen endlich nicht mehr ertrug.

„Und weshalb, Marita, meinst du, dass gerade ich … der einzige bin, der dir helfen kann?“

„Weil ich keinem andern vertrauen könnte.“

„Und warum dann mir?“

„Weil du anders bist als die andern.“

In welch ungeheuerliche Lage war ich da geraten! Ein Kind sollte ich retten, das die Mörderin meines Herrn gebar, in eine Intrige verwickelt werden, die, wenn sie durchschaut würde, über mir zusammenschlagen und mich vernichten müsste – und mich nicht allein!

Plötzlich sah ich mich auf die Folterbank gestreckt, hörte den Richter fragen: „Wer hat das Kind hinausgetragen?“ und wusste mit einem Mal, dass ich lieber sterben als Marita preisgeben würde. Und ich erschrak vor mir selbst. „Marita“, flüsterte ich, „was willst du tun, wenn es dir gelingt, das Kind ungesehen hinauszubringen?“

„Zu Sancias Diener Alfonso werde ich es tragen. Er hat ja den ganzen Plan ausgeklügelt, mir Geld dafür gegeben und mir genau beschrieben, wo ich ihn finden kann. Er will für das Kind eine Amme besorgen und auch mich dort unterbringen, wo man mich nicht suchen wird. Ach, wer wird schon nach einem entlaufenen Küchenmädchen fragen?“

Ein ungutes Gefühl kam in mir hoch. Wer war denn dieser Alfonso, dem sich Marita, wenn alles glücklich ablief, auf Gedeih und Verderb auslieferte? Konnte man sicher sein, dass er nicht seine Macht über sie in schamloser Weise ausnützen würde?

Sie suchte in meinen Augen zu lesen, ob ich ihre Bitte erfüllen wollte, und ich las in den ihren: Ein Kind war sie noch, ein unerfahrenes, gutherziges, verängstigtes, unschuldiges Kind. Würde ich mich nicht mitschuldig machen, wenn ich sie in ihr Verderben rennen ließ, das über sie kommen konnte, selbst wenn das Unternehmen gelang?

Es waren für uns beide qualvolle Minuten, in denen wir uns so – schweigend – gegenüberstanden, bis ihre Augen sich mit Tränen füllten, sie den Blick senkte und tonlos sagte: „Du willst mir nicht helfen, Lorenzo?“

In diesem hilflosen Gestammel lag eine solche Verzweiflung, dass alle meine Bedenken in sich zusammenfielen.

„Soweit es an mir liegt, Kind …“, antwortete ich stockend, „nur …“

Ich brachte den Satz nicht zu Ende. Ein lauter Schrei drang aus der Zelle der Gebärenden, und ich sah, wie Marita sich, Halt suchend, an die feuchte Mauer lehnte. Sie wusste, dass die Stunde nun geschlagen hatte, die unser aller Schicksalsstunde war. Da griff ich nach ihrer Hand.

„Verlier den Mut nicht, Mädchen“, sagte ich. „Sieh zu, dass du das Kind hinausbringst, ohne dass jemand es entdeckt. Und sag mir, wo jener Alfonso wohnt, damit auch ich mich darum kümmern kann, dass alles in Ordnung kommt.“ Hastig nannte sie mir seine Adresse. Da schloss ich die Zellentür auf und ließ Marita eintreten.

Camilla hielt ihr das Kind entgegen. „Ein Mädchen“, sagte sie.

Marita nahm es auf den Arm und sank an Sancias Lager nieder. „Es wird am Leben bleiben“, flüsterte sie, „das versprechen wir dir. Ich – und dieser gute Mensch, der neben mir steht. Und du lebst in diesem Mädchen.“

„Nein!“ schrie Sancia auf, „nicht ich! Nicht ich! Davor bewahre es Gott!“

Nachdem Marita gegangen war, hockte ich in meiner Mauernische wie betäubt, und die Bilder der Vergangenheit und der Zukunft, die an meiner Seele vorübergaukelten, ließen mich die Gegenwart schier vergessen.