image

INHALT

EPIGENETISCHE MECHANISMEN

ANLAGE-UMWELT-PROBLEM

Neue Erklärungen menschlichen Verhaltens

Rainer Riemann

Erbanlagen und Umwelt konkurrieren nicht miteinander. Was lange unvorstellbar schien: Sie beeinflussen sich gegenseitig.

GENREGULATION

Das interaktive Buch des Lebens

Bernhard Kegel

Wichtiger als die Gene selbst ist die Steuerung ihrer Aktivität. Sie bestimmt, wann welches wofür genutzt wird. Darauf aber hat die Umwelt entscheidenden Einfluss!

NEUROPSYCHOLOGIE

Verborgene Schalter im Gehirn

Eric J. Nestler

Erlebnisse und Erfahrungen können sich auf das Ablesen einzelner Gene in Nervenzellen auswirken – mit Verhaltensänderungen bis hin zu psychiatrischen Störungen als möglicher Folge.

DNA-METHYLIERUNG

Verankerung frühkindlicher Erfahrungen im Erbgut

Moshe Szyf

Wenn Zellen sich in Organen spezialisieren, werden Gene durch Anbringen von Markierungen dauerhaft abgeschaltet. Auf dieselbe Art hinterlassen frühe Eindrücke lebenslange Spuren im Genom.

GENE UND KRANKHEIT

VOLKSKRANKHEITEN

Wie Gene Gesundheit und Verhalten beeinflussen

Markus M. Nöthen

An Volkskrankheiten sind viele Gene und Umweltfaktoren beteiligt. Sie im Einzelnen zu ermitteln stellt Forscher noch immer vor Probleme.

HIRNFORSCHUNG

Die Epigenetik neurodegenerativer Erkrankungen

André Fischer

Zu Leiden wie der Alzheimerdemenz tragen Mechanismen bei, welche die Aktivität von Genen ändern. Das eröffnet aussichtsreiche neue Therapieansätze.

GENE UND VERHALTEN

GESELLSCHAFT

Vom Sozialverhalten zur DNA – und zurück

Michael J. Shanahan und Jason Freeman

Unser soziales Umfeld ist durch unsere Erbanlagen mitbestimmt, wirkt aber auch auf diese zurück – mit Konsequenzen bis hin zum Schulerfolg von Kindern.

KOGNITION

Gibt es ein Gen für Intelligenz?

Lars Penke

Intelligenz ist großenteils ererbt. Aber welche Gene sind dafür verantwortlich? Bisher blieb die Suche erfolglos. Analysen kompletter Genome sollten jedoch schon bald Aufschluss geben.

GLÜCKSFORSCHUNG

Wovon unsere Lebenszufriedenheit abhängt

Frank M. Spinath und Elisabeth Hahn

Gemeinhin gelten Gesundheit, Geld und eine liebevolle Beziehung als Eckpfeiler eines glücklichen Lebens. Doch auch die Veranlagung hat viel mit unserem persönlichen Wohlbefinden zu tun.

MENTALE FITNESS

Was man für sein Gehirn tun kann

Gerd Kempermann

Unser genetisches Erbe setzt die Rahmenbedingungen dafür, wie geistig vital wir altern. Aber was kann man selbst tun, um diesen Rahmen auszuschöpfen? Wirksamer als das viel gepriesene Hirnjogging ist erstaunlicherweise einfache körperliche Aktivität.

 

Titelmotiv: Christoph Bock, MPI für Informatik (DNA Methylation) [M]; fotolia / BlueOrangeStudio (Strandszene); Spektrum der Wissenschaft (Composing)

 

 

 

 

 

 

Herausgeber:
Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Chefredakteur: Prof. Dr. phil. Dipl. Phys. Carsten Koenneker M.A.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Gerhard Trageser
Slevogtstr. 3-5, 69126 Heidelberg
www.spektrum.de

EDITORIAL

Image

Gerhard Trageser
Redaktionsleiter Sonderhefte

Das entthronte Genom

Als sich das zweite Jahrtausend seinem Ende zuneigte, beschlossen führende Biowissenschaftler, es mit einem epochalen Projekt zu krönen. In einer koordinierten Mammutanstrengung machten sich mehr als 1000 Forscher in 40 Ländern daran, Buchstabe für Buchstabe den über drei Milliarden Zeichen langen Text zu entziffern, aus dem die menschliche Erbinformation besteht. Die Erwartungen waren hochgesteckt: Durch das Vorhaben würde unser Genom zu einem offenen Buch, welches das innerste Wesen des Menschen offenbart. Wer wir sind, warum wir krank werden, weshalb wir altern – alles sollte darin zu lesen sein.

Das Unterfangen hatte Erfolg: 2001 wurde eine vorläufige und 2003 die Endversion des Humangenoms publiziert. Doch auf den Triumph folgte die Ernüchterung. So stellte sich die Anzahl der Gene mit nur rund 25000 als enttäuschend gering heraus – nicht wesentlich mehr als bei anderen Säugetieren und sogar 6000 weniger als beim primitiven Wasserfloh. Das weckte Zweifel, ob das Geheimnis der einzigartigen Fähigkeiten von uns Menschen wirklich in unseren Genen liegt. Hinzu kam, dass die Biologen das menschliche Erbgut zwar nun lesen konnten, aber weit davon entfernt waren, es auch zu verstehen. Die Bedeutung der kodierten Information zu entschlüsseln, erwies sich als die wahre Herkulesaufgabe. Sie zu bewältigen, wird noch Jahrzehnte an mühsamer Kleinarbeit beanspruchen.

Während das Humangenomprojekt die Schlagzeilen beherrschte, vollzog sich im Stillen und kaum beachtet eine Umwälzung von – zumindest vorerst – viel größerer Tragweite. Forscher stellten fest, dass sich eine Stufe oberhalb des Erbguts eine zweite Informationsebene befindet, die darüber entscheidet, wann welche Inhalte aus dem genetischen Handbuch eines Organismus genutzt werden. Es handelt sich um chemische Markierungen, die an der Erbsubstanz oder an den Proteinen, um die sie im Zellkern gewickelt ist, angebracht werden. Von ihnen hängt es ab, ob und wie gut sich die Information an einer bestimmten Stelle der DNA ablesen lässt.

Das wirklich Aufregende an den neuen Erkenntnissen ist die Entdeckung, dass Umweltfaktoren die Markierung der Erbsubstanz beeinflussen. Zum Beispiel weisen von ihren Müttern vernachlässigte Mäusejungen an ihrer DNA charakteristische Muster aus angehängten Methylgruppen auf, die ihr gesamtes Leben hindurch bestehen bleiben. Dadurch ändert sich die Aktivität bestimmter Gene – was die Tiere ängstlich und misstrauisch macht. Ähnliches stellte sich bei Selbstmordopfern heraus, die in der Kindheit Gewalt oder Missbrauch erlebt hatten.

Damit stürzt eine der Säulen der modernen Biologie: die Annahme, dass das Erbgut die unveränderliche Basis für die Eigenschaften eines Organismus ist. In Wahrheit bietet es nur die Grundausstattung, und erst, was ein Lebewesen daraus macht, entscheidet über seine Eigenschaften. Das erklärt auch, warum das menschliche Genom nur minimal von dem der Menschenaffen abweicht. Der Unterschied liegt offenbar weniger in den Genen selbst als in ihrer Regulation.

Die Epigenetik, wie das neue Fachgebiet heißt, erweitert das seit mehr als einem Jahrhundert diskutierte Verhältnis zwischen Erbanlagen und Umweltfaktoren um eine völlig neue Dimension: die Rückwirkung persönlicher Erfahrungen auf die Ausprägung der Gene. Sie steht deshalb im Mittelpunkt dieses Sonderheftes zum Thema »Gene und Umwelt«, das aus den Vorträgen des Berliner Kolloquiums der Daimler und Benz Stiftung von 2012 hervorgegangen ist. Lassen Sie sich verblüffen von den aufregenden neuen Erkenntnissen – unter anderem über die erst kürzlich entdeckten epigenetischen Hintergründe der Alzheimerkrankheit.

Herzlichst

Ihr

Image

ANLAGE-UMWELT-PROBLEM

Neue Erklärungen für menschliches Verhalten

Noch bis vor Kurzem stritten Forscher darüber, ob bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen angeboren oder anerzogen sind. Inzwischen haben sich die Verhaltensgenetiker jedoch von dieser alten Dichotomie verabschiedet. Sie richten ihr Augenmerk jetzt auf das Zusammenspiel von Anlage und Umwelt.

Von Rainer Riemann

AUF EINEN BLICK

VOM GEGENSATZPAAR ZU INTERAKTIONSPARTNERN

1 Lange beschäftigten sich Verhaltensgenetiker vor allem damit, den Grad der Erblichkeit von Merkmalen zu ermitteln. Eine gängige Methode dafür waren und sind Untersuchungen an Zwillingen und Adoptionsstudien.

2 Die enormen Fortschritte auf dem Gebiet der Molekulargenetik haben es in neuerer Zeit auch ermöglicht, die genetischen Grundlagen erblicher Eigenschaften aufzudecken.

3 Zugleich zeigte sich dabei, dass Erbanlage und Umwelt keineswegs unabhängig voneinander wirken, sondern einander beeinflussen können. Besonders faszinierend war in jüngster Zeit die Entdeckung von Mechanismen, die dieser Interaktion zu Grunde liegen.

Sir Francis Galton (1822–1911), ein Cousin von Charles Darwin, gilt als Begründer der Verhaltensgenetik. Vor fast 150 Jahren wollte er als Erster quantitativ ermitteln, inwieweit die Fähigkeiten eines Menschen von seinen Erbanlagen oder aber von Umwelteinflüssen bestimmt sind. Dazu untersuchte er die Verteilung solcher Fähigkeiten innerhalb und zwischen Familien. Insbesondere betrachtete er Männer, die wegen ihrer besonderen Leistungen berühmt waren, und prüfte systematisch, ob in ihrer Verwandtschaft auch andere herausragende Persönlichkeiten vorkamen. Das war, wie er feststellte, unter Blutsverwandten ersten Grades sehr viel häufiger der Fall als unter solchen zweiten und dritten Grades.

Hierin sah Galton einen Beleg dafür, dass die zu Grunde liegenden Fähigkeiten zu einem gewissen Grad ererbt oder – moderner ausgedrückt – genetisch bedingt sind. Obgleich seine Schlussfolgerung richtig war, würden wir heute den Ergebnissen vergleichender Untersuchungen in natürlichen Familien allein jedoch nicht mehr trauen; denn übereinstimmende Merkmale könnten auch darauf beruhen, dass alle Familienmitglieder weit gehend dieselbe Umwelt teilen.

Welche Bedeutung haben Gene und Umweltbedingungen für das Verhalten von Menschen und Tieren? Diese Frage ist bis heute aktuell geblieben. Die moderne Verhaltensgenetik geht ihr allerdings hochgradig interdisziplinär nach; denn Beiträge aus der Biologie, der Genetik, der Psychologie, der Statistik und einer Reihe weiterer Disziplinen sind notwendig, um das komplexe Zusammenwirken von Genen und Umweltfaktoren aufschlüsseln zu können.

Das zentrale Thema der verhaltensgenetischen Forschung, auch bekannt als Anlage-versus-Umwelt-Debatte, war über Jahrzehnte hinweg die Bestimmung der Erblichkeit menschlicher Merkmale und Eigenschaften. Was aber ist eigentlich genau darunter zu verstehen? Was bedeutet beispielsweise die Aussage, 60 Prozent des Intelligenzquotienten (IQ) seien erblich, also genetisch bedingt? Damit kann ja wohl kaum gemeint sein, dass von 100 IQ-Punkten 60 auf Gene und 40 auf Umweltfaktoren zurückzuführen sind.

Um die Erblichkeit eines Merkmals zu bestimmen, betrachten Verhaltensgenetiker zunächst, wie stark es in einer Population variiert. Anschließend ermitteln sie, welcher Anteil dieser Variation auf genetische Unterschiede zurückzuführen ist. Dieser Anteil wird dann Erblichkeit oder Heritabilität genannt. Ein Wert von 60 Prozent bedeutet dabei, dass 60 Prozent der Variation in dem betreffenden Merkmal auf genetischen Unterschieden beruhen.

Das mag unnötig umständlich erscheinen. Diese Genauigkeit ist jedoch wichtig, um falsche Schlussfolgerungen und häufige Missverständnisse zu vermeiden. Insbesondere wird so klar, dass Erblichkeitskoeffizienten keinerlei Aussage über den Einzelfall erlauben.

Eine Analogie aus dem Bereich der Computer kann das verdeutlichen. Dabei soll es um den Zusammenhang zwischen der Rechenleistung und der Größe des Arbeitsspeichers gehen. Um ihn festzustellen, messen wir zunächst, wie stark die Rechenleistung einer großen Anzahl von Computern variiert. Dann sehen wir nach, wie groß deren Arbeitsspeicher jeweils ist. Eine statistische Analyse dieser Daten ergibt schließlich, welcher Prozentsatz in der Variation der Rechenleistung sich mit der Größe des Arbeitsspeichers erklären lässt. Sagen wir, der Wert betrage zehn Prozent. Zu behaupten, die Rechenleistung eines Computers oder gar aller Computer sei zu zehn Prozent von der Größe des Arbeitsspeichers bestimmt, wäre ganz offensichtlich eine unzulässige Verkürzung dieses Ergebnisses. Der tatsächliche Anteil des Arbeitsspeichers in jedem Einzelfall hängt schließlich von vielen weiteren Faktoren ab.

Die Bedeutung von Zwillingsstudien

In der verhaltensgenetischen Forschung werden zunächst einmal nur die Einflüsse von Veranlagung und Umwelt unterschieden. Daraus folgt, dass die Variation, welche nicht auf genetische Unterschiede zurückzuführen ist, von der Umwelt herrührt. Auch dafür muss es jedoch biologische Vermittlungsprozesse geben, die dazu beitragen, dass sich ein Merkmal dauerhaft verändert. Im einfachsten Fall kann es sich dabei etwa um Unfälle mit Hirnschädigungen, Alkoholmissbrauch der Mutter während der Schwangerschaft oder Sauerstoffmangel bei der Geburt handeln. Wie sich ein wenig anregendes Familienmilieu in der Intelligenzentwicklung und somit der Variation des IQ niederschlägt, ist deutlich schwieriger zu ergründen.

Derzeit gibt vor allem die klassische quantitative verhaltensgenetische Forschung Antworten auf die Frage, welche Bedeutung Gene für ein psychologisches Merkmal haben und welche Rolle spezifische Ereignisse in der Umwelt spielen. Diese Forschung hat unser Bild von Persönlichkeitsmerkmalen in den vergangenen 30 Jahren deutlich verändert.

Die klassische Verhaltensgenetik nutzt natürlich auftretende Variationen der Umweltbedingungen, die Experimenten schon recht nahe kommen, um die Erblichkeit von Merkmalen zu bestimmen. Als Untersuchungsobjekte dienen beispielsweise eineiige Zwillingspaare, die unmittelbar nach der Geburt getrennt wurden und in »unkorrelierten« Umwelten aufwuchsen. »Unkorreliert« bedeutet dabei einen rein zufälligen Mix aus Unterschieden und Übereinstimmungen. Würde man die Zwillinge gezielt von Familien adoptieren lassen, die besonders unterschiedlich sind, käme ein zu hoher Einfluss der Umwelt heraus.

In einer solchen Studie ist die genetische Ausstattung der Individuen identisch, während die Umwelt variiert. Das Umgekehrte gilt für Adoptionsstudien, in denen man die Ähnlichkeit genetisch nicht miteinander verwandter Kinder vergleicht, die in derselben Familie aufwachsen. Sie geben Aufschluss über die Wirkung des gemeinsamen Umweltmilieus. An getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen lässt sich dagegen die Bedeutung der Erbanlagen untersuchen. Mit einigen zusätzlichen Annahmen und der Berücksichtigung weiterer Familienkonstellationen lassen sich so die Erblichkeit von Merkmalen und der Einfluss der Umwelt recht genau bestimmen. Die Ergebnisse sind für viele Fachgebiete wichtig, wo sie als Grundlage für weitere Forschungen dienen.

Offen bleibt allerdings die Frage, welche Gene und welche Umweltbedingungen es genau sind, die den beobachteten Effekt hervorrufen. Wirkmechanismen lassen sich mit statistischen Vergleichen allein nicht ergründen; sie erfordern eigene Forschungen. Für die Vererbung von Eigenschaften liefert die molekulare Verhaltensgenetik die nötigen Zusatzinformationen. Sie gibt Aufschluss darüber, welche »Polymorphismen« – häufig in einer Population vorkommende Genvarianten – welche psychischen oder körperlichen Merkmale beeinflussen. Als modernste Untersuchungsmethode verwenden Genetiker heute genomweite Assoziationsstudien (GWAS), in denen viele über das gesamte Genom verteilte Polymorphismen zu Merkmalen der Personen in Beziehung gesetzt werden.

Eines sei an dieser Stelle betont: Der Zusammenhang zwischen einer Genvariante und einer komplexen körperlichen oder psychischen Eigenschaft ist in der Regel eine bloße Wahrscheinlichkeitsbeziehung. Das bedeutet, dass ein abweichendes Gen nicht mit Sicherheit ein Merkmal oder eine Krankheit bedingt – wie etwa bei den Blutgruppen –, sondern nur die Wahrscheinlichkeit dafür erhöht. Umgekehrt kann ein Merkmal oder eine Krankheit auch dann auftreten, wenn die entsprechende Genvariante nicht vorliegt.

Ein Polymorphismus des Gens für das Apolipoprotein E beeinflusst auf diese Weise, ob und wie früh ein Mensch von der Alzheimerdemenz betroffen ist. So erkranken 40 Prozent der Träger dieser Genvariante, aber nur 10 Prozent derjenigen, die sie nicht aufweisen. Die Identifikation von Polymorphismen, die mit einem komplexen Merkmal zusammenhängen, ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil sich über die Funktion des betreffenden Gens Rückschlüsse auf den Wirkmechanismus ziehen lassen.

In analoger Weise verfolgt die quantitative verhaltensgenetische Forschung das Ziel, im Detail aufzuklären, wie ein einzelner Umweltfaktor oder eine Reihe von Erfahrungen und Erlebnissen ein bestimmtes Verhaltensmerkmal beeinflussen. Die intuitive Vorstellung dabei ist, dass Gene ihre Wirkung nur im Körper eines Lebewesens entfalten, während die Umwelt als davon unabhängige Einflussgröße von außen einwirkt.

Das muss aber keineswegs so sein. Der Psychiater und Verhaltensgenetiker Kenneth S. Kendler vom Virginia Institute for Psychiatric and Behavioral Genetics in Richmond unterschied 2001 am Beispiel des Drogenmissbrauchs zwei Vermittlungswege. Den traditionellen oder klassischen Mechanismus, bei dem die Genwirkungen auf den Körper begrenzt sind und die Umwelt nicht tangieren, nannte er »Vermittlung innerhalb der Haut«. Bei dem anderen Pfad beeinflussen Gene dagegen zunächst das Verhalten und verändern so auch das äußere Milieu des betreffenden Organismus. Diesen Wirkmechanismus bezeichnete Kendler folglich als »Vermittlung durch die Haut«.

Daraus ergibt sich aber ein ganz neues Bild von Umwelteffekten. Sie sind nun nicht mehr unabhängig von der Person und ihrer genetischen Ausstattung. Das lässt sich gut am Beispiel belastender Lebensereignisse verdeutlichen. In den meisten Fällen treffen sie Menschen keineswegs rein zufällig. Vielmehr unterscheiden sich Individuen nachweislich in der Wahrscheinlichkeit, negative Erfahrungen zu machen. Sehr impulsive Menschen haben beispielsweise ein höheres Risiko, einen Unfall zu erleiden. Unverträgliche, aggressive Charaktere wiederum geraten häufiger in Auseinandersetzungen mit anderen Personen.

Die komplexe Beziehung zwischen Erbe und Umwelt

Natürlich können für ein Phänomen auch beide Vermittlungswege von Bedeutung sein. Bei der Drogensucht bestimmen einerseits die Gene mit darüber, wie anfällig jemand dafür ist, bei Kontakt mit Rauschmitteln eine Abhängigkeit zu entwickeln. Andererseits gibt es auch überzeugende Belege dafür, dass Erbfaktoren beeinflussen, ob Menschen Milieus aufsuchen, in denen sie überhaupt erst mit Drogen in Berührung kommen. Wenn aber unterschiedliche Vermittlungspfade zwischen Genen und problematischen Verhaltensweisen existieren, dass sollten auch unterschiedliche Strategien nötig sein, um das Verhalten zu verändern. Wird etwa Drogensucht »durch die Haut«, also durch das Aufsuchen sie fördernder Milieus, vermittelt, dann erscheinen psychologische Interventionen Erfolg versprechend, die auf die Modifikation dieses Verhaltens gerichtet sind.

Verhaltensgenetiker bezeichnen das Zusammenwirken von Erbanlagen und Umweltfaktoren als Anlage-Umwelt-Korrelation und unterscheiden drei Arten: eine passive, eine reaktive und eine aktive. Bei einer passiven Anlage-Umwelt-Korrelation wird jemand gleichsam in eine bestimmte Umwelt hineingeboren. Ein einfaches Beispiel dafür ist ein Kind mit musikalischer Begabung, das in einem Elternhaus aufwächst, in dem das Musizieren gepflegt wird. Bei einer reaktiven oder evokativen Korrelation spricht die Umwelt auf ein ererbtes Merkmal an und fördert es. Das ist etwa der Fall, wenn Kindern mit einer sportlichen Begabung ein spezielles Training angeboten wird, das weniger talentierten Kindern nicht zugänglich ist. Bei aktiver Anlage-Umwelt-Korrelation schließlich wählt eine Person entsprechend ihren Begabungen, Persönlichkeitsmerkmalen oder Interessen selbst ein dazu passendes Umfeld aus oder beeinflusst ihre Umwelt und gestaltet sie mit. Dies ließ sich in den 1960er und 1970er Jahren gut beobachten, als sich das bis dahin eher undurchlässige Bildungssystem der Allgemeinheit öffnete. Diese Chance nutzten viele begabte Menschen aus bildungsfernen Milieus, um vielfältige Qualifikationen zu erwerben. Damit trugen sie selbst zur Entwicklung ihrer Fähigkeiten bei. Prinzipiell tendieren Anlage-Umwelt-Korrelationen dazu, die Wirkung genetischer Unterschiede zu verstärken.

Bei der Betrachtung solcher Korrelationen wird angenommen, dass die Wirkung bestimmter Umweltbedingungen für alle Individuen annähernd gleich ist. So sollten sich etwa die sportlichen Fähigkeiten sämtlicher Kinder einer Klasse durch ein Training im selben Ausmaß verbessern. Tatsächlich ist das aber wohl eher nicht der Fall. Vielmehr profitieren Kinder mit ausgeprägten sportlichen Anlagen vermutlich stärker als andere.

Bei solchen individuellen Unterschieden in der Empfänglichkeit für bestimmte Umwelteffekte sprechen Verhaltensgenetiker von Anlage-Umwelt-Interaktionen. Ein Beispiel dafür lieferten schon vor über zehn Jahren Untersuchungen an Mäusen. Wie sie zeigten, wirkt sich eine Vernachlässigung der Jungen durch ihre Mütter nur dann negativ auf ihr späteres Sozialverhalten aus, wenn die Tiere einen genetisch bedingten Mangel an dem Enzym Monoaminooxidase A (MAOA) aufweisen. 2002 und 2003 demonstrierte der Persönlichkeits- und Entwicklungspsychologe Avshalom Caspi vom King’s College in London mit zwei molekulargenetischen Arbeiten, dass ein analoger Zusammenhang auch beim Menschen besteht.

Das Enzym MAOA, dessen Gen sich auf dem X-Chromosom befindet, ist am Abbau von Neurotransmittern – Botenstoffen zwischen Nervenzellen – wie Noradrenalin, Serotonin und Dopamin beteiligt. In Untersuchungen an Tieren und Menschen stellte sich ein Zusammenhang zwischen einem genetisch bedingten Mangel an MAOA und gesteigerter Aggressionsneigung heraus.

Caspi und Kollegen nutzten für ihre Untersuchungen eine sehr bekannte Kohortenstudie, die seit über 35 Jahren die gesundheitliche, psychische und soziale Entwicklung eines kompletten Geburtsjahrgangs aus der neuseeländischen Stadt Dunedin verfolgt. Zu den erhobenen Daten gehören auch Informationen über Misshandlungen in der Kindheit. Sie kamen bei 28 Prozent der Teilnehmer vor. Acht Prozent hatten sogar schwere Misshandlungen erlebt. Zudem erfasst die Studie eine Reihe von Indikatoren für antisoziales Verhalten im frühen Erwachsenenalter – beispielsweise Verurteilungen wegen Gewaltdelikten sowie in der klinischen Psychologie benutzte Diagnosekriterien für Störungen des Sozialverhaltens oder für eine Disposition zur Anwendung von Gewalt.

Die Gruppe um Caspi verglich diese Daten mit Befunden über die Aktivität des Enzyms Monoaminooxidase A bei den Studienteilnehmern. Dabei zeigte sich, dass das Ausmaß, in dem eine Misshandlung in der Kindheit Gewaltbereitschaft im frühen Erwachsenenalter förderte, davon abhing, ob die betreffende Person auf Grund einer genetischen Veranlagung chronisch zu wenig MAOA bildet (Grafik oben).

Derartige Anlage-Umwelt-Interaktionen konnten Verhaltensgenetiker inzwischen auch in vielen anderen Bereichen nachweisen. Dazu bedurfte es nicht unbedingt molekulargenetischer Methoden, die ja die Kenntnis von Genen voraussetzen, die das untersuchte Merkmal beeinflussen. Klassische Zwillingsstudien ergaben zum Beispiel, dass bei Menschen, die etwa auf Grund schlechter sozioökonomischer Bedingungen in sehr beschränkten Verhältnissen aufwachsen, die Erblichkeit der Intelligenz deutlich geringer ist als bei solchen aus einem besser gestellten Elternhaus. Demnach können sich, so die Schlussfolgerung, in einer anregungsarmen Umwelt Fähigkeiten trotz genetischer Veranlagung nicht entwickeln.

Erkenntnisse wie diese machen deutlich, dass sich die Verhaltensgenetik längst von der alten Dichotomie »Anlage oder Umwelt« verabschiedet hat. Stattdessen nunmehr undifferenziert zu behaupten, Gene und Umweltfaktoren seien beide – gleichsam untrennbar vermengt – für die Entwicklung menschlicher Verhaltensweisen und Fähigkeiten verantwortlich, bedeutet jedoch keinen Erkenntnisfortschritt. Tiefere Einsichten lassen sich nur gewinnen, wenn es gelingt, Umweltbedingungen zu identifizieren, die auch bei genetisch kontrollierten Eigenschaften Verhaltensunterschiede hervorrufen, und den Wirkmechanismus dahinter zu beschreiben.

Alle Beiträge in diesem Heft befassen sich detailliert mit dem Zusammenspiel zwischen Erbanlagen und Umwelt. Eine wichtige Frage dabei ist, wie es die Umwelt überhaupt schafft, psychische Prozesse zu beeinflussen. Welche biologischen Vorgänge spielen die Vermittlerrolle? Dazu gab es in allerjüngster Zeit faszinierende Erkenntnisse. Sie kamen zum Teil aus dem Bereich der Neurobiologie, speziell aus Untersuchungen zur Plastizität des menschlichen Gehirns, also der dauerhaften Veränderung der neuronalen Grundlagen unseres Verhaltens.

Fast noch spannender aber ist, was sich über Veränderungen des Genoms durch die Umwelt herausgestellt hat. Gemeint sind dabei nicht etwa die seit Langem bekannten mutagenen Effekte toxischer Substanzen oder ionisierender Strahlung, sondern Auswirkungen auf die Struktur des Genoms, welche die Aktivität einzelner Gene beeinflussen. Diese Forschungen zur »Epigenetik« erbrachten in den letzten Jahren eindrucksvolle neue Einsichten und kommen in vielen der folgenden Artikel deshalb ausführlich zur Sprache.

Image

Das Zusammenspiel von Genen und Umwelt bei Persönlichkeitsmerkmalen zeigt sich am Beispiel der Monoaminooxidase A (MAOA). Die Menge, in der dieses Enzym produziert wird, beeinflusst das Ausmaß, in dem Misshandlung in der Kindheit später antisoziales Verhalten hervorruft: Bei Menschen mit geringer MAOA-Aktivität wirken sich traumatische Kindheitserfahrungen stark auf die Aggressionsneigung und Gewaltbereitschaft im Erwachsenenalter aus, bei solchen mit hoher MAOA-Aktivität dagegen kaum.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: RAINER RIEMANN

DER AUTOR

Rainer Riemann ist Professor für Differentielle Psychologie, Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik an der Universität Bielefeld.

QUELLEN

Caspi, A. et al.: Role of Genotype in the Cycle of Violence in Maltreated Children. In: Science 297, S. 851–854, 2002

Kendler, K. S.: Twin Studies of Psychiatric Illness: An Update. In: Archives of General Psychiatry 58, S. 1005–1014, 2001

Plomin, R. et al.: Gene, Umwelt und Verhalten: Einführung in die Verhaltensgenetik. Hans Huber, Bern 1999

Riemann, R., Spinath, F.: Genetik und Persönlichkeit. In: Netter, P., Henning, J. (Hg.): Biopsychologische Grundlagen der Persönlichkeit, S. 539–628. Springer, Heidelberg 2005

WEBLINK

Diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden Sie im Internet: www.spektrum.de/artikel/1188716

GENREGULATION

Das interaktive Buch des Lebens

Die Ära nach dem Humangenomprojekt ist gekennzeichnet durch eine verblüffende Erkenntnis: Nicht unser genetisches Erbe macht uns zu dem, was wir sind – sondern das, was von ihm in uns realisiert ist! Und darauf hat die Umwelt entscheidenden Einfluss.

Von Bernhard Kegel

AUF EINEN BLICK

SCHALTZENTRALE OBERHALB DER GENE

1 Biologen erhofften sich von der Entzifferung des menschlichen Erbguts den Schlüssel für ein tieferes Verständnis dessen, was den Menschen ausmacht. Doch wie sich herausstellte, ist unsere genetische Ausstattung für sich allein enttäuschend wenig aussagekräftig.

2 Viel größere Bedeutung kommt der Ebene oberhalb des Genoms zu, wo darüber entschieden wird, was wir von unserem biologischen Erbe auf welche Weise nutzen.

3 Auf diesem »epigenetischen« Level gibt es eine Vielzahl von Mechanismen, welche die Aktivität einzelner Gene steigern oder drosseln – bis hin zum völligen Abschalten. Das sorgt für eine bis vor Kurzem ungeahnte Flexibilität und Plastizität unserer genetischen Mitgift.

4 Auch Umwelteinflüsse können so auf das Erbgut zurückwirken und, indem sie einzelne Schalter dauerhaft umlegen, bleibende Folgen für das restliche Leben und sogar darüber hinaus haben.

In der ersten »Nature«-Ausgabe des neuen Jahrtausends erschien am 6. Januar 2000 ein Aufsatz der amerikanischen Biochemiker Brian D. Strahl und C. David Allis, der große Beachtung verdient gehabt hätte. Er beschäftigte sich mit den Histonen: jenen Eiweißmolekülen, die zusammen mit der Erbsubstanz das Chromatin bilden, aus dem die Chromosomen aufgebaut sind. Dass dieser Stoff zu etwa gleichen Teilen aus DNA und Proteinen besteht, wusste man seit Jahrzehnten. Lange wurde in seiner Eiweißkomponente jedoch nur eine Art Verpackungsmaterial für die kostbare Erbsubstanz gesehen.

Die Analyse von Strahl und Allis, die damals in Charlottesville am Health Science Center der University of Virginia arbeiteten, ging weit darüber hinaus: Nicht nur in der Sequenz des Erbmoleküls, auch in den Aminosäureketten der Histone verstecke sich ein Kode. In für trockene Wissenschaftsprosa ungewöhnlich blumigen Worten fuhren die Autoren fort: »Wir haben begonnen, die atemberaubende Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass jede Aminosäure (…) eine spezifische Bedeutung besitzt und Teil des Vokabulars des Gesamtkodes ist. (…) Ein Verständnis der Regeln und Konsequenzen dieses Histon-Kodes wird wahrscheinlich auf viele, wenn nicht alle DNA-vermittelten Prozesse Einfluss haben – mit weit reichenden Implikationen für Biologie und Krankheit des Menschen.«

Die Öffentlichkeit erfuhr von dieser »atemberaubenden Möglichkeit« so gut wie nichts. Noch war die Zeit nicht reif; denn die Aufmerksamkeit der Medien wurde von einem wissenschaftlichen Großprojekt in Anspruch genommen, das eine ganz andere Stoßrichtung verfolgte und nur sechs Monate später mit einer berühmten Pressekonferenz seinen vorläufigen Höhepunkt fand. Gemeint ist das Humangenomprojekt (HGP), an dem über 1000 Wissenschaftler aus 40 Ländern beteiligt waren. Im Juni 2000, nach mehr als zehn Jahren intensiver Forschung und einer Investition von mehreren Milliarden Dollar, präsentierten US-Präsident Bill Clinton und der über Satellit zugeschaltete britische Premierminister Tony Blair die noch lückenhafte »Arbeitsversion« des menschlichen Genoms. An ihrer Seite standen, friedlich vereint, die beiden wichtigsten Protagonisten eines beispiellosen Forschungswettlaufs, der die Öffentlichkeit über Jahre in Atem gehalten hatte: Francis Collins, der Direktor der öffentlich finanzierten Human Genome Organisation (HUGO), und sein Konkurrent Craig Venter, Chef des börsennotierten Unternehmens CELERA Genomics.

Vorausgegangen war eine intensive Presseberichterstattung, die die Soziologen Jürgen Gerhards und Mike Steffen Schäfer von der Freien Universität Berlin in einer 2006 veröffentlichten Studie noch einmal gründlich unter die Lupe nahmen. Ihr Ergebnis: Das medienwirksame Wettsequenzieren der von Collins und Venter geführten Organisationen hatte eine »öffentliche Hegemonie« hergestellt. Die Entzifferung des menschlichen Genoms war das alles beherrschende Wissenschaftsthema dieser Tage, und dem Ergebnis wurde mit Spannung und großen Erwartungen entgegengesehen. Auf »die Handschrift Gottes« werde man in der menschlichen DNA-Sequenz stoßen, hieß es, man erlebe »eine Revolution, ähnlich bedeutsam wie die Mondlandung oder die Erfindung des Rades«. Für Bill Clinton war das entzifferte menschliche Genom »die zweifellos wichtigste, wundervollste Karte, die je von Menschen erschaffen wurde.« Wissenschaftler, die wie Strahl und Allis andere Forschungsansätze verfolgten, fanden in dieser Atmosphäre kaum Gehör.

Doch während weltweit in den Labors die zweite Phase der Arbeit begann, in der es darum ging, der drei Milliarden Buchstaben langen Genomsequenz Inhalt und Funktion zuzuweisen, waren bald auch ganz andere Töne zu hören. Der an der York University in Toronto lehrende Wissenschaftshistoriker Jan Sapp schrieb: »Die geringe Zahl menschlicher Gene«, die man im unserem Genom gefunden hatte, »widerspricht der wichtigsten wissenschaftlichen Prämisse, auf der das HGP basierte, dass es eine lineare Eins-zu-eins-Beziehung zwischen Genen, Proteinen und genetisch bedingten Krankheiten gibt.«

Im Jahr 2006 ließ sich Bernd Wegener, Chef des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie in Deutschland, gar zu der Bemerkung hinreißen, man habe »die Öffentlichkeit in die Irre geführt«; denn die Einlösung der abgegebenen Versprechen, man werde mit Hilfe der Genomsequenz nun bald Krebs und andere komplexe Krankheiten heilen können, werde noch viele Jahre auf sich warten lassen. Craig Venter selbst räumte zwei Jahre später in bemerkenswerter Offenheit ein: »Im Rückblick waren unsere damaligen Annahmen über die Funktionsweise des Genoms dermaßen naiv, dass es fast schon peinlich ist.«

Das Erbgut hatte sich als sehr viel rätselhafter und komplexer erwiesen als erwartet. Und vor allem war klar geworden, dass sich viele Fragen mit den Gensequenzen allein nicht beantworten lassen.

epi