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Christoph Ransmayr | Martin Pollack

Der Wolfsjäger

Drei polnische Duette

Fischer e-books

Über Christoph Ransmayr & Martin Pollack

Christoph Ransmayr, geb. 1954 in Wels/Oberösterreich, studierte Philosophie und Ethnologie und lebt in Wien. Neben den Romanen ›Die Schrecken des Eises und der Finsternis‹ (1984), ›Die letzte Welt‹ (1988), ›Morbus Kitahara‹ (1995) und ›Der fliegende Berg‹ (2006) erschienen kleinere Prosaarbeiten zu verschiedenen Spielformen des Erzählens – u.a. ›Der Weg nach Surabaya‹ (1997), ›Die Unsichtbare‹ (2001), ›Geständnisse eines Touristen‹ (2004), ›Damen & Herren unter Wasser‹ (2007) und das Theaterstück ›Odysseus, Verbrecher.‹ (2010). Für seine Bücher, die bisher in mehr als dreißig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche literarische Auszeichnungen, u. a. den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (1992), den Franz-Kafka-Preis (1995), den Premio Letterario Internazionale Mondello (1997), den Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg (1998) und den Bert-Brecht-Preis (2004).

Martin Pollack, 1944 in Bad Hall, Oberösterreich geboren, studierte in Wien und Warschau, arbeitet als Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Seit Jahren beschäftigt er sich mit Polen, schrieb über Galizien, und zuletzt erschienen seine Bücher ›Anklage Vatermord. Der Fall Philipp Halsmann‹ (2001), ›Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater‹ (2004) sowie die Anthologie ›Sarmatische Landschaften. Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland‹ (2006).

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Impressum


Coverabbildung: Robert Harding Images/Masterfile
© 2011 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-401635-1

Wie blutig die Herde war. Ein Dutzend Schafe drängten sich in einem abgezäunten Teil des morastigen Innenhofes so angstvoll aneinander, daß auf den ersten Blick zwischen verletzten und unversehrten Tieren nicht zu unterscheiden war. Die Bäuerin, auch ihr mit Blumen gemusterter Kittel war blutbefleckt, zerrte einen Widder aus der Mitte des Gedränges, der nach kurzem, panischem Widerstand unter den Händen der Frau in eine seltsame Apathie verfiel: Seine rechte Seite war aufgerissen, ein großes, rotes Fellstück hing als triefender Fetzen zu Boden, Brustkorb und Muskelstränge lagen bloß. An sieben weiteren Schafen waren ähnlich schwere Verletzungen zu sehen – durchbissene Gelenke, zerrissene Ohren, tiefe Fleischwunden.

Wenn Andrzej nicht mitten in der Nacht mit einer Pechfackel auf die Weide gelaufen wäre, sagte die Bäuerin, das schreckliche Schmerzgejaule des Hundes hätte den ganzen Hof aus dem Schlaf gerissen, lägen jetzt nur noch Kadaver im Gras. Die lodernde Fackel und Andrzejs Geschrei hatten die Wölfe vertrieben. Sie ließen neben den schwer verletzten drei tote Schafe zurück. Auch den Hund hatten sie umgebracht. Der lag noch draußen bei den anderen Totgebissenen unter den Bäumen. Der arme Bartek. Hunde, die Hüter einer Herde, waren oft die ersten Opfer dieser verfluchten Wölfe. Im vergangenen Herbst und Winter hatten sie allein in der Gegend von Cisna mehr als fünfzig Hunde, die ihre Herden verteidigen wollten, umgebracht.

Wölfe. Wir hatten eigentlich nur nach dem Weg nach Muczne gefragt. Eine schmale Straße mußte kurz hinter der Waldsiedlung Stuposiany dorthin abzweigen. Wölfe! Wir waren nicht hinter Raubtieren her, sondern suchten nach den Spuren von Menschen. Hier, in den Bieszczady-Bergen, einem nur noch dünn besiedelten Grenzgebiet zur Ukraine im äußersten Südosten Polens, lagen die überwucherten Reste zerstörter Dörfer und Weiler. Hohes Gras und Grauerlen verbargen aufgegebene Friedhöfe und die Fundamente niedergebrannter Kirchen. Obstgärten, Felder, Weideland waren an die Wildnis zurückgefallen und Nutzwald wieder zu Urwald geworden. In diesen vom Menschen geräumten Bergen, Ausläufern der Waldkarpaten, triumphierte nun ein artenreiches Wildleben mit Luchsen, Wildkatzen, Braunbären, Elchen, Stein- und Schreiadlern und Wisenten. Rudel von Karpatenwölfen durchstreiften das verlassene Land. Wir waren dabei, diese Menschenleere zu durchwandern, und wollten, zumindest in unserer Vorstellung, Lichtungen noch einmal schlagen, Dörfer neu errichten und Holzkirchen mit ihren bunten Ikonostasen und einem ungnädigen Gott geweihten Türmen aus der Asche wiedererstehen lassen.

In unserem Wanderführer waren alle diese Kirchen, alle diese Dörfer noch verzeichnet, allerdings mit dem Hinweis verschwunden.

Kirche in Chrewt, verschwunden.

Kirche in Stuposiany, verschwunden.

Kirche in Wołosate, verschwunden.

Die Waldsiedlungen Studenne, Sukowate, Potasznia, Szczerbanówka, Teleśnica Sanna, Tworylne, Tyskowa – alle verschwunden. Wie lang würde es dauern, bis nach den Fundamenten und aller Asche auch die alten Orts- und Flurnamen vergessen sein würden, aus den Karten gelöscht, verschwunden?

Die Bäuerin, die uns auf die Weide führen wollte, um uns dort zerrissene Kadaver zu zeigen, kannte zwar kaum einen Namen unserer Reiseziele, wußte aber, daß die Leute, die hier einmal gelebt hatten, Ukrainer gewesen waren. Lemken und Bojken, Waldarbeiter und kleine Bauern wie sie und ihr Mann, Leute aber mit fremden Liedern und eigenartigen Bräuchen, die von denen der orthodoxen Russen kaum zu unterscheiden waren.

Selbst unsere polnischen Reisehandbücher enthielten die Geschichte ihres Verschwindens: Für Lemken und Bojken, ukrainische Volksstämme, die jahrhundertelang in den Karpaten gelebt hatten, war nach dem letzten Krieg mit seinen Grenzverschiebungen, Umsiedlungen, Deportationen, erbitterten Partisanenkämpfen und der Vernichtung der Juden plötzlich kein Platz mehr in ihrer Heimat gewesen. Denn in den Beskiden und Bieszczady-Bergen hatte der Zweite Weltkrieg länger, viel länger gedauert als in den meisten Kampfgebieten Europas: Einheiten einer ukrainischen Untergrundarmee kämpften hier noch drei Jahre nach dem Sieg der Alliierten ebenso unversöhnlich wie vergeblich gegen einen übermächtigen Feind, das kommunistische Polen. Ihr Ziel, eine unabhängige Ukraine, sollte allerdings noch für Jahrzehnte Utopie bleiben. Und wie in allen militärischen Kämpfen waren auch diesmal Zivilisten die tragischen Verlierer. Als im März 1947 ein polnischer Vizeverteidigungsminister und Held des Spanischen Bürgerkrieges in einen Hinterhalt der ukrainischen Partisanen geriet und erschossen wurde, beschloß die kommunistische Führung des Landes, als Vergeltungsmaßnahme alle Angehörigen der ukrainischen Minderheit ohne Ausnahme aus ihren Bergdörfern in den Westen und Norden Polens umzusiedeln. Von dort waren soeben die deutschen Bewohner vertrieben worden.

Die Dörfer der am Partisanenkampf zumeist völlig unbeteiligten ukrainischen Bauern wurden umstellt und innerhalb weniger Stunden geräumt. Bis zum Sommer des Jahres 1947 wurden 140 000 Bewohner der südlichen Landesregionen deportiert und die verlassenen Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Der Name der exekutierenden Armeegruppe Weichsel wurde zum Decknamen der ethnischen Säuberung: Aktion Weichsel.

Wir waren auf unserem Weg nach Muczne einer alten Karte gefolgt, in der Lemken- und Bojkendörfer noch mit allen Kapellen, Mühlen, Waldbahnen und Wegkreuzen aufschienen, hatten uns dabei aber offensichtlich an einer verschwundenen Straße orientiert und waren so auf einen Feldweg und schließlich in den Morast vor jenem Gehöft geraten, das in der vergangenen Nacht von den Wölfen heimgesucht worden war.