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Vertrauen kann tödlich sein in der

Edition BoD

hrsg. von Vito von Eichborn

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Bücher für Entdecker

Books on Demand bietet Autoren ein neues Verlagskonzept. Viele Debütanten, etablierte Autoren und engagierte Verleger nutzen den Publikationsservice von Books on Demand und bereichern den Buchmarkt mit interessanten und außergewöhnlichen Titeln. Vito von Eichborn, einer der innovativsten Buchmacher Deutschlands, wählt als Herausgeber für die Edition BoD herausragende Neuerscheinungen aus. Lesen Sie selbst, welche Entdeckungen das Programm von Books on Demand möglich macht.

Mehr Infos auch auf www.bod.de.

Coldàn, gebürtiger Münchener, Jahrgang 39, Diplom-Kaufmann, war als Student Reiseleiter in Touropa-Fernexpressen, Maschinenreiniger und Koch auf Frachtern. Nach dem Studium stieg er ins Management der Großindustrie mit weltweiten Zuständigkeiten auf. Noch heute lebt er mehrere Monate im Jahr in seinem Haus in Acapulco, die überwiegende Zeit in Südfrankreich. Seine vielfältigen internationalen Erfahrungen erlauben ihm die authentische Einbeziehung unterschiedlichster Milieus in die Gestaltung seiner Romane. Nach „Abgrund - Hetzjagd im Dunkel der Welt“ und „Absturz… Freunde, Feinde, Mörder“ ist „Doppelter Schatten“ sein drittes Buch. Coldàn ist verheiratet und hat zwei Söhne und vier Enkel.

Vito von Eichborn war Journalist, dann Lektor im S. Fischer Verlag, bevor er 1980 den Eichborn Verlag gründete, dessen Programm noch heute ein breites Spektrum umfasst: Humor, Kochbücher und Ratgeber, Sachbücher aller Art, klassische und moderne Literatur sowie die Andere Bibliothek. Nach seinem Ausstieg im Jahre 1995 war er u.a. Geschäftsführer bei Rotbuch / Europäische Verlagsanstalt und sechs Jahre Verleger des Europa-Verlags. Seit 2005 ist Vito von Eichborn selbständig als Publizist tätig und fungiert u.a. seit März 2006 als Herausgeber der Edition BoD. Im Jahr 2010 hat er seinen Lebensmittelpunkt nach Mallorca verlegt (siehe www.vitolibri.de).

Meine Buchhändlerin sagte mir, „ja“, sagte sie …

Ja, das Thema hört sich ganz gut an. Ich habe nur das Problem, dass die Fluten an Krimis der letzten zwanzig Jahre mich längst überrollt haben. Wie viele Krimis braucht die Menschheit?“

„Zugegeben, dass jeder dritte neue Roman auf dem Markt ein Krimi ist, irritiert auch mich. Aber was soll’s – wenn ein Roman gut konstruiert ist, seine Charaktere mich interessieren, das Ganze spannend ist, ist das Genre doch schnurz. All das hat dieses Buch. Im Grunde behandelt es wie jede Literatur von Shakespeare bis Dostojewski Schuld und Sühne, den Kampf um Gut und Böse im Menschen …“

„Ja, aber es geht doch um einen Mord?“, unterbrach mich meine Buchhändlerin, wie sie es immer macht, „und um die Aufklärung des Falls? Also bitte von vorne: Wie ist die Handlung?“

„Also gut. Ein Dorf in Peru, New York und vor allem München sind die Schauplätze. Der gute Held, Timo Rossik, erfolgreicher Geschäftsmann, und der Böse, Bernhard, sein Partner in der Internetfirma, sind die Gegenspieler. Auf der Seite des Bösen sind auch Georg, ihr gemeinsamer Freund, und Thorlef, der Psychiater, an den der verwirrte Timo sich um Hilfe wendet. Außerdem spielen Henryk, Transsexueller und gedungener Mörder, die Geschäftspartner in New York, die gequälte Frau von Bernhard und eine pfiffige Kommissarin eine Rolle …“

„O Mann, den Plot will ich wissen“, funkte meine Buchhändlerin dazwischen.

„Timos Frau stammt aus Peru, wohin sie mit ihrem Kind flüchtet, weil sie’s in Deutschland nicht aushält. Dann wird ihre achtjährige Tochter entführt und ermordet, wenig später auch sie selbst. Timo war zur Beerdigung des Kindes dort und steht unter Verdacht. Doch er besticht einen Polizisten und verschwindet.

Als er in New York eine für die Firma existenziell wichtige Verhandlung über den Vertrag für einen Großauftrag führt, wird ein Mordanschlag auf ihn verübt. Ebenso wenig später in München. Er taucht unter und wird gnadenlos verfolgt. Der Vertrag wird aus seiner Wohnung geraubt. Der Verdacht verdichtet sich, dass hinter all dem sein Partner stecken könnte. Und an allen Schauplätzen verfolgt ihn ein Schatten: Henryk, manchmal auch als Frau verkleidet, hat den Auftrag, ihn umzubringen.“

Meine Buchhändlerin schaute nun nicht mehr skeptisch, sondern durchaus gespannt. „Das hört sich nach einer gut gemischten Geschichte an. Was steckt denn hinter dem Ganzen?“

Sie hatte den Instinkt der erfahrenen Leserin und die richtige Frage gestellt.

„Das darf ich nicht verraten, um die Spannung des Lesers nicht im Vorfeld herunterzukochen. Die Spannungen in Bernhards Ehe und eine brutale Szene des Missbrauchs von Dorothee durch ihren Mann liefern einen Hinweis. Doch als sie offensichtlich auspacken will, ist sie verschwunden …“

„Das hört sich sehr verwickelt an?“

„Ja, das ist es auch – und das gehört sich so für einen guten Krimi. Ich brauche als Leser ja durchaus Irrwege und Nebenschauplätze, Verwicklungen und Andeutungen, einzelne große Szenen, die wie Kino wirken, Verunsicherungen der handelnden Figuren wie der Leser. Und neben aller Action will ich auch …“

Ich brach ab, denn es hatte an der Ladentür geklingelt. Stantepede war meine Buchhändlerin unterwegs, hatte mich stehen lassen, wie immer.

Da bleibt mir nur, mit dieser vielschichtigen Geschichte rundherum spannende Lektüre zu versprechen.

Vito von Eichborn

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1

Der kleine weiße Sarg schlingerte bedenklich auf den runden Bohlen, die man zu einem hölzernen Rost zusammengebunden hatte. Vier kräftige Männerhände trugen die kindliche Last so würdevoll wie möglich den höckerigen Weg zur Kapelle San Crucecita de Berón hinauf. Doch manchmal, wenn einer der Träger in ein vom Regen ausgewaschenes Loch tapste oder an einen Stein stieß, stellte sich der Sarg fast quer, drohte auf der schiefen Fläche herabzuschlittern, wären nicht sofort von links und rechts weitere helfende Hände zur Stelle gewesen, die ihn wieder in eine vorteilhaftere Lage rückten.

Timo Rossik ließ sich inmitten der großen Menge dahintreiben, torkelte mehr, als dass er einen Fuß gezielt vor den anderen setzte. Nur manchmal stieß er ungestüm drängelnden Einheimischen den Ellbogen in die Rippen, teils aus Wut, teils um wieder etwas Raum zu gewinnen, um nicht zu sehr vom Sarg und von Verónica, seiner Frau, abzudriften. Aber meist starrte er nur auf die bedrohlich schaukelnde Totenbahre mehrere Köpfe vor ihm, jeden Moment bereit, sich nach vorn zu fräsen, um das Schlimmste, das Abgleiten des Sarges, noch abzuwenden. Er schnaufte schnell, fast keuchend, was zum einen an der Höhe des Berglandes von über viertausend Metern lag, aber auch daran, dass er immer wieder, den Blick auf die Bahre fixiert, den Atem anhielt, um danach doppelt so viel Luft schöpfen zu müssen.

Timo litt unter dem Schicksal, das der kleinen Chantal, seinem einzigen Kind, widerfahren war. Er fühlte, als sei ein Stück seiner Seele amputiert worden und mit diesem ein Teil seiner wertvollsten Gefühle. Er hatte noch zwei Valium geschluckt, um der Anspannung während der Beisetzung einigermaßen gewachsen zu sein, um nicht loszuschluchzen vor all den fremden Menschen, die sein Leid nicht mitempfanden, nicht wirklich jedenfalls.

Schon den ganzen gestrigen Tag hatten sie das „Velorio del Angelito“ begangen, was bedeutete, dass sie feierten. Feierten, weil einem Kind Einlass zum Himmel gewährt wurde. Einem Kind, noch frei von allen Verfehlungen. Nicht wie irgendein Erwachsener, der in seinem Leben Tausende Sünden angehäuft und bis zu seinem unseligen Ende mit sich herumgeschleppt hatte, Beichte hin, Beichte her. Ein Kind, so jung und rein! „Hacer volar al angelito!“, das Engelchen fliegen lassen! Worte aus Versen vieler Lieder, die sich immer wiederholten. Sie hatten getanzt, Feuerwerkskörper abgebrannt. Niemand durfte weinen; denn es war ein Geschenk, etwas Besonderes, wenn ein Angelito zum Himmel gerufen wurde. Auch die Mutter hatte nicht zu weinen und schon gar nicht der Vater. Aber von dieser Haltung war Timo weit entfernt.

Er hatte das Velorio gar nicht mitgemacht; hatte in einer Ecke des Patios im Hause seiner Schwiegereltern dem Treiben angewidert zugesehen. Er wäre gern mehr als einmal zu der Menge gestürzt, hätte sie angeschrien und am liebsten verscheucht. Aber er war zu matt gewesen, zu niedergeschlagen, ohne jedes Feuer.

Jetzt aber bohrte diese Wut wieder in ihm, wollte sich Luft machen, wollte sich äußern, zumindest in seinen unterdrückten Gedanken. Diese Wut auf alles! Auf alles, was ihn umgab: dieses dreckige Nest Berón, diesen schmutzigen Weg, den sie jetzt hinaufstiegen, eingezwängt in das erbärmliche Spalier dicht an dicht stehender Häuser, die es noch nicht mal schafften, zwei Meter hoch zu wachsen. Unverputzte, lehmige Wände, die vom Boden her grünlich besudelt waren; unvollendete Ziegelaufbauten auf manchen dieser armseligen Hütten, ohne das geringste Anzeichen dafür, dass sie jemals fertiggestellt würden. Berón: viertausendzweihundert Meter über dem Meeresspiegel! Mit einem Sauerstoffgerät schlief er jede Nacht, wenn er überhaupt schlief. Wenn es wenigstens noch Tarma wäre, zwölf Kilometer von Berón entfernt, größer, niedriger gelegen, wenn auch nicht viel ansehnlicher, aber näher zur geteerten Straße, die von Huancayo nach Lima führte. Die Menschen, die in Berón wohnten, sie lebten nicht viel anders als vor ein paar hundert Jahren; Menschen, die den Tod eines Kindes zum Feiern nutzten, sich besoffen.

Er fluchte über Oscar und Juana, seine Noch-Schwiegereltern. Zwar lebten sie nicht so ärmlich wie die meisten anderen in Berón, waren rechtschaffen und bescheiden, führten einen Abasto, einen kleinen Lebensmittelladen, im Zentrum des Kaffs und wohnten immerhin zweistöckig, mit einem kleinen Patio in der Mitte des viereckigen Baus aus Adobe. Aber sie und er waren sich nie nähergekommen, nicht vor ein paar Jahren, als sie vier Wochen zu Besuch in München gewesen waren, und schon gar nicht hier in Berón, wohin er zweimal Verónica zuliebe gekommen war.

Verónica hatte vom spanischen Blut weit mehr als ihre Eltern profitiert, die gerade so viel davon hatten, dass sie etwas weniger indianisch aussahen. Sie war eine exotische Schönheit gewesen, als er sie völlig verzückt und vernarrt nach Deutschland verschleppt und sie – allen Unkenrufen von Freunden zum Trotz – in München geheiratet hatte. Nur standesamtlich lief das Ganze ab, damit er ihre Eltern und Verwandten nicht dem illustren Kreis vorführen musste. Er hatte eben heimlich geheiratet, so wie das auch ein paar seiner Freunde in Las Vegas gemacht hatten, aus welchen Gründen auch immer. Ein Irrweg war diese Ehe gewesen, jetzt noch mehr, da Chantal, der einzige verbliebene Lichtblick in den letzten Jahren, tot war.

Und dass es Chantal nicht mehr gab, daran trug Verónica eine Mitschuld. Eine gewaltige sogar! Sie hatte sich urplötzlich aus dem Staub gemacht. Mit Chantal! Und feige hatte sie es angestellt! Heimlich, als er verreist gewesen war! Ja, es hatte eine Auseinandersetzung am Abend vor seiner Reise gegeben, wie so oft, und diesmal hatte er ihr sogar eine Ohrfeige gegeben, doch eigentlich nur, um sie aus ihrem Wahn schlimmster Anschuldigungen gegen ihn wachzurütteln.

Wieder drohte der Sarg fast zu Boden zu rutschen. Timo zerteilte mit rudernden Armen die Menge, stieß vor, um noch einzugreifen, rempelte dabei leichtfertig eine alte Frau um. Feindselige Blicke von Männern mit derber, dunkel gegerbter Indianerhaut streiften ihn. Und auch Verónica, die bislang stumm vor ihm hergetrottet war, drehte sich um, schrie ihn an: Sogar hier und jetzt räume er wehrlose Menschen einfach beiseite! Erschrocken sah er auf die Frau hinab. Anscheinend hatte sie sich den Ellbogen aufgeschürft. Er zwängte ein Taschentuch zwischen den vielen Armen hindurch, doch die schon wieder halb auf den Beinen stehende Alte stieß die Hand zur Seite. Er wandte sich ab und hastete dem Sarg nach, bis er an der Kante eines Regenkraters selbst stolperte. Er fiel auf die linke Hüfte und hart auf den Hinterkopf. Die Strafe!, fuhr es ihm in den Sinn, weil er der Alten nicht noch mehr geholfen hatte. Und so stiegen viele Menschen einfach über ihn hinweg, solche, die sich gerade noch um die Frau gekümmert hatten. Zwischen den vielen Beinen, einige Meter weiter vorn, erkannte er den Rocksaum Verónicas. Endlich streckten sich einige Hände zu ihm hinunter. Hände von Männern, zu denen die gleichen Gesichter gehörten, Indígenas, Eingeborene in der bunten Tracht des Berglands. Doch er konnte nicht reagieren; lag auf spitzen Steinen, die in seinen Rücken stachen, von denen er sich schnellstmöglich befreien wollte, was er aber nicht konnte, da er keine Hand greifen konnte, unfähig, die eigene zu bewegen. Er war wie gelähmt; denn was er sah, war unglaublich: Über den Gesichtern zwischen breitkrempigen Hüten – ganz deutlich – war Chantal, behutsam schwebend, hinter einem zarten weißen Schleier, aber doch so gut zu erkennen, dass es keinen Zweifel gab. Es war sie, es war seine Tochter, die eigentlich vorn im Sarg hin- und hergeworfen wurde! Er versuchte seine Augen auf sie zu fixieren, so starr und fest, wie er nur konnte. Selbst wollte er feststellen, dass es nur eine Wahnvorstellung war. Doch Chantal verblieb in seinem Blickfeld, bewegte plötzlich vor ihrem Gesicht die Händchen, als wollte sie nein sagen. Jetzt erinnerte er sich vage, dass er sie schon im Traum so gesehen hatte. Gestern oder vorgestern. Aber in diesem Moment träumte er nicht! Er sah sie ganz deutlich. Erst als er sich endlich etwas aufrichtete, verschwand sie. Dafür erschien zwischen den vielen Hüten ein anderes Bild, das Gesicht eines Mannes, das überhaupt nicht hierherpasste. Ein weichliches Gesicht, wären nicht die tiefen Furchen neben der immensen Hakennase gewesen, südländisch zwar, aber doch ganz anders als all die Menschen, die ihn hier von oben anstarrten. Wieder rieb er sich die Augen. Das Gesicht entfernte sich. Jetzt ergriff er eine der vielen Hände, rau wie ein Reibeisen, welche ihm wieder auf die Beine half. Er spähte dem Mann nach. Ein weißer Anzug, der jetzt in einer der vielen schäbigen Gassen verschwand. Das Gesicht kam ihm nicht gänzlich unbekannt vor. Oder war es nur seine Mimik, die ihn an irgendjemanden erinnerte?

Doch dann kehrte das Bild von Chantal zurück, der Schleier, die wiegenden Händchen, direkt über all den Köpfen, fast über ihm schwebend.

Er schrie seine Helfer an. Auf Spanisch: „Habt ihr sie auch gesehen? Wo ist sie hin? Sie war es! Sagt schon, habt ihr sie gesehen, Chantal, meine Tochter? Habt ihr?“ Sie hielten ihn fest, da er in den Knien weich zu werden drohte, sahen sich an.

„Angelito?“, fragte einer der Männer, welcher ihn stützte und jetzt auf den Sarg deutete, der schon zwanzig Meter weiter war.

„Nein, verdammt noch mal! Hier, genau hier, vor nicht mal einer Minute! Weiß verschleiert, winkend! Meine Chantal!“

Wieder blickten sich die Männer an, schauten fragend zu ihren Frauen. Sie wirkten unbeholfen, nickten schließlich und einer murmelte: „Si, si, está volando! El angelito está volando, Señor!“ Ja, ja, sie fliegt! Das Engelchen fliegt, Señor!

Allmählich begriff er, dass er doch einem Trugbild erlegen war und dass ihn die Menschen für verrückt hielten. Er sah es ihren Gesichtern an, in denen zu lesen war, dass sie nicht wussten, wie sie mit einem Irren umgehen sollten.

Trotzdem blaffte er sie nochmals an: „Und der Mann da, der dort in der Gasse verschwunden ist, gehört der zu euch? Er sieht aber nicht aus wie ihr! Warum verschwindet er plötzlich?“

Alle Gesichter wandten sich in Richtung der Gasse. Sie schüttelten ungläubig den Kopf.

Timo genierte sich plötzlich. Was gab er da von sich? War es, weil er mit dem Kopf aufgeschlagen war? „Ich bin nicht mehr ganz bei Sinnen!“, sagte er laut zu sich, befreite sich mit einem Ruck von den ihn stützenden Händen und bahnte sich einen Ausgang durch den Kreis von Männern und Frauen.

Bis zum Ende des Zugs hatten sich schon mehr als zehn Meter Abstand gebildet. Er torkelte, halb benommen, so schnell er konnte, hinterher, bis er sie fast eingeholt hatte, als er plötzlich das Gesicht mit der Hakennase wiedersah. An der Ecke einer anderen Gasse, schräg gegenüber, zwölf, vielleicht fünfzehn Meter von ihm entfernt. Wieder kam ihm das Gesicht bekannt vor. Er blinzelte, um besser sehen zu können. Doch das Gesicht war schon verschwunden, und auch als er in die Gasse spähen konnte, war der Mann nicht zu sehen. Sie war menschenleer und öde, so wie alles in Berón.

*

Verónica stand zitternd am Grab. Entgegen dem Ritus der Hochland-Menschen schluchzte sie beinahe hysterisch, hinderte die vier Männer immer wieder daran, den Sarg an den zwei Seilen nach unten gleiten zu lassen, so als wollte sie das Versinken in der Erde aufhalten. „Flieg doch! Flieg doch endlich, mein Engel!“, schrie sie. Immer wieder umklammerte sie einen der Stränge, sodass der Sarg jedes Mal in Schieflage geriet, bis Timo energisch eingriff.

Als es ihm endlich gelang, ihre Hände von dem Seil zu lösen, schlug sie ihm ins Gesicht und begann laut auf ihn einzuschimpfen. In der Quechua-Sprache. Er verstand kaum etwas, aber er ahnte, dass sie sich vor den Mitmenschen auf ihre Art reinwaschen wollte, freisprechen von der Tatsache, dass sie es gewesen war, die Chantal unbeaufsichtigt gelassen hatte. Sie bewarf ihn mit Vorwürfen über alle möglichen Verfehlungen. Das spürte er; denn er kannte ihre Art während solcher Ausbrüche. So wie manchmal in den letzten Jahren, wenn er sie wegen einer Dummheit im Alltag gescholten hatte.

Aber diesmal war es eine große, eine verhängnisvolle Dummheit gewesen. Sie hatte versagt; hatte sich mit ihrer Tochter Hals über Kopf einfach aus München davongestohlen und war in Tarma so leichtsinnig gewesen, Chantal vor dem Textilgeschäft eine Viertelstunde allein zu lassen, in ihrem mickrigen Auto, das noch nicht einmal verschlossen gewesen war.

Doch sie war es gewesen, die ihm schon während des Gottesdienstes in der Kirche hasserfüllte Dinge zugeflüstert und kaum auf die Worte des Priesters gehört hatte. Timo nahm sich zusammen, ertrug die Tiraden, starrte wie in Hypnose unentwegt auf den Sarg, scheinbar unempfänglich für das, was sie da gegen ihn geiferte. Aber er war nicht auf Chantal konzentriert, sondern nur auf den jetzt am Grund des Erdlochs aufsetzenden Sarg. Denn sie hatte er ja gesehen. Gerade vorhin erst, als er dort auf dem Weg gestürzt war und am Boden lag. Chantal mit den eigenartig fächernden Händchen, mit dem so friedvollen Gesicht hinter dem weißen Schleier. Vielleicht hatte sie bereits geahnt, was vor dem Grab passieren würde, und wollte ihm sagen, dass er keine Schuld daran hatte. Dieses Bild von Chantal wollte er in sich behalten. Das Bild des Angelito, des Engelchens.

Niemals würde er es mit Verónica teilen!

Der Priester am Grab verschaffte sich nun mit einer einzigen Handbewegung Ruhe, bevor er die Segnungen vornahm und Erde auf den Sarg warf. Verónica wurde von ihren Eltern in die Arme genommen. Die Menschen sangen recht und schlecht, und schließlich lärmten auch wieder Knallfrösche und kleine Heuler, die nicht weit vom Grab entfernt gezündet wurden. Jetzt störte es Timo nicht mehr. Er trug ihr Bild in sich, das Bild des Angelito. Der Sarg dort unten wurde zur Nebensache, je mehr er unter der aufgeschütteten Erde verschwand.

Doch auch ein anderes Bild tauchte von Zeit zu Zeit in seinem Kopf auf, ob er wollte oder nicht: Zu wem gehörte dieses Gesicht, das er zweimal entdeckt hatte? Nein, es kam ihm nicht ganz unbekannt vor. Aber vielleicht war das auch Einbildung.

*

Henryk Jester lächelte in sich hinein, als er kurz die ungläubige Miene sah, die weit aufgerissenen Augen von Timo Rossik, der dort hilflos auf dem Weg lag. Wenn er ihn erkannt hatte, machte das gar nichts aus. Er würde doch nicht glauben, was er gesehen hatte. Und wenn er darüber sinnieren sollte, konnte ihn das nur noch nervöser machen. Und das war gut für Henryks Aufträge. Den einen hatte er schon bravourös erledigt. Nur Timo durfte er noch nicht töten. Leider! Bernhard brauchte ihn noch für New York, für einen Kunden, den nur Rossik im Griff hatte. Danach aber war die Bahn frei.

*

Er hatte die Sauerstoffmaske weggerissen. Mit oder ohne, er konnte nicht schlafen, trotz dreimal zehn Milligramm Valium. Wie ist Chantal umgekommen? Wer hat sie ermordet? Wer in dieser öden, bergigen Gegend mit ihren dreckigen Dörfern und den spartanisch lebenden Menschen?

Er glaubte der Polizei einfach nicht. Sie sei zwar mehrfach missbraucht worden, aber nicht in diesen Tagen. Wochen könnten dazwischenliegen. Das wäre noch in Deutschland gewesen! Nein! Er wusste, was hier vor sich ging: Man wollte der Bevölkerung keinen Makel aufdrücken; denn wäre Chantal dann noch ein sündenfreies Engelchen gewesen? Oder man kannte dieses Schwein und versuchte zu vertuschen. Aus irgendwelchen Gründen! Weil jemand schmierte oder weil ein gewisser Jemand es einfach nicht sein durfte. Er hatte es Verónica gesagt. „Du musst nicht alles glauben, was die Polizei sagt!“ Doch sie hatte vehement den Kopf geschüttelt und wieder zu heulen begonnen.

Timo wendete sich unaufhörlich im Bett oder setzte sich auf, damit er besser durchatmen konnte, um sich gleich wieder auf das Kopfkissen fallen zu lassen. Er dachte an Verónicas Ausfälle während der Predigt und am Grab. Warum hatte sie ihn auf Quechua angeschrien? Vor all den Menschen. Hatte sie ihn gar beschuldigt? Vielleicht dass er es sogar war, der sie missbraucht haben könnte? Vielleicht hatte sie sogar selbst ein Komplott mit der Polizei geschmiedet – gegen viel Geld? Um sich an ihm zu rächen, für was auch immer? Denn er hatte nie genau gewusst, was in ihrem Kopf vor sich ging. Oft hatte darin ein Schwarm wirrer Ideen gewütet, zumindest in den letzten Jahren. Und als er sie endlich zum Psychiater, seinem Freund Doktor Thorlef Engelcke, geschleppt hatte, sprach der nur von leichten Depressionen. Das war geradezu lachhaft gewesen! An seiner Psyche hatte Thorlef viel mehr auszusetzen gehabt, was er damals für völlig unsinnig hielt. Jetzt war er sich nicht mehr so sicher, nach all dem, was ihm am Nachmittag auf dem Weg zum Grab widerfahren war. Noch tat die Hüfte weh und sein Kopf brummte vom Sturz mitten unter den Einheimischen.

Endlich wurden seine Lider so schwer, dass sie wieder und wieder wie schwere Vorhänge nach unten zogen. Doch im Halbschlaf schrak er hoch, da plötzlich das Herz maßlos und unregelmäßig pochte. Er musste sich einfangen, es sich bestätigen, dass er noch lebte, obwohl er es in diesen Momenten gar nicht mehr richtig wollte. Durch tiefes Atmen beruhigte er sich schließlich wieder, doch die Angst blieb, dass es ihm erneut widerfährt, und so hielt er die Augen krampfhaft offen, bis sie sich schlossen, ob er wollte oder nicht. Aber wenig später riss er sie abermals auf, als er ein Geräusch wie einen Windstoß im Zimmer hörte, und dann sah er sie wieder: Chantals Gesicht – draußen vor dem Fenster, hinter einem weißen Schleier, schwebend, das eine Händchen vor ihrem Kinn hin und her fächelnd, als wollte sie ihm etwas sagen; vielleicht, dass irgendetwas nicht stimmte. Aber was? Er rieb sich panisch die Augen, blickte wieder zum schmalen Fenster, dessen Holzladen gegen die Wand schepperte, doch Chantal war plötzlich weg. Dafür sah er ein anderes Gesicht, das des Mannes mit der Hakennase. Er sah ihn ganz deutlich, obwohl es Nacht war. Sie starrten sich durch die stumpfen Scheiben an. Ich seh ihn doch, hämmerte er sich ein.

Es war keine Schimäre, wie kurz zuvor noch. Das konnte nicht sein. Dennoch schüttelte er wild den Kopf, wie um sich zu vergewissern, ob er auch wirklich richtig tickte, ob seine Augen noch funktionierten. Wieder sah er zum Fenster. Das Gesicht war verschwunden. Er sprang vom Bett und zur Tür hin, schob den großen Riegel zurück und riss sie auf. Der Patio lag im Dunkel, leichter Wind wehte. Er blinzelte intensiv, um die Finsternis aufzuhellen. Nichts! Kein Mensch! Alle Türen schienen verrammelt. Vielleicht war er tatsächlich krank und Thorlef hatte das damals schon erkannt. Nur: Das Gesicht kam ihm bekannt vor, aber es gehörte zu jemandem, der in seinem Leben keine Rolle spielte. Bislang! Er dachte nach. Oft hatte nur die Mimik eines Menschen einen Doppelgänger. Wen sah er da, wem sah der Mann ähnlich? Welches Ereignis löste dessen Bild in ihm aus? Oder war es ein Film? Er brütete, während er auf der Bettkante saß. Schließlich rollte er zur Seite, grübelte weiter und verhalf dadurch dem Valium zum Erfolg, schlief endlich ein, noch ein Bein über dem Bettrand.

*

Verónica lag auf dem harten Bett, dessen Holzrahmen bei jedem Atemzug knarzte. Sie schlief nicht. Ihre Gedanken rotierten. Wie konnte er bestraft werden für das, was er ihr angetan hatte? All die Jahre inmitten dieser Snobs, dieser verlogenen Welt, durch die sie in diesen Strudel hineingerissen worden war! Er hat Schuld, nur er! Von Anfang an! Er wollte mich nur vorzeigen, weil ich anders war als die Münchner Damenwelt. Er hatte was Besonderes an Land gezogen. Aber sonst war ich ihm schnell egal. Kein Wunder, dass ich mich breitschlagen ließ! Treue … Was ist das schon? Was Moralisches, was Katholisches? Heuchelei ist es! Nur der Exzess mit Chantal …

Jetzt fiel es ihr wieder schwer, die Schuld umzuverteilen. Erst als sie wie immer zu dem Schluss kam, dass Timo – und zwar nur er – Auslöser für alles war, fand sie den Trost für sich zurück. Gäbe es ihn nicht, dann …! Sie wünschte ihm den Tod.

Inmitten dieser abgründigen Gedanken fiel aus dem Nichts ein Kissen auf ihr Gesicht. Als sie es wegzustoßen versuchte, berührten ihre Hände zwei feste, unbehaarte Arme, die noch einmal kurz das Kissen anhoben, um ihr einen letzten gellenden Schrei zuzugestehen: „Timo, Timo!“

*

Erst spät am Morgen wachte Timo auf. Er war vom Valium völlig benommen. Trotzdem kehrten seine Gedanken sofort zu den Bildern der Nacht zurück. Er wiegte voller Zweifel den Kopf, war sich jetzt nicht mehr so sicher, ob sich die Trugbilder vom Nachmittag vielleicht nur im Traum wiederholt hatten. War er wirklich aufgestanden, um die Tür zu öffnen und im Patio nach dem seltsamen Mann zu sehen?

Es klopfte. Er öffnete einem jungen Mädchen, das er flüchtig gestern im Trauerzug gesehen hatte. Sie brachte ein karges Frühstück auf einer Schiefertafel herein, ein bisschen Fladen, Marmelade und Mate-Tee. Die Schiefertafel hatte sicher Chantal gehört, dachte er. Dass er nicht mehr bei Oscar, Juana und Chantal in der Küche hatte sitzen dürfen, um zu frühstücken, ging auf Verónicas ständige Vorwürfe zurück. Er war nicht mehr in der Wohnung geduldet.

Er kaute lustlos an einem abgerissenen Stück Fladen und aß einen Löffel Marmelade, schlürfte den heißen Tee, das Einzige, was ihm schmeckte. Dann stand er auf und ging zum Fenster. Erst als er mehrere Minuten durch die kleine Scheibe gestarrt hatte, ohne dass sich seine Lider im Geringsten bewegten, die Augäpfel schließlich zu brennen begannen, wurde ihm klar, dass er noch halb im Delirium war. Er versuchte tief durchzuatmen, öffnete dazu das Fenster. Das Mädchen hastete jetzt wieder auf sein Zimmer zu. Er öffnete ihr die Tür. Sie deckte stumm das Bett auf, stellte Geschirr und Frühstücksreste auf die Schiefertafel und verschwand damit, ohne ein Wort gesprochen zu haben.

Er wollte schleunigst weg aus diesem Berón; länger hielt er es hier nicht mehr aus! Allerdings ging der nächste Bus erst übermorgen und dann auch nur bis zur Hauptstraße, bis nach La Oroya. Von dort konnte es weiter nach Lima gehen. Aber wann? Er musste eine schnellere Lösung finden, irgendwie! Nichts wie weg und schleunigst die Scheidung einreichen, koste es, was es wolle! Hier könnte er vielleicht in den nächsten Stunden noch alles klar machen mit Verónica. Sie musste ihm ein Papier unterschreiben, damit er was in der Hand hätte, wenn er in Deutschland damit vor den Scheidungsrichter trat; denn dass sie tatsächlich nochmals nach München käme, hielt er für unwahrscheinlich. Er wollte ihr ein faires Angebot machen, das in Peru weit mehr wert sein würde als in Deutschland. Aber er musste weg! Noch heute! Weg aus diesem muffigen Zimmer, weg von der feindlich eingestellten Familie, weg aus diesem Kaff Berón, weg aus Peru! Nie wieder würde er in dieses Land zurückkehren, wo er Jahre verbracht hatte; faszinierende Jahre. Jetzt aber war alles vorbei!

Hektisch begann er seinen Koffer zu packen, um plötzlich wieder innezuhalten, seine Aktentasche hervorzuholen und sich mit der Tasche auf den Knien aufs Bett zu setzen. Er zog einen weißen Block heraus, einen Kuli und begann eine Einverständniserklärung zu formulieren, die Verónica unterzeichnen müsste. Es dauerte viel länger, als er gedacht hatte. Eine Stunde und mehr. Während er schrieb, versuchte er vergeblich, seine zitternden Finger ruhig zu stellen. Fast erkannte er seine eigene Schrift nicht. Endlich war er so weit, dass er mit der Fassung einigermaßen zufrieden war.

Schrille, entsetzliche Schreie im Patio. Er stürzte zum Fenster und sah wieder das Mädchen von vorhin, wie es die Hände vor den Kopf hielt und gellend kreischte, bis es Oscar mit seinen Armen umfasste und in den Hausflur zog.

Was war geschehen? Er zog es vor abzuwarten, doch es dauerte nicht lange. Jemand klopfte energisch an die Tür.

Vor der Tür stand derselbe Polizist, den er gestern Morgen in seinem schlampigen Revier aufgesucht hatte: Gomez, Manuel Gomez! Nur ausweichende Auskünfte hatte er gegeben, vage Angaben darüber, wie in Berón, Tarma und Umgebung nach dem Entführer und Mörder Chantals gesucht werde; natürlich ohne dass man bislang eine Spur gefunden habe. Eine äußerst magere Auskunft, in keiner Weise dazu angetan, die Hoffnung zu nähren, dass der Täter bald gefasst würde.

Der büffelige Mann in der viel zu eng sitzenden Uniform stieß ihn regelrecht zur Seite, als er ins Zimmer stürmte und sofort in seinem Koffer wühlte, die wenigen gerade eingepackten Sachen wieder herausschleuderte und auf dem Bett verstreute. „Du hast sie umgebracht! Stell dich an die Wand, Hände nach oben! Spreiz die Beine!“

Der schnaufende Koloss hinter ihm untersuchte ihn fahrig. „Das hat sie euch allen eingeredet!“, stotterte Timo verstört. „Und ihr glaubt das einfach, statt dass ihr richtig zu suchen anfangt!“, schrie er wütend gegen die Wand. „Chantal war alles, was ich liebte!“ Er konnte seine Tränen nicht zurückhalten.

„Ich rede nicht von der Kleinen! Deine Frau da drüben, die hast du auf dem Gewissen oder der Kerl, den du dafür hierhergeschleppt hast und wahrscheinlich noch dafür bezahlst! Dreh dich wieder um, Deutscher!“

„Was redest du da für einen Quatsch? Was soll mit Verónica sein?“, fragte Timo entsetzt.

„Sie ist tot. Mausetot! Erst erstickt und dann eine Kugel durch die Stirn!“

Der Polizist wühlte weiter in dem modrigen Schrank, wo noch der Rest von Timos Sachen hing, warf die Unterwäsche aus den Fächern unwirsch auf den Boden.

Mit geweiteten Augen sah Timo zu. Träumte er wieder? Aber es gab keinen Zweifel! Auch dieses Jetzt war real, so real wie der Mann am Fenster heute Nacht. Der Mann von heute Nacht! Den hatte der Polizist wahrscheinlich gemeint. Ein Komplize? Dieser Schwachkopf! Aber Verónica tot? Ermordet?

„Ich habe heute Nacht einen Mann gesehen. Hier am Fenster. Denselben, den ich …“ Timos Stimme versagte. Er torkelte zum Bett, andernfalls wäre er hingefallen. Das Blut war aus seinem Gesicht gewichen, er hatte es gerade noch gemerkt, genauso wie den kalten Schweiß, der sich auf der Stirn gebildet hatte. Er war unfähig, etwas zu sagen, zitterte am ganzen Körper. Der Polizist murmelte bei jedem Handgriff undeutliche Flüche vor sich hin.

„Wo ist sie?“, brüllte Timo den Polizisten an, der erschrak und eine Reflexbewegung zu seinem Revolver machte. „Wo ist sie?“

„Da drüben!“, Gomez deutete mit der Hand in die Richtung von Verónicas Zimmer.

Timo kümmerte sich nicht mehr um den feisten Comisario und lief in den Patio. Plötzlich hatte er unglaubliche Angst um Verónica. Er wollte zu ihr. Sehen, dass das nicht stimmen konnte, was dieser Kerl da eben gesagt hatte. Vor dem Flur zum Wohntrakt des Hauses stand Oscar mit wilden Augen und mit langen grauen Haarsträhnen, die ihm wirr ins Gesicht hingen. Er stand da, als wartete er schon auf ihn, bereit, ihn mit der Kraft seines Hasses zu vernichten.

Timo hielt an. Er würde ihn nicht ins Haus lassen.

„Was ist nur geschehen, Oscar, was ist mit Verónica passiert?“, rief er ihm zu, während er langsam näher trat.

Oscar streckte den rechten Arm aus, als Zeichen, dass Timo besser dort stehen bliebe, wo er jetzt war. Nun erkannte Timo im Dunkel des Flurs auch Juana.

„Lass mich zu ihr, Oscar! Sie ist meine Frau!“ Timos Stimme war unsicher.

„Hier kommst du nicht herein. Verschwinde, oder ich breche dir alle Knochen!“ Er trat einen Schritt auf Timo zu. „Du hast nur Unheil über uns alle gebracht. Du hast sie getötet! Ermordet! Du hast Chantal und sie …“

Manuel Gomez unterbrach Oscar: „Warte! Da war noch jemand. Das muss noch geklärt werden. Ein Mann …“

„Nimm ihn endlich fest, Manuel!“, fiel ihm Oscar kreischend ins Wort. „Los, jetzt sofort, oder …“

Oscar machte einen weiteren Satz auf Timo zu, doch der Polizist sprang überraschend flink dazwischen.

„Lass das, Oscar! So weit ist es noch nicht. Wir müssen erst klären, wer der Mann ist, den wir alle nicht kennen. Wenn sie zusammengehören, ist alles klar. Aber jetzt sei vernünftig, geh zurück in dein Haus!“

Juana und das Mädchen standen nun am Eingang des Flurs. Beide hatten ihre Hände an die Wangen gelegt und blickten mit stark geröteten Augen auf die drei.

„Er soll hier abhauen und das übernimmst du jetzt. Sperr ihn ein! Los, mach endlich! Oder willst du, dass ich mich vergesse? Auch dir gegenüber?“

Gomez fasste wieder an sein Halfter, obwohl er das nicht nötig gehabt hätte, denn er wirkte ungleich kräftiger als Oscar.

„Ich möchte zu meiner Frau!“, schrie Timo, doch der Polizist packte ihn an der Hand, mit der anderen stieß er Oscar zurück.

„Nichts wirst du! Pack deine Sachen, ich geb dir fünf Minuten!“

Timo machte sich die Situation bewusst. Es hatte keinen Sinn zu beharren. Er lief in sein Zimmer und sammelte seine Sachen ein, die überall verstreut lagen, und stopfte sie in den Koffer, packte den Vertrag, den Verónica unterschreiben sollte, und alle angefangenen Entwürfe in seinen Aktenkoffer und lief, beide Hände beladen, in den Patio zurück. Gomez zerrte ihn am Oberarm an dem zornig fauchenden Oscar vorbei durch das schmale Eingangstor und zu seinem Polizeiwagen, einem Jeep aus besseren Zeiten.

„Wirklich, ein Mann war heute Nacht im Patio, am Fenster zu meinem Zimmer“, stammelte Timo, als er neben dem Polizisten saß.

„Mag ja sein. Aber jetzt halt erst mal dein Maul, bis wir da sind, verstanden?“

Sie rumpelten durch die Gassen bis zum Revier. Gomez nahm die Aktentasche, Timo den Koffer. Die Eingangstür des Polizeipostens und auch Gomez’ Büro standen offen. Timo kannte die Ein-Mann-Wache bereits von gestern.

„Setz dich!“ Gomez drückte ihn mit beiden Händen auf einen Stuhl und ließ sich gegenüber in einen altmodischen Ledersessel fallen, fasste sich mit einem forschen Griff in den Schritt, um seinen Weichteilen mehr Bequemlichkeit zu verschaffen. „Also, dieser Mann, woher kennst du ihn?“

„Ich kenne ihn nicht! Aber gestern, während des Trauerzugs, habe ich ihn zweimal gesehen. Ich habe gleich gemerkt, dass er nicht von hier sein kann.“

„Genauso wie du!“, grölte Gomez, doch Timo ging nicht darauf ein.

„Ein eigenartiges Gesicht, große Hakennase und …“

„Ja, das ist er! Der fiel mir auch auf!“, unterbrach ihn Gomez. „Und den hast du nachts in Oscars Patio gesehen, an deinem Fenster? Warum bist du nicht rausgelaufen?“

„Offen gestanden dachte ich erst, ich träume, genauso wie ich vorher Chantal, meine Tochter, im Traum gesehen hatte. Als mir’s dann richtig klar geworden ist, bin ich aufgestanden und in den Patio gegangen. Es war aber niemand zu sehen.“

„Hm. Ihr habt also nichts miteinander zu tun?“ Gomez’ Stimme wurde konzilianter.

„Im Gegenteil! Wenn er Verónica umgebracht hat, dann steckt er auch hinter dem Mord an meiner Tochter. Und wenn das so ist, dann stehe ich auch auf seiner Liste, als letztes Opfer!“

Gomez sah ihn an, wiegte den Kopf hin und her; offenbar wusste er nicht, was er sagen sollte. Er zündete sich eine Zigarre an und sah die glimmende Spitze mindestens eine halbe Minute stumm an.

„Wer kann es sein? Ein Deutscher?“

Timo zuckte mit den Schultern und fragte: „Haben Sie ein fremdes Auto gesehen, das hier irgendwo in einer Gasse geparkt wurde?“

Gomez schüttelte den Kopf. „Kannst du zeichnen?“

„Leidlich!“, meinte Timo.

Gomez wühlte in einer der Schubladen des schäbigen grauen Metalltisches und zog zwei verknitterte weiße Blätter hervor, die er Timo zusammen mit einem stumpfgekauten Bleistift zuschob. „Versuch es, dann sehen wir weiter!“

Was Timo in der nächsten halben Stunde beim Zeichnen störte, war das Zittern seiner Hand, das sich nicht dämpfen ließ. Erst vor einer Stunde hatte er erfahren, dass seine Frau ermordet worden war. Und jetzt trieb ihn auch die Angst um sein eigenes Leben um. Da draußen lief jemand umher, der den Auftrag hatte, eine ganze Familie auszulöschen. Nur, warum?

„Ja, den meine ich auch! Der war noch nie in Berón. Da bin ich mir ganz sicher“, sagte Gomez, als er Timo die Zeichnung aus der Hand nahm. „Was schlägst du vor?“

Timo war mehr als überrascht von der Frage. Er überlegte. Dass er in der neuen Situation Berón verlassen könnte, kam ihm unrealistisch vor. Andererseits schien der Polizist kooperativer zu werden. Schließlich schlug er vor: „Behalten Sie mich ein oder zwei Tage hier! Damit zeigen Sie den Leuten von Berón, dass Sie einige Tage brauchen, um alles zu überprüfen, was mich belasten könnte. In der Zeit könnten Sie nach dem Mann suchen lassen!“

„Und dann?“

„Hängt davon ab, ob Sie ihn aufgreifen.“

„Und wenn nicht, was dann?“

„Sie werden in den zwei Tagen herausfinden, dass es nichts gibt, was mich mit diesem Mann in Verbindung bringt, und so könnten Sie mich laufen lassen.“

„Wie stellst du dir das vor?“

„Sie fahren mich mit Ihrem Jeep über Tarma zur Hauptstraße, wo ich den Bus nach Lima nehme. Wir müssten eben nachts losfahren.“

„Und wenn ihr beiden Halunken doch zusammengehört?“

„Glauben Sie, dass ich meine Tochter umgebracht habe?“

Gomez schwieg, starrte auf den Boden. Dann schnellte sein Kopf vor: „Was tust du, wenn ich’s nicht mache?“

„Ich fordere über Sie, ja über Sie, sofortigen konsularischen Beistand an. In Lima! Die sind morgen, spätestens übermorgen hier, mit einem guten Anwalt!“

Der Comisario zog tief an seiner Zigarre, überlegte. Timo sah ihm an, dass er mit fremden Behörden und Anwälten nichts zu tun haben wollte. Plötzlich schoss Gomez’ Kopf nach vorn: „Wie viel?“

„Tausend Dollar.“

„Zwei!“

„So viel habe ich dabei. Zweitausend für alle Spesen, die Sie für meinen Transport zur Hauptstraße nach Lima aufwenden müssen.“

„So will ich’s auch gesehen haben!“, Gomez streckte ihm die Hand hin und Timo schlug ein.

Dann sperrte ihn der Polizist in eine der beiden Zellen.

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Timo löste seine Hände von den kantigen Armlehnen, sank tiefer in seinen Sitz. Soeben hatte die Stewardess die erreichte Flughöhe mit zehntausend Metern angegeben. Er war erleichtert. Nur die Fluglinie verband ihn noch für einige Stunden mit dem Land, das er so sehnlichst hatte verlassen wollen. Die Aeroperu würde ihn zunächst nach Caracas bringen, von dort ging es mit der Lufthansa über Frankfurt nach München weiter. Endlich! Die letzten Tage hatte er teils in der kargen und nachtfrostigen Gefängniszelle von Berón, teils im Jeep auf miserablen Straßen neben dem Lenkrad-Akrobaten, dem feisten Comisario Gomez, zugebracht und schließlich eine Nacht in der mehr als schäbigen Absteige an der Hauptstraße Huancayo–Lima, bevor er in einem vorsintflutlichen Bus nach Lima geschaukelt war.

Seit sie in Berón abgefahren waren, war ihm stets zumute gewesen, als befände er sich auf der Flucht. Ständig hatte er nach dem Mann Ausschau gehalten, dem vermutlichen Mörder Verónicas, wahrscheinlich auch Chantals, nach dem Mann, der möglicherweise auch sein Mörder werden konnte. Immer war er von Panik erfüllt gewesen, wenn er die Gesichter an den Fensterscheiben überholender Fahrzeuge fixierte, die ihn anzustarren schienen. Am Flughafen von Lima schien er ihn mit Sicherheit gesehen zu haben, den Mann mit der auffälligen Hakennase. Aber immer, wenn er gerade seine Augen gerieben oder zusammengekniffen hatte, um das Gesicht genauer ins Visier zu nehmen, hatte es sich in Nichts aufgelöst. Noch ein Sekunden-Schock, als er sich in der Schlange von Passagieren durch den schmalen Gang des Flugzeugs zu seinem Platz zwängte: in der achten Reihe eine blonde Frau mit den exakt gleichen Gesichtszügen und der übergroßen Hakennase. Nun saß die Frau sieben Reihen vor ihm. Und dann fiel es ihm ein, woher er das Gesicht zu kennen glaubte: Im dritten Stock der Prosoft-Büros hatte er einmal eine Frau gesehen, die dieser hier sehr ähnlichsah. Ein Zufall!

Jetzt, nach dem zweiten Whisky, den ihm die Stewardess etwas mürrisch keine zwei Minuten nach dem ersten gebracht hatte, fühlte er, dass er wieder Herr seiner Sinne war. Es konnten nur Trugbilder sein! So etwas gab es doch! Von der Seele gesteuerte Merkwürdigkeiten! Thorlef Engelcke musste ihn darüber aufklären.

Er versuchte zu schlafen, aber wieder ging es nicht.

Wie hatte sich alles in den letzten sieben Tagen verändert! Plötzlich war er Witwer. Sein einziges, geliebtes Kind war tot, ermordet, nachdem es vielfach missbraucht worden war. Missbraucht vor Wochen! Angeblich! Seine Gespräche darüber mit dem Comisario durch die Zellenstäbe hindurch hatten immer wieder zum gleichen Ergebnis geführt: Die Misshandlungen hätten vor zwei Monaten stattgefunden. Das habe die Klinik in Tarma und eine andere in Huancayo eindeutig festgestellt. Timos wiederholte Frage, ob es denn nicht sein könnte, dass man der Bevölkerung nur vorenthalten wollte, jemand von ihnen habe ein Kind missbraucht, war von dem Polizisten stets vehement verneint worden. Mehr als nur einmal hatte Timo Gomez diese Theorie an den Kopf geworfen; denn niemand im Dorf – außer Verónicas Familie – habe überhaupt je von Missbrauch gesprochen. So jedenfalls hatte es ihm Gomez mehrfach berichtet. Und gerade deshalb erschien es Timo nur allzu wahrscheinlich, dass man das Thema in Berón und Umgebung einfach aussparte, weil man ausgiebig feiern wollte. Ein missbrauchtes Kind sei eben kein sündenfreies Kind mehr, kein Angelito, das zum Himmel flöge. Und somit hätte es auch keinen Anlass für ein Fest gegeben.

„Alles Hirngespinste!“, hatte ihm Gomez barsch zu verstehen gegeben. „So ein Ereignis feiert man hier immer!“

„Auch wenn das Kind ermordet wurde?“

„Auch dann!“, war Gomez’ trockene Erwiderung gewesen. „Und weißt du, warum? Weil früher alle erstgeborenen Mädchen umgebracht wurden. Das war damals noch kein Verbrechen. Die Kleinen wurden trotzdem feierlich beerdigt. Aber all das ist lange her. Nur der Brauch mit dem Fest hat sich gehalten.“

Timo hatte schließlich aufgegeben. Warum Gomez länger damit nerven? Er jedenfalls war sich sicher: Beide Morde waren hier in dieser elenden Gegend geschehen.

Gomez hatte ihn zwei Tage lang mit Essen versorgt und ihn auch bewacht. Zu seinem Schutz war das mehr als notwendig gewesen. Am zweiten Tag seiner selbst empfohlenen Schutzhaft fand frühmorgens die Beisetzung Verónicas statt. Sie hatte sich wegen der polizeilichen Ermittlungen, die Gomez allein durchführte, verzögert. Der Comisario hatte ihm strikt verboten, dort aufzukreuzen, auch als Timo begann, recht hysterisch auf das Nein zu reagieren. „Noch nicht mal in weitem Abstand vom Grab! Hier in der Zelle bleibst du!“, hatte er ihn angebelfert. Und er sollte Recht behalten. Nach der Zeremonie hatten zirka zwanzig Dorfbewohner versucht, das Revier zu stürmen, traten mit ihren Schuhen gegen die Außentür, an die Gomez das „Cerrado“-Schild gehängt hatte. Sie wollten den Mörder Verónicas lynchen. Durch sein Bürofenster hatte ihnen Gomez, das Gewehr in der rechten Hand, zugerufen, sie sollten abziehen, man lebe nicht mehr in Inkas-Zeiten! Er würde von der Waffe Gebrauch machen und außerdem Verstärkung aus Tarma anfordern. Dort käme der Häftling ohnehin in Gewahrsam und vor Gericht. Das Ganze hatte eine halbe Stunde gedauert, dann waren sie abgezogen. Oscar und Juana waren laut Gomez an der Aktion nicht beteiligt gewesen.

In der Nacht danach, um drei Uhr, waren sie losgefahren. Da nur ein Licht am Jeep funktionierte, waren sie pausenlos in Schlaglöcher geraten. Timos Hinterkopf und Rücken schmerzten dabei heftig. Kein Wunder: Der Kopf war durch seinen Sturz auf dem Weg zu Chantals Begräbnis noch stark lädiert und der Rücken versteift als Resultat der vielen Stunden auf der knochenharten Pritsche im Gefängnis.

Vor einem kleinen Hotel neben einer verwahrlosten Tankstelle an der Hauptstraße war er schließlich am Mittag von Gomez in die Freiheit entlassen worden. Der Comisario hatte die zweitausend Dollar kassiert, die Timo von dem Geld genommen hatte, das er eigentlich Verónica fürs Erste hatte zurücklassen wollen, hatte ihm Glück gewünscht und war davongebraust.

Im einzigen Hotel wurde ihm mitgeteilt, dass der Bus nach Lima bereits vor einer Stunde abgefahren sei. Und so war ihm nichts anderes übrig geblieben, als ein ziemlich heruntergekommenes Zimmer zu mieten, in dem er sich auf einem wackligen Stuhl vor das Fenster setzte, um die Straße ins Visier zu nehmen. Falls er den Mann rechtzeitig erkannte, sollte er ihnen doch gefolgt sein, vielleicht gar ins selbe Hotel, hätte er sich noch wappnen können. Fliehen! Per Anhalter. Nachts! Er hatte sich selbst als hysterisch bezeichnet, aber trotzdem seinen Platz am Fenster erst verlassen, als es stockdunkel war. Das zu kurze Bett hatte einer quietschenden Schaukel geglichen, die kaum ein paar Minuten Schlaf zuließ. Das fiel aber nicht mehr ins Gewicht, denn der Gedanke an den Mann, der vielleicht ganz nahe war, hielt ihn ohnehin wach, auch wenn er die Tür zweifach verschlossen und die Stuhllehne unter die Klinke geklemmt hatte.

Am nächsten Vormittag waren immerhin zehn Personen in den Bus gestiegen, alles Männer, deren Gesichter er unter den breiten Hutkrempen kaum erkennen konnte. Er hatte den Platz in der ersten Reihe unmittelbar neben der Tür in Anspruch genommen, seinen Koffer hinter den Fahrersitz geschoben und sich auf der langen Fahrt nach Lima nicht ein einziges Mal umgesehen. Am Plaza Sucre war er in ein Taxi umgestiegen, das ihn zum Flughafen hinausfuhr, und dort hatte er Glück gehabt, denn tatsächlich flog nach einer Stunde die Aeroperu nach Caracas, wo es wenig später Anschluss mit der Lufthansa nach Frankfurt geben sollte.

Er vergaß die Frau sieben Reihen vor ihm mit dem dritten und vierten Whisky. Dafür breiteten sich andere Bilder in seinem Kopf aus, Erinnerungen an das letzte Jahr, an dieses gottverfluchte letzte Jahr. Nicht dass es beruflich schlecht gelaufen wäre, ganz im Gegenteil. Mit Bernhard hatte er die Prosoft gut im Griff gehabt. Die Anzahl der Software-Kunden war um hundertvierunddreißig Prozent gestiegen, Umsatz und Gewinn gar um hundertachtzig. Aber seine Ehe, ein Desaster! Vorwürfe, nichts als Vorwürfe! Zugegeben, es hatte kaum je eine Woche gegeben, in der er nicht verreist war. Aber früher, war es da etwa anders gewesen? Nur: Da hatte ihn Verónica noch geliebt und zudem die neue Atmosphäre in München genossen, ihre großzügige Wohnung in Bogenhausen, seine gebildeten Freunde und Kollegen. Und dann war Chantal auf die Welt gekommen, ein wirklicher Engel, die ihre sich aufopfernde Mutter ständig auf Trab hielt. Verónica hatte während Chantals ersten Jahren gar nicht richtig wahrgenommen, dass er so häufig verreiste. Sie selbst war bei Einladungen und Festen oder geschäftlichen Veranstaltungen immer seltener zugegen gewesen, hatte es mehr und mehr vorgezogen, zu Hause zu bleiben, statt einen Babysitter zu engagieren, und wenn sie Timo einmal auf eine Festivität begleiten musste, weil er darauf bestand, war ihr Auftreten wieder so unsicher wie am Anfang ihrer Ehe gewesen. Ihr Deutsch hatte sich in dieser Zeit rasant verschlechtert. Wenn er ihr einige Wörter erklären wollte, hatte sie kaum zugehört und wenn doch, alles schnell wieder vergessen. Da es auf Deutsch zu mühsam wurde, hatten viele Freunde versucht, englisch mit ihr zu sprechen. Aber auch damit hatte sie sich schwergetan, obwohl sie diese Sprache während ihres Jobs in Lima noch gut beherrscht hatte. Meist hatte sie wie versteinert dagesessen, wenn die Runde ausgiebig über einen Witz lachte, hatte vor sich hin gestarrt und nur wenige Gesprächspartner gefunden, auch wenn Bernhard, Timos Kompagnon, sich ihrer des Öfteren angenommen hatte, ja sogar etwas um sie herumscharwenzelt war, wie es Timo zuletzt manchmal vorgekommen war. Eigenartigerweise hatte ihm aber gerade Bernhard vehement von dieser Ehe abgeraten. Er und sein Freund Gregor Ristov, der Syndikus ihrer Firma.