Wyatt Earp 127 – Cowboy Flaherty

Wyatt Earp –127–

Cowboy Flaherty

Roman von William Mark

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-319-9

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Richter O’Neil stützte sich mit beiden Händen auf die schwere Tischplatte auf und schüttelte den Kopf.

»Ich kann nicht verstehen, daß er nicht hereingekommen ist.«

Der weißhaarige Herr hob den Kopf und blickte auf die junge Frau, die ihm gegenüber am Fenster lehnte. Sie mochte etwa vierundzwanzig Jahre alt sein, war hochgewachsen, hatte flachsblondes Haar und aquamarinfarbene Augen. Um ihren vollen Mund spielte ein Lächeln.

»Vater, du mußt das doch verstehen«, sagte Jenny O’Neil. »Der Marshal hat doch andere Dinge zu tun, als uns zu besuchen. Wie du gehört hast, hat er Capucine gestellt. Was das bedeutet, solltest du besser wissen als jeder andere.«

»Natürlich weiß ich das, Kind. Es geht ja auch nicht darum. Ich finde nur, er hätte wenigstens einmal hereinschauen können. Sein Vater und ich haben uns ein Menschenalter gekannt und gut verstanden. Und der junge Wyatt hat uns früher in Denver besucht und auch oben in Quincy. Daß er sich nun gar nicht hat sehen lassen, begreife ich einfach nicht. Schließlich war er jetzt doch zweimal hier.«

Jenny lächelte immer noch und blickte den Vater ein wenig mitleidig an. »Wyatt Earp ist in erster Linie ein Gesetzesmann, Vater. Außerdem bin ich überzeugt, daß er hergekommen wäre, wenn er auch nur eine Viertelstunde hätte erübrigen können.«

O’Neil griff nach dem Zinnbecher, in dem er seine Virginiazigarren stehen hatte, zog eine heraus und zündete sie an.

Dünner bläulicher Rauch kräuselte sich in dem kleinen Zimmer, das zur Straße hinaus lag.

Jenny wandte den Kopf und blickte hinaus. Sie dachte an das, was sie in der vergangenen Nacht gehört hatte. An die fürchterliche Schießerei unten in der Mainstreet. Sie hatte oben an ihrem Fenster gestanden und an der Straßenecke die Männer gesehen.

Sie hatte Doc Hollidays geisterhafte schwarze Gestalt über dem weißen Schnee der Straße deutlich erkannt. Und dann auch die athletische Gestalt des Missouriers. Das Herz hatte sich ihr zusammengekrampft, als die Schüsse aufgeblitzt waren. Und dann war sehr schnell alles wieder still gewesen.

Erst am Morgen hatte sie gehört, daß Wyatt Earp und Doc Holliday mit Lazaro Capucine und den Galgenmännern gekämpft hatten. Capucine war von dem Marshal gestellt und gleich darauf aus der Stadt weggebracht worden.

Sie wußte, daß der Vater das alles sehr gut verstand und nur deshalb so sprach, weil er vor allem an sie dachte. Schon vor Jahren hatte die blutjunge Jenny O’Neil den stolzen Sheriff Earp verehrt, und als er dann Marshal in Dodge City wurde, hatte sie ihm Briefe geschrieben. Und das war noch nicht einmal sehr lange her.

Als sie jetzt hinausblickte, fühlte sie, daß der Vater auf ihren Rücken sah. Und dann hörte sie auch seine Schritte und spürte den Duft seiner Zigarre hinter sich.

»Jenny«, sagte der alte Herr mit brüchiger Stimme, »man sollte sich nicht so viele Gedanken machen. So ein Gesetzesmann ist in gewisser Weise kein gewöhnlicher Mensch. Oder ich will sagen, kein Mensch wie jeder andere. Sieh mal, Wyatt Earp…, nun ja, er ist eben Wyatt Earp…«

Jenny wandte sich um und lächelte den Vater an.

»Gib dir keine Mühe, Dad. Ich verstehe dich schon, und ich bin auch gar nicht traurig, daß er nicht gekommen ist. Es ist so, wie ich dir sagte: Ich bin sicher, daß er gekommen wäre, wenn er nur eine Viertelstunde Zeit gehabt hätte.«

Draußen lag ein trüber dunstiger Schneetag, der die Menschen geduckt dicht an den Häusern vorbeischleichen ließ.

Die O’Neils wohnten seit der Pensionierung des Richters hier oben in der Bergstadt Pyramid, wohin sie von Denver aus gekommen waren. Richter O’Neil hatte schon in seiner Jugend davon geträumt, später irgendwo einmal oben in den Bergen leben zu können. Und diesen Traum hatte er wahr gemacht. Zwar hätte er sein Haus lieber ein wenig außerhalb der Stadt gehabt, aber er hatte es billig erworben, und da er keineswegs über größere Mittel verfügte, war er es auch so zufrieden.

Seine Frau war schon in Denver gestorben. Die beiden O’Neils lebten hier zufrieden ihren Tag. Es war nicht allzuviel, was der Richter in einem arbeitsreichen Leben zusammengespart hatte, aber für sie beide würde es reichen. Sie waren bescheiden und stellten keinerlei Ansprüche an das Leben.

Gern hätte der Richter gesehen, wenn seine Tochter geheiratet hätte. So schmerzlich es ihm auch gewesen wäre, auf sie verzichten zu müssen, denn er hatte sich daran gewöhnt, daß sie um ihn war. Doch als vernünftiger Vater wünschte er ihr natürlich das gleiche Glück, das er mit seiner lieben Frau siebenunddreißig Jahre lang gefunden hatte.

Aber es schien so, daß sich die hübsche Jenny O’Neil nicht nach einem solchen großen Glück sehnte. Der einzige Mann, für den sie sich bisher interessiert hatte, war ausgerechnet der Marshal Earp. Ein Mann, den der Richter außerordentlich schätzte – den er sich aber doch nicht als Schwiegersohn wünschte, da er befürchtete, daß dessen Leben früher oder später irgendwo auf einer Straße von der Revolverkugel eines Banditen beendet werden würde.

Jetzt hob er den Kopf an, schob die Daumen in die Ausschnitte seiner schwarzen, mit Goldfäden bestickten Weste und blickte über die Schulter der Tochter hinaus auf die Straße.

»Weißt du, Jenny, Männer wie Wyatt Earp müssen sein in diesem Land. Ohne sie wäre hier immer noch das Chaos, das wir vor einem halben Jahrhundert hatten. Leider haben wir zu wenig Männer seines Schlages. Aber das Leben, das sie führen müssen, ist gefährlich. Ich weiß nicht, ob es gut wäre, als Frau ein solches Leben teilen zu müssen.«

Jenny O’Neil war blutrot geworden und wagte nicht, sich umzudrehen. Glühende Hitze war ihr in die Schläfen gestiegen.

Der Alte legte seine welke Hand auf die Schulter seiner Tochter, wandte sich dann um und ging hinaus, um sich oben in seinem Zimmer in seine alten Bücher zu vergraben.

Richter O’Neil ahnte sicher nicht, daß er noch an diesem Tage seine Tochter verlieren würde und sie niemals wiedersehen würde.

Es war später Nachmittag, als Jenny O’Neil das Haus verließ, um Miß Florestan aufzusuchen, mit der sie befreundet war.

Die beiden jungen Damen unterhielten sich an langen Winterabenden gern bei einer Tasse Tee im Dämmerlicht. Ann Florestan hatte ihre Eltern bei einem Bandenüberfall vor fünf Jahren verloren und lebte seitdem allein in einem kleinen Haus am Ende der Stadt von Näharbeiten.

Als es so dunkel geworden war, daß die beiden Mädchen einander nicht mehr sehen konnten, erhob sich Ann, um die Kerosinlampe anzuzünden.

Sie hatte den Tisch noch nicht erreicht, als sie Schritte im Flur hörte und zu Tode erschrak.

Es waren die harten Schritte eines Mannes.

Gleich darauf wurde die Tür aufgestoßen.

Ein erstickter Ausruf des Schreckens flog von den Lippen der beiden jungen Frauen.

Sie hatten sich umgewandt und starrten entgeistert, wie gelähmt vor Schrecken, zu der Tür hin, ohne irgend etwas sehen zu können.

Mehrere Sekunden verrannen.

In dem kleinen Zimmer herrschte lähmendes Schweigen.

Dann hatte Jenny O’Neil sich gefangen. Zwar flogen ihre Hände, und ihre Stimme wollte ihr versagen, dennoch preßte sie heiser hervor: »Wer – ist da?«

»Sind Sie Jenny O’Neil?« fragte der Mann zurück. Seine Stimme hatte einen seltsamen Klang, so, als ob sie hinter einem Vorhang hervorkäme. Zudem kam, daß er nur im heiseren Flüsterton sprach.

»Ja«, entgegnete die Tochter des Richters. »Was wollen Sie, und wer sind Sie überhaupt?«

»Das tut nichts zur Sache. Kommen Sie mit.«

Jennys Herz drohte stehenzubleiben.

Da schlug ein schwacher erstickter Laut von den Lippen ihrer Freundin. Ann Florestan brach zusammen und schlug hart auf den Dielen des Bodens auf.

Jenny starrte in das Dunkel hinein, dorthin, wo sie den Mann wußte.

Dann hörte sie seine Schritte, die näherkamen. Und dann stand er vor ihr.

Das schwache Licht, das von der verschneiten Straße und dem Nachthimmel durch das kleine Fenster fiel, ließ sie die Gestalt des Mannes schemenhaft erkennen. Er war sehr groß, breitschultrig und und trug eine Zipfelmaske über dem Kopf, die ihm bis zu den Schultern reichte. Seltsamerweise schien die Spitze der Zipfelmaske abgeschnitten zu sein. In Augenhöhe waren zwei dunkle Löcher zu sehen.

Er wirkte unheimlich, dieser Mann, wie er jetzt so reglos vor ihr stand.

Und plötzlich kam der Tochter des Richters die Erkenntnis: Ein Galgenmann!

Und mit dieser Erkenntnis kam auch schon die nächste: Er ist der Boß der Galgenmänner! Die Spitze seiner Zipfelmaske ist nicht abgeschnitten, sondern schwarz gefärbt!

Jenny O’Neil hätte nicht die Tochter des Richters sein dürfen, wenn sie über diese Dinge nicht informiert gewesen wäre. Und für diesen Mann hier hatte sie sich ganz besonders interessiert, da der Marshal Earp ihn seit Monaten verfolgte.

Der gefährlichste aller Verbrecher, die jemals im weiten Westen aufgetaucht waren! Ein Bandenchief vom Schlage Ike Clantons. Ein Mann, der womöglich Tombstoner Viehräuberfürst, der fast ein Jahrzehnt lang das ganze Land unten im Süden in Angst und Schrecken gehalten hatte. Dieser Mann hier führte eine Bande an, die noch weit größer war als die des Ike Clanton.

Die Verbrecher nannten ihre weitverbreitete Organisation »Geheimbund der Maskenmänner«. Ihr Zeichen war das Dreieck, das ihre Anführer auf silbernen Siegelringen trugen. Und ein anderes makabres Zeichen ihrer fürchterlichen Zunft war das Galgengerüst, das sie vor den Toten ihrer Opfer aufzustellen pflegten, eine Sitte, die ihnen den Schreckensnamen Galgenmänner eingetragen hatte. Unten in Arizona wurden sie wegen ihrer grauen Gesichtstücher, die sie bei Überfällen auf die untere Hälfte der Gesichter gebunden hatten, auch Graugesichter genannt.

Monatelang hatte die starke Bande Arizona und das angrenzende Nordland von Mexiko sowie einen Teil New Mexicos in Angst und Schrecken gehalten. Und nun hatte sich die Bande hierherverzogen in die Berge Colorados. Niemand begriff, was sie hierhergetrieben haben mochte. Daß es die Galgenmänner waren, die hier oben in den Bergstädten Colorados ihr Unwesen trieben, wurde erst bekannt, als Wyatt Earp hier auftauchte, um die Bande zu verfolgen.

Lazaro Capucine, der Vertreter des obersten Chiefs der Graugesichter, war von Wyatt Earp in Tombstone festgenommen und von einem Gericht zu lebenslänglicher Zwangshaft im Straflager Sescattewa verurteilt worden. Niemand wußte genau, wie es Capucine gelungen war, aus dem gefürchteten Straflager Sescattewa auszubrechen. Jedenfalls war er mit seinen Banditen hier in den Bergen aufgetaucht. Und in der vergangenen Nacht also hatte Wyatt Earp ihn endlich nach schwerem Gunfight in den Straßen von Pyramid gestellt.

Und nun stand hier vor ihr der gefürchteste oberste Boß der Maskenmännerbande!

Die jähe Erkenntnis drohte Jenny O’Neil die Sinne zu rauben.

Sie zog die Luft tief in die Lungen ein und preßte dann heiser hervor: »Was wollen Sie?«

Zu ihrer namenlosen Verwunderung kamen unter der Maske hervor die Worte: »Wo ist der Marshal?«

»Der Marshal?« stammelte Jenny. »Woher soll ich das wissen?«

»Ich habe nicht gefragt, woher Sie das wissen sollen, sondern wo er ist?« entgegnete der Mann schroff.

»Das weiß ich doch nicht.«

Da spannte der Bandit seine Rechte so hart um das linke Handgelenk der jungen Frau, daß sie hätte aufschreien mögen vor Schmerz.

»Diesen Ton wollen wir uns von jetzt an abgewöhnen, Jenny O’Neil. Sie sind in meiner Gewalt, merken Sie sich das, und nun beantworten Sie meine Frage: Wo ist der Marshal?«

Jenny schluckte schwer: »Ich weiß es nicht«, stotterte sie.

Da schlug der Mann brutal zu. Seine Hand brannte im Gesicht der Frau, ihr Kopf flog zur Seite.

»Sie sollen mir antworten!« fauchte er sie an.

Ein Weinkrampf schüttelte den Körper des Mädchens.

Plötzlich fühlte sie, wie der Mann ihr ein Tuch aufs Gesicht preßte, dem eine starke, abscheulich riechende Essenz entströmte. Sie versuchte, sich das Tuch vom Gesicht zu reißen. Aber der Mann preßte es ihr mit der Linken vor die Nase und hielt mit der Rechten ihren Kopf fest. Es war ausgeschlossen, sich von diesem eisenstarken Griff zu befreien.

Und ihre Kraft erlahmte auch bald. Ohnmächtig brach sie zusammen. Der Mann hob sie auf und schleppte sie zur Tür, wo er einen leisen Doppelpfiff ausstieß. Daraufhin kamen zwei Männer aus dem Hof in den Korridor, um ihm die betäubte Frau abzunehmen.

Der Bandit stand in der Tür und blickte auf den dunklen Körper der Näherin, der reglos am Boden lag. Dann ging er zum Fenster, nahm das Tuch auf und preßte es nun Ann vors Gesicht.

Dann ging er hinaus.

Hinter dem kleinen Haus der Florestans stand ein leichter zweispriegeliger Planwagen, auf dem die beiden Galgenmänner die ohnmächtige Jenny O’Neil legten. Der Chief trat in das Hoftor und gab den beiden Männern einen Wink. Der Wagen setzte sich in Bewegung und rollte davon.

Als sein Rumpeln unten in den Gassen verklungen war, blickte der Maskenmann noch einmal in den Hof. Dann ging er auf einen Schuppen zu und zog sein Pferd, einen Rapphengst, hervor, stieg in den Sattel und ritt westwärts davon, auf das Tal des großen Schlangenflusses zu.

*

Es war kurz vor zehn, als Richter O’Neil sich aus der Lektüre eines seiner trockenen Bücher losriß. Er zog seine alte Uhr aus der Westentasche, ließ den Deckel aufspringen und blickte verwundert auf das Zifferblatt. Dann erhob er sich und ging mit gichtigen Schritten zur Tür, um sie zu öffnen. Im Hausflur war alles dunkel.

»Jenny!«

Es blieb alles still.

»Jenny!«

Auch auf den zweiten Ruf hin rührte sich nichts.

Da riß der Richter ein Zündholz an und hielt es an den Docht der kleinen Wandkerosinlampe neben der Treppe. Mit staksigen Schritten ging er die knarrenden Dielen hinunter.

Unten im Flur war es dunkel.

O’Neil wollte nicht auch hier die Lampe anzünden, da er im Wohnzimmer ohnehin Licht machen mußte. Als er an der Tür zur Küche vorbeiging, war es ihm, als stiege eine seltsame Geruchsmischung von frischer Tannenluft, von Lederzeug und Tabak in seine Nase.

Der Alte hatte sich nicht geirrt. Der Mann, der im weiten Bogen aus der Stadt geritten war, um den Eingang des großen Schlangenflußtales zu streifen, war auf einem Umweg in die Stadt zurückgekehrt und stand jetzt hier im Richterhaus in der Türnische der Küche.

O’Neil ging nichtsahnend an ihm vorbei auf die Tür zur Wohnstube zu, betätigte den Drehknopf, öffnete die Tür und sah in das leere Zimmer. Als er an den Tisch trat, um nach der Lampe zu tasten, hörte er plötzlich hintter sich im Korridor Schritte, hielt inne und wandte sich um.

»Jenny?«

Plötzlich beschlich ein eisiges Gefühl seine Brust.

»Wer ist da?« stotterte er.

»Ich bin’s, O’Neil.«

Der Richter hatte das Gefühl, einen groben Schlag gegen die Brust zu bekommen. Es war ihm nicht bewußt, daß sein altes Herz eine schwere Attacke zu bestehen hatte.

»Wer… sind Sie?« stammelte er.

»Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, daß Sie nicht auf Ihre Tochter zu warten brauchen, O’Neil.«

Der Richter schluckte und mußte sich mit beiden Händen hinter sich an der Tischplatte festhalten, um nicht zu stürzen.

»Ich verstehe nicht.«

»Sie werden gleich verstehen, O’Neil.«

Der Mann kam ins Zimmer und ging an dem Richter vorbei bis vors Fenster. Da blieb er stehen und wandte O’Neil das Gesicht zu.