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1

Ich habe fast mein ganzes Leben gebraucht, um überzeugend lügen zu lernen.

Manchmal plagt mich dabei immer noch das schlechte Gewissen, obwohl das Flunkern mir eine wunderbare zweite Karriere eröffnet hat. Ich erzähle unangestrengt Geschichten und wechsle mühelos zwischen Englisch und Japanisch. Aber oft frage ich mich, wie ich an diesen Punkt gelangt bin und wo das alles noch hinführen wird.

Es war ein kühler Wintertag wie jeder andere in Monterey, acht Stunden Kurse im Defense Language Institute und anschließend wie üblich Joggen hinaus zum Lover of Jesus Point in Pacific Grove. Der Pazifik trennte mich von Japan, von meinem alten Leben. Ich würde ihn überqueren müssen, um nach Hause zurückzukehren.

Merkwürdig, diese Sehnsucht. Schließlich war ich in Kalifornien zur Welt gekommen, in San Francisco, etwa zwei Stunden nördlich von Monterey, wo meine Eltern lebten. Aber Japan, wo ich so wenige, jedoch glückliche Jahre Englisch unterrichtet und Antiquitäten verkauft hatte, lockte mich noch immer. Dieses Gefühl war an jenem kalten Wintertag stärker als in den zwei Monaten, die ich mich am DLI nun schon auf meinen neuen Beruf vorbereitete, über den ich niemandem etwas erzählen durfte und der mich vielleicht nach Japan zurückführen würde.

Auf gute Dinge lohnt es sich zu warten, dachte ich, während ich in einem langärmeligen, schwarzen, eigentlich für Radfahrer gedachten Top und Shorts dahinjoggte. Der kühle Wind an den Beinen störte mich nicht; schlimmer war es da schon, dass auf dem Rückweg mein Knie zu schmerzen begann. Ich würde mir bald neue Nike Airs kaufen müssen. In Monterey war die Auswahl leider nicht allzu groß. Natürlich hätte ich ohne Weiteres zum Shoppen nach San Francisco fahren können, aber das wollte ich nicht, weil ich bereits Weihnachten und den Jahreswechsel bei meinen Eltern verbracht und mich mit ungesundem Essen und unangenehmen Fragen hatte abmühen müssen. Meinen Eltern durfte ich nichts von der Organization for Cultural Intelligence, kurz OCI, erzählen, jener Geheimdienstorganisation, für die ich jetzt arbeitete. Ich konnte ihnen auch nicht erklären, warum Hugh Glendinning, der Mann, mit dem ich einmal so gut wie verlobt gewesen war, mich ein für alle Mal aus seinem Leben und seiner Wohnung in Washington, D. C., verbannt hatte.

Mir gefiel die Einsamkeit des zerklüfteten Küstenabschnitts bei Monterey am eiskalten Pazifik, wo Sardinen, Surfer, Seehunde und Wale wohnten. Ich verfolgte den Sonnenuntergang mit, der hier immer spektakulär war, ein richtiges Kunstwerk in Rot, Orange und Purpur.

Wie immer konnte ich das kurze grüne Leuchten nicht entdecken, das Hugh mir in unseren Urlauben in Japan und Thailand mehrmals zu zeigen versucht hatte. Ich sah nie die gleichen Dinge wie er. Vielleicht war das das Problem.

Ich richtete den Blick wieder geradeaus, auf die Hopkins Marine Station, eine der Stanford University angeschlossene Forschungsstation. Auf dem Felsen befand sich ein schöner Aussichtspunkt, den ich noch nie aufgesucht hatte, weil um das Areal ein hoher Maschendrahtzaun mit Schildern aufragte, die den Zutritt untersagten.

Genau dort entdeckte ich eine einsame Gestalt mit Fernglas.

Derselbe Mann war mir schon eine halbe Stunde zuvor aufgefallen, weil er, anders als die meisten Leute in Monterey, einen Anzug trug.

Ich brauchte ein paar Minuten, um die Felsnase mit der eingezäunten Station zu passieren. Als ich das andere Ende erreichte – das Knie schmerzte inzwischen noch mehr –, sah ich den Mann im Anzug über den Parkplatz der Station laufen. Also hatte ich mich doch nicht getäuscht: Sein Feldstecher war auf mich gerichtet gewesen, nicht aufs Meer.

Obwohl ich bereits eine halbe Stunde gejoggt war, setzte ich meinen Weg zu den American Tin Cannery Outlets fort. Der Mann mit dem Fernglas, das jetzt vor seiner Brust hing, kam immer näher. Kein normaler Jogger war im Anzug unterwegs; es musste sich um einen Verrückten handeln. Ich beschleunigte. Aus der Ferne konnte ich sein Gesicht nicht erkennen, sicher war nur, dass er graue Haare hatte.

Hinter den Outlets befand sich ein kleines, in freundlichem Rot, Weiß und Blau gehaltenes Lokal, das offenbar sowohl das in Monterey stationierte Militär als auch ausländische Touristen anlocken sollte. Als ich die Tür öffnete, hoben zwei junge Männer in T-Shirts und Jeans, die sich auf Spanisch unterhielten, die Köpfe.

»Könnten Sie die Polizei rufen?«, fragte ich schwer atmend.

Die beiden zögerten einen Moment und verschwanden dann hastig durch die Küche.

»Nein«, rief ich ihnen nach. »Ich wollte nicht …« Hätte ich sie doch nur in Spanisch angeredet, der hier üblichen Sprache, und nicht das Reizwort »Polizei« verwendet.

Ich sah mich nach einem Telefon um. Der Mann hatte mich in das Lokal eilen sehen; es war sinnlos, mich zu verstecken.

Als mein Blick durchs Fenster auf meinen Verfolger fiel, legte ich den Hörer weg, denn es war der Leiter der japanischen Abteilung bei der OCI und seit drei Monaten mein Vorgesetzter: Michael Hendricks.

»Michael! Was für eine Überraschung!«, begrüßte ich ihn, sobald er eintrat. Dass er sich in Kalifornien aufhielt, überraschte mich, denn davon hatte er in seinen zahlreichen E-Mails nichts erwähnt.

»Warum sind Sie denn weggelaufen?«, fragte Michael außer Atem und lockerte seine Krawatte. Man konnte ihn streng genommen nicht als gut aussehend bezeichnen; dazu war er zu schlank und hatte eine zu krumme Nase. Aber seine grau melierten, militärisch kurz geschnittenen Haare fand ich sexy, und seine eisblauen Augen verwirrten mich oft so, dass ich den Blick abwenden musste.

Ich entschied mich für eine ehrliche Antwort. »Ich hatte Angst. Würde es Ihnen nicht so gehen, wenn jemand Sie mit dem Fernglas beobachtet und verfolgt?«

»Ich habe Sie gesucht. Wissen Sie übrigens, dass Sie beim Laufen hauptsächlich die Innenseite des Fußes belasten?«

»Ja, und die Schuhe machen’s noch schlimmer.«

»Sie waren nicht in Ihrer Wohnung, und ich wusste, dass Sie in dieser Gegend joggen. Von der Felsnase aus würde ich Sie auf jeden Fall entdecken, dachte ich mir.« Michael zog sein Sakko aus. Zu meiner Überraschung war sein Oxford-Hemd nicht verschwitzt.

»Ich versuche schon den ganzen Tag, Sie zu erreichen«, erklärte Michael. »Wir müssen etwas besprechen.«

»Was denn?«, fragte ich.

»Reden wir lieber in Ihrer Wohnung.« Michael holte den Schlüssel eines Mietwagens aus der Tasche. »Ich nehm Sie mit.«

»Nein, danke. Ich jogge lieber nach Hause; es ist nicht mal mehr einen Kilometer. Und dann möchte ich duschen.«

»Klar. Ich besorg uns was zu essen und komm anschließend zu Ihnen. Dann haben Sie genug Zeit zum Duschen und Umziehen.«

Ich brauchte die paar Minuten, um einen klaren Kopf zu bekommen.

Nachdem ich die hintere Tür des Hauses im spanischen Stil aufgeschlossen hatte, ging ich schnurstracks ins Bad, duschte kurz und schlüpfte in eine Jeans und ein Seidenoberteil aus einer kleinen Boutique im Zentrum. Ich legte weder Make-up auf, noch fönte ich mir die Haare, bemühte mich allerdings, die Wohnung aufzuräumen, bevor Michael kam. Das Apartment befand sich im hinteren Teil eines bescheidenen Bungalows aus den Zwanzigerjahren. Früher war es vermutlich hübsch gewesen, doch jetzt bröckelte der Putz; der Vermieter hatte die alten Terrakottafliesen mit Linoleum bedeckt und lediglich billige Gartenmöbel bereitgestellt. Als ich gerade die Kissen auf dem Sofa und den Stühlen arrangierte, klopfte es. Ich schaute durchs Schlüsselloch, sah Michael und öffnete.

Er hatte eine Tüte der Paris Bakery, meiner Lieblingsbäckerei, und zwei Becher Kaffee dabei. Hinter ihm standen mehrere Umzugskartons. Nachdem er mir Tüte und Becher gereicht hatte, machte er sich daran, die Kartons in meine Wohnung zu tragen.

»Kekse? Was soll denn das für ein Abendessen sein?«, fragte ich.

»Wir haben nicht viel Zeit, und der Zucker gibt uns die nötige Energie für das, was wir heute Abend noch schaffen müssen.« Michael räusperte sich. »Wahrscheinlich fragen Sie sich, warum ich überhaupt hier bin.«

»Ja. Monterey ist nicht gerade der nächste Weg von Washington.«

»Ich bin mit einem Learjet, einer Militärmaschine, gekommen. Hat Spaß gemacht.«

»Dann ist es also dringend.« Ich nahm einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht. Michael hatte jede Menge Zucker hineingetan, aber keine Milch.

»Hätten Sie Milch gewollt?«, erkundigte er sich.

»Ja, eine Latte macchiato mit zwei Stück Zucker wäre perfekt gewesen, aber das können Sie sich ja fürs nächste Mal merken. Wird’s überhaupt ein nächstes Mal geben? Ich meine … die Kisten … Irgendwas stimmt nicht, oder?«

»So würde ich das nicht ausdrücken«, antwortete Michael. »Es tut mir leid, dass ich Sie vor Abschluss der Ausbildung wegholen muss. Ihr Kursleiter sagt, Sie schlagen sich gut.«

»Hier kann man kaum was tun außer Lernen.«

»Vielleicht ergibt sich ja später im Jahr die Möglichkeit, noch mal nach Monterey zu kommen.« Er schwieg einen Augenblick. »Aber jetzt brauche ich Sie in Washington. Das wollte ich Ihnen persönlich mitteilen, damit Sie selbst entscheiden können, ob Sie den Auftrag übernehmen oder nicht.«

Die Kartons ließen darauf schließen, dass er mit einer Zusage rechnete. »Handelt es sich um einen OCI-Job?«

Er nickte. »Wir haben etwa einen Monat Zeit für die Vorbereitungen, bevor Sie nach Tokio reisen.«

»Wow.« Zum ersten Mal seit Wochen hatte ich gute Laune.

»Alles Weitere erkläre ich Ihnen beim Packen, weil es morgen in aller Herrgottsfrühe losgeht. Wir fliegen um halb sieben nach Langley. Ihre Sachen bleiben hier; die vollen Kartons holt einer von unseren Leuten.«

Ich sah mich in meiner Wohnung um. »Und wie soll ich das mit dem Packen schaffen?«

»Ich helfe Ihnen.« Michael faltete den ersten Karton auf. »So viel Zeug haben Sie ja nicht, eigentlich nur Klamotten und Bücher, oder?«

»Und CDs. Und Töpfe und …«

»Kein Problem«, sagte Michael und holte eine dicke Rolle Klebeband aus dem Sakko.

2

Es gehe um ein japanisches Warenhaus, das Mitsutan, erklärte er mir. Dort hatte ich immer gern mit meinen japanischen Verwandten eingekauft, hauptsächlich in der Niederlassung in Yokohama, zu besonderen Gelegenheiten auch im riesigen Flaggschiff in der Ginza-dori, Tokios berühmtem Shopping-Viertel. Hier hatte meine japanische Großmutter einen teuren Kimono zur Feier meines dritten und siebten Geburtstags für mich erworben, wichtige Ereignisse im Leben eines jungen Mädchens. Und achtzehn Jahre später, als ich zum Unterrichten ins Land zurückgekehrt war, hatte ich verblüfft festgestellt, dass die Kleidung im Mitsutan – wie in fast allen anderen Läden Japans – mir passte wie angegossen.

Ich war in einen Kaufrausch verfallen, bis mir klar wurde, dass der Verdienst einer Englischlehrerin einfach nicht für agnès-b.-Röcke und Lucky Jeans reichte. Also hielt ich mich fortan vom Mitsutan fern und begnügte mich mit den abgelegten Designerklamottten meiner Mutter, die diese in nach Lavendel duftenden Kartons aus San Francisco schickte.

»Dem Finanzministerium liegen Beschwerden vor«, riss Michael mich aus meinen Erinnerungen. »Die Beamten halten die Umsätze des Mitsutan, besonders der Ginza-Filiale, angesichts der allgemeinen Situation des japanischen Einzelhandels für unrealistisch.«

Ich legte den Stapel Handtücher weg, den ich gerade in einem Karton verstauen wollte. »Die meisten japanischen Unternehmen frisieren ihre Bilanzen. Das ist fast schon eine Kunstform und dient dazu, sich vor Aktionären und Konkurrenz in gutem Licht zu präsentieren. Natürlich bemühen sie sich, auf dem Papier besser dazustehen als in der Realität.«

»Es besteht aber ein Unterschied zwischen Imagepflege auf dem Papier und echten Profiten aus illegalen Aktivitäten.« Michael verschloss den vierten Karton mit Klebeband.

»Und welche illegalen Aktivitäten legt man Mitsutan zur Last?« Ich wickelte meine guten alten Panasonic-Lautsprecherboxen, ein Überbleibsel aus meiner Jugend, in Handtücher. »Verkauft man dort etwa Sachen von Anna Sui zu Dumpingpreisen?«

»Keine Ahnung, was das ist«, antwortete Michael, »aber um Ihre erste Frage zu beantworten: Unsere Vorgesetzten haben ein besonderes Interesse an dem Kaufhaus.«

»Geht denn eine Bedrohung davon aus?«

»Wir hoffen, dass der Verdacht sich als unbegründet erweist. Das wäre für alle Beteiligten einfacher. Doch wir müssen ihm nachgehen, und es freut mich, dass unsere Abteilung damit befasst ist.«

»Ich hab nicht den blassesten Schimmer vom modernen Einzelhandel, sondern bin auf Antiquitäten spezialisiert.« Bei meinem ersten Auftrag von Michael war es darum gegangen, einen alten, aus einem Museum im Irak entwendeten Krug wieder seinen rechtmäßigen Eigentümern zuzuführen.

Michael sah mich an. »Ich weiß, dass Sie sowohl den Mut als auch die Fähigkeit besitzen, diese Sache anzupacken. Einen solchen Auftrag kann nicht jeder übernehmen; der Letzte, der sich daran versucht hat, wurde umgebracht.«

»Wie bitte?«, rief ich aus.

»Ein weißer Undercover-Agent.«

»Und wie?«

»Offiziell ist er ertrunken, in Wahrheit wurde er zu Tode geprügelt. Man hat seine Leiche im Sumida-Fluss gefunden.«

Ich bekam eine Gänsehaut. »Tyler Farraday, der Amerikaner? Ich hab einen Zeitungsartikel über ihn gelesen. Er hat doch in Tokio als Model für Männermode gearbeitet und angeblich zu viel Kokain geschnupft, oder?«

»Ja, Tyler Farraday – natürlich war das nicht sein richtiger Name«, bestätigte Michael mit nüchterner Miene. »Er kam aus einer anderen Abteilung; ich musste ihn im Rahmen der neuen Kooperationsstrategie einsetzen. Er hat mich von Anfang an nicht überzeugt. Nicht robust genug.«

Aber ich bin es?, dachte ich düster. »Warum erstattet man nicht einfach Anzeige gegen die Inhaber des Kaufhauses?«

»Das muss die japanische Polizei machen; uns sind die Hände gebunden. Wie Sie wissen, existiert unsere Organisation offiziell nicht.«

»Ach ja, stimmt.«

»Außerdem gibt es keinerlei Beweise dafür, dass jemand von Mitsutan in die Sache mit Tyler Farraday verwickelt war. Am Ende entpuppt sich das Ganze vielleicht als yakuza-Aktion. Aber machen Sie sich mal keine Gedanken über ihn. Sie sollen sich bloß einen Eindruck davon verschaffen, was innerhalb des Kaufhauses vor sich geht. Ein paar Belege für Unregelmäßigkeiten, mehr brauche ich nicht.«

»Und wie soll ich das anstellen?«, fragte ich, während ich geistesabwesend ein T-Shirt dreimal faltete, wie Hugh es immer getan hatte. Als mir das bewusst wurde, legte ich es nach japanischer Art zusammen. »Soll ich Einkaufsbummel in die Filialen unternehmen oder was?«

»Ein bisschen anspruchsvoller wird’s schon.« Michael erklärte mir, dass ich in der Ginza-Filiale Informationen aus Schriftstücken, Computern und Mitarbeitergesprächen sammeln sollte. Für derartige Aufgaben war ich bisher nicht ausgebildet worden; das sollte in Washington nachgeholt werden.

»Es dauert Jahre, sich solche Methoden anzueignen«, wandte ich ein.

»Bei echten CIA-Agenten ist das tatsächlich so, aber Sie haben Informantenstatus, und bei der OCI handelt es sich um eine kleine Abteilung. Wir haben gar nicht das Budget für intensives Training.« Michael schleppte einen mit Klebeband verschlossenen Karton zur Tür. »Machen Sie sich mal nicht so viele Gedanken, Rei. Ich kümmere mich persönlich um Ihre Ausbildung in Washington. Dort lernen Sie das wichtigste Handwerkszeug, und dann bewerben Sie sich um einen Job im Kaufhaus.«

»Moment! Ich soll für Mitsutan arbeiten? Bringt mich das nicht in einen Interessenkonflikt?«

»Eine bessere Tarnung gibt’s nicht. Sie sind immer am Schauplatz des Geschehens und haben Zugang zu den meisten Abteilungen des Kaufhauses.«

»Michael, da wäre noch ein anderes Problem. Sie wissen vermutlich nicht, wie schwierig es für einen Ausländer ist, von einem japanischen Unternehmen angeheuert zu werden.«

»In diesem Fall sind Sie keine Ausländerin und auch keine Halbjapanerin, sondern eine Einheimische, die aus dem Ausland zurückkehrt, eine junge Frau mit einem Abschluss der Waseda-Universität, die in San Francisco und Tokio japanische Textilien an amerikanische Warenhäuser verkauft, japanische Antiquitäten für Privatkunden erworben und ein japanisches Restaurant eingerichtet hat.«

»Hm.« Das klang realistisch. »Stimmt. Bis auf den Abschluss an der Waseda-Universität. Dort hab ich nur ein Jahr studiert.«

»Ich weiß. Wir konstruieren einen Lebenslauf für Sie, in dem von einem vierjährigen Studium die Rede ist«, sagte Michael. »Und Sie agieren unter Ihrem eigenen Namen. So laufen Sie nicht Gefahr, enttarnt zu werden, falls zufällig ein Bekannter im Kaufhaus auftaucht.«

»Kennen mich für so was nicht zu viele Leute in Tokio?«, fragte ich, während ich Michael den nächsten Karton reichte.

»Sie haben einen in Japan ziemlich verbreiteten Namen – ich glaube nicht, dass irgendjemand Verdacht schöpft.«

»Aber mein Foto war in der Zeitung.«

»Und?« Michael riss ein Stück Klebeband von der Rolle und schlang es um den Karton. »Ich finde es eher gut, dass Sie eine japanische Vorgeschichte haben. Das Problem mit Tyler Farraday war, dass seine neue Identität sich zu sehr von seiner wirklichen unterschied und er keine Ahnung von Japan hatte. Wenn tatsächlich jemand über die Zeitungsbilder stolpert, sieht er sie als Beweise für das aktive Nachtleben einer jungen Frau mit Boyfriends aus der besseren Gesellschaft. In einem Glamourladen wie dem Mitsutan werden Ihnen solche Kontakte eher als Plus angerechnet.«

3

In den langen Stunden nach Mitternacht dachte ich über die Worte von Michael nach, der nach dem Packen in die Militärunterkunft gefahren war. Ein ausgebildeter Profi hatte sich an der Aufgabe versucht, war enttarnt und ermordet worden. Jetzt wurde eine Anfängerin ins Rennen geschickt, der man Erfolg zutraute, weil sie Japanisch konnte und, wie Michael es ausgedrückt hatte, »Kontakte« besaß.

Ich wälzte mich unruhig zwischen den Laken aus Baumwoll-Polyester-Gemisch hin und her, die die OCI nicht nur zur Verfügung stellte, sondern auch waschen ließe, sobald ich weg wäre. Meine Mitstreiter im Kurs würden wahrscheinlich glauben, ich hätte das Handtuch geworfen.

Offenbar vertraute Michael nicht darauf, dass ich pünktlich aufwachte, denn er stand um zehn vor fünf vor der Tür. Ich war noch nicht ganz fertig und verbrachte die folgenden zwanzig Minuten damit, meine letzten Habseligkeiten einzusammeln, während er immer wieder nervös auf die Uhr sah. Michael wirkte wie stets frisch und trug einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte mit winzigem Muster, das den Augen wehtat.

»Schmeißen sich für den Flieger alle in Schale?«, erkundigte ich mich unsicher. Ich selbst hatte mich für eine heiß geliebte abgetragene Flicken-Levi’s und ein Skiunterhemd sowie eine alte Persianerjacke meiner Mutter entschieden, für den Fall, dass es in Washington kalt wäre.

»Nicht unbedingt. Es werden viele Uniformierte unterwegs sein, weil solche Flüge hauptsächlich von Militärangehörigen genutzt werden.« Er musterte mich mit nüchternem Blick. »Ziemlich leger. Wenn jemand Sie fragt, wer Sie sind, zeigen Sie ihm einfach Ihren Ausweis. Offiziell sind Sie Sprachwissenschaftlerin mit Auftrag in Washington. Mehr braucht niemanden zu interessieren.«

»Sprachwissenschaftlerin«, wiederholte ich, als wir bei Sonnenaufgang an der Küste entlangfuhren. »Wenn Sie wüssten, wie schlecht ich an der Waseda-Universität in Linguistik war …«

»Sinn für Humor haben Sie nicht gerade«, sagte Michael.

»Das stimmt nicht!« Ich liebte das Komische in jeder Form – Filme, Bücher, Theater.

»Wie viele Agenten sind nötig, um eine Glühbirne zu wechseln?«

»Glühbirnenwitze sind dämlich.«

»Nun sagen Sie schon, Rei: Wie viele Agenten sind nötig, um eine Glühbirne zu wechseln?«

»Verraten Sie’s mir.«

»Verdammt, war das eine Glühbirne von uns?«

Wider Willen begann ich zu kichern, wandte mich aber schon bald wieder dem eigentlichen Thema zu. »Sie haben als Leiter der Japan-Abteilung der OCI wahrscheinlich eine solide Basis im Japanischen. Nihongo ga joozu desho.« Ich verwendete sarkastisch die Floskel »Sie müssen ziemlich gewandt sein im Japanischen«, mit der Japaner Ausländer lobten, egal, ob diese zwei oder zweitausend Wörter Japanisch kannten.

»Ich bin überhaupt nicht joozu. Vor zehn Jahren habe ich Hangul gelernt, weil ich damals in Nord- und Südkorea eingesetzt war. Bei Fragen zum Japanischen wenden Sie sich bitte an Mrs. Ikuko Taki, das ist die Japanischdolmetscherin, die Ihren Lebenslauf mit den Waseda-Daten zusammenstellt. Sie wird später auch die Aufnahmen übersetzen, die Sie uns aus Tokio schicken.«

»Prima. Ich kann’s gar nicht erwarten, sie kennenzulernen.«

»Hoffentlich gefällt Ihnen die Dienststelle. Sie ist eher klein, weil ich als Einziger ganztägig im Büro bin, aber Mrs. Taki und ein paar andere, die stundenweise für uns arbeiten, schauen auch hin und wieder vorbei.«

Bei dem Gedanken daran, ein Büro in Washington, dem Ort meines großen Liebeskummers, zu haben, bekam ich ein flaues Gefühl im Magen. Nicht zuletzt dieser missglückten Beziehung wegen hatte ich mich so schnell bereit erklärt, nach Monterey zu gehen. »Wo genau befindet sich die Dienststelle – war da nicht mal die Rede von Foggy Bottom?«

»Das ist der Sitz des Außenministeriums, die Tarnadresse der OCI«, antwortete Michael. »Eigentlich operieren wir von Pentagon City aus. Sie sind in einem möblierten Apartment in einem Gebäude ein paar Häuserblocks davon entfernt untergebracht. Ich dachte mir, wenn Ihre Unterkunft nicht so weit weg ist, können wir intensiver arbeiten, auch an den Abenden und am Wochenende …«

Er gab den Wagen am Mietwagenschalter zurück, und nachdem wir die Sicherheitskontrollen passiert hatten, gingen wir über das Rollfeld zu einem beängstigend kleinen dunkelgrauen Flugzeug, auf dem sich eine Nummer, aber kein Name befand. Sämtliche Passagiere außer Michael und mir trugen Uniform.

»Warum machen die denn alle so ein mürrisches Gesicht?«, fragte ich Michael mit leiser Stimme, als dieser mich zu den einzigen freien Plätzen am hinteren Ende der Militärmaschine dirigierte.

»Das sind Marines von Camp Pendleton; wahrscheinlich nervt es sie, dass sie unseretwegen den Umweg hierher machen mussten.« Er hielt mir eine Tüte mit Donuts hin.

Ich griff zu, allerdings wenig begeistert, weil ich eigentlich nicht schon wieder Süßes essen wollte und außerdem etwas gegen unnütze Kalorien habe, besonders am Morgen. »Warum Sie sich für ein solches Flugzeug herausgeputzt haben, ist mir ein Rätsel.«

Michael schluckte den Bissen hinunter, den er gerade kaute, bevor er antwortete: »Hätte auch sein können, dass uns der Learjet mitnimmt, mit dem ich gestern gekommen bin. Diese C-140 ist eine sehr sichere Maschine, wenn auch nicht sonderlich bequem.«

Da hatte er zweifellos recht. Und außerdem wurde der Geruch, der nach ungefähr dreißig Minuten Flug aus der Toilette zu dringen begann, allmählich unerträglich. Am meisten machte mir jedoch der Motorenlärm zu schaffen.

»Hier«, brüllte ich Michael zu, »könnten wir uns ohne Weiteres über unser Projekt unterhalten, ohne dass jemand etwas mitkriegt.«

»Aber ich würde auch nichts verstehen«, schrie er zurück, und Puderzucker regnete auf mein Ohr. »Wenn Sie trotzdem schon mal mit der Arbeit anfangen wollen: Ich habe einige Unterlagen dabei. Vielleicht lenkt die Lektüre Sie von den Unannehmlichkeiten des Flugs ab.«

Michael reichte mir eine dicke Aktenmappe, die ich widerwillig nahm, weil ich lieber in meinem John-le-Carré-Roman geschmökert hätte.

Auf dem Umschlag stand der Vermerk »geheim«. Stolz darüber, dass ich solche Dokumente lesen durfte, schlug ich die Mappe auf.

Michaels Gesicht verschwand hinter einer Ausgabe von Foreign Affairs, während ich mich über die Mappe hermachte. In Teil eins befand sich die Beschwerde eines gewissen Warren Kravitz ans Finanzministerium. Darin erläuterte dieser, Senior Partner im asiatischen Hauptquartier der amerikanischen Investmentbank Winston Brothers, anhand unterschiedlicher, in einem fünfzigseitigen Anhang gesammelter Daten die Theorie, warum Mitsutan sich letztlich nicht besser schlagen konnte als seine Konkurrenten.

»Was hat dieser Warren Kravitz denn für ein Problem?«, erkundigte ich mich. »Will er Privatdetektiv spielen oder was?«

»Er hat einfach eine Beschwerde eingereicht. Das kann jeder Bürger.« Mit gesenkter Stimme fügte Michael hinzu: »Von jetzt an keine richtigen Namen mehr in der Öffentlichkeit, bitte.«

»Das letzte Mal hab ich mich mit neun Jahren beim Finanzministerium beschwert, weil mein Dad das Taschengeld nicht erhöhen wollte.«

Michael rang sich ein kleines Lächeln ab, legte aber den Finger auf die Lippen. Ich wandte mich einem zweiten Satz von Dokumenten zu, einer Historie des Einzelhandels in Japan. Ihnen entnahm ich, dass das erste Mitsutan-Kaufhaus im Jahr 1911 entstanden war, die Geschichte jedoch viel weiter zurückreichte. Die Gründer hatten Ende des achtzehnten Jahrhunderts, also in der prosperierenden Edo-Zeit, mit einem Kimono-Geschäft in Tokio angefangen. Die eleganten Mitsutan-Seidenroben für Männer, Frauen und Kinder waren offenbar so beliebt, dass die Ladeninhaber gut damit verdienten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts das mir bekannte Warenhaus eröffnet werden konnte. Mitsutan war nicht das erste depaato der Ginza; zuvor hatte es schon Mitsukoshi, Matsuya, Isetan und Matsuzakaya gegeben, alle ebenfalls berühmte Kimono-Hersteller, die neue Wege beschritten. Nun begannen Japanerinnen, yofuku – Kleidung im westlichen Stil – zu tragen, und der Einzelhandel reagierte mit achtstöckigen Kaufhäusern.

Während des Kriegs gingen die Geschäfte deutlich schlechter, weshalb Mitsutan und die anderen sich für eine Art Schlafmodus entschieden und erst wieder im Wiederaufbau der Nachkriegszeit ins Geschehen eingriffen, indem sie die Luxusgüter verkauften, nach denen die Leute sich nach entbehrungsreichen Jahren sehnten. Die alteingesessenen Kaufhäuser sahen sich nun Konkurrenten gegenüber, die ursprünglich aus der Eisenbahnbranche stammten. Diese hatten beste Verbindungen zur japanischen Regierung und erhielten die Genehmigung zum Bau riesiger Warenhäuser in der Nähe der großen Bahnhöfe von Tokio, Osaka, Nagoya und anderen Städten. Auch die neuen Geschäfte – unter ihnen Parco, Tokyu und Seiyu – boten Luxusgüter an, manchmal zu niedrigeren Preisen als die alteingesessenen, und hatten damit Erfolg, obwohl sie nach Ansicht meiner Familie nichts über das jahrhundertealte Verkaufsritual wussten.

Beide Arten von Kaufhäusern florierten in den wirtschaftlich erfolgreichen Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. In den Neunzigern jedoch platzte die Blase; die Wirtschaft floppte, und die japanischen Konsumenten übten sich in Zurückhaltung und legten ihre Yen lieber auf Sparkonten bei der japanischen Post an.

Es folgten mehrere Seiten mit Grafiken, die die Gewinn-und-Verlustrechnungen der zwölf größten japanischen Kaufhausketten illustrierten. In der von Mitsutan zeigten sich die gleichen Auf- und Abwärtsbewegungen wie bei den anderen – bis zum Jahr 2003. Von nun an ging es steil bergauf. Im Gegensatz zu den meisten anderen Ketten gab Mitsutan seine Gewinne großzügig an die Aktionäre weiter. Offenbar handelte es sich um eine Situation, von der alle profitierten.

Ich schloss die Mappe. Noch immer fragte ich mich, warum die Beschwerde eines amerikanischen Bankers von seiner Regierung so ernst genommen wurde.

Verheimlichte Michael mir etwas? Ich sah ihn an. Er war jetzt selbst in die Lektüre einer mit dem Vermerk »streng geheim« versehenen Mappe vertieft.

Natürlich wusste er Dinge, die er mir nicht verriet. Ich konnte nur hoffen, dass er mir nichts vorenthielt, was mich in eine ähnlich tödliche Falle tappen lassen würde wie Tyler Farraday.

4

Arlington im Spätwinter war ziemlich kühl, jedoch deutlich weniger windig als Monterey.

Jeden Morgen hastete ich, den Kragen des Persianers hochgeschlagen, über vereiste Wege die sieben Häuserblocks entlang zum Büro. Weil mein Apartment so nahe lag, gab es laut Aussage von Michael keinen Grund, aus Witterungsgründen freizunehmen. Alle Regierungseinrichtungen hatten zwei Tage lang geschlossen, doch Michael marschierte zur Arbeit, und so blieb mir keine andere Wahl, als es ihm gleichzutun.

Die Büroroutine machte mir sogar Spaß. Ich gesellte mich jeweils um acht Uhr morgens zu Michael, der mich bereits mit einer Latte macchiato und einem supersüßen Espresso von Starbucks erwartete. Die erste Stunde verbrachten wir mit der Lektüre von E-Mails oder Faxen unterschiedlicher Geheimdiensteinrichtungen, der amerikanischen Botschaft in Japan oder des Außenministeriums, das sich nur ein paar Kilometer entfernt in Foggy Bottom befand. Dann wandten wir uns für gewöhnlich den Zeitungen zu, der New York Times sowie den asiatischen und amerikanischen Ausgaben des Wall Street Journal. Ich brachte zusätzlich die Post, USA Today und einmal im Monat den Washingtonian mit, um die Gesellschaftsseiten nach einem vertrauten Gesicht abzusuchen, das ich besser hätte vergessen sollen.

Tagsüber empfing Michael andere Informanten, die sich für die OCI mit Japan und dem pazifischen Raum beschäftigten, im Hinterzimmer. Obwohl ich die Ohren spitzte, hörte ich kein Wort von ihren Gesprächen. Nachmittags wechselte ich meist ins Pentagon hinüber, um mich von Fachleuten in die Kunst des Abhörens und Computerhackens einweisen zu lassen.

Die Arbeit mit dem PC fiel mir am schwersten. Weil ich meinen ersten Laptop fast zehn Jahre nach dem Rest der Welt erworben hatte, konnte ich nicht richtig damit umgehen. Und es würde noch schlimmer werden, wenn ich mit japanischer Software konfrontiert wäre.

»Im heutigen Journal ist ein Artikel über Supermart, den Sie lesen sollten«, lenkte Michael mich von meinem Versuch ab, mich in ein Programm einzuhacken, das die Trainer auf meinem PC installiert hatten.

»Supermart? Das ist doch eine amerikanische Kette.«

»Ja, so amerikanisch wie Wal-Mart und Target, aber es gibt Gerüchte, dass ihr Gründer Jimmy DeLone sich in Japan einkaufen möchte. Angeblich stehen Mitsukoshi, Wako und Mitsutan zur Debatte.«

»Na so was!«, rief ich aus und gesellte mich zu Michael aufs Sofa, wo er die Zeitungen am liebsten las. Jimmy DeLone, ein sechzigjähriger Discount-Magnat, der aus einer kleinen Kette in Oklahoma Supermart, eine Gruppe von 310 Discountern, gemacht hatte, war dabei, sich in meiner Lieblingsstadt Tokio umzusehen. DeLone erklärte dieses Interesse damit, dass sich japanische anime-Videos und -DVDs besonders gut in seinen Supermart-Filialen verkauften.

Ich schüttelte den Kopf. »Kids kaufen so was nicht bei Discountern. Irgendwas ist hier faul.«

»Tja, da legt jemand eine falsche Fährte«, sagte Michael und schnitt den Artikel aus, um ihn später für alle Informanten zu fotokopieren.

»Vermutlich ist seine Bemerkung über die anime gegenstandslos, und er interessiert sich aus einem ganz anderen Grund für die japanischen Kaufhäuser. Dass er Tokyu oder Seiyu ins Auge gefasst hat, ist aus meiner Sicht nachvollziehbar, denn mit dem Käufersegment der Mittelschicht kennt er sich aus, aber was Supermart mit einem eleganten Warenhaus an der Ginza anfangen will, begreife ich nicht. Welche japanischen Produkte möchte er denn in Amerika anbieten? Mitsutan-Kleidung zum Beispiel ist grundsätzlich zu klein geschnitten für den amerikanischen Markt. Und alle anderen Importwaren aus Japan wären fünfmal so teuer wie Sachen aus China.«

Michael zuckte mit den Achseln. »Mitsutan würde seinem Imperium neuen Glanz verleihen. Zu Supermart gehören nicht nur Discounter.«

»Ja, der Artikel erwähnt auch die Seaways-Motelkette, Ryan Beer und … was war noch mal das Letzte?«

»Energieanbieter in sechs Bundesstaaten. So was nennt man wohl geglückte Diversifikation«, sagte Michael und schob die Zeitung, aus der er den Artikel ausgeschnitten hatte, in den Shredder.

»Wenn er ein bisschen Grips hat, wendet er sich einem Unternehmen in Schwierigkeiten zu, das er aufpäppeln kann, nicht einem, dessen Börsenkurs so hoch ist, dass er viel Geld dafür zahlen muss«, bemerkte ich.

»Stimmt.«

»Wenn man allerdings die Beschwerde von Kravitz gegen Mitsutan ins Kalkül zieht, wird ein Schuh draus. Vielleicht ist dieses Kaufhaus in Wirklichkeit gar nicht so viel wert, wie es auf den ersten Blick erscheint, dann wäre es für Jimmy DeLone sozusagen ein Schnäppchen.«

»Rei, für wen arbeiten Sie?«

»Für Sie?« Wieso stellte er mir diese Frage?

»Nein, nicht für mich. Ich bin zwar Ihr unmittelbarer Vorgesetzter, aber Sie sind für eine größere Einheit, für die OCI und somit für den CIA, tätig. Im Augenblick klingen Sie nicht gerade wie eine loyale Mitarbeiterin.« Michael knallte mir die Fotokopien auf den Schreibtisch.

»Nur, weil ich eine Frage gestellt habe?« Ich rümpfte die Nase. »Der eine oder andere Punkt ist Ihnen doch sicher auch durch den Kopf gegangen.«

»Stimmt. Jeder gute Agent sollte selbstständig denken. Aber unsere Regierung neigt nicht dazu, ihr knappes Budget für Superreiche auf Schnäppchenjagd anzuzapfen. Wir haben den Auftrag, uns Mitsutan genauer anzusehen und Informationen zu sammeln, nicht, Rätsel zu lösen.«

»Wie wär’s jetzt mit einem Glühbirnenwitz? Wie viele Agenten sind nötig, um festzustellen, dass wir bei Glühbirnen ein Handelsdefizit haben? Diesem Land würde es besser gehen, wenn man in Amerika die billigsten Glühbirnen der Welt produzierte, statt sie aus Asien zu importieren.«

Michael rang sich ein schmallippiges Lächeln ab. »Was genau haben Sie eigentlich in Monterey gelernt?«

Ich lachte. »Das ist streng geheim.«

»Genau wie das, was Sie und Mrs. Taki machen werden. Aber ich bin gespannt, welches Resultat die Veränderung Ihres Äußeren zeitigen wird.«

»Ist das für heute vorgesehen? Warum haben Sie mich nicht vorgewarnt?«, fragte ich verärgert. Die über sechzigjährige Mrs. Taki war nicht nur unsere Übersetzerin, sondern auch die selbst ernannte Expertin des Außenministeriums für japanisches Aussehen. Drei Tage hatten wir damit verbracht, das perfekte Kostüm, die perfekten Schuhe und die perfekte Handtasche für das Vorstellungsgespräch bei Mitsutan zu finden. Als die ihrer Meinung nach idealen Sachen bei Escada aufgespürt waren, musste ich noch ein zweites Kostüm von Jil Sander erwerben für den Fall, dass es ein weiteres Vorstellungsgespräch geben würde. Deutsche Designer in Japan, was für ein Witz!

»Das war doch besprochen! Sie hat mich angerufen, um zu fragen, ob Sie heute Zeit hätten. Offenbar gibt es ein vierstündiges Zeitfenster im Kosmetiksalon.«

»Michael, Sie haben gesagt, dass ich nicht mit falscher Identität reise. Warum sollte ich mein Aussehen verändern, wenn ich als Rei Shimura nach Japan zurückkehre?«

»Sie bewerben sich um einen Job in einem sehr eleganten Warenhaus. Und dazu müssen Sie wirken wie das japanische Ideal einer Dreiundzwanzigjährigen.« Michael hielt mir die Ausgabe von An-an hin, die auf meinem Schreibtisch gelegen hatte.

»Um so auszusehen, müsste ich zum Schönheitschirurgen gehen.«

»Mrs. Taki sagt, die Inhaberin des Kosmetiksalons war früher Maskenbildnerin am Theater und weiß, wie man überzeugend eine asiatische Lidfalte schminkt. Ich glaube ihr das, weil ich bei meinen Einsätzen in Korea auch als Einheimischer durchgegangen bin.« Michael verengte die Augen zu Schlitzen, und ich musste lachen.

»Irgendwann zeige ich Ihnen Fotos davon.« Jetzt musste Michael selbst lachen. »Jedenfalls würde ich heute gern früher zu Mittag essen, solange Sie noch hier sind, damit das Büro besetzt ist. Einverstanden?«

»Klar, ich muss sowieso noch ein paar E-Mails beantworten.« Zu unserer täglichen Routine gehörte es, in der Mittagspause Sport zu treiben. Michael schlüpfte dazu normalerweise in der Toilette in seinen alten Jogginganzug von der Naval Academy und lief hinüber zum Virginia Highlands Park. Wenn er verschwitzt zurückkehrte, hatte er meist eine Tüte mit asiatischen Leckereien, zum Beispiel vietnamesischen pad thai, dabei. Ich leistete ihm dabei gern Gesellschaft. Nur bei seinem koreanischen Lieblingsessen streikte ich, weil ich mich nach dem Genuss von kimchi nicht mehr konzentrieren konnte.

Ich dagegen setzte mich angesichts der vereisten Wege lieber auf ein Trimmrad oder hob Gewichte, auch wenn das Ideal der jungen Japanerin eigentlich keine muskulösen Arme vorsah.

Als Mrs. Taki um halb zwölf die Hupe ihres schwarzen BMW betätigte, schlüpfte ich in meinen Mantel und hastete hinunter.

»Rei-chan, ikaga desu ka?«, fragte sie mich wie jeden Tag – welche Fortschritte meine Sprachkenntnise machten. Wenn wir allein waren, redeten wir immer Japanisch; ihres klang allerdings ein wenig altertümlich, weil sie das letzte Mal vor dreißig Jahren im Land gewesen war.

»Gut, Taki-san«, antwortete ich auf Japanisch. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie mir im Hinblick auf mein Aussehen behilflich sein wollen. Aber ich fürchte, dass ich Ihren Erwartungen nicht gerecht werden kann.«

»Keine Sorge, Rei-chan. Es handelt sich um einen koreanischen Salon am Wilson Boulevard mit sehr angenehmer Atmosphäre und günstigen Preisen. Ich lasse mir selbst die Haare dort machen.« Mrs. Taki berührte stolz ihre Haarpracht à la Doris Day, die wie bei den meisten älteren japanischen Frauen schwarzviolett gefärbt war.

»Aber ich soll doch am Ende aussehen wie eine Japanerin«, wandte ich ein.

»Wir sind hier nicht in Kalifornien, Rei-chan. Leider gibt es im Viertel keinen von Japanerinnen geführten Kosmetiksalon, doch die Frauen in diesem hier beherrschen alles, was man in Japan auch kennt. Die Schwester der Inhaberin hat einen Salon in Tokio, in dem früher die Schauspielerinnen, die in der Takarazuka Revue als Jungen auftraten, geschminkt wurden. Dort ist man durchaus in der Lage, neue Identitäten zu kreieren.«

Trotz ihres schicken Wagens und Kostüms bewegte Mrs. Taki sich nicht in der High Society; der Salon hätte gut und gern in eine Gasse von Tokios Kabuki-cho gepasst, wo Gangster und Nutten verkehrten. Ich musste mich in die Mitte des Raums stellen, wo die rothaarige Inhaberin Dora und ihre drei koreanischen Assistentinnen mit unterschiedlich gefärbten Mähnen und weit ausgeschnittenen Oberteilen meine eigenen schulterlangen Haare begutachteten, bevor sie meine Haut befingerten und an meinen Augenlidern und Ohrläppchen zupften. Ich bekam einige unschöne Bemerkungen über meine zu feinen Haare, meine fettige Stirn und meine trockenen Lippen zu hören.

Das einzige Lob erhielt ich für meine schlanke Figur, auch wenn ich laut Aussage von Mrs. Taki binyu – kleine Brüste – hatte. Die Damen unterhielten sich eine Weile über Push-ups und öffneten sogar kurz ihre Blusen, um ihre jeweiligen Modelle zu zeigen. Ich war sehr froh, als sie sich dem Thema Schuhe zuwandten. Sie empfahlen mir hohe Absätze statt meiner flachen, damit ich nicht daherkam wie ein zu groß geratenes Schulmädchen.

Doch zuerst, sagten sie, müssten sie sich um meine Haare kümmern. Nach langen Diskussionen einigten sie sich darauf, sie zu glätten und mir einen Pagenschnitt zu verpassen. Dora zeigte mir einen Musterbogen mit unterschiedlich gefärbten Strähnen – von tiefschwarz bis fast rotblond.

»Warum nicht einfach schwarz?«, fragte ich, denn wenn ich schon wie eine kokeshi-Puppe aussehen sollte, dann wenigstens wie eine traditionelle. Doch mein Vorschlag wurde abgeschmettert. Das sei nicht modern; in Asien trage niemand mehr die Haare schwarz.

»Was hab ich schon zu sagen? Es ist ja nur mein Kopf«, seufzte ich, als sie meine Haare wuschen und trockneten und sich ans Färben machten. Während die Chemikalien einwirkten, erledigte eine der jungen Frauen die Pediküre und trug dezentes Perlrosa auf meine Nägel auf, während eine andere sich mit meinen Händen beschäftigte.

Dann wurde mir ein Handtuch um den Kopf gewickelt, und man führte mich in ein anderes Zimmer, wo man mir ein weiteres reichte.

»Ziehen Sie sich bitte aus«, sagte Mrs. Taki. »Ich warte so lange draußen.«

»Was kommt jetzt, eine Massage?«, erkundigte ich mich voller Vorfreude.

»Ich glaube nicht.«

Der nächste Schritt entpuppte sich als Haarentfernung mittels Wachs. Dora instruierte ein Lehrmädchen, das meine Augenbrauen und Wangen, mein Kinn und meine Arme enthaarte. Ich wehrte mich nicht, weil Japanerinnen, die etwas auf sich halten, nun einmal keine Körperbehaarung dulden.

Als Dora die Assistentin anwies, das Handtuch von meinem Körper zu entfernen, stieß sie ein entsetztes Keuchen aus.

»Meine letzte Bikinizonenenthaarung ist eine Weile her, tut mir leid«, entschuldigte ich mich.

»Kein Problem, darum kümmern wir uns schon. Aber dieses … Ding!«

Dora war vollkommen aus dem Häuschen wegen meines Nabelpiercings.

»Eine Perle, ja. Ich kann sie rausnehmen, wenn sie stört.«

»Nein, nein, die sollen alle sehen! Ist die echt? Wie macht man sie fest? Vielleicht könnten wir so etwas auch im Salon anbieten.«

Während Doras Helferinnen meine letzten Körperhaare entfernten, versuchte ich zu erklären, dass Nabelpiercings seit ungefähr zehn Jahren in Mode waren und es bereits genügend Studios gab, die sie machten.

Nachdem ich mich wieder angezogen und mit einer Tasse grünem Tee erfrischt hatte, trugen die Damen Glättungsgel auf meine Haare auf und setzten mich noch einmal unter die Trockenhaube. Nach einer Weile wurde alles ausgewaschen, und Dora machte mir Strähnchen in die Haare. Eine halbe Stunde später schnitt sie sie dann genau in Schulterlänge ab. Die Frisur bestand tatsächlich die Nagelprobe, das Fönen.

Ich hätte nicht gedacht, dass sich die Form meiner Augenlider ohne Operation verändern lassen könnte, und beobachtete nun voller Erstaunen, was Dora mithilfe von Make-up, Lidschatten und Eyeliner fertigbrachte. Meine Lidfalten waren zwar nicht völlig verschwunden, aber am Ende erstrahlten sie gülden. Die Brauen verstärkten die Illusion. Dora wusste Bescheid über die schmalen, wie Vogelschwingen geformten Augenbrauen, die japanischen Frauen so gut gefielen. Das Einzige, womit ich mich nicht würde anfreunden können, war das dicke Make-up, das mich blasser wirken lassen sollte – je heller die Haut, desto attraktiver die Frau nach Meinung der Japaner.

»Sobald ich mir das Gesicht wasche, ist alles dahin«, sagte ich, als Doras Assistentin die Schminke am Schluss mit einem feuchten Tuch abwischte.

»Aber von heute an werden Sie das Haus nicht mehr ohne Make-up verlassen«, erklärte Mrs. Taki. »Schon hier in Washington, damit Sie Übung bekommen. Ich überprüfe das Resultat gern.«

Artig machte ich mich daran, mich selbst von Grund auf zu schminken. Ich brauchte zwanzig Minuten, und das Ergebnis wirkte längst nicht so überzeugend wie Doras Werk. Sie musste meine Augen nachkorrigieren.

Als ich an der Kasse den Rechnungsbetrag sah, zuckte ich unwillkürlich zusammen: 480 Dollar. »Alle Kosmetika inklusive, ein Schnäppchen«, erklärte Dora. Mrs. Taki zahlte mit ihrer eigenen Kreditkarte, denn Dora und ihre Mitarbeiterinnen hielten mich für Mrs. Takis in Amerika aufgewachsene Nichte, die sich auf einen Besuch bei ihrer japanischen Verwandtschaft vorbereitete.

»Danke für den Auftrag, Mrs. Taki«, sagte Dora. »Es war mir ein Vergnügen, ihn auszuführen. Jetzt sieht Ihre Nichte richtig süß aus.«

»Ja, nicht schlecht«, wiegelte Mrs. Taki ab, wie jede japanische Tante es bei einem Lob für eine jüngere Verwandte gemacht hätte.

Die beiden Damen verbeugten sich, und ich tat es ihnen gleich. Als ich auf dem Weg nach Pentagon City das Handy wieder einschaltete, um Michael zu informieren, dass wir bald zurück sein würden, sah ich, dass eine SMS hereingekommen war. Ich las die Botschaft: NOTFALL. RÜCKRUF SO SCHNELL WIE MÖGLICH. T NICHTS SAGEN; SOLL HEIMFAHREN.

5

Ich bekam ein flaues Gefühl im Magen. Während ich mich der Körperpflege hingegeben hatte, war etwas Schreckliches passiert.

»Taki-san«, sagte ich, während ich die Botschaft löschte, »Michael hat mir soeben mitgeteilt, dass wir zu einem Treffen außerhalb des Büros müssen. Er würde Ihnen vorschlagen, den Rest des Tages freizunehmen.«

»Heute wollten wir uns doch mit den Bewerbungsformularen beschäftigen. Sie sehen gerade so schön aus; jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, das Foto dafür machen zu lassen.«

»Das müssen wir leider verschieben. Wann kommen Sie denn morgen ins Büro?«, fragte ich, als Mrs. Taki in die Fifteenth Street einbog.

»Um ein Uhr, wie immer«, antwortete Mrs. Taki ein wenig säuerlich.

»Gut, bis dann. Ach, Sie können mich gleich hier herauslassen. Vor dem Eingang dürfte es schwierig sein, einen Platz zum Halten zu finden«, sagte ich mit einem Blick auf die vier schwarzen Limousinen davor.

Mrs. Taki ließ mich widerwillig aussteigen, und ich hastete ins Foyer des Gebäudes, wo ich von einem bewaffneten Soldaten angehalten wurde.

»Ich muss nach oben. Mein Chef erwartet mich«, erklärte ich und hielt ihm meinen Ausweis vom Verteidigungsministerium hin.

»Sie befinden sich im Sicherheitsbereich«, informierte er mich.