Cover

Johannes Mario Simmel

Affäre Nina B.

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Johannes Mario Simmel

Johannes Mario Simmel, 1924 in Wien geboren, gehörte mit seinen brillant erzählten zeit- und gesellschaftskritischen Romanen und Kinderbüchern zu den international erfolgreichsten Autoren der Gegenwarts.

Seine Bücher erscheinen in 40 Ländern, ihre Auflage nähert sich der 73-Millionen-Grenze. Der Träger des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse wurde 1991 von den Vereinten Nationen mit dem Award of Excellence der Society of Writers ausgezeichnet.

»Simmel hat wie kaum ein anderer zeitgenössischer Autor einen fabelhaften Blick für Themen, Probleme, Motive«, sagte Marcel Reich-Ranicki über den Schriftsteller.

Johannes Mario Simmel verstarb am 1. Januar 2009 84-jährig in der Schweiz.

Über dieses Buch

»Wäre doch hübsch, wenn jemand behaupten könnte: Das war nicht ich, das war ein anderer! Ein Doppelgänger! Ein zweites Ich, das alles auf sich nimmt, was man getan hat, jede Gemeinheit, jeder Fehler, jeden Irrtum … Ein Doppelgänger, bei Gott, das wäre die Erfindung des Jahrhunderts!« So spricht der millionenschwere fette Schieber Julius Maria Brummer zu seinem Chauffeur Robert Holden, nachts auf der Autobahn. Den Reichtum verdankt Brummer dem Wissen um die Verbrechen anderer während der Nazizeit, und wegen ihrer Vergangenheiten müssen seine Feinde sich von ihm beherrschen lassen. Es sind viele Feinde, die ihn hassen. Keiner haßt ihn so wie Robert Holden. Er liebt Brummers Frau Nina, Nina liebt ihn, und der korrupte Millionär ahnt nicht, welche phantastische Idee seine Worte in jener Nacht auf der Autobahn bei Holden entstehen ließen … Mit sicheren Strichen zeichnet Johannes Mario Simmel die Akteure dieses tödlichen Spiels um politische Vergangenheiten, Geld, Macht und Liebe.

Impressum

eBook-Ausgabe November 2012

© 2012 Knaur eBook

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: Photonica

ISBN 978-3-426-41908-3

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In memoriam Mila Blehova

Wer mit dem Teufel essen will,

muß einen langen Löffel haben.

 

Deutsche Volksweisheit

Prolog

Er hatte viele Feinde. Ich war sein größter. Es gab viele Menschen, die ihn haßten. Niemand haßte ihn mehr als ich. Viele Menschen wünschten ihm den Tod. Ich war entschlossen, ihn herbeizuführen, den Tod des Mannes, den ich über alle Maßen haßte.

An diesem Tage war es soweit. Ich hatte lange gewartet. Nun hatte das Warten ein Ende. Ich hatte lange gezögert. Nun war es mit dem Zögern vorbei. Nun ging es um mein Leben – und um seines.

Es war schon sehr warm in Baden-Baden an diesem 7. April. Der sanfte, bewaldete Talkessel, auf dessen Grund die Stadt errichtet stand, fing die Kraft der jungen Sonne ein und hielt sie in seiner dunklen, fruchtbaren Erde fest. Viele Blumen blühten in Baden-Baden, gelbe, blaue und weiße. Ich sah Primeln und Himmelsschlüssel, Krokusse und Veilchen an den Ufern der schläfrig murmelnden Oos, als ich den schweren Wagen durch die Lichtentaler Allee lenkte. Es war sein Wagen, einer von den dreien, die er besaß, und er paßte zu ihm: ein protziger, riesenhafter Cadillac mit weißen Reifen, rot und schwarz lackiert.

Alle Menschen auf den Straßen hatten freundliche Gesichter. Die Frauen lächelten mysteriös. Sie trugen bunte, leichte Kleider. Viele trugen verwegene Hüte. Ich sah eine Menge von verwegenen Hüten an diesem Morgen, als ich zum Polizeipräsidium fuhr, um eine Anzeige zu erstatten. Dies schien ein Frühling der Hüte zu werden, dachte ich.

Die Männer trugen graue, hellbraune, hellblaue oder dunkelblaue Anzüge, viele hatten bereits ihre Mäntel zu Hause gelassen. Die Männer sahen die Frauen an und ließen sich Zeit dabei. Sie hatten keine Eile. Niemand hatte an diesem Frühlingstag Eile in Baden-Baden, niemand außer mir. Mich hetzte mein Haß, mich hetzte ein unsichtbares, unhörbares Uhrwerk, das ich selbst in Gang gesetzt hatte und vor dessen Stunde Null es kein Entrinnen gab – für ihn und mich.

Kinder spielten unter den alten, staubigen Pappeln der Allee. Sie trieben bunte Reifen und fuhren auf kleinen Rädern im Kreis. Bälle flogen durch die Luft. Die Stimmen der Kinder klangen jauchzend und sorglos. Es waren ein paar Franzosen unter ihnen, ich hörte, was sie sich zuriefen:

»Armand! Armand! Rends-moi la bicyclette!«

»Mais non, Loulou! Laisse-la moi encore un peu!«

Im Rückspiegel des Wagens erblickte ich in einer Kurve mein Gesicht. Es war weiß. Ich sah krank aus. Unter den Augen lagen schwarze Schatten. In den Lippen war kein Blut. Und auf der Stirn stand Schweiß in feinen Tropfen. Ich nahm meine Schirmmütze ab und wischte den Schweiß fort. Die Schirmmütze war grau wie mein zweireihiger Gabardineanzug. Das Hemd war gleichfalls grau, aus Popeline. Die Krawatte war stumpfblau. Die Halbschuhe waren schwarz. Ich war sein Chauffeur, und so war ich gekleidet: als der Chauffeur des Mannes, der sich Julius Brummer nannte.

Julius Maria Brummer, so hieß er eigentlich. Die wenigsten Menschen wußten das. Mir hatte er es einmal erzählt, in irgendeiner Winternacht, auf irgendeiner Autobahn: »Ich war eine große Enttäuschung für meine Mutter. Sie wünschte sich so sehr eine Tochter. Die sollte Maria heißen. Mutter war ganz unglücklich nach meiner Geburt. Da hängte sie mir wenigstens den Mädchennamen an …«

Ich erreichte nun das Hotel Atlantic.

Auf der Terrasse frühstückten ein paar Gäste. Sie saßen im Schatten mächtiger, rot-weiß gestreifter Sonnensegel. Die Mauern des Hotels waren frisch in Kaisergelb gestrichen.

Die Hecken unter der Terrasse glitzerten naß und dunkelgrün. Dem Hotel gegenüber blendeten die großen Fenster des Spielkasinos. Rosa schimmerte die Riesenmuschel des Kurorchesters durch die blühenden Bäume. Es gab viele Farben. Die Luft flimmerte. Der Tag schickte sich an, sehr heiß zu werden.

Ich trat auf das Gaspedal. Die Zeit hetzte mich. Ich mußte eine Anzeige erstatten, und ich mußte mich beeilen damit …

Der Polizist beim Eingang des Landespolizeikommissariats in der Sophienstraße hob lächelnd eine Hand zum Gruß an die Kappe, als ich an ihn herantrat. Danach blickte er auf die beiden Buchstaben an meinem linken Jackenrevers. Die meisten Menschen blickten dorthin, wenn sie mich sahen. In meinem linken Jackenrevers staken, aus Gold geformt und an einer goldenen Nadel befestigt, die Buchstaben J und B. Es waren die Anfangsbuchstaben seines Namens. Sein Name schien Julius Brummer zu gefallen. Oder wenigstens die Anfangsbuchstaben gefielen ihm. Er ließ sie überall anbringen – auf seinen Grundstücken, auf seinen Mietskasernen, auf seiner Villa; auf seinen drei Wagen, auf seiner Segeljacht und auf den Kleidern aller Angestellten. Seine Frau besaß eine Menge Schmuck. Sie konnte die kostbaren Stücke anlegen und wieder abnehmen. Ein Stück konnte sie nicht mehr abnehmen, seit ein Goldschmied es vor Jahren um die Fessel ihres linken Fußes schloß: ein dünnes Band aus Gold, in das zwei Buchstaben geschnitten waren …

»Sie wünschen?« fragte der Polizist.

»Ich möchte eine Anzeige erstatten.«

»Haben Sie etwas verloren?«

»Nein. Warum?«

»Ich dachte, es handle sich um eine Verlustanzeige«, sagte er und betrachtete das J und das B.

»Es handelt sich um eine Strafanzeige.«

»Linker Eingang. Zweiter Stock. Zimmer 31.«

»Danke«, sagte ich. Das Gebäude war in der Mitte des vorigen Jahrhunderts entstanden, das Stiegenhaus weiß gekalkt und von preußischer Nüchternheit.

Im zweiten Stock stand an der Tür des Zimmers 31:

ENTGEGENNAHME VON ANZEIGEN

Vor dieser Tür blieb ich stehen und dachte an Julius Brummers junge Frau Nina und daran, daß ich sie liebte und weshalb. Dann dachte ich an Julius Brummer und daran, daß ich ihn haßte und wie sehr und warum.

Ich dachte nur kurz an Nina, aber ich dachte lange an ihren Mann. Ich dachte, daß ich ihn mehr haßte, als ich Nina liebte, mehr, viel mehr. Ich konnte niemanden so sehr lieben, wie ich Julius Brummer haßte. In eine andere Form der Energie verwandelt, hätte die Intensität meiner Gefühle für Julius Brummer ausgereicht, um eine Kathedrale zu errichten, einen Staudamm zu bauen, des Nachts einen Stadtteil elektrisch zu erhellen.

Auf dem menschenleeren Gang vor dem Zimmer 31 stehend, fuhr ich mit dem Zeigefinger über die beiden Buchstaben aus Gold an meiner Brust. Sie fühlten sich glatt an und kühl. Ihre Berührung gab mir jene Kraft, die mir gefehlt hatte, um an das Holz der Tür zum Zimmer 31 zu klopfen.

Nun klopfte ich.

Der Haß war eine feine Sache.

»Herein!« rief eine Männerstimme.

Das Zimmer 31 war groß und freundlich eingerichtet – gar nicht wie eine Amtsstube. Anscheinend kam die Kurstadt Baden-Baden sogar in Polizeibereichen dem Schönheitssinn ihrer Besucher entgegen. Bilder an den Wänden zeigten verschiedene Szenen von Parforcejagden im Stil der bekannten englischen Originale. Herren in roten Jacken und schwarzen Hosen, Silberschnallen an den Stiefeln, Spitzenjabots aus weißer Seide vor der Brust, ritten auf schnellen Pferden über herbstliche Wiesen, indessen allerlei Getier im Angriff wilder Hundemeuten niederbrach.

Die Möbel des Zimmers 31 waren modern und zweckmäßig. Es gab ein paar bequeme Stühle mit gepolsterten Sitzen und gepolsterten Lehnen in Grün und Braun, hellfarbene Aktenschränke, einen breiten Schreibtisch aus Lärchenholz. Der Schreibtisch stand vor einem offenen Fenster. Durch dieses fiel Sonnenlicht in den Raum und über die breiten Schultern eines Mannes, der hinter dem Schreibtisch saß. Er schrieb mit zwei Fingern auf einer kleinen Maschine, als ich eintrat. Jetzt ließ er die Hände sinken und sah auf.

»Bitte?«

Meine Schirmkappe abnehmend, erwiderte ich mit einer Verneigung: »Man schickt mich zu Ihnen. Ich möchte eine Anzeige erstatten.«

Daraufhin machte der etwa dreißigjährige, sympathische Mensch hinter dem Schreibtisch eine einladende Handbewegung in Richtung zu einem Sessel in seiner Nähe. Ich setzte mich und kreuzte die Beine. Eine Hand ließ ich auf der Schreibtischplatte ruhen. Ich achtete darauf, einen ungezwungenen Eindruck zu erwecken. Ich glaube, es gelang mir. Der Beamte besaß dichtes, schwarzes Haar, das ihm kurzgeschnitten vom Kopf abstand wie eine Bürste, hellblaue Augen und einen großen, sinnlichen Mund mit verblüffend roten Lippen. Er trug graue Flanellhosen und ein beigefarbenes Sportjackett. Die grüne Krawatte paßte nicht zum Muster der Jacke, aber das Hemd war in Ordnung, und die schnürsenkellosen braunen Slipper waren es gleichfalls.

In der üblichen Weise glitt des Beamten Blick von meinem Gesicht ein Stück tiefer. Das J und das B aus achtzehnkarätigem Gold betrachtend, sagte er: »Ich bin der Kriminalkommissar vom Dienst. Ich heiße Kehlmann.«

»Mein Name«, erklärte ich ihm ruhig, »ist Holden. Robert Holden, so heiße ich.«

»Sie leben in Baden-Baden, Herr Holden?«

»Nein, in Düsseldorf. Ich bin nur vorübergehend in Baden-Baden. Ich bin Chauffeur, ich habe meinen Chef zur Kur hierhergebracht. Mein Chef ist Julius Brummer.«

»Oh«, sagte Kehlmann still. Dieser beherrschten Reaktion nach zu schließen, war der Kriminalkommissar ein ungemein höflicher Mensch. Natürlich kannte er Julius Brummer. Die meisten Menschen in Deutschland kannten Julius Brummer, im letzten halben Jahr hatte er den Zeitungen oft genug die Schlagzeilen geliefert. Nachgerade besaß er die Berühmtheit eines Filmstars. Wieder und wieder war sein breitflächiges, teigiges Gesicht mit den wäßrigen Knopfaugen und dem blaßblonden Schnurrbart im Bild erschienen: in den Spalten der Zeitungen, in den Illustrierten, in Wochenschauen, auf Fernsehschirmen. In Wort und Bild war über ihn berichtet worden: als seine Verhaftung die Düsseldorfer Gesellschaft erschütterte, als es nach seiner sensationellen Haftentlassung zu einer Anfrage der Sozialdemokratischen Fraktion im Bundestag kam … ja, eine bekannte Erscheinung war Julius Maria Brummer!

Ich sagte zu dem Kriminalkommissar Kehlmann: »Falls es Sie wundert, daß mein Chef sich in Baden-Baden aufhält: Die Untersuchungshaft wurde bereits vor Monaten unterbrochen.«

»Oh«, sagte er wieder. Dann fragte er sachlich: »Ist es eine Anzeige gegen Herrn Brummer, die Sie erstatten wollen?«

Es schien ihm das Nächstliegende zu sein. Es wurden dauernd Anzeigen gegen Julius Brummer erstattet. Kehlmann sah aus, als ob er eine solche Anzeige gerne entgegengenommen hätte.

»Nein«, antwortete ich, »es ist keine Anzeige gegen Herrn Brummer.«

»Sondern, Herr Holden?«

Die Antwort auf diese Frage hatte ich mir genau überlegt. Ich hatte sie auswendig gelernt, diese Antwort, so lange und so genau, daß die Worte, die ich nun sprach, mir sonderbar fremd und sinnlos, ohne Bedeutung und Inhalt, vorkamen. Ich sagte, Kehlmann dabei in die blauen Augen blickend: »Es ist eine Anzeige wegen Diebstahls, Verleumdung, Hausfriedensbruchs und Bankbetrugs.«

Darauf fragte Kehlmann still: »Richtet sich diese Anzeige gegen einen einzelnen Menschen?«

»Ja«, sagte ich ebenso still, »gegen einen einzelnen Mann.«

»Ganz hübsch – für einen einzelnen Mann«, sagte er.

»Es ist noch nicht alles«, fuhr ich ernst fort. »Dieser Mann wird in der nächsten Zeit auch noch einen Mord begehen.«

Nun sah er mich lange stumm an. Ich hatte gewußt, daß er mich an diesem Punkt meiner Anzeige lange stumm ansehen würde – er, oder wer immer meine Anzeige entgegennahm. Ich ertrug des Kriminalbeamten Kehlmanns Blick mit ausdruckslosem Gesicht und zählte dabei, mit eins beginnend. Ich kam bis sieben. Ich hatte gedacht, daß ich bis zehn kommen würde.

»Ist es eine Anzeige gegen einen unbekannten Täter, Herr Holden?«

»Nein.«

»Sie kennen den Mann?«

»Ja.«

»Sie wissen, wie er heißt?«

»Ja.«

»Wie heißt der Mann, Herr Holden?«

Ich dachte daran, daß ich Julius Brummer so sehr haßte, wie ich niemals im Leben fähig sein würde, einen Menschen zu lieben. Ich dachte daran, daß ich entschlossen war, seinen Tod herbeizuführen. Ich antwortete laut: »Der Mann heißt Robert Holden.«

Darauf betrachtete der Kriminalkommissar Kehlmann die Buchstaben auf meinem Jackenrevers. Ich ließ ihm Zeit. Ich hatte gewußt, daß er an diesem Punkt meiner Aussage Zeit benötigen würde. Ich zählte wieder. Ich kam bis vier. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, bis sieben oder acht zu kommen. Ich dachte, daß ich vorsichtig sein mußte. Dieser Mensch reagierte zu rasch. Ich war eben bei vier angekommen, als er sagte:

»Sie heißen Robert Holden, und Sie wollen eine Anzeige gegen Robert Holden erstatten.«

»Ja, Herr Kommissar.«

Unten auf der Straße fuhr ein schwerer Lastwagen vorbei. Ich hörte die Gänge ratzen, als der Fahrer nun zurückschaltete. »Gibt es einen zweiten Robert Holden?« fragte Kehlmann.

Auch über die Antwort auf diese Frage hatte ich lange nachgedacht. Ich sagte: »Nein. Es gibt keinen zweiten Robert Holden.«

»Das heißt, daß Sie eine Anzeige gegen sich selbst erstatten wollen?«

»Ja, Herr Kommissar«, sagte ich höflich, »das heißt es.«

Erstes Buch

   

1

Was ich dem Kriminalkommissar Kehlmann an diesem Tage erzählte, nahm über drei Stunden in Anspruch. Er hörte mir aufmerksam zu. Dann forderte er mich auf, zurück in mein Hotel zu fahren und das Weitere abzuwarten. Es war mir untersagt, Baden-Baden zu verlassen, ohne ihn zuvor verständigt zu haben. Die Ermittlungen würden eingeleitet, sagte Kehlmann, ich würde von ihm hören …

Man sollte meinen, daß er die Pflicht gehabt hätte, mich sogleich in Haft zu setzen. Doch so einfach war die Geschichte, die ich ihm erzählte, nicht. Es war sogar eine ungemein komplizierte Geschichte – sie wird den Inhalt vieler folgender Seiten meines Berichtes bilden. Er wagte nicht, mich sogleich in Haft zu setzen, der Kriminalkommissar Kehlmann, er wagte es einfach nicht. Er schickte mich nach Hause …

Hier sitze ich nun, angstgeschüttelt, in meinem Hotelzimmer, die Hände eiskalt, der Schädel schmerzt zum Zerspringen, und überlege, überlege, immer dasselbe. Im Kreis drehen sich die Gedanken: Hat Kriminalkommissar Kehlmann mir meine Geschichte geglaubt? Habe ich sie überzeugend erzählt?

Wenn er sie nicht glaubt, bin ich verloren, dann war alles umsonst, alle Umsicht, alle Klugheit, alle Vorbereitung. Dann ist alles aus.

Aber hätte er meine Anzeige entgegengenommen, hätte er mich nach Hause gehen lassen, wenn er mir nicht glaubte? Nein, wohl nicht.

Er glaubte mir also.

Glaubt er mir?

Vielleicht hat er mich gerade darum gehen lassen, weil er mir nicht glaubte. Um mich in Sicherheit zu wiegen, um mich beobachten zu können durch Tage, Wochen, vielleicht Monate. Meine Nerven sind elend schlecht geworden, ich habe zuviel erlebt. Viel mehr kann ich, darf ich nicht erleben.

Ich muß mich beruhigen, ganz ruhig muß ich werden. Keine Unbesonnenheit. Meine Gedanken klar fassen, klar ordnen. Dazu soll die Niederschrift mir helfen: zu Sammlung und Ordnung. Nur so kann ich hoffen, das letzte, schwerste Stück meines Weges zu bewältigen.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß ich ausgerechnet heute, am Nachmittag des 7. April 1957, zum erstenmal in meinem Leben darangehe, ein Tagebuch zu führen. Heute vor 41 Jahren wurde ich geboren. Keinesfalls aber ist nun innere Einkehr zu Beginn eines fünften Lebensjahrzehnts der Motor, der mich treibt, gewisse geheime und gefährliche Begebenheiten meiner Vergangenheit diesen Blättern anzuvertrauen; vielmehr ist es eben nur die sehr reale Folge des Umstands, daß ich gerade von einem längeren Aufenthalt im Polizeipräsidium der Stadt Baden-Baden in mein schattiges, kühles Hotelzimmer zurückgekehrt bin.

Mit diesem 7. April 1957, man mag die Ereignisse betrachten, wie man will, hat ohne Zweifel der entscheidendste Abschnitt meines Lebens begonnen. Durch meine Aussage vor dem Kriminalkommissar Kehlmann habe ich, um in Ermangelung eines besseren und neuen den abgenützten und alten Vergleich zu bemühen – der bei diesem strahlenden Frühlingswetter auch noch besonders fehl am Platze scheint –, einen Schneeball ins Rollen gebracht, dessen künftiges Lawinenausmaß nicht einmal ich abschätzen kann.

Vor mir auf dem Tisch liegen fünfhundert Blatt weißes Schreibmaschinenpapier, ich habe sie gekauft, nachdem ich das Polizeipräsidium verließ, nachdem ich den Entschluß faßte, ein Tagebuch zu führen vom heutigen Tage an. Etwa ein Dutzend dieser Blätter habe ich in den letzten Stunden beschrieben. Ich habe auf ihnen erwähnt, daß ich Julius Maria Brummer hasse. Ich habe nicht erwähnt, warum. Ich habe meine Fahrt ins Polizeipräsidium und den ersten Teil meiner Aussage vor dem Kriminalkommissar Kehlmann geschildert. Ich habe festgehalten, daß ich eine Anzeige gegen mich selbst erstattete.

Nun stockte ich.

Denn was ich dem Kriminalkommissar Kehlmann im weiteren erzählte, war so phantastisch wie das meiste, das mir im letzten halben Jahr widerfahren ist. Was ich erzählte, war objektiv wahr und subjektiv unwahr. Wenn dieses Tagebuch, das ich heute zu führen beginne, aber irgendeinen Sinn haben soll, dann muß sein Inhalt objektiv und subjektiv wahr sein. Und um das zu erreichen, ist es unmöglich, in der Schilderung meiner Aussage vor dem Kriminalkommissar Kehlmann fortzufahren. Vielmehr muß ich weiter zurückgreifen, muß ich von Anfang an berichten, wie jene grausige Konstruktion des scheinbaren Wahnsinns entstand, in welcher ich mich heute bewege. Ich muß zurückgehen bis zu jenem regnerischen Abend im August des vorigen Jahres, an welchem ich Julius Brummer zum ersten Male gegenübertrat. Mit dieser Begegnung beginnend, will ich im folgenden chronologisch bis zum heutigen Tag berichten, was geschah. So daß ich mich jedenfalls bis zu jenem Punkte, an welchem ich die Gegenwart eingeholt haben werde, auch eigentlich nicht mit der Abfassung eines Tagebuches beschäftigt sehe, sondern vielmehr mit einem Bericht über Vergangenes, einem Buch der Erinnerung. Das Dutzend Seiten, das ich bisher füllte, werde ich darum, so denke ich, am besten vor meine Erinnerungen stellen – als eine Art Prolog.

Je inniger ich mich mit dem Gedanken an diese so ungewohnte neue Tätigkeit befreunde, um so mehr Erleichterung verschafft er mir. Das Schreiben wird mich ablenken. Es wird mir klarer sehen und kühler handeln helfen in diesen letzten Wochen vor dem Ende eines Schuftes.

Als ich zur Schule ging, erregten eine Zeitlang meine Aufsätze wegen ihrer gewählten Form den Beifall der Lehrer. Meine Eltern gaben sich damals der beschwingten Hoffnung hin, ich würde ein Schriftsteller werden, denn wir waren sehr arm, und meine Eltern hatten einem illustrierten Blatt Einzelheiten über das Jahreseinkommen des Herrn Ludwig Ganghofer entnommen.

Ich habe meine armen Eltern enttäuscht – nicht nur im Hinblick auf eine literarische Karriere. Und ich muß lächeln, wenn ich überlege, daß auch diese späte schriftstellerische Tätigkeit, die ich heute, an meinem 41. Geburtstag, zu treiben beginne, kaum jemals finanziell einträglich sein wird.

Zwei Möglichkeiten gibt es für die Zukunft dieser Seiten. Zum einen kann, was ich begann, gelingen. Dann wird die Welt um einen Schurken ärmer sein, und ich werde wieder frei atmen und in Sicherheit leben können. Dann will ich meine Aufzeichnungen für mich bewahren und von Zeit zu Zeit in ihnen lesen, um ihnen die Gewißheit zu entnehmen, daß es in dieser Welt der entmutigten Richter und bestochenen Zeugen noch immer eine Art von unantastbarer Gerechtigkeit gibt, die mich zu ihrem Werkzeug gemacht hat.

Zum anderen kann, was ich begann, mißlingen. In diesem Falle mag der Kriminalkommissar Kehlmann mein Manuskript als mein Geständnis werten.

2

Ich begegnete Julius Maria Brummer zum ersten Male am Abend des 21. August 1956. An diesem Tage regnete es in Düsseldorf. Der alte Autobus, in welchem ich aus der Stadtmitte zur Cecilienallee hinausfuhr, war überfüllt. Arbeiter und kleine Angestellte kehrten aus ihren Betrieben heim. Es roch nach nassen Kleidern, billiger Schuhcreme, schlechtem Fett und jenem traurig-stickigen Dunst, der die Armen umgibt. Trübe fiel das Licht der elektrischen Deckenbeleuchtung auf erschöpfte Gesichter. Manche Männer lasen. Einem Pockennarbigen hing der schwarze Stummel einer erloschenen Zigarre im Mundwinkel. Frauen blickten mit glanzlosen Augen ins Leere. Das junge Mädchen neben mir versuchte seine Lippen neu zu schminken. Der Autobus rüttelte und schwankte. Das Mädchen überzeichnete den Mund und wischte das rote Fett geduldig wieder fort. Der zweite Versuch gelang. Das Mädchen hob die geöffnete Puderdose und probte vor dem kleinen Spiegel verschiedene Arten des Lächelns.

Schlecht gelaunt drängte sich ein Schaffner durch die Fahrgäste. Über die Scheiben rannen Tropfen, und viele Lichter funkelten auf den Straßen. Immer mehr Menschen stiegen aus. Sie kämpften im böigen Ostwind mit ihren Schirmen und wurden von der Finsternis verschluckt. Das Mädchen mit den geschminkten Lippen verließ uns bei der Haltestelle Malkasten, vor dem großen Kino. Ich sah sie strahlend auf einen jungen Mann zueilen. Er aber blickte zu einer erleuchteten Uhr, und sein hübsches Gesicht war böse. Sie hatte sich verspätet. Traurig senkte sie den Kopf. Während der Autobus wieder anfuhr, sah ich die beiden, in Neonlicht getaucht, unter dem gigantischen Bild einer amerikanischen Busenschönheit stehen, erlebte ich das Ende einer Affäre. Er war zu schön, sie war zu kleinmütig. Sie legte eine Hand auf seinen nassen Mantelärmel. Er schüttelte sich frei, warf seine Zigarette weg und ging davon. Sie lief ihm stolpernd nach auf hohen Absätzen, stieß mit eiligen Menschen zusammen, griff sich sinnlos an die nassen Locken und stand dann still im Regen, verzagt und schmal …

»Hofgarten!« schrie der mürrische Schaffner.

Das Kino, das Mädchen, die Lichter waren verschwunden. Wir hatten den Strom und die lange Reihe der vornehmen Villen an seinem Ufer erreicht.

Ich stieg aus. Der kalte Regen schlug mir ins Gesicht. Vor den »Rheinterrassen« parkten viele Autos. Ich sah erleuchtete Fenster. In der Bar spielte eine Kapelle. Vier Paare tanzten. Von der Musik war nichts zu hören. Die Paare glitten lautlos über das Parkett …

Ich ging die Cecilienallee hinab und stellte den Kragen meines alten Regenmantels auf. Dann blieb ich unter einem Baum stehen, um meine Hosenbeine hochzukrempeln. Ich wollte vermeiden, daß die Hose schmutzig wurde. Mein blauer Anzug war mein einziger Anzug. Ansonsten besaß ich noch zwei alte Flanellhosen, eine graue und eine braune, eine Lederjacke und ein Sportjackett. Die graue Flanellhose wies dünne Stellen im Stoff auf. Das Futter des Jacketts war zerschlissen. Aber der blaue, zweireihige Anzug sah noch recht ordentlich aus – bei elektrischem Licht. Bei Tageslicht glänzte er an den Ellbogen und an den Knien. Er glänzte auch schon über dem Gesäß, aber das sah man nicht, denn dort verdeckte die Jacke die Hose.

Ich besaß noch zwei Paar Schuhe, ein braunes und ein schwarzes. Der linke Schuh des schwarzen Paares hatte eine dünne Sohle. Trotzdem hatte ich heute abend dieses Paar gewählt. Braune Schuhe machten keinen guten Eindruck zu dem blauen Anzug. Und ich wollte heute abend unbedingt einen guten Eindruck machen. Ich hatte noch eine Mark und einunddreißig Pfennig. Die Miete für mein Zimmer war ich seit Monaten schuldig. Die Wirtin sprach nicht mehr mit mir.

In den Bäumen orgelte der Ostwind. Auf dem Wasser heulte das Nebelhorn eines Dampfers. Die Chaussee beschrieb nun einen Bogen. Plötzlich sah ich viele Menschen. Sie standen vor einem geöffneten Parktor, das von den Scheinwerfern mehrerer Autos angestrahlt wurde. Im Näherkommen bemerkte ich auch im Park hinter dem Tor drei Wagen. Polizisten eilten hin und her.

Cecilienallee 486 stand auf der kleinen Emailtafel am Gitter. Ich schob mich durch die Menschen. Es waren mindestens dreißig, Männer und Frauen. Manche hielten aufgespannte Schirme, anderen rann der Regen über die Gesichter. Sie sahen den Polizisten zu, die über das nasse Gras des Parks eilten, zu ihren Wagen, zu der mächtigen Villa, die sich hinter den alten Bäumen erhob. In silbernen Schlieren fiel der schwere Regen durch die Lichtbahnen der Scheinwerfer. Das Ganze sah aus wie eine Filmdekoration, unwirklich, nur für den Augenblick erstellt.

Zwei alte Frauen standen neben dem Tor.

»Mit Gas«, sagte die erste.

»Quatsch«, sagte die zweite, »mit Salzsäure und Lysol.«

»Mit Gas«, beharrte die erste. »Ich hab’ doch gehört, was der Kerl von der Ambulanz gesagt hat! Sie ist schon tot.«

»Wenn sie schon tot ist, warum haben sie sie dann so schnell weggekarrt? Mit Sirene und allem?«

»Hab du mal soviel Geld«, sagte die erste.

»War doch Salzsäure«, sagte die zweite und hustete verschleimt.

»Was ist hier los?« fragte ich.

Die alten Frauen sahen mich an. Diffuses Licht der Scheinwerfer erleuchtete die lüsternen Gesichter.

»In Gottes Hand«, sagte die zweite und nieste donnernd. »Wir stehen alle in Gottes Hand.«

Ich trat durch das geöffnete Tor. Ein Funkstreifenwagen stand quer über dem breiten Kiesweg, der zur Villa führte. Sein Motor pochte unruhig. Ich kam an einem jungen Polizisten vorbei, der gerade in ein Handmikrophon sprach: »Hallo, Zentrale … Hier ist Düssel drei …«

Unter krachenden Nebengeräuschen klang eine Lautsprecherstimme auf: »Sprechen, Düssel drei …«

»Die Ambulanz ist jetzt unterwegs ins Marienhospital«, sagte der junge Polizist, dem der Regen in den Kragen lief. »Den Mann holt Düssel vier aus dem Büro …«

Ich ging weiter. Niemand beachtete mich. Ein Beet mit Schwertlilien. Ein Beet mit Rosen. Aus einer Rhododendronhecke trat ein krummbeiniger, unförmiger Hund. Er bewegte sich schwankend. Sein gelbes Fell war naß und fleckig, der Stummelschwanz schlug eilig hin und her.

Der traurige alte Boxer stieß gegen einen Baum, danach lief er mir zwischen die Beine. Als sein schwerer Kopf mein Knie traf, begann er zu winseln. Ich beugte mich zu ihm herab und streichelte ihn. Seine Schlappohren waren nicht beschnitten. Ich bemerkte jetzt, warum er gegen mich gestoßen war. Blutunterlaufen und milchig blickten mich halb erblindete Augen an. Der Hund fiel plötzlich um, erhob sich wieder und schlich in das Gebüsch zurück.

Ein Mann kam auf mich zugestürzt, er war völlig außer Atem: »Sind Sie der Fotograf der ›Nachtdepesche‹?«

»Nein.«

»Herrgott, das ist ja zum Verrücktwerden. Wo bleibt der Kerl!« Er stürzte in die Finsternis hinein.

Nun erreichte ich die Villa. In allen Fenstern brannte Licht, die Eingangstür stand offen. Es gab Terrassen und Balkone. Die Mauern waren weiß, die Holzläden grün. Hinter einigen der erleuchteten Fenster bewegten sich Schatten. Über dem Eingang sah ich zwei goldene Buchstaben von Handtellergröße: J und B.

Ich stieg drei Stufen empor und betrat die Halle. Hier gab es viele Türen, einen Kamin und einen breiten Treppenaufgang aus schwarzem Holz, der in den ersten Stock führte. An den weißen Wänden hingen dunkle Bilder. Auf dem Sims über dem Kamin stand altes Zinngeschirr. Der halbblinde Hund kam in die Halle gewankt, schlich zum Kamin, in dem ein großes Feuer loderte, und legte sich davor, als wolle er sterben.

Es waren viele Menschen in der Halle: ein Arzt in Weiß, drei Polizisten mit Lederjacken, vier Männer in Zivil. Die vier Männer in Zivil trugen vier Hüte. Sie standen in einer Ecke und verglichen Notizen. Alle Türen der Halle, die in das Innere des Hauses führten, waren geöffnet, und alle Männer rauchten.

Vor dem Kamin saß ein fünfter Zivilist. Er hielt einen Telefonapparat auf den Knien und sprach gehetzt: »… was heißt, keinen Platz mehr auf der ersten Seite? Schmeißt den Zweispalter über Algerien raus! Was ich hier habe, ist auf alle Fälle besser! Das ganze Haus stinkt noch nach Gas!«

In der Tat stieg mir, seit ich die Halle betreten hatte, ein fader, süßlicher Geruch in die Nase. Ich bemerkte, daß die Fenster weit geöffnet waren. Der Regen spritzte auf die schweren Teppiche …

»Kaffee?« fragte eine verzagte Stimme.

Ich drehte mich um. Hinter mir stand eine kleine Frau mit weißem Haar. Sie hielt ein Tablett mit mehreren dampfenden Tassen. Über dem schwarzen Kleid trug sie eine weiße Schürze. Ihre gütigen Augen waren gerötet. »Wollen Sie Kaffee, Herr?« Sie sprach mit einem harten, tschechischen Akzent.

»Nein«, sagte ich, »danke.«

Sie ging weiter zu den Kriminalbeamten und Reportern. »Kaffee«, sagte sie gramvoll, »wollen die Herren vielleicht Kaffee …?« Sie war völlig eingesponnen in das tragische Gewebe ihres Kummers.

Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Ich fuhr herum. Ein Polizist musterte mich mißtrauisch: »Wer sind Sie?«

»Ich heiße Holden«, sagte ich sehr höflich. Ich wollte keinen Ärger. Nur keinen Ärger mit der Polizei …

»Gehören Sie hierher?« Er war überarbeitet, das linke Augenlid zuckte nervös. Seine Lederjacke war naß.

»Nein«, sagte ich.

»Wie kommen Sie dann in die Halle?«

»Durch die Tür.«

»Lassen Sie die Frechheiten.«

»Ich wollte nicht frech sein«, erwiderte ich demütig. Alles, nur keinen Ärger mit der Polizei. »Ich kam wirklich durch die Tür. Ich soll mich hier vorstellen.«

»Vorstellen als was?«

»Als Chauffeur.« Ich versuchte zu lächeln. Aber der Versuch mißlang. Ich hatte kein Glück, dachte ich beklommen. Als mir das Sekretariat dieses Julius Brummer geschrieben hatte, ich möge ihn aufsuchen, um mich vorzustellen, da hatte ich geglaubt, daß mir das Leben wieder eine Chance gab. Noch vor fünf Minuten, als ich durch den Regen lief, war ich guter Dinge gewesen. Jetzt fühlte ich kalt und schleimig Angst über mich kriechen, Angst, die mich ein Leben lang verfolgte …

»Haben Sie einen Ausweis?« fragte der Polizist. Er blickte auf meine hochgeschlagenen Hosenbeine. Er sah die alten Socken, die schlechten Schuhe, von denen das Regenwasser in den Teppich sickerte.

Ich gab ihm meinen Paß.

»Deutscher Staatsbürger?«

»Sonst hätte ich keinen deutschen Paß.«

»Nicht diesen Ton, Herr Holden. Nicht diesen Ton.«

»Ich habe nichts getan. Warum behandeln Sie mich wie einen Verbrecher?«

»Sie wohnen in Düsseldorf?« fragte er statt einer Antwort.

»Grupellostraße 180.«

»Hier steht Wohnort München.«

»Ich habe früher in München gelebt.«

»Wann, früher?«

Meine Hände begannen zu zittern. Ich hielt das nicht mehr lange aus. »Vor einem Jahr. Ich bin übersiedelt.« Meine Stimme. Er mußte etwas merken.

»Verheiratet?« Er merkte nichts.

»Nein.«

»Kennen Sie Herrn Brummer?«

»Nein.«

»Frau Brummer?«

»Auch nicht. Was ist eigentlich los?«

»Frau Brummer«, sagte er und drehte den Daumen der linken Hand erdwärts, dem kostbaren Teppich entgegen.

»Tot?«

»Noch nicht ganz.«

»Selbstmord?«

»Riecht danach.« Er gab mir den Paß zurück und lächelte müde. »Da hinüber, Herr Holden. Zweite Tür. Lassen Sie sich von der Köchin Kaffee geben. Wird noch eine Weile dauern, bis Herr Brummer wiederkommt.«

3

Sie hieß Mila Blehova, und sie stammte aus Prag.

Sie hatte eine breite Entennase und ein prächtiges falsches Gebiß und das gütigste Gesicht, das ich in meinem Leben gesehen habe. Wenn man sie erblickte, wußte man: Diese Frau hatte noch niemals eine Lüge ausgesprochen, diese Frau war unfähig, eine Gemeinheit zu begehen. Klein und gebückt, das weiße Haar straff nach hinten gekämmt, stand sie beim offenen Fenster der großen Küche und arbeitete, während sie sprach. Sie bereitete eine Mahlzeit vor: Rindsrouladen. Dunkelrot und saftig, lagen vier Fleischstücke vor ihr. Sie bestrich sie mit Salz und Pfeffer.

»So ein Unglück, so ein großes Unglück, Herr …« Ein paar Tränen rollten über die faltigen Wangen. Sie wischte sie mit dem Ellbogen des rechten Armes fort. »Müssen entschuldigen, daß ich mich so gehenlasse, aber sie ist wie mein Kind, wie mein eigenes Kind ist sie, die Nina.«

Ich saß neben ihr und trank Kaffee und rauchte, und obwohl die Fenster weit offenstanden, roch es noch immer stark nach Gas in der Küche. Im dunklen Garten hinter dem Haus rauschte der Regen.

»Sie kannten Frau Brummer schon lange?«

»Mehr als dreißig Jahre, Herr.« Nun strich sie Senf über die Fleischstücke, die abgearbeiteten, saubergeschrubbten Hände bewegten sich geschickt. Über der Schürze, auf der linken Schulter, staken zwei Buchstaben aus Gold an ihrem Kleid: ein J und ein B. »Kinderfrau bin ich gewesen von der Nina. Laufen hab’ ich ihr beigebracht, Essen mit Messer und Gabel, Haare kämmen und Vaterunser sagen. Nie bin ich weggewesen von ihr auch nur einen einzigen Tag, auf alle Reisen haben mich die Herrschaften selig mitgenommen, immer war ich zusammen mit meinem Ninale. Gott, wie sie die Masern gekriegt hat und den Keuchhusten … und dann, wie die Eltern selig gestorben sind, kurz nacheinander, alles haben wir erlebt zusammen, mein armes, kleines Ninale und ich …«

Sie schnitt jetzt dünne Scheiben von einem großen Stück Speck ab und legte sie ordentlich nebeneinander auf den Senf und das Fleisch, und irgendwo im Hause hörte man noch immer undeutlich die Stimmen der Reporter und der Kriminalbeamten.

Mila Blehova sagte: »… So schön ist sie, Herr, wie ein leibhaftiger Engel. Und so gut ist sie. Wenn sie stirbt, möchte ich auch nicht mehr leben.« Nun begann sie Zwiebeln zu schneiden, kleine, dünne Ringe. »Sie ist wie ein Stück von mir, nach allem, was wir zwei erlebt haben zusammen. Das Elend in Wien, und den Krieg und die Bomben, und dann das große Glück.«

»Was für ein großes Glück?«

»No, mit’m gnädigen Herrn. Wie er sich hat verliebt in mein Ninale. Die Hochzeit. Das viele Geld. Der Nerzmantel und der Brillantschmuck, das feine Haus …« Tränen rollten über Mila Blehovas alte Wangen, und sie produzierte ein Geräusch, als hätte sie zu schnell zuviel Sodawasser getrunken. »Krieg’ ich wieder mein Aufstoßen«, sagte sie ergeben. Ihr Gesicht sah plötzlich schmerzverzerrt aus. »Immer, wenn ich mich aufrege. Es ist die Schilddrüse. Hab’ ich Überfunktion.« Sie legte die Zwiebelringe über die Speckstreifen.

Ein dünnes, qualvolles Jaulen erklang. Der alte Boxer hatte es ausgestoßen. Er lag zusammengerollt neben dem Herd und sah uns aus blutunterlaufenen, halbblinden Augen an.

»Ja, mein Puppele, mein armes, ja, es ist schrecklich, gelt …« Sie nickte dem Hund zu, und er winselte und kam zu ihr und rieb sich an ihrem Bein. Während Mila Blehova das erste Fleischstück vorsichtig zusammenrollte, berichtete sie: »Ohne unser Puppele, unser gutes, wäre sie gewiß tot, meine Nina …«

»Wieso?«

»No, heute ist doch Mittwoch, da haben wir alle Ausgang am Nachmittag, der Diener und die Mädeln und ich. Um zwei Uhr sagt mein Ninale zu mir, geh doch ins Kino, aber ich sag’, nein, ich mach’ lieber einen feinen Spaziergang mit’m Puppele …« Wieder winselte der alte, hilflose Hund. »… Zum Jachtklub hinunter sind wir gegangen, und auf einmal fängt das Puppele zu jaulen an und zieht an der Leine zurück, zurück nach Hause … muß es gefühlt haben, das Tier …« Die erste Roulade war fertig. Behutsam durchstach die kleine Frau sie mit einem Aluminiumstäbchen. »… So hab’ ich auch Angst gekriegt und bin nach Hause gelaufen mit dem Hundl, und wie ich in die Küche komm’, da liegt sie vorm Herd, und alle Gashähne sind offen, und sie ist schon beinahe hinüber.« Wieder quälte sie ihr würgender Schluckauf.

»Wie lange waren Sie fort?«

»Drei Stunden vielleicht.«

»Und drei Stunden haben genügt, um –«

»Hat sie auch Veronal geschluckt, Herr. Ganzes Röhrchen voll. Zwölf Stück.«

»Wie alt ist Frau Brummer?«

»Vierunddreißig.« Sie rollte die zweite Roulade zusammen. Ein Stückchen Speck warf sie dem armen Hund zu. Er schnappte danach. Er schnappte daneben.

»Warum hat sie es getan?« fragte ich.

»Ich weiß es nicht. Niemand weiß es.«

»War die Ehe glücklich?«

»Glücklichste Ehe von der Welt. Auf’n Händen hat der gnädige Herr meine Nina getragen. Geld war da, Sorgen hat’s keine gegeben, ich versteh’ es nicht, ich kann es nicht begreifen …«

Die Tür öffnete sich, und der Polizist, der meinen Paß angesehen hatte, kam herein.

»Gibt’s noch Kaffee, Mutterchen?«

»Soviel Sie wollen, Herr. Da steht der Topf. Nehmen sich Zucker, nehmen ordentlich Milch …«

»Wir haben gerade mit dem Krankenhaus telefoniert«, sagte er freundlich, während er seine Tasse vollgoß. »Herr Brummer kommt nach Hause.«

»Und die Gnädige?« Der schlaffe Altfrauenmund zitterte. »Was ist mit der Gnädigen?«

»Sie versuchen es jetzt mit einem Sauerstoffzelt. Und Cardiazol. Für das Herz.«

»Ach, lieber Herrjesus im Himmel, wird sie leben?«

»Wenn sie die Nacht übersteht«, sagte der Polizist und ging wieder in die Halle zurück.

Als hätte er alles verstanden, begann der alte Hund wieder zu wimmern. Auf steifen Beinen kniete Mila Blehova neben ihm nieder und strich über seinen geblähten Leib. Sie redete tröstend in ihrer harten, konsonantenreichen Muttersprache auf ihn ein, aber der Hund fuhr fort zu wimmern, und es roch noch immer nach Gas in der Küche.

4

Das Telefon läutete.

Es war klein und weiß und hing an der gekachelten Mauer neben der Tür. Schnell hob die alte Frau den Hörer ab. In der letzten halben Stunde hatte sie das Abendessen fertiggekocht. Rotkraut und Kartoffeln standen bereit. »Ja, bittschön?« sagte Mila Blehova.

Sie lauschte und schluckte nervös. Eine Hand legte sie auf den schmerzenden Magen.

»Ist gut, gnä’ Herr. Dann werde ich jetzt servieren.«

Ich wäre am liebsten gegangen – schon lange. Aber ich wußte nicht mehr, wohin. In mein möbliertes Zimmer wagte ich mich nicht zurück mit einer Mark und einunddreißig Pfennig. Diese Begegnung mit Julius Brummer war alles, was ich an Hoffnung noch besaß im Leben. Ich klammerte mich an diese Hoffnung.

Mila Blehova hatte längst begriffen, wie es um mich stand. Jetzt nickte sie mir freundlich zu. Sie sagte in das Telefon:

»Da ist noch der Chauffeur. Haben ihn herbestellt, gnä’ Herr. Wartet er schon lang.«

Wieder lauschte sie.

»Gut, ich sag’s ihm.« Sie hängte den Hörer ein und eilte zur Anrichte, wo sie ein Tablett mit Geschirr und Besteck zu beladen begann. »Können gleich mitkommen.«

»Aber ich will Herrn Brummer nicht beim Essen stören.«

»Das ist nicht so bei uns, am Mittwoch schon überhaupt nicht. Da ist der Diener nicht da, und ich servier’ … Bier darf ich nicht vergessen …« Sie nahm zwei Flaschen aus dem Eisschrank und stellte sie auf das Tablett. Danach belud sie ein zweites Tablett mit den Speisenschüsseln und trug beide zum Schacht eines Hausaufzuges. Sie drückte auf einen Knopf. Der Aufzug glitt summend nach oben. Die alte Köchin legte ihre Schürze ab, dann verließen wir die Küche. Der traurige Hund folgte uns stolpernd.

Die Halle war jetzt menschenleer. Die Fenster hatte man geschlossen, ebenso die Eingangstür. Die Polizisten und Reporter waren verschwunden. Viele schmutzige Stellen auf den Teppichen, volle Aschenbecher und leere Kaffeetassen zeugten von ihrem Aufenthalt. Es war kalt in der Halle, die Feuchtigkeit des Regens war in sie gedrungen.

Wir stiegen die Treppe in den ersten Stock empor. Das Holz der Stufen knarrte, und ich betrachtete die dunklen Bilder an den Wänden. Ich verstand ein bißchen von Malerei, vor Jahren hatte ich mit Bildern zu tun gehabt. Ein Bauern-Brueghel, sehr wahrscheinlich echt. Bäume von Fragonard, desgleichen original. Eine Kopie der Susanne von Tintoretto. Geil betrachteten die bärtigen Greise das junge Mädchen mit den prallen Schenkeln und den prallen Brüsten, das schamvoll in den Weiher blickte …

Der halbblinde Hund wankte vor uns einen Gang mit mehreren Türen hinab, deren dritte Mila Blehova öffnete. Das Speisezimmer war groß. In seiner Mitte stand ein antiker Tisch. Um ihn herum standen zwölf antike Stühle. Schwere, dunkelrote Vorhänge verdeckten die Fenster. Im Gegensatz zur Halle war es hier sehr warm. Die Seidentapeten zeigten Blätter und Ranken in Silbergrau und Hellgrün. Die Anrichten an den Wänden zeigten komplizierte Schnitzereien. Ich sah zu, wie Mila Blehova eine Stirnseite des gewaltigen Tisches für einen Menschen deckte. Sie stellte einen silbernen Leuchter auf das Damasttischtuch und entzündete sieben Kerzen. Danach löschte sie die Deckenbeleuchtung. Der Raum lag nun in warmem Halbdunkel. Die alte Köchin öffnete ein Wandpaneel. Der Speisenaufzug wurde sichtbar. Mila Blehova sagte, die Schüsseln zum Tisch tragend: »Früher war das Speisezimmer unten. Da haben wir jetzt einen Konferenzraum. Der Aufzug ist auch neu. Wird immer alles kalt, bevor es auf’n Tisch kommt …«

Der alte Boxer bellte heiser und hinkte zu einer zweiten Tür, die sich gleich darauf öffnete. Ein Mann trat ein. Das Licht der sieben Kerzen flackerte über einen zweireihigen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine silberne Krawatte. Dieser Mann war vollständig kahl, sehr groß und sehr dick. Bei aller Fettleibigkeit bewegte er sich beinah graziös auf kleinen, zierlichen Füßen, die in kleinen, zierlichen Schuhen steckten. Er kam in den Raum geschwebt wie ein riesiger Luftballon, der, zu Boden gefallen, nun immer wieder emporschnellte.

Sein Schädel war rund, die Stirn niedrig. Das Gesicht wies eine gesunde, rosige Farbe auf, die winzigen, wäßrigen Augen lagen in Fettpolster gebettet. Über dem kleinen, fraulichen Mund wuchs ein blaßblonder Schnurrbart.

Der halbblinde Hund heulte gramvoll. Der dicke Riese streichelte ihn. »Ja, Puppele, ja …« Dann richtete er sich auf. »Herr Holden? Guten Abend, mein Name ist Brummer.« Seine Hand war klein und weich. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie so lange warten ließ. Sie wissen sicher, was geschehen ist.«

Er sprach schnell und sachlich, und er machte einen beherrschten, kraftvollen Eindruck. Ich schätzte sein Alter auf fünfundvierzig Jahre.

»Herr Brummer«, sagte ich, »erlauben Sie, daß ich Ihnen zu … diesem tragischen Ereignis meine Anteilnahme ausspreche. Das ist ein schlechter Moment, um mich vorzustellen. Glauben Sie nicht, es wäre besser, wenn ich morgen wiederkäme?«

Julius Brummer schüttelte den Kopf. Er übersprang fünf Sätze Dialog: »Haben Sie Hunger, Herr Holden?« Ich bemerkte jetzt, daß er ohne Unterlaß leicht die Kiefer bewegte, er hatte einen Kaugummi im Mund. »Haben Sie Hunger?«

Ich nickte. Mir war ganz übel vor Hunger.

»Noch ein Gedeck, Mila.«

»Jawohl, gnä’ Herr!«

»Machen Sie nicht so ein Gesicht, Herr Holden! Was hilft es meiner Frau, wenn wir nicht essen? Niemandem kann die Sache nähergehen als mir. Ich liebe meine Frau. Wir waren glücklich, was, Mila?«

»Und wie, gnä’ Herr …« Die alte Köchin schluckte qualvoll, während sie das zweite Gedeck auflegte. Er trat zu ihr und drückte sie an sich. Ihr weißer Scheitel erreichte knapp jene Höhe seiner Weste, an welcher eine goldene Uhrkette verlief. »Warum hat sie es bloß getan? Warum?«

»Niemand weiß es, Mila.« Seine Stimme klang warm und voll.

»Sie haben mich noch nicht zu ihr gelassen. Aber ich werde herausfinden, was geschehen ist, verlaß dich drauf!«