Cover

Michael A. Meyer

Leo Baeck

Rabbiner in bedrängter Zeit

Eine Biographie

Aus dem Englischen
von Rita Seuß

C.H.BECK

Ludwig Meidner, Porträt Leo Baeck, 1931, Öl auf Leinwand, Jüdisches Museum Berlin

Zum Buch

Rabbiner, Intellektueller, Liberaler und Sprecher der jüdischen Gemeinde in den dunkelsten Zeiten der Verfolgung: Leo Baeck gehört zu den faszinierendsten Persönlichkeiten der jüdischen Geschichte. Michael Meyer lässt in seiner anschaulichen Biographie einen engagierten Denker lebendig werden, der hinter seiner Rolle als Ikone der deutsch-jüdischen Geschichte zu verschwinden drohte.

Der liberale jüdische Theologe Leo Baeck (1873–1956) wurde mit seinem Hauptwerk «Das Wesen des Judentums» von 1905 weithin bekannt. Doch sein Werk steht heute – anders als das Martin Bubers oder Franz Rosenzweigs – im Schatten seiner politischen Funktionen während des Dritten Reichs. Michael Meyer schildert eindrucksvoll, wie der Rabbiner dank seiner Bereitschaft zum Martyrium fast Unmögliches erreichte. Als Präsident der «Reichsvertretung der deutschen Juden» blieb er in Verhandlungen mit der Gestapo trotz Verhaftungen standhaft, verhalf zahllosen Juden zur Auswanderung und widerstand mehrfachen Gelegenheiten zur Flucht. Ab 1943 in Theresienstadt interniert, nahm er dort vor allem seelsorgerliche und soziale Aufgaben wahr. Nachdem er das Ghetto schwer misshandelt überlebt hatte, emigrierte er nach London. Das 1955 in Jerusalem gegründete internationale Leo-Baeck-Institut machte ihn zu seinem ersten Präsidenten. Michael Meyer legt mit seiner meisterhaften Biographie das quellenbasierte Standardwerk zu Leo Baeck vor und lässt uns damit jüdisches Leben vor und nach dem Holocaust besser verstehen.

«Die definitive Biographie der führenden geistigen und politischen Persönlichkeit des deutschen Judentums der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine notwendige Lektüre zum Verständnis deutsch-jüdischer Geschichte in all ihren Höhen und Tiefen!» Michael Brenner

«Eine ergreifende Biographie, geschrieben mit Souveränität und Leidenschaft.» Ismar Schorsch

Über den Autor

Michael A. Meyer, geb. 1937 in Berlin, ist Professor em. für Jüdische Geschichte am Hebrew Union College in Cincinnati und war Internationaler Präsident des Leo Baeck Instituts (1991–2013). Er ist Herausgeber der vierbändigen «Deutsch-jüdischen Geschichte in der Neuzeit» (1996/97) und war an der Herausgabe der Schriften Leo Baecks beteiligt.

Inhalt

Vorwort

1: Ein unkonventioneller Student und Rabbiner

Der Hintergrund

Der Student

Rabbiner in Oppeln

2: Die Würde des Judentums wiederherstellen

Wissenschaft und Religion

Angriff und Verteidigung

Apologetik

Düsseldorf

3: Rabbiner im Weltkrieg

Die erste Zeit in Berlin

Feldrabbiner

Die Nachwirkungen

4: Ein engagierter Denker

Ambivalent gegenüber der Weimarer Kultur

Funktionen und Ämter

Das liberale Judentum

Die zionistische Herausforderung

«Romantische Religion»

Jude unter Nichtjuden

Mystik

Offenbarung versus Relativismus

Die Weltsicht eines Rabbiners

Ehe, Familie und Feminismus

5: Die Bürde der Führung

Der Umschwung

Einheit schaffen

Physischer und spiritueller Rückhalt

Anfechtungen

Das Durchhaltevermögen stärken

6: Unter Druck

Der Verlust der Unabhängigkeit

Die Gegenwart transzendieren

Wissenschaft als Trost

Den Verzweifelten bei der Ausreise helfen

Widerstand

7: Theresienstadt

Der Ort

Rabbiner im Ghetto

Die Vorträge

Überleben

8: Nach der Katastrophe

Blick zurück und nach vorn

Das Erbe

Ein neues Deutschland

Amerika

Israel

Neu über das Christentum nachdenken

Das Volk des Gebots

Epilog: Die Ikone und der Mensch

Anhang

Dank

Zeittafel

Anmerkungen

1: Ein unkonventioneller Student und Rabbiner

2: Die Würde des Judentums wiederherstellen

3: Rabbiner im Weltkrieg

4: Ein engagierter Denker

5: Die Bürde der Führung

6: Unter Druck

7: Theresienstadt

8: Nach der Katastrophe

Epilog: Die Ikone und der Mensch

Bibliographischer Essay

Bildnachweis

Personenregister

Für meine Freunde
am Leo Baeck Institut
in Jerusalem, London,
New York und Berlin

Vorwort

Im August 1939 war die Situation der deutschen Juden verzweifelt. Die bürgerliche Gleichstellung, die sie im 19. Jahrhundert so mühselig erkämpft hatten, war seit Hitlers Aufstieg zur Macht sechs Jahre zuvor Stück für Stück untergraben worden. 1933 wurden sie von allen einflussreichen Positionen in der deutschen Gesellschaft ausgeschlossen. Mit den Nürnberger Gesetzen zwei Jahre später wurde ihnen die Staatsbürgerschaft aberkannt, sie waren jetzt nur noch Staatsangehörige: nicht mehr Bürger, sondern bloß Untertanen ohne politische Rechte. Mit der Enteignung von jüdischem Besitz begann die fortschreitende Verarmung der Juden in Deutschland. Auf die rechtliche Diskriminierung folgten im November 1938 massive gewalttätige Ausschreitungen. Juden wurden ermordet, ihre Synagogen und ihr Privatbesitz in einem als «Kristallnacht» in die Geschichte eingegangenen Pogrom zerstört. Juden wurden ausgegrenzt durch den Namenszusatz, den sie annehmen mussten: Männer und Jungen «Israel», Frauen und Mädchen «Sara». Anfangs versuchten die meisten deutschen Juden, dem Sturm zu trotzen. Manche entstammten Familien, die schon seit Generationen in Deutschland lebten und das Vertraute nicht gegen das Fremde eintauschen wollten. Doch nun suchten fast alle nach einer Möglichkeit zur Flucht – meist vergeblich, da Staaten, die verfolgte Juden hätten aufnehmen können, die Einwanderung streng begrenzten. Zu den Glücklichen, die außerhalb Deutschlands Zuflucht fanden, zählten Vorsitzende von jüdischen Gemeinden und Rabbiner, die verständlicherweise ihr eigenes Leben und das ihrer Familie retten wollten.

Leo Baeck, Rabbiner, Gelehrter und führender Repräsentant der organisierten deutsch-jüdischen Gemeinschaft, unternahm 1939 vielfältige Anstrengungen, um vor allem den Jüngeren die Auswanderung zu erleichtern. Im August, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, besuchte er enge Verwandte, die die Erlaubnis erhalten hatten, sich in England niederzulassen. Man drängte ihn, Angebote, ihm den dortigen Aufenthalt zu ermöglichen, anzunehmen und sich seiner Tochter und deren Familie anzuschließen. Eine britische Universität bot dem gelehrten Rabbiner eine akademische Stelle an, und die Gemeinde der deutsch-jüdischen Flüchtlinge bemühte sich um seine seelsorgerische Führung. Baeck lehnte diese Chance entschieden ab. Es war nicht das einzige Mal, dass man ihm in Großbritannien oder in den Vereinigten Staaten eine attraktive berufliche Aufgabe anbot. Doch er hielt es für seine Pflicht, «der letzte Jude» zu sein, der Deutschland verlässt. Trotz aller Gefahren blieb er und tat, was er konnte, um die Emigration voranzutreiben, solange es den Juden noch erlaubt war, Deutschland zu verlassen, und bevor die Deportationen in den Osten begannen. Von da an wurde es seine Hauptaufgabe, die Moral zu stärken, die Not derer zu lindern, die keine andere Wahl hatten, als zu bleiben, und denen zu helfen, die untertauchten. Im Januar 1943 wurde er in das konzentrationslagerähnliche Ghetto Theresienstadt deportiert, wo er sich weiter um die seelischen, spirituellen und geistigen Nöte seiner jüdischen Glaubensgenossen und einiger verfolgter Nichtjuden kümmerte. Sie alle waren eingesperrt in einer Zwischenstation auf dem Weg in den Tod.

Leo Baeck war aber nicht nur ein beharrlicher Hirte seiner Herde, sondern auch einer der bedeutendsten jüdischen Denker des 20. Jahrhunderts, vergleichbar mit bekannteren Figuren wie Martin Buber, Franz Rosenzweig und Abraham Joshua Heschel. Heute kennt man ihn vor allem als mutigen Sprecher seiner Gemeinschaft in dunkelster Zeit, doch er fand auch als religiöser Denker eine gewisse Beachtung. Was bisher fehlt, ist eine Studie über Leo Baeck, die diese beiden Aspekte seines Lebens miteinander verknüpft und untersucht, wie sie in seinem eigenen Bewusstsein und in seinem sich verändernden Umfeld zusammenspielten. Diese Kombination von tatkräftiger Führung mit profundem Denken ist selten. Vielleicht noch bemerkenswerter ist eine persönliche Philosophie, in der öffentliches und privates Handeln so vollständig miteinander im Einklang stehen. Anders als bei vielen anderen namhaften Persönlichkeiten aus Geisteswissenschaften und Kunst, bei denen Privatleben und öffentliche Wirksamkeit nicht zur Deckung kommen, gibt es bei Baeck eine Übereinstimmung zwischen dem, woran er glaubte, und dem, was er tat. Zu seinem Glauben an Gott gehörte die unausweichliche Akzeptanz der moralischen Verpflichtung in allen Bereichen des Lebens. Diese Pflicht zu erfüllen schien ihm besonders in schwierigen Zeiten geboten, selbst wenn der Preis dann sehr viel höher war. Baeck wurde von vielen bewundert, aber er hatte auch Kritiker, und trotz vielfältiger Unterstützung, die er erfuhr, versuchten einige, seine Arbeit zu untergraben. Seine Entscheidungen in Fragen von Leben und Tod waren zu seiner Zeit nicht weniger umstritten als heute.

Um Leo Baeck wirklich zu verstehen, muss man nicht nur sein Denken und sein öffentliches Wirken untersuchen, sondern auch den Menschen betrachten – ein schwieriges Unterfangen, da er sich nur selten über sich selbst geäußert hat. In der Regel war er nach außen höflich und zurückhaltend, doch die Ereignisse, mit denen er konfrontiert war, mussten sein Inneres unweigerlich aufwühlen. Allgemein als liebenswürdig und freundlich beschrieben, konnte er, wenn es nötig war, auch kämpferisch sein. Seine psychische Disposition trug puritanische Züge und war von einer tiefen Verehrung des Märtyrertums geprägt – ein Aspekt seiner Persönlichkeit, den man nicht außer Acht lassen darf, wenn man Leo Baeck verstehen will. Diese Perspektiven miteinander zu verbinden ist das Anliegen dieses Buches. Ausgehend von einer Vielzahl von Quellen (von denen einige erst in den letzten Jahren ans Licht gekommen sind), vor allem aber unter Bezugnahme auf Leo Baecks eigene Schriften versuche ich, ein möglichst vielschichtiges und nuanciertes Bild einer der bemerkenswertesten Persönlichkeiten der jüdischen Geschichte unserer Zeit zu zeichnen.

Die in den Anmerkungen genannten Schriften Leo Baecks werden nach ihrer Erstveröffentlichung zitiert, jeweils mit Verweis auf einen Band der sechsbändigen, von Albert H. Friedlander und anderen edierten Werkausgabe (Leo Baeck, Werke, Gütersloh 1996–2003). An verschiedenen Stellen, besonders in einem Abschnitt von Kapitel 2, schöpfe ich aus meinem Aufsatz «Jewish Scholarship and Religious Commitment: Their Relative Roles in the Writings of Rabbi Leo Baeck» (Daat: A Journal of Jewish Philosophy & Kabbalah 88, 2019, S. 127–143).

1

Ein unkonventioneller Student und Rabbiner

Der Hintergrund

Trotz unterschiedlicher religiöser Bräuche praktizierten im Mittelalter fast alle Juden West- und Osteuropas ihren Glauben. Sie lebten in festgefügten Gemeinschaften, und ihr soziales und spirituelles Leben war nach innen, auf ihre Glaubensbrüder, gerichtet. In welchem Reich oder Herzogtum auch immer sie lebten, waren sie doch in erster Linie Juden – und nicht Deutsche, Franzosen, Engländer oder Polen. Dies begann sich im späten 18. Jahrhundert zu ändern, als sich die westeuropäischen Juden zunehmend mit der nichtjüdischen Kultur ihrer Umgebung identifizierten, besonders an Orten, wo Einzelpersonen bereit waren, sie bis zu einem gewissen Grad zu integrieren. Damit eröffneten sich neue Perspektiven außerhalb des Judentums. Identitäten, die jetzt jüdische und nichtjüdische Komponenten beinhalteten, begannen im Zuge eines sich zunehmend beschleunigenden Prozesses der Akkulturation auseinanderzubrechen, vor allem westlich der Elbe, mit der Folge, dass sich die aschkenasischen Juden in West- und Osteuropa immer mehr voneinander entfernten. Innerhalb der großen jüdischen Bevölkerung Polens jedoch ging – sehr viel mehr als in Deutschland – das traditionelle jüdische Leben weiter wie bisher.

An der Grenze zwischen diesen beiden Welten lag die Provinz Posen (heute Poznań) mit der gleichnamigen Hauptstadt. Mit der Zweiten Teilung Polens 1793 fiel Posen an Preußen, bevor es nach dem Ersten Weltkrieg erneut zu Polen kam. Anfangs hatte diese politische Zugehörigkeit kaum Auswirkungen auf das traditionelle jüdische Leben in Posen, das im 19. Jahrhundert lebendig blieb. Die jüdische Gemeinde besaß eine traditionelle rabbinische Hochschule (Jeschiwa), die von dem seit 1815 dort ansässigen bedeutenden Talmudgelehrten Rabbi Akiba Eger gegründet worden war. Doch im Laufe des 19. Jahrhunderts machte sich der westliche Einfluss dort allmählich ebenfalls bemerkbar. Die in Königsberg und Berlin entstandene jüdische Aufklärung (Haskala) fasste jetzt auch in Posen Fuß: Eine wachsende Zahl von Juden, die unter polnischer Herrschaft ausschließlich auf sich selbst konzentriert gewesen waren, wurde germanisiert und europäisiert, und es begann ein religiös und intellektuell fruchtbarer Austausch zwischen dem Alten und dem Neuen. Aus dieser Grenzregion gingen bedeutende jüdische Denker hervor, die Tradition und Moderne miteinander verknüpften. Zu ihnen zählten der Protozionist Rabbi Zwi Hirsch Kalischer und der populäre Historiker der Juden Heinrich Graetz. Aus der Provinz Posen stammte auch eine Persönlichkeit, die über die jüdische Gemeinde hinaus bis nach Übersee Bekanntheit erlangte: Haym Salomon, der als enger Verbündeter George Washingtons die Amerikanische Revolution finanziell unterstützte.

In Lissa (heute Leszno) in der Provinz Posen, einer Kleinstadt mit kaum mehr als tausend jüdischen Einwohnern, wurde Leo Baeck am 23. Mai 1873 geboren. Er erhielt den hebräischen Namen Uri, gefolgt von dem jiddischen Lipmann. Sein Familienname Baeck soll ein Kürzel sein für ben kedoschim, «der Nachkomme von Heiligen», was sich auf Juden bezieht, die die höchste Heiligung von Gottes Namen dadurch vollzogen, dass sie lieber starben, als ihrem jüdischen Glauben abzuschwören. Der Familienüberlieferung zufolge war einer von Baecks mittelalterlichen Vorfahren ein solcher Märtyrer, und die Erinnerung daran könnte für die Bedeutung des Martyriums in Baecks Schriften durchaus eine Rolle gespielt haben.

Leo Baeck war eines von elf Kindern und das einzige, das Rabbiner wurde. In Lissa aufgewachsen, kam er sowohl mit der Tradition als auch mit der Moderne in Berührung – mit der nach innen gerichteten jüdischen Welt, aber auch mit dem nichtjüdischen Umfeld. Zeit seines Lebens bemühte er sich darum, ein tiefes Bewusstsein für das jüdische Erbe zu bewahren und zugleich die jüdische Lehre mit universellen Werten in Einklang zu bringen. Er war kein Verfechter der jüdischen Orthodoxie, enthielt sich aber der Kritik an Ausdrucksformen des Judentums, die traditioneller waren als seine eigene, und respektierte konkurrierende Sichtweisen des jüdischen Lebens in der Moderne. Jüdische Rituale schätzte und praktizierte er, er versuchte aber nicht, sie anderen aufzuzwingen. Baecks lebenslange Sehnsucht nach Ausgleich und seine Fähigkeit, zwischen unterschiedlichen jüdischen Gruppierungen zu vermitteln, war gewiss vom sozialen Milieu des Grenzstädtchens geprägt, in dem er geboren und aufgewachsen war. Seine Wertschätzung des Gemeinschaftssinns, wie er in der Kleinstadt Lissa herrschte, sollte mit der Erweiterung seines Wirkungskreises immer wieder neuen Ausdruck finden.

Der Student

Leo Baeck war väterlicher- wie mütterlicherseits ein Nachkomme angesehener Rabbiner. Sein Vater, Rabbiner Samuel Bäck (wie der Name ursprünglich geschrieben wurde), war Talmudgelehrter mit einem Doktortitel der Universität Leipzig. Bäcks Interesse an der jüdischen Geschichte, ungewöhnlich für einen der Tradition verbundenen jüdischen Gelehrten, fand Niederschlag in seinen Beiträgen für die Jewish Encyclopedia, die bemerkenswerterweise in den Vereinigten Staaten herausgegeben wurde und lange Zeit das wichtigste Nachschlagewerk zum Judentum blieb. 1878 veröffentlichte Samuel Bäck eine Geschichte des jüdischen Volkes und seiner Literatur, die so populär war, dass drei Auflagen gedruckt wurden. Wie sein Sohn, der für die dritte Auflage 1906 Ergänzungen und Korrekturen einfügte, war auch der Vater bestrebt, Sektierertum zu vermeiden. Bäck präsentierte alle religiösen Strömungen des Judentums als legitim und dem gemeinsamen Kampf gegen Indifferentismus und Materialismus verpflichtet. Die zionistische Bewegung würdigte er als eine positive Entwicklung, da sie das schwindende Bewusstsein für die jüdische Einheit zu neuem Leben erweckte.[1] Doch anders als sein Sohn verzichtete er auf Bibelkritik und umging sie dadurch, dass er seine jüdische Geschichte mit dem Babylonischen Exil beginnen ließ.

Samuel Bäck vermittelte seinem Sohn – teilweise als sein Privatlehrer – eine gründliche Schulung in den jüdischen Quellen. Auf diese Weise verband sich Leo Baecks Liebe zu seinem Vater eng mit der Liebe zur jüdischen Tradition. Wie sein Vater widmete sich der junge Baeck neben dem regulären Studium des Talmud auch nichtjüdischen Wissensbereichen. Trotz seines kleinstädtischen Charakters besaß Lissa ein hervorragendes humanistisches Gymnasium. Es war nach dem innovativen tschechischen Pädagogen Johann Amos Comenius benannt und nahm auch jüdische Schüler auf, deren Zahl in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mehr als sechzig betrug.[2] Hier wurde der Grundstein gelegt für Leo Baecks umfassende Kenntnisse der alten Sprachen, die er in seinem späteren wissenschaftlichen Werk unter Beweis stellte. Er schloss die Schule als Jahrgangsbester ab und erhielt damit das für einen jüdischen Schüler ungewöhnliche Privileg, die Abiturrede zu halten. Das Gymnasium brachte den jungen Baeck früh in einen förderlichen Kontakt zu Nichtjuden, was seine lebenslange Ablehnung jeder Form des jüdischen – und nichtjüdischen – Chauvinismus mit evoziert haben dürfte. Auch die Wohnverhältnisse der Familie Bäck könnten hierbei eine Rolle gespielt haben. In Lissa gab es eine kleine evangelisch-reformierte Gemeinde, deren Pfarrer das Haus gehörte, in dem die Bäcks wohnten. Aus Rücksicht auf deren bescheidene finanzielle Mittel verlangte er jedoch nur eine geringe Miete. Diese frühen Erfahrungen mit einem toleranten und barmherzigen calvinistischen Pfarrer könnten Baecks lebenslange intellektuelle Wertschätzung der reformierten Ausprägung des Protestantismus erklären, bei der gute Werke im Mittelpunkt stehen und nicht – wie im lutherischen Protestantismus, mit dem er sich wissenschaftlich auseinandersetzte – der persönliche Glaube.

Viele Jahre später, nach der Vernichtung des deutschen Judentums, erinnerte sich Baeck nostalgisch an seine Jugend in Lissa. 1948 schrieb er an einen Überlebenden aus seiner Heimatstadt: «Ich denke mit tiefer Dankbarkeit an die Stadt meiner Kindheit und Jugend zurück und an so manche Menschen dort, junge und alte, nicht zuletzt an das Gymnasium und seine Menschen. Es ist eine versunkene Welt, aber es war doch eine Welt.»[3] Baeck war siebzehn, als er Lissa verließ, und entschlossen, Rabbiner zu werden wie sein Vater.

Er entschied sich, was seine rabbinische Ausbildung betraf, zunächst für das Jüdisch-Theologische Seminar im schlesischen Breslau (heute Wrocław). Von den drei damals in Deutschland existierenden modernen Rabbinerseminaren nahm das Seminar in Breslau eine Mittelstellung zwischen jüdischer Orthodoxie und liberalem Judentum ein. Wie in einer typischen Jeschiwa widmeten die Studenten einen Großteil ihrer Zeit dem Studium des jüdischen Gesetzes, wie es in den überlieferten Texten des Judentums niedergelegt ist. Der Gründungsdirektor des Seminars, Rabbiner Zacharias Frankel, bevorzugte die fast klösterliche Abgeschiedenheit einer jüdischen Einrichtung gegenüber der Gründung einer jüdisch-theologischen Fakultät innerhalb einer Universität, wie es radikalere Rabbiner vorgeschlagen hatten. Die Studenten beteten regelmäßig zusammen; von ihnen wie auch von ihren Lehrern wurde die Befolgung der vorgeschriebenen Riten und Gebräuche erwartet. Das Breslauer Seminar gab zwar eine bedeutende wissenschaftliche Zeitschrift heraus, aber moderne Bibelkritik wurde darin nicht geübt. Auf dem Lehrplan standen jüdische Geschichte und die Vermittlung der praktischen Fertigkeiten, die ein Rabbiner in einer modernen Gemeinde benötigte, insbesondere die Befähigung zu erbaulichen Predigten. Dem intellektuellen Ansatz des Seminars zufolge hatte sich das Judentum im Verlauf der Geschichte stetig weiterentwickelt, und die moderne Wissenschaft konnte diese Entwicklung nachverfolgen, insbesondere für die ersten Jahrhunderte der christlichen Zeitrechnung, die Zeit der frühen Rabbinen. Religiöse Reformen hatte es also schon immer gegeben, sie waren Teil der jüdischen Geschichte. Die einzige Form des Wandels aber, die für legitim erachtet wurde, war jene innerhalb der jüdischen Tradition, nicht eine willkürliche Entwicklung jenseits dessen, was Frankel als den «Gesammtwillen» der Gemeinschaft betrachtete.

Im Mai 1891 trat Leo Baeck im Alter von fast achtzehn Jahren in das Breslauer Rabbinerseminar ein. Er gehörte zu den letzten Studenten, deren Dozent für jüdische Geschichte der vielgelesene Heinrich Graetz war. Wie seine Kommilitonen besuchte auch Baeck gleichzeitig Seminare und Vorlesungen an der Universität Breslau, wo er Philosophie als Hauptfach wählte. Überraschenderweise blieb er nur knapp zwei Jahre in Breslau und beendete dort weder seine Ausbildung zum Rabbiner noch seine säkularen Studien. Was ihn zu diesem unkonventionellen Schritt bewog, den sein Vater allem Anschein nach missbilligte, bleibt unklar.

Es gibt mindestens drei Erklärungen, von denen jede ein Körnchen Wahrheit enthält. Da ist zum einen das Breslauer Seminar selbst, von dessen restriktivem Klima Baeck sich eingeengt gefühlt haben könnte und das seinem Wunsch nach einem intensiveren Kontakt mit jüdischen Wissenschaftlern und nach einer freieren akademischen Atmosphäre, wie sie am Liberalen Seminar in Berlin herrschte, nicht entsprach. Und so beschloss er, seine Rabbinerausbildung in Berlin fortzusetzen. Die «Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums», wie das Seminar damals hieß,[4] ermöglichte das uneingeschränkte und kompromisslose Studium jüdischer Texte einschließlich der Bibel und verfügte über Dozenten mit einer breitgefächerten theologischen Ausrichtung und unterschiedlichen rituellen Praktiken. Die Lehranstalt betrachtete sich als Rabbinerseminar für Studenten auf der liberalen Seite des religiösen Spektrums, aber auch als akademische Einrichtung für angehende jüdische Wissenschaftler, die nicht zwangsläufig Rabbiner wurden. Für Baeck war die Einrichtung zweifellos attraktiv, ein weiterer Grund für seinen Wechsel dürfte jedoch gewesen sein, dass er an der führenden Universität Deutschlands studieren wollte, die nicht jene in Breslau war, sondern die renommierte Universität Berlin. Und schließlich, wie es für Baeck typisch werden sollte, lag ihm daran, nicht nur ein einziges Seminar zu besuchen, sondern seine Beschäftigung mit dem Judentum aus mehreren der damals in Deutschland fließenden Kanäle des Judentums zu speisen. Als Student in Berlin besuchte er neben der Lehranstalt Kurse an einer von einem orthodoxen Rabbiner geleiteten Jeschiwa. Er war entschlossen, aus seinem jüdischen Bewusstsein keine der drei theologischen Richtungen des modernen Judentums auszuklammern.

Zum Zeitpunkt seiner Ankunft in Berlin im Jahr 1893 hatte die Welle des Antisemitismus, die das deutsche Judentum in den fünfzehn Jahren zuvor erschüttert hatte, den Anstoß zur Gründung einer großen Organisation zur jüdischen Selbstverteidigung gegeben. Die meisten Juden der Hauptstadt jedoch waren überzeugt, dass der Hass seinen Gipfelpunkt überschritten habe und in Deutschland eine aussichtsreiche Zukunft bevorstehe. In den Augen der religiösen Führung war die größte Herausforderung nicht die Feindseligkeit der Nichtjuden, sondern der Materialismus, der mit dem wirtschaftlichen Aufstieg einer jüdischen Bevölkerung einherging, die jetzt vorwiegend urban geprägt war. In dieser Atmosphäre und mangels einer deutschen Universität mit einer eigenen Fakultät für jüdische Studien versuchte die Lehranstalt – zu deren ersten Dozenten nach der Gründung 1872 der radikale liberale Gelehrte und Rabbiner Abraham Geiger, aber auch eher traditionell orientierte Gelehrte zählten –, ein Zentrum sowohl ernsthafter jüdischer Wissenschaft als auch spiritueller Unterweisung zu sein. Doch staatliche Beihilfen erhielt sie keine, und die finanzielle Unterstützung von jüdischer Seite war dürftig. Die meisten Studenten stammten aus ärmlichen Verhältnissen und führten eine kümmerliche Existenz. Mit seinem Unterricht des Judentums für junge Leute verdiente Baeck zwar bescheidene Summen, aber manchmal musste er sich von übriggebliebenen Brötchen aus Berliner Cafés ernähren, wo er auch Kerzenstummel als Lichtquelle für seine Unterkunft einsammelte. Es waren missliche Umstände, die ihn jedoch auf die Härten seines späteren Lebens vorbereiteten. Doch trotz aller Entbehrungen besaß Baeck Sinn für Humor, der ihm von späteren Bekannten immer wieder attestiert wurde. Es gibt Hinweise darauf, dass er zu jener Zeit seinen ersten Artikel veröffentlichte: in der satirischen Wochenzeitschrift Simplicissimus, zu deren Autoren Thomas Mann, Rainer Maria Rilke und Hermann Hesse zählten.[5]

Aufgrund ihrer zunehmenden, aber unabgeschlossenen Säkularisierung besuchten zwar nur wenige Berliner Juden regelmäßig den Gottesdienst, gleichwohl waren an den hohen Feiertagen die Synagogen überfüllt, und die Gemeinderabbiner konnten den Ansturm nicht bewältigen. Deshalb wurden zusätzliche Gottesdienste in öffentlichen Einrichtungen angeboten, die von Rabbinatsstudenten geleitet wurden. Drei Jahre lang, zwischen 1894 und 1896, wurde Leo Baeck gebeten, an diesem Programm teilzunehmen. Im Mai 1897, um die Zeit seines vierundzwanzigsten Geburtstags und sechs Jahre nach Beginn seiner Rabbinerausbildung, bestand er das Examen und war nun diplomierter Rabbiner.

An der Universität Berlin kam er schneller voran. 1894 legte er sein Examen in Philosophie ab, ein Jahr später verteidigte er erfolgreich eine mit vielen Fußnoten versehene Dissertation über «Benedikt Spinozas erste Einwirkungen auf Deutschland». Noch im selben Jahr veröffentlicht, ist diese hochwissenschaftliche Arbeit, der die ursprüngliche, lateinische Fassung von Spinozas Schriften zugrunde lag, eher historisch als philosophisch angelegt. Baeck hatte zwar Philosophie studiert, doch auch in seinen späteren Schriften gab er der historischen Forschung gegenüber einem systematischen philosophischen Zugriff den Vorzug. An Spinoza interessierte ihn weniger die Philosophie als seine historische Rolle und sein historischer Einfluss, vielleicht auch deshalb, weil Spinoza von den Philosophen jüdischer Herkunft außerhalb der jüdischen Welt am bekanntesten war. Baeck sympathisierte uneingeschränkt mit den Verteidigern dieses aus der Amsterdamer jüdischen Gemeinde ausgestoßenen Juden im frühmodernen, Spinozas Ideen gegenüber intoleranten Deutschland. Verfechter des Spinozismus in Holland, schrieb Baeck, konnten die Ideen dieses Philosophen frei und ungehindert verbreiten, Krypto-Spinozisten in Deutschland dagegen nur insgeheim. Baeck gelang es zu zeigen, wie sie sich, ohne explizite Bezugnahme auf den Urheber, der Ideen Spinozas bedienten. Vom Staat dazu verpflichtet, eine universitäre Ausbildung zu absolvieren, wählten viele, wenn nicht sogar die meisten Studenten des Rabbinerseminars für ihre wissenschaftliche Arbeit ein streng jüdisches Thema. Baecks Entscheidung für Spinoza offenbarte den unkonventionellen Wunsch, seinen Horizont über die rein jüdische Sphäre hinaus zu erweitern und damit seine rabbinischen Studien zu ergänzen.

Dennoch war Baeck nie ein Spinozist. In einer späteren Analyse kritisierte er Spinoza scharf für das, was er aus seiner Theologie ausgeklammert hatte. «Das Geschichtliche wie das Gemeinschaftliche entschwindet ihm vor dem Absoluten», schrieb er.[6] Baecks eigene Theologie, wie sie sich im Laufe der Zeit entwickelte, entfernte sich von Spinoza und tendierte eher Richtung Immanuel Kant, den er lebenslang bewunderte. Für Baeck repräsentierte Kant den Gipfel der deutschen Geistesgeschichte. Seine Bewunderung galt nicht der kantischen Philosophie an sich, sondern «der Kantischen Persönlichkeit», wie er es später nannte, «die als Träger des Sittengesetzes dasteht und in der Treue gegen das Gebot sich selbst und damit die Freiheit findet».[7] Dem versuchte er nachzueifern. Anders als für den Philosophen aus Königsberg hat für dessen jüdischen Bewunderer Baeck das kantische Pflichtgefühl seinen Ursprung in Gottes moralischem Gebot und nicht in der menschlichen Vernunft allein. Kants Ethik lehnte die Idee des göttlichen Gebots entschieden ab und betonte stattdessen den autonomen Willen des Individuums. Baeck als gläubiger Jude dagegen bestand auf dem von einem transzendenten Gott herrührenden Pflichtgefühl. Gott «offenbart sich nicht selbst, aber Er offenbart das Gebot und die Gnade», schrieb er später.[8] Wie Kant fand auch Baeck den Ursprung seines Glaubens in der Natur und in der Sittlichkeit – doch in der Religion ging es für ihn hauptsächlich um die Sittlichkeit. Mit unverkennbarem Bezug auf Kants berühmtes Diktum von den zwei Quellen der Inspiration, «den gestirnten Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir», heißt es bei Baeck später: «In der Erfüllung des Gebotes wird eine Erhabenheit gefunden, die höher ist als die der beseelten Sternenwelt. Oder mit anderen Worten: Das moralische Gesetz in uns ist hier mehr noch als der gestirnte Himmel über uns.»[9]

Den Kantianismus lernte Baeck in seiner späteren Form, dem Neukantianismus, kennen, da er in dieser Form von dem jüdischen Philosophen Hermann Cohen propagiert wurde, der Baecks Denken mehr prägte als jeder andere. Baeck studierte nicht bei Cohen, der damals noch nicht an der Berliner Lehranstalt unterrichtete, sondern lernte ihn erst 1912 persönlich kennen, als er ein Rabbinat in Berlin antrat.[10] Aber er hatte natürlich seine Werke gelesen, wenn nicht als Student, so doch mit Sicherheit später. Cohen war ein scharfer Kritiker von Spinoza und dessen Idee eines immanenten Gottes, der praktisch gleichbedeutend war mit der Natur. In einer spinozistischen Theologie hatte der ethische Imperativ eines transzendenten Gottes, der dem freien Willen des Menschen zugeordnet war, keinen Platz. Cohen zufolge konnte jedoch nur ein solcher Gott eine moralische Spannung im menschlichen Geist erzeugen und auf eine messianische Zukunft verweisen, an deren Errichtung die Menschen mitwirkten. Cohens Botschaft übte auf Baeck eine starke Anziehungskraft aus, stand sie doch ganz im Einklang mit seiner Betonung des moralischen Imperativs, der seiner Ansicht nach tief in der jüdischen Tradition verwurzelt war. Für Cohen bezog sich das Schuldbekenntnis in der Liturgie des Versöhnungstags auf moralische, nicht auf rituelle Verfehlungen, eine Position, die sich ganz mit Baecks Auffassung deckte.[11] Wenn Baeck Cohen als seinen Mentor betrachtete, war Cohen seinerseits offenkundig überzeugt, Baeck werde in seine Fußstapfen treten. Kurz vor seinem Tod im Jahr 1918 soll Cohen Freunde mit den Worten getröstet haben: «Seid guten Mutes; wenn ich gehe, wird immer noch Leo Baeck bei euch sein.»[12]

Während Cohen Baeck indirekt beeinflusste, übte Wilhelm Dilthey, einer von Baecks Lehrern an der Universität Berlin und sein Doktorvater, eine starke persönliche und geistige Wirkung auf ihn aus, die in mehreren seiner Schriften sichtbar werden sollte. Dilthey, eine bis heute prägende Gestalt, war ein vielseitiger Wissenschaftler: ein intellektueller Historiker, Psychologe und Philosoph, der keinem bestimmten philosophischen Lehrgebäude verpflichtet war. Es war Diltheys Ansatz zur historischen Forschung, der Baeck wohl am meisten beeindruckte. Dilthey unterschied bekanntermaßen zwischen den Geisteswissenschaften (einschließlich der Geschichte) und den Naturwissenschaften, die ihm zufolge jeweils eine andere wissenschaftliche Herangehensweise erforderten. Der Historiker müsse über das Äußere seines Gegenstands hinausgehen und nach psychologischen Erkenntnissen streben. Seine Tätigkeit erfordere nicht nur Wissen, sondern auch «Verstehen», das er nur erlange, wenn er in das Innere seiner Gegenstände eindringe. Ohne seine Objektivität aufzugeben, müsse der Historiker mit dem Gegenstand seiner Betrachtung «mitfühlen», um zu verstehen, wie Menschen zueinander in Beziehung standen, auch wenn sie im Rahmen der Natur und im Strom der Ereignisse interagierten.[13] Wie wir sehen werden, bediente sich Baeck in seinen eigenen Schriften schon bald einer an Dilthey orientierten Kritik.

Rabbiner in Oppeln

Gerüstet mit einem vertieften rabbinischen Studium und mit einer säkularen Universitätsausbildung machte sich Leo Baeck auf die Suche nach einer Stelle als Gemeinderabbiner. Er bewarb sich zunächst bei der jüdischen Gemeinde in der preußischen Stadt Königsberg (heute das russische Kaliningrad), der Heimat des großen Immanuel Kant. Doch die Gemeinde entschied sich für den geringfügig älteren Hermann Vogelstein, der bereits über Erfahrungen als Rabbiner der kleinen jüdischen Gemeinde Oppeln südöstlich von Breslau verfügte. Ebendiese Gemeinde nun akzeptierte Baeck als Vogelsteins Nachfolger.[14] Der frisch ordinierte Rabbiner blieb ganze zehn Jahre dort.

Ende des 19. Jahrhunderts hatte Oppeln im preußischen Schlesien (heute Opole in Polen) fast 30.000 Einwohner, von denen die meisten deutschsprachig waren. Zur Zeit von Baecks Ankunft war das Städtchen zu einem Zentrum von Industrie und Handel aufgestiegen. Die jüdische Gemeinde war relativ neu. 1565 waren die Juden aus Oppeln vertrieben worden, und noch im 18. Jahrhundert besaß die Stadt das Recht, ihnen die Niederlassung zu verweigern. Erst 1742, nachdem Oppeln zu Preußen gekommen war, entstand eine kleine, allmählich wachsende jüdische Gemeinde. Ende des 19. Jahrhunderts lebten hier etwa 750 Juden. Eine solche mittelgroße jüdische Gemeinde hielt Baeck für ideal: Anders als sehr kleinen Gemeinden fehlten ihr nicht die finanziellen Mittel für ein religiöses Leben, und anders als in großen Gemeinden bestand nicht die Gefahr des sozialen Zerfalls und der Assimilation. Wenn eine bestimmte Mitgliederzahl überschritten werde, so Baeck im Jahr 1905, gehe bei städtischen Juden das Zusammengehörigkeitsgefühl verloren. In Oppeln dagegen besaßen alle ein Gefühl der Verantwortung füreinander und eine größere Bereitschaft, für die Gemeinschaft Opfer zu bringen. Doch paradoxerweise verbrachte Baeck später die meiste Zeit seines beruflichen Lebens in Berlin, das für ihn geradezu der Inbegriff einer jüdischen Nichtgemeinschaft war.[15]

Trotz der Intoleranz gegenüber Juden in der Vergangenheit und des mutmaßlichen Fortbestands zumindest begrenzter antijüdischer Ressentiments waren in Oppeln zur Zeit der Ankunft des neuen Rabbiners die Beziehungen zwischen Juden und Christen recht freundlich, ähnlich wie in Baecks Heimatort Lissa. Der Rabbiner Joachim Prinz, der in Oppeln seine Kindheit verbrachte und dessen Eltern dort von Rabbiner Bäck getraut worden waren, schrieb in seinem Lebensrückblick, er habe in Oppeln nie ein böses Wort gegen Juden gehört. Wenn eine jüdische oder christliche Trauergemeinde durch die Straßen zog, bezeugten Männer und Frauen der jeweils anderen Religionsgemeinschaft dem Verstorbenen stets Respekt. Juden und Christen lebten nicht in getrennten Vierteln, und die meisten Juden waren wohlhabend. Sie besaßen die größten Geschäfte, und die jüdischen Ärzte und Rechtsanwälte standen in hohem Ansehen.[16] Als relativ begüterte jüdische Gemeinde unterstützte Oppeln kleinere jüdische Ansiedlungen, die durch die Abwanderung ihrer Mitglieder in größere Gemeinden die notwendigen Einrichtungen finanziell nicht mehr tragen konnten. Dank einer Aufeinanderfolge von liberalen Rabbinern wurde Oppeln ab Mitte des 19. Jahrhunderts zum Zentrum jüdischer religiöser Reformen in Oberschlesien. Die Einweihung der ersten Synagoge der Stadt im Jahr 1842 nahm der Reformrabbiner Abraham Geiger vor.

Am 1. Juni 1897 wurde in der jüdischen Gemeinde Oppeln eine neue Synagoge eingeweiht. Sie erhob sich auf einer Insel in der Oder und besaß eine mit dem Davidstern gekrönte Kuppel, die weithin zu sehen war. Der Tradition des liberalen Judentums entsprechend, hatte sie eine Orgel, und in den Gottesdiensten sang ein gemischter Chor. Doch wie in allen Synagogen Deutschlands damals üblich saßen Männer und Frauen getrennt, auch wenn es keine Trennwand zwischen ihnen gab. Kaum drei Wochen zuvor in Oppeln angekommen, oblag es jetzt Baeck, die neue Synagoge durch Entzünden des Ewigen Lichts einzuweihen.

Als Gemeinderabbiner genoss er keinen geringeren Respekt als christliche Geistliche. Wenn er einen Raum betrat, standen gewöhnlich alle auf und warteten, bis er zu sprechen begann. Doch in seiner Rolle als Rabbiner war Baeck kein glänzender und mitreißender Redner. Seinen Predigten fehlte die Rührseligkeit, die die Gläubigen erwarteten. Seine Stimme war leise und vibrierte auf irritierende Weise, und er verschmähte anbiedernde rhetorische Floskeln. Doch seine Botschaft erreichte zumindest einige seiner Zuhörer. In einer Familie bildete seine Predigt nach dem Gottesdienst den bevorzugten Gegenstand der häuslichen Diskussion.[17]

Wie die Rabbiner anderer Gemeinden war auch Baeck neben seinen Aufgaben als Seelsorger und Prediger für den Religionsunterricht jüdischer Schüler am städtischen Gymnasium zuständig. Kinder zu unterrichten gehörte zwar nicht gerade zu seinen Stärken, doch seine Schüler schätzten das geduldige Interesse, das er ihnen entgegenbrachte, und seine Sorge um ihr Wohlergehen. Andere Lehrer der damaligen Zeit und noch lange danach wandten sich von oben herab an ihre Schüler und gaben ihnen wenig Gelegenheit, ihre Meinung zu äußern. Später, in Düsseldorf, so erinnerte sich ein Schüler voll Dankbarkeit, habe Baeck die Schüler seiner Klasse wie Erwachsene behandelt und ermuntert, kritische Fragen zu stellen. «Mit wahrhafter Begeisterung gingen wir auf diese Neuerung ein.»[18] Ungewöhnlich war es in Oppeln, dass Baeck als vollwertiges Mitglied des Lehrerkollegiums betrachtet wurde. Wenn ein Lehrer abwesend war, musste er die Vertretung übernehmen und weltliche Fächer wie Mathematik und Rechtschreiben unterrichten. Jahre später, in schwerer Zeit, versuchte er sich an mathematischen Rätseln, um sich von ernsteren Angelegenheiten abzulenken.

In Oppeln lernte Baeck schon bald nach seiner Ankunft Natalie Hamburger kennen und heiratete sie. Natalie war die Enkelin des radikalen religiösen Reformers Adolf Wiener, der bis zu seinem Tod 1895 Rabbiner der jüdischen Gemeinde Oppeln gewesen war. Die attraktive dunkelhaarige Frau wurde oft für eine Christin gehalten. Einer Anekdote zufolge, die Baeck gern erzählte, ging er einmal mit seiner Verlobten spazieren, als ein Freund, der ihnen entgegenkam, schnell die Straßenseite wechselte und diskret wegschaute. Er glaubte offenbar, der Rabbiner habe ein Verhältnis mit einer Nichtjüdin. «Da bist du nun mit einem Mädchen aus einer der besten jüdischen Familien Deutschlands verlobt und zeigst dich in der Öffentlichkeit mit einer Schickse!»[19] Einem nichtjüdischen Zeitgenossen zufolge war Natalie die schönste Frau von ganz Oppeln.[20] Im Jahr 1900 bekamen Leo und Natalie Baeck eine Tochter, Ruth, und erlitten sechs Jahre später den Schmerz eines tot geborenen Sohnes. Sie bekamen keine weiteren Kinder. Wie damals üblich, war Natalie die Helferin ihres Mannes und hatte, ohne einen eigenen Beruf, die Aufgabe, die Rolle der eines Rabbiners würdigen Ehefrau zu erfüllen. Durch ihren frühen Tod 1937 wurde Baeck mit dreiundsechzig Jahren Witwer. In jener schwierigen Zeit seines öffentlichen Lebens hätte er ihre Liebe und moralische Unterstützung dringender gebraucht als je zuvor.

Leo Baeck mit seiner Verlobten Natalie Hamburger im Jahr 1898

Nach seinem ersten Jahr als frischgebackener Rabbiner in Oppeln wagte er es, zwei Ansichten zu äußern, die denen seiner älteren Kollegen offen widersprachen. Er tat dies auf einer Versammlung des Allgemeinen Rabbiner-Verbandes in Deutschland, an der fast hundert deutsche Rabbiner teilnahmen, jedoch keine streng orthodoxen. Baeck war zusammen mit seinem Vater, dem Vertreter des Rabbinats Lissa, nach Berlin gekommen. Die Tagung fand Anfang Juni 1898 statt, ein Jahr nach dem Ersten Zionistenkongress. Mitglieder des Exekutivkomitees des Rabbinerverbands hatten gegen die Einberufung des Kongresses protestiert, was Theodor Herzl, den Gründer des politischen Zionismus und Organisator des Kongresses, dazu bewog, sie als «Protestrabbiner» zu brandmarken. Aufgrund ihrer Einwände hatte Herzl den Kongress von München nach Basel verlegen müssen, von Deutschland in die Schweiz. Das Exekutivkomitee des Rabbinerverbands strebte nun eine breiter basierte Verurteilung dieses vermeintlichen zionistischen Angriffs gegen den Patriotismus und die Loyalität des deutschen Judentums an. Fast alle Tagungsteilnehmer, liberale und orthodoxe Rabbiner gleichermaßen und offenkundig auch Leo Baecks Vater, votierten für den Vorschlag des Exekutivkomitees. Lediglich drei Rabbiner lehnten die Resolution ab, einer von ihnen allein deshalb, weil er fand, die Diskussion sei zu früh beendet worden. Nur zwei lehnten sie grundsätzlich ab: der orthodoxe Rabbiner Saul Kaatz und der liberale Rabbiner Leo Baeck. Dies ist, zu einem frühen Zeitpunkt in seinem Leben, das erste Beispiel für Baecks Bereitschaft, ohne Zögern seinen Überzeugungen entsprechend zu handeln, wie groß auch immer der Druck war, dies nicht zu tun. Im Jahr 1898 war er keineswegs ein früher Anhänger des Zionismus. Es entsprach vielmehr seiner Grundüberzeugung, dass es für verschiedene Ausprägungen jüdischer Identität Raum geben müsse und dass Juden, die eine bestimmte Ansicht vertraten, andere Ansichten nicht verurteilen sollten.

Bei der Sitzung der Rabbiner am folgenden Tag hatte Baeck Gelegenheit, diese tolerante Sicht noch im Zusammenhang mit einem anderen Thema darzulegen. In einem kurzen Redebeitrag erklärte er vor den versammelten Rabbinern überraschend, dass sein Besuch von Seminaren unterschiedlicher Strömungen des religiösen Judentums während seines Studiums zuträglich für ihn gewesen sei und zum Modell für alle Rabbinatsstudenten werden sollte. «Es wäre gut, wenn die jungen Leute aus der Lehranstalt einmal zum [orthodoxen] Hildesheimer’schen Seminar gingen», sagte er. «Weshalb soll der Mensch nur eine Richtung haben?»[21] Laut Protokoll löste Baecks Bemerkung «große Heiterkeit» aus, und er musste darum bitten, dass man ihn ausreden ließ, um erläutern zu können, dass er die Unterrichtsmethode meinte und nicht, dass ein Rabbiner gleichzeitig Traditionalist und Reformer sein könne. Sein Vorschlag hatte einen sehr viel weiter gefassten Zweck. Ein solches Studium in mehreren Seminaren könne, wie er meinte, zu gegenseitiger Toleranz unter Rabbinern verschiedener Richtungen führen. Hier, in diesem kurzen Statement vor seinen Amtskollegen, äußerte der Rabbiner Baeck zum ersten Mal öffentlich seine Idee eines breit basierten Judentums, dessen Mitglieder mehr einte als trennte. Diese unkonventionellen Ansichten machten ihn in späteren Jahren für die deutsch-jüdische Gemeinde so außerordentlich akzeptabel, dass man ihm eine Führungsposition nach der anderen antrug. Schließlich wurde er zum Vorsitzenden jenes Rabbinerverbands gewählt, in dem er anfangs so hoffnungslos in der Minderheit gewesen war.

22das