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Andreas Schwab

ZEIT DER
AUSSTEIGER

Eine Reise
zu den Künstlerkolonien
von Barbizon
bis Monte Verità

C.H.Beck

Zum Buch

Elf Künstlerinnen und Schriftsteller, darunter Truman Capote und Arthur Schnitzler, die Tänzerin Charlotte Bara und Alma Mahler-Werfel, führen uns zu den zehn bedeutendsten Künstlerkolonien. Wir tauchen ein in die besondere Atmosphäre von Barbizon, Worpswede, Capri oder Taormina und ziehen mit einer dort lebenden Person dann weiter in die nächste Gegenwelt – bis wir am Schluss auf dem Monte Verità in Ascona angelangen.

Das Leben in den Künstlerkolonien war von bewusster Abgrenzung zur bürgerlichen Gesellschaft bestimmt. Die Aussteiger suchten eine Gegenwelt zur Dichte und zum Konkurrenzdruck in den Städten, zum übersteigerten Nationalismus und dem allgegenwärtigen Krisengefühl. Der Schweizer Autor und Ausstellungsmacher Andreas Schwab zeigt in einem farbigen Reigen, wie sich fernab der Ballungszentren neue Lebensstile entwickelten, lange bevor sie sich in der Gesellschaft durchzusetzen begannen.

Über den Autor

Andreas Schwab (*1971) ist Autor, Ausstellungsmacher und Gemeindepräsident von Bremgarten bei Bern. Er hat Bücher über den Monte Verità und die Landkooperative Longo maï veröffentlicht. Als Mitglied der Ausstellungsgruppe Palma3 kuratierte er zahlreiche Ausstellungen zu kulturgeschichtlichen Themen, u.a. die Dauerausstellung in der Casa Anatta auf dem Monte Verità sowie jüngst Lebe besser! Auf der Suche nach dem idealen Leben.

Inhalt

Einleitung

Leben an Traumdestinationen

Moderne Menschen

Ein grenzenloses Europa

Ein Reigen

Spurensuche

Jean-François Millet 

Barbizon

Auberge Ganne

Inszenierte Natur

Exotische Landbevölkerung

Bohème auf dem Land

Bethlehem der modernen Malerei

Ikonen, Landschaften und Millets Tochter

Unerfüllte Liebe

 Ida Gerhardi 

Pont-Aven

Das wilde Armorika

Wassermühlen und Bois d’Amour

Guenn, das wilde Fischermädchen

Lehrjahre und trocknende Wäsche

Kunst ist eine Abstraktion

Bretonische Kultgegenstände

Mit Ölgeruch verpestet

 P. S. Krøyer 

Skagen

Das außergewöhnliche Licht

Freiluftmuseen

Schiffswracks und andere Katastrophen

Kranke Liebe

Hip Hip Hurra

 Marianne Stokes 

Capri

Die Blaue Grotte

Per aspera ad astra

Via Krupp

Knabenliebe

Villa Lysis

Ärzte und Scharlatane

Zarte Romanzen

Schule für die Technik der Revolution

Der Herr aus San Francisco

 Alma Mahler-Werfel 

Altaussee

Einsame Wanderer

Tourismus im Alpendorf

Im Wahn berauschen

Sonnwendbuschn und Naturbegeisterung

Symphonische und symbolische Gipfelerlebnisse

Neurasthenische Krise

Achtzehntes Jahrhundert in den Neigungen

Herrschaftsvilla mit Automobil

Refugium am See und Verdüsterung

Anti-Heimatroman

 Arthur Schnitzler 

Taormina

Das griechische Theater

Künstler und Bürgermeister

Hotels in verschiedenen Preisklassen

Fischer im Paradies

Der Immoralist

Villa Cuseni

Blüte-Platz der Queerheit

Schwimmende Beautyfarm

Geschmeidige, sonnenstarke Körper

 Truman Capote 

Tanger

Eine Stadt der Fassaden
und falschen Fährten

Tor zum Orient

In die Wüste

Flüchtige Bekanntschaften und intensive Beziehungen

Ende der Welt

 John Singer Sargent 

Korfu

Griechenlandbegeisterung
vom Oberdeck

Sehnsuchtsort

Achilleion – mehr Stuttgart
als antikes Griechenland

Gorgo-Kult

Ein Fall von literarischem Puritanismus

Gefühl des Losgelöstseins
von der realen Welt

Konsequenter Eskapismus

 Carl und Gerhart Hauptmann 

Worpswede

Farbdämon

Gegen den Akademismus

Mädchen mit Freiheitsdrang

Hosendamen

Deutscher Protest
und Protest gegen den Protest

Düngerkarren und Bildermalen

Mythos und Paula-Kult

 Charlotte Bara 

Monte Verità

Ein neues Leben

Sinnsucher und wandernde Vegetarier

Salat von früh bis spat

Sommerschule für Bewegungskunst

Eine Scheinheirat

Erotomanien

Foxtrott, Walzer, Mazurka

Die Klarwelt der Seligen

Flachdach oder Landesstil?

Bankier des Kaisers im Lufthemd

 Harald Szeemann

Anmerkungen

Einleitung

Jean-François Millet 

Barbizon

 Ida Gerhardi 

Pont-Aven

 P. S. Krøyer 

Skagen

 Marianne Stokes 

Capri

 Alma Mahler-Werfel 

Altaussee

 Arthur Schnitzler 

Taormina

 Truman Capote 

Tanger

 John Singer Sargent 

Korfu

 Carl und Gerhart Hauptmann 

Worpswede

 Charlotte Bara 

Monte Verità

 Harald Szeemann

Bibliografie

Allgemein

Barbizon

Pont-Aven

Skagen

Capri

Altaussee

Taormina

Tanger

Korfu

Worpswede

Monte Verità

Abbildungsverzeichnis

Textteil

Tafelteil

Personenregister

1   Wie ein unbeteiligter Ethnograph beobachtet Francesco Netti 1869 den grausamen Brauch eines Volksfests in Grez-sur-Loing. In ähnlicher Weise bildet er später die arabischen «Orientalen» ab.

2   Als er in Barbizon die Landschaftsmalerei entdeckt, will Nicolae Grigorescu nie mehr Engel malen. Für die Tochter von Jean-François Millet macht er aber eine Ausnahme.

3   «Es ist wunderbar schön hier bei grauem Wetter», schreibt Ida Gerhardi aus der Bretagne nach Hause. Die eingeschränkte Farbpalette, die sie für dieses Gemälde zweier Bauernhäuser verwendet, entspricht ihrer melancholischen Gefühlslage.

4   Das Bild Trocknende Wäsche von Helene Schjerfbeck aus Pont-Aven wird 1897 von den Kritikern zerrissen. Einer höhnt: «Wäsche gehört ins Haus.»

5   Die Dorfbewohner von Skagen trauern auf Michael Anchers Gemälde von 1896 um einen ertrunkenen Seemann.

6   Wer schaut zum Kind? P. S. Krøyer malt 1888 mit Hip Hip Hurra ein Künstlerfest auf Skagen.

7   Das Porträtbild Eine Capri-Hexe (1884/85) von Marianne Stokes ist gleichermaßen ein psychologisches Porträt und eine ethnographische Studie.

8   Von der Frau des Hauses erhält Johann Viktor Krämer «mit großem Widerstreben» die Erlaubnis, seine Staffelei im Garten des Hotels Victoria aufzustellen. 1897 malt er das Gemälde Taormina im Sonnenschein in Wien fertig.

9   Eine homosexuelle Kleinfamilie, bestehend aus Mann, Mann und Kleinkind, schreitet in Richtung Paradies. Frank Brangwyn bemalt in den 1910er Jahren den Speisesaal der Casa Cuseni in Taormina mit Motiven, die zu dieser Zeit kaum öffentlich gezeigt werden können.

10   John Singer Sargents Gemälde Fumée d’ambre gris steht in der Tradition der arabisch-exotischen Malerei. Ein Kritiker auf dem Pariser Salon 1880 schreibt: «Es ist ein entzückendes Bild für ein privates Schlafzimmer.»

11   In einer fast bühnenhaften Atmosphäre bildet John Singer Sargent in seinem Gemälde Ein Garten in Korfu (1909) drei lesende Frauen ab: Jane de Glehn in der Mitte und Eliza Wedgwood gleich doppelt, links und rechts.

12   Einem Brief an Carl Hauptmann legt Otto Modersohn eine Skizze bei. Diese wird er 1901 zu dem Gemälde Birkendamm ausarbeiten.

13   Mit ihrem Mädchen im Walde malt Julie Wolfthorn 1897 ein typisches Worpsweder Motiv. Doch eigentlich findet sie die Künstlerkolonie hauptsächlich langweilig.

14   Das Selbstporträt am sechsten Hochzeitstag haben zu Lebzeiten Paula Modersohn-Beckers nur wenige gesehen. Erst lange nach ihrem Tod setzt ein veritabler «Paula-Kult» ein.

15   Eduard von Mayer schreibt über Elisàr von Kupffers Gemälde Der neue Bund (1915/16), dass sich «im violetten Dämmer des alten Domes» der Blonde und der Dunkelhaarige als «Friedensschwur der verfeindeten Rassen» die Hand halten. Elisàr reicht ihnen einen Blütenkelch «als Weihetrank und Sakrament» dar. Die Gestalt links hält eine Magna Charta in den Händen.

16   Auch wegen ihres extravaganten Kleidungsstils ist Marianne von Werefkin eine bekannte Persönlichkeit. 1930 malt sie mit Die leidende Stadt einen an Ascona erinnernden Ort.

Einleitung

Leben an Traumdestinationen

Den Impuls haben viele von uns schon verspürt: dem ganzen komplizierten Alltag zu entfliehen, dem Termindruck, den tausend Verpflichtungen des Arbeits-, Freizeits- und auch des Privatlebens und irgendwo, weit abgeschieden, möglicherweise an einer fernen Küste, mit ein paar Gleichgesinnten selbstverantwortlich neu anzufangen und sein Leben in Eigenregie zu gestalten. Am Morgen, nach einer ausgedehnten Yogasession unter Palmen mit Blick auf das leicht bewegte Meer, würde man sich an den Computer setzen und sich mit der Welt verbinden. Ein paar Stunden später, nur unterbrochen von einem leichten Lunch, wäre das Tagwerk vollbracht. Der Nachmittag und Abend würde ganz den eigenen Interessen gewidmet sein: Endlich hätte man Zeit, zu schreiben, zu malen oder zu meditieren; auch das Feiern dürfte nicht zu kurz kommen, man würde … – vielfältig sind die Fluchtphantasien, doch in den allermeisten Fällen eint sie etwas: Es sind bloße Phantasien, die die meisten von uns nie umsetzen, obschon in eindrucksvoll bebilderten Reportagen attraktive, braungebrannte Frauen und Männer in ihren Zwanzigern ihr selbstbestimmtes Leben an fernen Destinationen in den allerhöchsten Tönen preisen. Manche von ihnen lassen uns an ihren Abenteuern sogar auf einem eigenen Youtube-Kanal teilhaben. Wir, die wir in festgefügten Verhältnissen leben, sehen uns diese Filme mit einem unbestimmt sehnsüchtigen Gefühl an und gönnen uns, wenn es hochkommt, einmal einen verlängerten Urlaub oder eine mehrmonatige Weltreise.

Eine Minderheit jedoch steigt wirklich aus – und das ist kein ganz neues Phänomen: Immer wieder seit dem 19. Jahrhundert haben sich Menschen auf das Abenteuer eingelassen, ihr Leben, zumindest für eine gewisse Zeit, auf eine komplett neue Grundlage zu stellen. Bezeichnenderweise waren es in vielen Fällen Künstlerinnen und Künstler, die den Neuanfang an einem anderen Ort wagten. Als Randfiguren der bürgerlichen Gesellschaft und Freiberufler befanden sie sich ohnehin in einer prekären Position. Um den damit verbundenen Schwierigkeiten zu trotzen, schlossen sich nicht wenige zu alternativen Gemeinschaften zusammen. Fernab der hektischen Welt der Städte wollten sie in gemeinschaftlicher Verbundenheit und ohne Störung an ihren Werken arbeiten, abends gesellig zusammensitzen und darüber sprechen. Ihre Entscheidung begründen viele der früheren und gegenwärtigen Aussteiger mit der landschaftlichen Schönheit oder dem milden Klima. Eher selten machen sie sich hingegen klar, dass ihr selbstbestimmtes Dasein letztlich vom ökonomischen Ungleichgewicht der Welt begünstigt wird, das sich in unterschiedlichen Preisniveaus äußert.

1886 schreibt August Strindberg über seinen Aufenthalt in Grez-sur-Loing: «Ich stelle mir vor, einige Sommer meines Lebens darauf zu verwenden, Europa zu entdecken, so wie Stanley Afrika entdeckte! Alle Welt schreibt über die Hauptstädte, die Museen, die alten Denkmäler, die Zeitungen und die Agenten der Polizei, über die Theater und über die Hotels, aber keiner spricht über die Menschen auf dem Lande und über deren Lebensweise, obwohl sie es sind, auf denen die Stadt und die ganze Gesellschaft ruht.»[1] Die damaligen Aussteiger gingen davon aus, dass sich abseits der Städte ein ursprünglicheres und besseres Leben entdecken lasse, eines, das noch nicht durch Industrialisierung und die damit einhergehenden Folgeprobleme deformiert worden sei. Die rücksichtslose Zerstörung der Landschaft, die Verdrängung von Wäldern und Bauernhöfen durch Fabriken und Kohlegruben, die wachsenden tristen Großstädte ließen den Wunsch entstehen, aufs Land und in die Provinz zu gehen.

Wie eine Allegorie des Zusammenlebens von Künstlern und Einheimischen: John Lavery bildet auf der oft gemalten Brücke von Grez seinen irischen Malerkollegen Frank O’Meara und zwei einheimische Frauen ab.

Wie ambivalent diese Suche ist, lässt sich am Gemälde Auf der Brücke bei Grez (1884) des irischen Malers John Lavery ablesen. Ein junger Mann blickt neugierig auf zwei Frauen, deren traditionelle Kleidung sie als Landbewohnerinnen ausweist. Die beiden schenken dem jungen Städter, der mit den Händen in den Hosentaschen und hohen Reitstiefeln elegant dasteht, keine Beachtung. Eine an die Brückenbrüstung angelehnte aufgezogene Leinwand und ein klappbares Tischchen, das zum stehenden Aquarellieren verwendet wird, stellen die Utensilien des Malers dar. Es handelt sich um Laverys irischen Landsmann Frank O’Meara, der zu diesem Zeitpunkt einunddreißig Jahre alt ist. Oder beobachten die beiden Frauen den Fremden heimlich aus den Augenwinkeln? Jedenfalls lassen sie es den malenden Geck nicht merken. Im Hintergrund sind über dem bloß angedeuteten Fluss die am Ufer stehenden Bäume und die Bürgerhäuser von Grez zu erkennen.

Laverys Bild lässt sich als Allegorie des Zusammenlebens von Künstlern und Einheimischen in Künstlerkolonien verstehen. Die Einheimischen werden zu einem Subjekt des Interesses, die ländliche Kultur wird neu entdeckt und erforscht. Volkskundler wie Rudolf Meringer und Ferdinand Andrian sammeln Volkssagen und dokumentieren die Konstruktionsweisen von Bauernhäusern, die sie in verschiedene Typen unterteilen. Paul Bowles zeichnet mit einem Tonbandgerät die marokkanischen Dialekte und Gesänge auf. Gefährdete oder bereits verschwundene Traditionen wie die Sommersonnwendfeiern werden neu belebt. Mit ihren Werken tragen die Künstler maßgeblich zur Popularisierung der Volkskultur bei.

Moderne Menschen

Das Interesse für die «rückständige» und sesshafte Landbevölkerung steht in einem merkwürdigen Kontrast zu den Lebensumständen der Künstler. Denn sie gehören zu den mobilsten Bevölkerungsgruppen und bereisen ganz Europa, wie der amerikanische Landschaftsmaler Arthur Hoeber berichtet: «Hier [in Pont-Aven] verkehrten Männer, die italienische Sonnenuntergänge und das Blau des Mittelmeers gemalt hatten; die sich im Schatten eines Orangenbaums in Capri ausgeruht oder die kühleren Farbtöne des Nordkaps und die Schönheiten der norwegischen Fjorde studiert hatten.»[2]

Die Künstler erscheinen als moderne mobile Menschen, man könnte sie, überspitzt gesagt, als Trendsetter, Influencer und Frühversionen der heutigen digitalen Nomaden bezeichnen. Sie bewegen sich als ökonomisch selbstverantwortliche Individuen durch den geografischen und sozialen Raum, sie wählen ihren Wohnort unter Gleichgesinnten in einer schönen landschaftlichen Umgebung und sind trotzdem in der Stadt präsent. Denn auch die abgeschiedenste Künstlerkolonie bleibt in vielfältiger Hinsicht mit den Metropolen Paris, London oder Berlin verbunden. Dort ist der Sitz der Museen, der Galerien und der Verlagshäuser, dort findet das kulturelle Leben statt, auf welches sich die Künstler immer noch beziehen, selbst wenn sie ihren Aufenthaltsort dauerhaft in die Künstlerkolonie verlegen. Als Privatpersonen ziehen sich die Künstler zwar aufs Land zurück, aber mit ihren Werken prägen sie den gesellschaftlichen Diskurs in den Metropolen, und dort generieren sie zumeist auch ihre Einkünfte.[3] Selbst ein Schriftsteller wie Henry Miller, der auf Korfu keine Zeitungen liest und grundsätzlich keinen Anteil am Weltgeschehen nimmt, ist davon nicht ausgenommen. In der später veröffentlichten Reisebeschreibung Der Koloss von Maroussi stellt er seine dortige Lebensweise dar und übt eine Gesellschaftskritik, die ihn als aufmerksamen Zeitgenossen ausweist.

Innerhalb der Künstlerkolonien führt der Bonus der Fremdheit zu schwach ausgeprägter sozialer Kontrolle: Die Künstler haben hier die Freiheit, ein nonkonformistisches Leben zu führen. Daher entwickeln sich in diesem geschützten Rahmen neue Lebensstile, die sich erst deutlich später in der gesamten Gesellschaft durchzusetzen beginnen, manche von ihnen erst im 21. Jahrhundert. Dazu gehören die Frauenemanzipation und das Spiel mit verschiedenen Geschlechterrollen ebenso wie das nahezu offene Ausleben einer freieren Sexualität. Nicht nur in Capri und Taormina werden Homosexualität, Bisexualität, Polyamorie und Queerness zu einer reellen Option; zahlreiche lesbische und schwule Paare, denen wir begegnen werden, können in Künstlerkolonien ähnlich wie in der anonymen Großstadt ihrer sexuellen Neigung unbehelligt nachgehen, was von den Einheimischen oft mehr toleriert als begrüßt wird. Die noch stark von der Religion geprägten gesellschaftlichen Moralvorstellungen beginnen sich unter dem Einfluss der oft freigeistigen oder zumindest kirchenfernen Künstlerinnen und Künstler zu wandeln.

Viele von ihnen kämpfen für ein selbstbestimmtes und modernes Ich. Sie wehren sich gegen die Uniformierung des Menschen im industriellen Zeitalter und betonen stattdessen ihre ausgeprägte Individualität. Sie wollen die körperfeindlichen Dogmen des 19. Jahrhunderts, wofür symbolisch das Korsett steht, hinter sich lassen und legen Wert auf Selbstverwirklichung. Manche von ihnen, etwa auf dem Monte Verità in der Schweiz, ernähren sich bewusst vegetarisch und legen großen Wert auf eine gesunde Lebensweise. Damit verbunden ist eine Hinwendung zum Ästhetischen und eine Lust, diesen Lebensstil ostentativ zu zeigen und andere an ihm teilhaben zu lassen.

Mit ihrer Bohèmegesinnung nehmen die Künstlerinnen vorweg, was sich in der Nach-68er-Generation unter dem Stichwort des «erweiterten Kunstbegriffes» ausbreitet: Kunst und Leben gehen ineinander über. Nicht mehr die Werke sind der Grund für die Daseinsberechtigung des Künstlers, sondern das richtige, das authentische Leben. Überspitzt gesagt, wird die Darstellung des Künstlerischen wichtiger als die Kunst selbst. Damit verbunden ist ein unsteter, aktionistischer Lebenswandel, der oft von ökonomisch prekären Bedingungen bestimmt wird.[4]

Doch selbst in den Künstlerkolonien bleiben Tabuzonen bestehen. Nicht alles ist für die Öffentlichkeit bestimmt. Der von Frank Brangwyn mit homosexuellen Motiven bemalte Speisesaal in der Casa Cuseni in Taormina darf beispielsweise nur auf Einladung des Villenbesitzers Robert Kitson besichtigt werden. Anderes wird heute kritischer gesehen als zur Zeit der Entstehung: Die Fotografien Wilhelm von Gloedens aus Taormina, in denen er junge Männer häufig nackt in Szene setzt, oder der Umgang mit südländischen oder arabischen Knaben, wie Oscar Wilde und André Gide ihn beschreiben und teilweise ausleben, gelten heute kaum noch als Anschauungsbeispiele für eine erstrebenswerte liberale Grundhaltung. Vielmehr stehen sie für einen problematischen zwischenmenschlichen Umgang in sozial und ökonomisch ungleichen Verhältnissen. In die Inszenierungen des befreiten Lebens schleichen sich häufig, wie wir sehen werden, auch kolonialistische Bilder der weißen, städtischen und häufig männlichen Überlegenheit ein.

Ein grenzenloses Europa

Das Leben in den Künstlerkolonien ist von einer bewussten Abgrenzung zur bürgerlichen Gesellschaft bestimmt. Die Künstlerinnen und Künstler suchen eine Gegenwelt zum Konkurrenzdruck in den Städten, zum übersteigerten Nationalismus und zum allgegenwärtigen Krisengefühl, das sie seismografisch aufnehmen. Innerhalb ihrer Blase, wie wir das heute nennen würden, bewegen sie sich in einer Wirklichkeit, in der Nationalstaaten keine dominierende Rolle spielen. Die meisten von ihnen sind kosmopolitisch eingestellt und viel stärker an Kunst als an Politik interessiert. Sie nehmen allgemeine künstlerische Trends auf und transportieren sie bis in die hinterste Provinz – und von dieser zurück in die Metropolen.

Untereinander funktionieren die Künstlerkolonien wie kommunizierende Röhren: Taucht ein künstlerischer Gedanke oder Sujet irgendwo auf, so dauert es häufig nicht lang, bis man ihm auch andernorts begegnet. Selbst ein so unscheinbares Motiv wie die in der Sonne trocknende Wäsche haben Helene Schjerfbeck in Pont-Aven (Tafel 4), Marie Krøyer in Skagen oder John Singer Sargent in Italien gemalt. Sinnfälligstes Beispiel dieser Konvergenz sind die mit Bildern ausgeschmückten Speisesäle der Künstlerhotels, die es in klassischer Weise in Barbizon, Pont-Aven, Skagen und Capri und an vielen anderen Orten gibt. Auch Vogelers Barkenhoff in Worpswede, die Casa Cuseni in Taormina oder das Achilleion auf Korfu sind dieser Tradition zuzuordnen. Nur auf dem Monte Verità verzichten die Betreiber bewusst auf eine Ausmalung der Innenräume: Die Landschaft, die durch das Fenster scheint, soll hier Bild genug sein!

Künstlerische Gegenbewegungen gibt es sowohl in den großen Industrienationen England, Frankreich und Deutschland wie auch in den kleineren Staaten: sie sind ein gesamteuropäisches Phänomen. In einer Zeit, in der die Nationalstaaten häufig miteinander verfeindet sind und gegeneinander Kriege führen, treffen sich die Künstler aus allen Ländern an den einschlägigen Orten, leben friedlich, ja freundschaftlich miteinander und verfolgen ähnliche ästhetische Ziele. Ansatzweise stehen sie bereits für einen gemeinsamen Kulturraum, für ein geeintes Europa. Aber auch unter Künstlern erschweren nationale Vorurteile das Zusammenleben. Aufgrund der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 weigert sich Jean-François Millet, den 1874 eigens seinetwegen nach Barbizon gereisten Max Liebermann zu empfangen. Trotzdem ist bei Liebermanns Gemälde Die Kartoffelernte von 1875 der Einfluss Millets unverkennbar.[5]

Ein Reigen

Das Gliederungsprinzip dieses Buches ist einfach: Elf Personen, darunter Ida Gerhardi, Marianne Stokes, Alma Mahler-Werfel, Arthur Schnitzler, Truman Capote und Gerhart Hauptmann, begleiten uns in zehn verschiedene Künstlerkolonien. Nach einer Zeit des Aufenthalts machen wir uns mit einer dort lebenden Künstlerin oder einem Künstler in die nächste Kolonie auf – wie bei einem Reigen nach dem Vorbild von Arthur Schnitzlers berühmten gleichnamigen Theaterstück. Zu Beginn führt uns Jean-François Millet nach Barbizon, der Mutter der Künstlerkolonien Europas. Von dort nimmt uns Ida Gerhardi nach Pont-Aven mit, wo wir auf den Maler P. S. Krøyer treffen, mit dem wir nach Skagen weiterreisen, bis wir am Schluss auf dem Monte Verità angelangen, wo uns der «wilde Denker» Harald Szeemann in Empfang nimmt. Von Skagen an der Nordspitze Jütlands bis nach Tanger an der marokkanischen Küste, von der Finistère, der äußersten Spitze der Bretagne, bis nach Korfu erstreckt sich ein immenser geografischer Raum, der in dieser Darstellung wie mit Siebenmeilenstiefeln durchmessen wird. Die gewählte Form des Reigens legt nahe, dass es sich um ein reales gegenkulturelles Netzwerk von Künstlerinnen und Künstlern im Zeitraum von 1850 bis in die 1950er Jahre handelt, die reisen und sich an den einschlägigen Orten begegnen.

Selbstverständlich soll mit diesem Vorgehen nicht suggeriert werden, dass es sich bei dem hier vorgestellten Reigen um den einzig möglichen handelt. Dessen Konstruktionscharakter wird schon allein daran deutlich, dass sich die chronologische Ordnung nicht immer einhalten ließ. Mit gleichem Recht hätten Orte wie St Ives, Laren, Nidden oder Murnau, um nur ein paar zu nennen, eingefügt werden können. Auch bei jeder einzelnen der gewählten zehn Künstlerkolonien hätte man sich für andere Hauptfiguren entscheiden, andere Sachverhalte darstellen, andere Kunstwerke beschreiben, sogar ein eigenes Buch verfassen können. Das Ziel bestand gerade nicht in einer umfassenden Darstellung der jeweiligen Schauplätze, vielmehr sollen ihre spezifische Atmosphäre und ihre «Intensitäten» spürbar werden. Bewusst habe ich den Blick nicht vornehmlich auf die dort verkehrenden Berühmtheiten gelenkt. Höchstens Eingeweihten bekannte Maler wie Nicolae Grigorescu oder zu Unrecht vergessene Schriftstellerinnen wie Maria Lazar fanden daher ebenso Platz wie kanonisierte Größen. «Stars» waren bestimmt wichtig für eine Künstlerkolonie, sie konnten sie prägen, aber in nicht wenigen Fällen, wie bei Paul Gauguin in Pont-Aven, gilt dies stärker in der Retrospektive als während ihres Aufenthalts. Daher steht in diesem Buch bewusst nicht Gauguins Pont-Aven, nicht Burroughs’ Tanger und nicht Mackensens und Vogelers Worpswede im Zentrum. Denn in Pont-Aven verkehrte ebenfalls die junge Helene Schjerfbeck, in Tanger Jane Bowles und in Worpswede Paula Modersohn-Becker und Julie Wolfthorn, also Künstlerinnen, die (zumindest zu Lebzeiten) längst nicht die gleiche Aufmerksamkeit erhielten wie ihre männlichen Kollegen.

Als Künstler – manchmal bewusst auch: Künstlerinnen im generischen Femininum – werden hier kreativ tätige Menschen bezeichnet, keineswegs nur bildende Künstler oder gar Malerinnen. Der Fokus ist viel weiter gefasst:[6] Maler, Schriftstellerinnen, Intellektuelle, Musiker und, ganz besonders wichtig, Lebenskünstlerinnen, die viel stärker durch ihre stilbildende Lebensart prägend sind als durch unvergängliche Werke, so wie es der «Taorminese» und homosexuelle Schriftsteller Roger Peyrefitte über den Dichter Jacques dʼAdelswärd-Fersen formuliert: «Er hätte Baudelaire sein wollen und tröstete sich mit dem Gedanken, dass Baudelaire vielleicht ein Müßiggänger wie er hätte sein wollen.»[7]

Kunsthistorische Erwägungen über Stile und Maltechniken spielen in diesem Buch nur eine untergeordnete Rolle. Die Abfolge der «Ismen» – für Pont-Aven beispielsweise Realismus, Naturalismus, Impressionismus, Synthetismus, Symbolismus – sind für die Künstler selbst, die sich gerne einer bestimmten Schule zuordnen und sich von einer anderen abgrenzen, zwar häufig sehr wichtig. Dies gilt jedoch weniger für ihre Entscheidung, in einer Künstlerkolonie zu leben, die von anderen Motiven bestimmt ist. Gerade in der hier praktizierten flaneurhaften Beschreibung mit zahlreichen Figuren über zehn verschiedene Schauplätze werden übergreifende Motive herausgearbeitet, die in einer gesonderten Betrachtungsweise leicht übersehen werden.

Spurensuche

Flaniert man heute durch ehemalige Künstlerkolonien, wird man, die richtige Perspektive vorausgesetzt, immer wieder auf die Vergangenheit stoßen: Ist das nicht der Eingang des Hotels Victoria in Taormina, den Johann Viktor Krämer erst im Brief an seine Eltern skizziert und später in Öl gemalt hat? Und dieser Blick von Capri über das tiefblaue Meer auf den Vesuv – ist er nicht ebenso prächtig, wie ihn Adrian Stokes mit vielen Superlativen beschrieben hat? Wie bei einem Palimpsest überlagern sich die Zeiten an einem Ort, wodurch den realen Schauplätzen eine besondere Bedeutung für die historische Erkenntnis zukommt. Noch in seiner heutigen Gestalt vermittelt der reale Ort Ansichten, Stimmungen und Emotionen, in denen die frühere Erfahrung der Künstler spürbar wird. Um die jeweiligen Künstlerkolonien aus möglichst vielen Blickwinkeln darstellen zu können, habe ich auf sehr unterschiedliche Quellen zurückgegriffen: Aufzeichnungen der Künstler in Tagebüchern, Notizen, Briefen und nachträglich veröffentlichten Erinnerungen werden ebenso herangezogen wie ihre künstlerischen Werke, das heißt die Gemälde, Grafiken, Skizzen, Fotografien, Romane und Partituren. Die Eigenaussagen werden kontrastiert durch Quellengattungen anderer Herkunft wie Werbungen und Plakate, Auszüge aus Reiseführern und Zeugnisse der einheimischen Bevölkerung, die jedoch leider sehr selten sind.

«Ist das literarische Reisen nicht ein Widerspruch in sich?», hat Barbara Piatti gefragt. «Lässt sich ein Schauplatz überhaupt außerhalb des Buches besichtigen?» Ihre Antwort: «Offenbar ja. Denn trotz aller Einschränkungen sind literarische Schauplätze in Kombination mit ihren realweltlichen Pendants Portale in andere Welten. Über sie scheint sich ein Teil der fiktionalen Welt zu materialisieren, scheint greifbar, begehbar, spürbar zu werden.»[8] Doch auch das Gegenteil kann der Fall sein: Nicht selten sind es die literarischen und künstlerischen Quellen, die einen Ort erst erhellen und fassbar machen. Manchmal kann dieses Vorgehen sogar zu Enttäuschungen führen, dann nämlich, wenn sich das Eintauchen in historische Künstlerkolonien durch Lektüre und Kunstbetrachtung viel plastischer, geradezu realer anfühlt als der Spaziergang durch den Ort selbst.

Nur sparsam habe ich Hinweise auf heutige Verhältnisse integriert, beispielsweise auf Museen, Gedenktafeln oder im Originalzustand erhaltene Wandbemalungen. Das vorliegende Buch kann daher keinen aktuellen Reiseführer ersetzen; praktische Informationen wie Anfahrtswege, Preise und Öffnungszeiten finden sich ohnehin am präzisesten im Internet. Gleichwohl spricht nichts dagegen, das entsprechende Kapitel vor oder während der Reise an einem der beschriebenen Orte zu lesen – und sich mit ihm zu Exkursionen an Schauplätze oder in die Literatur leiten zu lassen!

Jean-François Millet 

Als einer der wenigen Maler lebt Jean-François Millet mit seiner Frau und seinen neun Kindern ganzjährig in Barbizon. Sein amerikanischer Schüler Edward Wheelwright beschreibt ihn wie folgt: «Ich hatte gehört, er wäre ein derber Bauer: Bauer oder nicht Bauer, Millet ist ein Edelmann von Gottes Gnaden.»

In Paris wird der Bauernsohn nicht wirklich heimisch. Zwar kann er schon erste Erfolge als Künstler vorweisen, doch die Werke, welche seinen Ruhm begründen, werden erst in Barbizon entstehen. 1849, mit fünfunddreißig Jahren, kommt Jean-François Millet erstmals in den kleinen Ort im Süden von Paris, der damals noch kaum bekannt ist. Zunächst lebt er in Chailly in der Nähe, bevor er in Barbizon selbst eine entsprechende Unterkunft findet. Nichts Luxuriöses: Er mietet für sich und seine sich ständig vergrößernde Familie eine Wohnung mit zwei Zimmern. Zum Malen hat er nur einen unterhalb des Straßenniveaus gelegenen Raum mit einem kleinen Fenster.

Erst der mit der Zeit wachsende Erfolg Millets auf dem Kunstmarkt macht es möglich, dass der Maler mit seiner Frau Catherine Lemaire in ein größeres Haus direkt an der Hauptstraße von Barbizon ziehen kann. Der große Gemüsegarten hinter dem Haus erlaubt wenigstens zum Teil eine Selbstversorgung. Die Rollenverteilung zwischen den Ehepartnern ist klassisch. Er verdient mit seinen Kunstwerken das Geld, sie ist für den Haushalt und die Erziehung der Kinder zuständig, von denen sie nicht weniger als neun haben. Mit ihrer mutigen Zuversicht soll sie ihrem Mann aber auch eine zuverlässige Stütze bei seinen häufigen Depressionen gewesen sein.[1]

In einer ehemaligen Scheune richtet Millet sein Atelier ein. Als Luxus lässt er einen Dielenboden verlegen. Die Einrichtung ist einfach, aber erlesen. Auf Wandbrettern stellt Millet Kopien der Elgin Marbles auf – jenes Wandfrieses, den Lord Elgin mit brutaler Gewalt aus dem Parthenon auf der Akropolis in Athen hat herausbrechen lassen, um sein schottisches Landhaus damit zu verschönern. Längst hat Millet sich entschieden, dass er nicht mehr von Barbizon wegziehen will. Fast als einziger Maler hat er seinen ständigen Lebensmittelpunkt hier. Als ungeselliger Mensch, der froh ist, seine Ruhe zu haben, vermisst er den Trubel des Stadtlebens nicht. Erst nach Jahren fasst er zu Théodore Rousseau, dem anderen großen Maler von Barbizon, Vertrauen, und noch viel länger braucht es, bis sie Freunde werden. Regelmäßig gehen die beiden Maler gemeinsam auf einen Spaziergang.

In Barbizon begeistern Millet die Nähe zur Natur und die Landschaft. Er legt sich auf den Boden und sieht den Wolken beim Segeln zu. Einem Freund schreibt er: «Wenn Sie nur die Schönheit des Waldes sehen würden!» Er strahle eine Ruhe und Größe aus; die Bäumen würden einander etwas zuflüstern, aber in einer Weise, dass die Menschen es nicht hörten, weil sie nicht über die gleiche Sprache verfügten.[2] Aber fast noch mehr als der Wald gefällt ihm die Ebene nördlich von Barbizon. Auf den Feldern beobachtet er die Bäuerinnen und Bauern bei ihren typischen Tätigkeiten: beim Pflügen, beim Säen, beim Dreschen, beim Lesen der Ähren.

Auch die Tätigkeiten rund um den Hof interessieren ihn: das Pfropfen der Obstbäume, das Schlachten der Tiere, das Scheren von Schafen und das Spalten von Holz. Millet ist der erste Maler, der die schweißtreibende bäuerliche Arbeit in ihrer ganzen Würde und Gravität darstellt. 1850 wird sein Sämann im Pariser Palais Royale ausgestellt, was einem Ritterschlag gleichkommt. Millet hat seine Bestimmung gefunden: Die Natur und die Menschen in ihr werden zu seinem Lebensthema, das ihn nicht mehr loslässt.

In Millets wohl berühmtesten Gemälde Die Ährenleserinnen von 1857 arbeiten drei gebückte Frauen mit auf den Boden gerichteten Blicken auf einem spätsommerlichen Feld. Sie stehen exemplarisch für das erschöpfende Arbeitsleben, gleichzeitig jedoch behalten sie ihre Würde. «Ihr karges Dasein bildet einen Kontrast zu den reichen Ernteerträgen in der Ferne: Heuschober, Garben, Wagen und zahlreiche eifrige Erntearbeiter. […] Das flache Licht der untergehenden Sonne hebt die Volumina im Vordergrund hervor und verleiht den Ährenleserinnen ein plastisches Aussehen. Es bringt ihre Hände, Nacken, Schultern und Rücken zur Geltung und frischt die Farben ihrer Kleider auf.»[3]

Für den Kunstkritiker Théophile Gautier erfasst Millet mit seinen Bildern der werktätigen Bevölkerung die wahre Poesie des Landes: «In seinen Bildern ist das Säen, Ernten und Pfropfen eine geweihte Handlung, die ihre eigene Größe und Schönheit besitzt, gepaart mit einem Hauch an den Dichter Vergil erinnernder Schwermut.»[4] Der wortkarge Millet hat sich nur gelegentlich zu seinem Werk geäußert, am ehesten noch in den Briefen an seinen Galeristen und Freund Albert Sensier. An einer dieser raren Stellen erklärt Millet sein Kunstverständnis: «Man sitzt unter einem Baum und erfreut sich der Ruhe und Behaglichkeit, die das Leben spendet, und plötzlich sieht man auf dem schmalen Weg ein schmales Wesen mit schweren Reisigbündeln daherkommen. Die unerwartete und sprechende Art, in der eine solche Gestalt vor uns auftaucht, ruft uns sofort die ernste Bestimmung des menschlichen Daseins – die Arbeit – ins Bewusstsein.»[5] Zustimmend nimmt Millet die Naturalismustheorie von Jules-Antoine Castagnary auf. Kurz zusammengefasst, besagt sie, dass der Bauer und die Bäuerin nicht von der Natur getrennt werden können. Genau wie der Baum oder der Stier gehören sie zu ihr, aus künstlerischer Sicht stellen sie bloß die höchste Ausformung einer Folge dar, die mit der Pflanze beginnt und mit ihnen endet.[6] (Die Meinung der Landbevölkerung zu dieser Theorie hat ihr Verfasser allerdings nicht eingeholt.)

Zeitlebens verwahrt sich Millet gegen die Unterstellung, ein Sozialist zu sein. Mit der entstehenden Arbeiterbewegung hat er nichts am Hut. Ihm steht der Sinn nicht danach, das Schicksal der Landbevölkerung zu verbessern. In seiner Sichtweise geht sie zwar einer harten, aber dafür sinnerfüllten Arbeit nach. In ihren schwieligen Händen und ihren verschwitzten Gesichtern erkennt er eine eigene Poesie – eine mythische Ursprünglichkeit, die den Städtern längst abhandengekommen sei.[7] Diese Position bekräftigt er auch in einer Kontroverse, die 1859 zwischen ihm und Charles Baudelaire entbrennt. Für Baudelaire sind Millets Bauern düster und schicksalsergeben (sombre et fatal). Sie hätten schulmeisterlich eine zu hohe Meinung von sich selbst, und das mache sie für ihn hassenswert. Um jeden Preis wolle Millet zur Poesie der Natur eine Moral hinzufügen. Der angegriffene Millet verteidigt sich: Zwar würden einige ihm vorwerfen, er negiere den Charme des Landlebens, das sei aber eine Fehlinterpretation: «Ich finde viel mehr als Charme: eine unendliche Herrlichkeit.» Diese könne sich in den unterschiedlichsten Facetten äußern, im blühenden Löwenzahn, der hinter den Wolken verschwindenden Sonne oder den arbeitenden Pferden.[8]

Vom zunehmenden Trubel in Barbizon hält Millet sich fern. Lieber zieht er mit der gleichen Ausdauer, mit der ein Bauer sein Feld abschreitet, Strich um Strich den Pinsel über die Leinwand. Manchmal sitzt er Jahre an einem Werk, bis er mit ihm zufrieden ist. Er weigert sich, an den ab 1867 im Hotel Siron organisierten Ausstellungen teilzunehmen. Als ihn der amerikanische Maler Edward Wheelwright anfragt, ob er sein Schüler werden könne, reagiert Millet zunächst unwirsch ablehnend. Erst die Aussicht auf eine regelmäßige Bezahlung, die Wheelwright anbietet, stimmt ihn um. Also treffen sie sich jede Woche und besprechen die in der Zwischenzeit entstandenen Arbeiten Wheelwrights. Zurück in den USA, erinnert sich dieser an seinen Mentor: «Ich hatte gehört, er wäre ein derber Bauer: Bauer oder nicht Bauer, Millet ist ein Edelmann von Gottes Gnaden. Er ist ein großer, starker Mann mit vollem, schwarzem Bart und grauen, durchdringenden Augen, mit einer mehr hohen als breiten Stirn, so viel ich in dem Augenblick sehen konnte, als er den breiträndigen Strohhut lüftete. Ich musste sofort an Michelangelo und an Richard Löwenherz denken.»[9]

Barbizon

Auberge Ganne

Als die ersten Maler mit der Patache, der berüchtigten Knochenschüttler-Kutsche, nach Barbizon an den Rand des Waldes von Fontainebleau kommen, umfasst der Weiler nicht mehr als hundert Häuser. Es gibt hier weder eine Kirche noch eine Schule, aber, und das ist viel wichtiger, eine Herberge in der Dorfmitte. Seit 1824 wird sie vom Ehepaar François und Edmée Ganne betrieben. Im Erdgeschoss haben sie einen kleinen Krämerladen eingerichtet. Dort gibt es außer dem Offizierssaal, auf der anderen Seite neben der Küche, bald auch einen Künstlersaal, in dem alle gemeinsam essen. In den bescheidenen Kammern im Obergeschoss sind die Gäste einquartiert, zunächst hauptsächlich Franzosen ausnahmslos männlichen Geschlechts, ab 1849 vermehrt auch Engländer, Iren und Amerikaner und ab 1851 Belgier und Holländer sowie Deutsche. Auch Künstler aus Italien, Rumänien, Ungarn, Russland und Polen verkehren in der Auberge Ganne und bleiben oft mehrere Wochen bis Monate. Der Anteil der Künstlerinnen in Barbizon ist mit geschätzten drei Prozent so gering wie in keiner anderen Künstlerkolonie.[1]

Die gute Erreichbarkeit von Paris aus ist einer der Gründe für die Attraktivität Barbizons. Während die frühen Reisenden in die Patache, die berüchtigte Knochenschüttler-Kutsche, steigen müssen (oben), fährt später die Tramway direkt in den Weiler (unten).

Die Künstler arbeiten bei schlechtem Wetter drinnen in den bis heute zugänglichen Ateliers hinter dem Innenhof, bei gutem strömen sie in die umliegenden Wälder und auf die Felder. Dafür werden sie von den Wirtsleuten mit einem Imbiss und einer Flasche Wein ausgestattet. Solange Barbizon noch ein Geheimtipp ist, stört sie kaum jemand bei der Arbeit. Abends kehren die Maler von ihren Streifzügen in die Auberge Ganne zurück. Gegenseitig kritisieren sie die an den Wänden aufgereihten Werke und setzen sich an den üppig gedeckten Tisch, um mit Scherzen, Gesang und viel Rotwein den Tag ausklingen zu lassen.

Wenn sich der richtige Anlass bietet – und der bietet sich nicht selten –, werden Feste gefeiert. Eines, nämlich die Hochzeit der Wirtstochter Louise Ganne mit dem späteren Fotografen Eugène Cuvelier, hat Olivier de Penne 1859 in einem Gemälde festgehalten. La Noce de la fille Ganne zeigt die Festgesellschaft wohl schon spätabends in ausgelassener Stimmung. Corot ist als Trauzeuge zu erkennen, ebenfalls die Maler Millet und Rousseau, welche die Scheune mit Efeu geschmückt haben. Die Kunsthistorikerin Julia Cartwright beschreibt das Fest: «Corot eröffnete den Ball und führte den Flaschentanz an zu den Klängen ländlicher Geigen. Leere Flaschen wurden in Reihen auf den Boden gestellt, und das Paar, welches eine umwarf, musste austreten. Es wurde langsam begonnen, dann schneller und schneller getanzt, bis es in einem wilden Galopp endigte, und der letzte Tänzer erhielt als Preis eine Blume der Braut.»[2]

Mit der Zeit suchen die Maler ihre eigene Bleibe. Sie mieten sich in eines der Häuschen ein, die entlang der Hauptstraße wie aufgereiht wirken, oder kaufen es gleich. Théodore Rousseau lässt in seines sogar ein hohes Fenster einbauen, damit er die großformatigen, auf den Rahmen gespannten Leinwände problemlos hinein- und hinaustransportieren kann.

Von der Präsenz der Maler in Barbizon profitiert die lokale Bevölkerung. Mancher junge Mann und manche junge Frau kann Modell stehen, andere vermieten Zimmer oder sind als Fremdenführer tätig. Der Landschaftsmaler Charles Émile Jacque zeichnet sich durch einen besonderen Geschäftssinn aus: Ab 1862 bietet er bei allen zum Verkauf stehenden Häusern in Barbizon mit. Erhält er den Zuschlag, lässt er das Haus renovieren und verkauft es mit Profit. Doch nach der Insolvenz seines Pariser Kunsthändlers gerät er in einen Liquiditätsengpass und muss seine Immobilien in Barbizon abstoßen. Er rappelt sich wieder auf und wird 1870 Besitzer eines Anwesens in der Bretagne, wo er eine Fabrik für Stilmöbel betreibt.[3]

Besonders in den Anfangsjahren ist das Leben für die auswärtigen Maler ausgesprochen preiswert. Sie können bequem leben, manchmal fast zu bequem, wie Robert Louis Stevenson (später wird er mit dem Roman Die Schatzinsel berühmt) leicht spöttisch berichtet. Denn typisch für Barbizon seien die «Snoozers» (von to snooze = ein Nickerchen machen). Viele junge Maler kosteten die schöne Umgebung und das Zusammensein so stark aus, dass sie künstlerisch weitgehend untätig blieben. Das müsse jedoch nicht als gravierend betrachtet werden, versichert er augenzwinkernd, Latenzphasen seien für die künstlerische Inspiration schließlich von essenzieller Bedeutung.[4]

Mit den Jahren entwickelt sich Barbizon zum Missfallen der Pioniere zum Magneten für allerlei Kunstfreunde und Hobbymaler. Mit Naturnähe und Ruhe ist es nicht immer weit her. In einer in der Zeitschrift Journal amusant veröffentlichten Karikatur von 1875 verlegt ein Maler seinen Arbeitsplatz nicht an, sondern direkt in einen Teich. In der Bildunterschrift wird dazu erklärt: «Englische und amerikanische Maler suchen Orte, an denen kein anderer zuvor gemalt hat.»[5]

Als das neu eröffnete Hotel Siron auf mehr Luxus in den Zimmern und eine gehobene Küche setzt, erlangt Barbizon immer stärker den Ruf, ein Ort für die Elite zu sein: «Hier malt man in grauen glänzenden Handschuhen, die Havanna ersetzt die Pfeife, der Champagner den Weinkrug!»[6] Laut Stevenson zählt der Wirt des Siron am Morgen die ausgetrunkenen Flaschen und verteilt die Kosten gleichmäßig auf die Maler, die am Vorabend im Saal gewesen sind. Dieses alles andere als unfehlbare System soll zu etlichen Diskussionen Anlass gegeben haben.[7]

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