Cover

Roma Ligocka

Das Mädchen im roten Mantel

Mit Iris von Finckenstein

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Roma Ligocka

Roma Ligocka wurde 1938 in Krakau geboren. Sie überlebte unter falschem Namen mit der Mutter die Nazizeit und arbeitete als Kostümbildnerin für Bühne, Film und Fernsehen. Sie erhielt zahlreiche Preise und lebt heute als Malerin in München.

Über dieses Buch

Roma Ligocka ist zwei Jahre alt, als alle Juden aus Krakau und Umgebung im Ghetto zusammengepfercht werden. Wie durch ein Wunder überlebt sie. Doch das Grauen hat sie danach nicht mehr verlassen.

Die Erinnerungen der Frau, die Steven Spielberg in Schindlers Liste zu der Figur des Mädchens im roten Mantel inspirierte.

 

»Ein ungemein fesselndes und tief bewegendes Buch.«
Berliner Morgenpost

Impressum

eBook-Ausgabe 2013

Knaur eBook

© 2000 Droemer Verlag

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur München

Coverabbildung: privat

ISBN 978-3-426-42001-0

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Für meinen Sohn Jakob

du bist davongekommen nicht um zu leben

du hast nur wenig zeit um zeugnis zu geben

Zbigniew Herbert: »Herrn Cogitos Vermächtnis«

1

Wie ein riesiges, weißes Schiff thront das Hotel Negresco über der Promenade des Anglais an der Côte d’Azur in Nizza.

Bunt gekleidete Pagen, mit Federn auf den Hüten, laufen über rote Teppiche. Weiße Markisen flattern leicht im Morgenwind. Das Meer leuchtet in einem fast übernatürlichen Blau.

Ich gehe durch die riesige Empfangshalle mit dem glänzenden Marmorfußboden, vorbei an großen Blumenvasen, aus denen rote Rosen quellen, in den Frühstücksraum.

Er ist rund, ganz in Rosa- und Brauntönen gehalten, und wirkt wie ein altes Biedermeierkarussell. Weiße Pferde drehen sich zu leiser Drehorgelmusik, die sanfte Walzer spielt. Unzählige kleine Glühbirnen beleuchten die Szenerie. Die Gemälde an den Wänden zeigen liebliche Landschaften in warmen Pastelltönen. In der Mitte des Raumes steht eine lebensgroße Puppe im Biedermeierkostüm, sie hat lange, lockige Haare, ihr Mund bewegt sich. Sie lächelt, immer wieder.

Die Fenster sind mit schweren, roten Samtvorhängen umrahmt, die Jalousien halb heruntergelassen. Sonnenstrahlen malen goldene Streifen auf den Fußboden, auf die rosa Tische. Die Kellnerinnen sehen alle aus wie die große Puppe, sie tragen die gleichen rosa Biedermeierröcke mit darunter hervorschauender Spitzenhose, nur ihr Lächeln ist echt und ein wenig müde. Sie laufen eifrig hin und her.

Es duftet nach Schokolade und Himbeeren, nach Kaffee und Parfüm.

Ich setze mich an einen der gedeckten Tische.

 

Das runde Frühstücksbuffet in der Mitte sieht aus wie ein Kunstwerk und versetzt mich sofort in euphorisch gute Laune.

Früchte in allen Farben, Ananas, Himbeeren, Erdbeeren. Melonenscheiben in Rot, Gelb und Grün. Zartrosa schimmernder Schinken, kunstfertig zu Rosetten geformt. Hauchdünner Lachs, zu Sternen gefaltet. Winzige Wachteleierhälften mit Kaviarklecksen darauf. Petits Fours wie Schmuckstücke, die man sich am liebsten um den Hals legen würde. Kleine, glänzende Rosinenbrötchen. Frischer Orangensaft, der wie ein Wasserfall über Eiswürfelfelsen fließt. Konfitüren in allen Farben, flüssiger Honig, goldgelbe Butterkugeln …

Und dieser Duft von Himbeeren und Schokolade!

Ich schließe die Augen und lasse die Sonnenstrahlen auf meinen Wimpern spielen, zu goldenem Staub zerfallen. Seltsam fremd und unbeschwert glücklich fühle ich mich an diesem Ort. Aber dass ich glücklich bin, gestehe ich mir nicht laut ein, denn ich bin eine abergläubische, alte Jüdin. Ich denke an den Strand, an die große, grüne Liege, die dort auf mich wartet, an die Cocktails, die der Kellner mir servieren wird, während die Sonne meine Haut wärmt und ich das Blau des Himmels und den Salzgeruch des Meeres in mich aufsauge, mich darin auflöse. Mittags esse ich einen Salade Niçoise zu einem Glas Prosecco. Und dann war da noch bei Sonia Rykiel diese wunderschöne Handtasche …

An den Tisch gegenüber setzt sich ein elegantes Ehepaar, ein kleines Mädchen im Schlepptau. Es bleibt stehen und betrachtet lange die Puppe, bevor es sich zu den Eltern setzt. Die Mutter hat ihm einen riesigen Becher mit Erdbeeren hingestellt. Aber das kleine Mädchen isst nichts, es steckt nur den Löffel ins Glas, rührt gedankenverloren darin herum und schaut die ganze Zeit der Puppe zu, die ihm mit ihren hölzernen Lippen immer wieder ihr hölzernes Lächeln schenkt.

Das kleine Mädchen hat dunkles, lockiges Haar und große, schwarze Augen, die von dunklen Schatten umrandet sind. Es ist vielleicht fünf Jahre alt und wirkt sehr zerbrechlich. Es achtet nicht auf mich.

Mir wird übel. Ich habe das Gefühl, dass ich mir selbst gegenübersitze, in einem anderen Leben, in einer anderen Zeit. Ich schaue das kleine Mädchen an, das ich einmal war, das ich hätte sein können, und ich weiß, dass es alles hat, was ich nie hatte, aber hätte haben sollen. Eine glückliche, geborgene Kindheit, ein schönes Zuhause mit Garten, irgendwo, Erdbeeren, Schokolade und Spielzeug, Eltern, die es lieben und genügend Geld haben, um ihrer kleinen Tochter Reisen, Klavierstunden und Geburtstagspartys zu finanzieren …

Wie ein bunter Film zieht das Leben des kleinen Mädchens an mir vorbei, mein Leben, um das mich das Schicksal betrogen hat. Ich verspüre keinen Neid, nur diesen stechenden Schmerz, die alte, offene Wunde. Das kleine Mädchen hat das Recht, hier zu sein, in dieser heilen, prachtvollen Welt, und ich bin nur ein Gast auf der Durchreise. Ich habe Angst. Sieht denn keiner, dass ich armselig bin und mich nur verkleidet habe, dass ich nicht hierher gehöre? Gleich werden sie mich entdecken, mir die Kleider vom Leib reißen, mich hinausjagen in den Schnee. Ich zittere, so kalt ist mir plötzlich, klammere mich unauffällig an die weichen Polster meines Stuhls. Mir wird schwindelig, die kleinen Glühbirnen beginnen zu flackern, die Drehorgelmusik wird lauter, schneller und schneller, sie dreht sich mit mir, reißt mich in einen Strudel, in den Abgrund, in die Erinnerung, in das schwarze, dumpfe Loch. Zurück ins Ghetto.

 

Im Ghetto ist es immer kalt, eiskalt, drinnen wie draußen. Drinnen gibt es nur den Küchenherd für alle und fast keine Kohle. Draußen liegt Schnee. Es gibt keinen Sommer im Ghetto, es gibt überhaupt keine Jahreszeiten und kein Sonnenlicht. Alles ist immer dunkel und grau.

Das Ghetto hat vier große Tore. Durch diese Tore dürfen wir nicht gehen. Das ist streng verboten. Auf der Hauptstraße fährt eine Straßenbahn, die Nummer 3. In die Straßenbahn dürfen wir nicht steigen. Das ist auch streng verboten. Deswegen hält sie nicht bei uns im Ghetto. Sie fährt einfach durch. Die Leute, die darin sitzen, schauen stumm durch die von der Kälte beschlagenen Fenster und starren uns an. Einmal wirft ein Junge ein paar Brote aus dem Fenster, uns vor die Füße.

Wir stehen auf der Straße und frieren. Viele, viele Menschen. Überall sind viele Menschen. Die einen haben große Hunde, tragen Gewehre und passen auf. Sie schießen, auf wen sie wollen, vielleicht auch auf mich. Die anderen, das sind wir. Die Juden. Wir müssen warten, immer warten.

Die mit den Gewehren haben goldene Knöpfe und schwarze, glänzende Stiefel, die im Schnee knirschen, wenn sie marschieren. Aber das hört man meistens nicht, weil sie so brüllen. Sie brüllen, wir gehorchen. Wer nicht gehorcht, wird getötet. Das weiß ich genau, obwohl ich noch sehr klein bin. So klein, dass ich den Männern mit den glänzenden Stiefeln ungefähr bis ans Knie gehe. Wenn einer von ihnen neben mir steht und ich die schwarzen Stiefel an meiner Seite knirschen höre, die Hundeschnauze mit den scharfen Zähnen direkt neben meinem Kopf hechelt, fühle ich mich sogar noch kleiner als sonst. Ich versuche dann, mich unsichtbar zu machen. Manchmal gelingt es mir wirklich, dann löse ich mich auf und verschmelze mit dem eisigen Wind und dem Gebrüll und der kalten, dünnen Hand meiner Großmutter. Sie hält mich fest, aber ich bin gar nicht mehr da. Ich habe meinen Körper längst verlassen.

Großmutter ist immer da. Wenn das Warten vorbei ist, bringt sie mich zurück in die Küche, zieht mir meinen roten Mantel aus. Es ist ein wunderschöner Mantel aus rotem, weichem Wollstoff, mit Kapuze. Sie hat ihn mir selbst genäht. Großmutter wärmt mit ihren dünnen, kalten Händen meine Füße, die ich schon längst nicht mehr fühle. Sie setzt mich auf den Tisch und rührt in einem Topf auf dem Herd. Dann kommt sie mit einer Schale wieder, in der ein dampfender Brei mit kleinen Klumpen schwimmt. Sie will mich füttern. Ich wende den Kopf ab, der Brei ist widerlich, die Klumpen sind ekelhaft, ich will sie nicht essen, mir ist übel. Die anderen Leute schimpfen. Die dampfende Küche ist voller fremder, lauter Menschen, schwitzender, stinkender Leiber. Einer der Männer reißt der Großmutter die Schüssel aus der Hand, kippt die Suppe in einem Zug herunter. Meine Großmutter sagt nichts. Sie setzt sich wieder an die Nähmaschine und fängt an zu rattern. Ich bin froh, dass der Mann das eklige Zeug gegessen hat. Jetzt ist zum Glück nichts mehr übrig.

Irgendwann kommt meine Mutter nach Hause, es ist schon dunkel draußen, ich liege in meinem kleinen Gitterbett, kann nicht schlafen, denn die fremden Menschen sind überall. Sie schnupfen, stöhnen, schimpfen, fluchen, schlürfen, schmatzen und weinen. Meine Mutter umarmt mich müde, ihre weichen braunen Haare duften nicht mehr nach Blumen wie sonst, sie riechen komisch und scharf. »Du riechst komisch«, sage ich. Meine Mutter lächelt, ich weiß, dass sie traurig ist. Sie ist immer traurig. »Das ist nur das Desinfektionsmittel«, sagt sie. »Was ist das?«, frage ich. Sie antwortet nicht. Stattdessen holt sie ihren Koffer unter dem Bett hervor, nimmt eine kleine Flasche heraus und öffnet sie vorsichtig. Sie lässt einen Tropfen daraus auf ihr Handgelenk fallen und verreibt ihn andächtig. Dann schließt sie die Flasche, versteckt sie wieder im Koffer und nimmt mich aus dem Bett. »Besser?«, fragt sie. Jetzt duftet sie wieder nach Blumen.

»Tosia«, sagt eine dunkle Stimme. »Ich bin wieder da.« Es ist mein Vater. Er kommt ins Zimmer, hebt mich hoch, gibt mir einen Kuss. Mein Vater hat schwarze Augen, wie ich. Er umarmt meine Mutter. »Du riechst gut«, sagt er. »Ich habe Kartoffeln mitgebracht.«

Sie gehen in die Küche, zu den anderen Menschen. Ich höre ihre Stimmen, doch ich kann nur Wortfetzen verstehen, weil es immer so laut ist. Aber ich fühle, dass sie von mir sprechen. »Diese Augen!«, sagt meine Mutter. »Wenn sie nur blaue Augen hätte, so wie Irene!« »Und so dunkle Haare hat sie«, sagt eine fremde Frauenstimme. »Das taugt nicht zum Überleben. Aber da kann man vielleicht was machen.« – »Gift?«, fragt meine Mutter, Entsetzen in der Stimme. »Kommt nicht in Frage!«, ruft mein Vater laut. Ein dumpfer Schlag lässt mich zusammenzucken, er hat wohl mit der Faust auf den Tisch geschlagen, das tut er manchmal, wenn er sehr wütend ist. Sicher ist er wütend auf mich, weil ich nicht so bin, wie ich sein sollte. Ich bin falsch.

Draußen auf der Straße fallen Schüsse, ein Schrei gellt durch die Nacht. Das Gespräch in der Küche ist verstummt. Nach und nach beginnen sie wieder zu reden, und ich schlafe endlich ein.

 

Auf der Straße liegen Koffer, Taschen, Bündel, ein umgekippter Kinderwagen. Warum hebt sie niemand auf? Großmutter zerrt mich weiter. Es schneit immer noch. Wir stehen wieder auf der Straße und warten. Jeden Tag stehen wir hier, jeder Tag ist gleich. Jede Nacht ist gleich. Schlaf gibt es nicht im Ghetto. Es gibt keine Abenddämmerung und kein Morgengrauen, nur die Stiefel, die die Treppe hochkommen, Hunde, die bellen, Männer, die brüllen. Türen, die aufgerissen werden, Menschen, die schreien, flehen, bitten, schimpfen, fluchen. Nie geht das Licht richtig aus, nie ist es still.

 

Und jeden Tag, jede Nacht kommen fremde Menschen dazu, immer neue, immer noch mehr. Alle reden und drängeln und schubsen und fassen mich an. Immer sind viele Menschen um mich. Draußen, auf den engen Gassen. Drinnen, in der schmutzigen kleinen Küche, wo die Frauen kochen und um den Platz am Herd streiten. Und in dem großen, dunklen Zimmer, wo Großmutter seelenruhig an ihrer Nähmaschine sitzt und näht, in dem auch mein Bettchen steht und das wir mit den Fremden teilen. In jeder Ecke des Raums wohnt eine Familie. Es gibt kein Bad, die Toilette im Treppenhaus wird von allen benützt, sie ist ständig verstopft. Es stinkt bestialisch, überall. Mir wird jedes Mal schlecht von dem Gestank. Trotzdem lasse ich die Großmutter nie allein dorthin gehen. Vielleicht kommt sie sonst nie wieder.

 

Ich friere immer. Ständig bin ich krank, habe Fieber, muss trotzdem mit den anderen in der Kälte warten. Sie wickeln mir ein Tuch um den Hals, das mit einer stinkenden Flüssigkeit getränkt ist, die man Brennspiritus nennt. Sie legen mich auf das Bett, ziehen mich aus, halten kleine, runde Gläser über eine Kerze, bis sie heiß sind, und kleben sie auf meinem nackten Rücken fest. Großmutter versucht mich zu beruhigen. »Das nennt man Schröpfen«, flüstert sie mir ins Ohr, »es macht dich wieder gesund.« Aber ich glaube das nicht. Ich bekomme jedes Mal Panik, wehre mich, wimmere. Die Gläser machen ein ekelhaftes, schmatzendes Geräusch, wenn sie endlich heruntergenommen werden. Ich habe Angst vor ihnen und noch mehr vor den fremden Leuten, die meinen Körper überall anfassen mit ihren feuchten, kalten Händen. Mein Husten wird von den Gläsern auch nicht besser.

»Sie ist so schwach«, sagt meine Mutter traurig.

Mein Vater kommt ganz stolz nach Hause. Er holt eine kleine Flasche unter seinem Mantel hervor und drückt sie meiner Mutter in die Hand. »Lebertran«, sagt er zufrieden, »damit mein kleines Mädchen wieder gesund wird.« Meine Mutter fällt ihm um den Hals, die fremden Menschen nicken beifällig. Ich sehe meiner Mutter misstrauisch zu, als sie den Korken aus der Flasche zieht, einen Löffel holt und gelben, fetten Schleim aus der Flasche auf den Löffel gießt. Sie will mir den Löffel in den Mund stecken, aber ich bin schneller. Ich entwische ihr und verstecke mich schnell hinter meiner Großmutter.

»Roma«, sagt meine Mutter streng. So streng klingt ihre Stimme selten. Auch die anderen Menschen spüren das. Sie reden auf mich ein. »Du musst es schlucken!«, sagen sie. »Du musst deiner Mutter gehorchen!«

Ich stecke den Kopf in die Röcke meiner Großmutter. Hier kann sie mich nicht finden und zwingen, den gelben Schleim zu essen.

»Komm her, Roma«, lockt meine Mutter. »Komm, Kind, ich bitte dich …« Ich höre trotz ihrer sanften Stimme den Ärger darin. Es ist besser, ich bleibe, wo ich bin.

»Komm sofort her!«, schreit meine Mutter. »Und schluck das runter! Es ist flüssiges Gold!«

Sie versucht mich zu packen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Angst vor ihr. Meine Großmutter nicht. Sie rührt sich nicht von der Stelle. Ihr Rücken ist ein schwarzer, sicherer Berg. Sie sagt kein Wort.

Meine Mutter erwischt meine Hand, will mich hinter der Großmutter hervorzerren. Ich wehre mich mit allen Kräften, wimmere, kämpfe.

»Ich schlucke das Gold nicht runter! Nein, ich will nicht!«, jammere ich. Aber die Hand meiner Mutter ist aus Eisen. Sie umklammert meine Hand ganz hart. Und auf einmal höre ich ein komisches Knacken und spüre so etwas wie einen Stromschlag in meinem Handgelenk. Ich fange an zu weinen.

Meine Mutter packt mich, sie zerrt mich hervor, ich wehre mich nicht mehr, meine Hand tut so weh. Sie hängt ganz verbogen da. Meine Mutter lässt den Löffel fallen, das Gold spritzt auf den Boden, es riecht nach Fisch.

Meine Mutter schlägt die Hände vors Gesicht. »Was ist mit deiner Hand?«, stammelt sie entsetzt. »Mein Kind! Roma, es tut mir so leid …«

Sie versucht meine Hand hoch zu halten, doch sie klappt wieder herunter. Es tut weh. Die Menschen im Raum reden laut durcheinander. Sie umringen mich. Jeder will meine Hand sehen, nimmt meinen Arm, begrapscht und betatscht mich.

Da kommt mein Vater und rettet mich. Er hebt mich wortlos hoch und trägt mich durch das dunkle, stinkende Treppenhaus hinaus auf die Straße. Ich lehne den Kopf an seine Schulter. Ich bin erschöpft, und es tut so weh.

Der alte Doktor macht mir einen weißen, harten Verband um die gebrochene Hand. Jetzt sind die Schmerzen besser. Ich bin stolz auf meinen Verband.

Auf dem Rückweg sehe ich, wie die Männer mit den schwarzen Stiefeln einem alten Mann den Bart abschneiden. Sie brüllen und lärmen und lachen dabei. »Schau nicht hin«, flüstert mein Vater, hält mich fest und geht ein bisschen schneller. Aber ich muss mich einfach umschauen. Der alte Mann kriecht auf dem Boden, und sie treten ihn mit ihren schwarzen Stiefeln tot.

 

Großmutter hat mir erklärt, dass die Eltern einen goldenen Ring verkauft haben, um den Lebertran für mich zu bekommen, und dass sie es nur gut mit mir meinen. Ich kann das nicht verstehen. Aber ich bin nicht mehr böse auf meine Mutter. Ich erzähle allen Leuten voller Stolz, dass sie mir die Hand gebrochen hat, und zeige ihnen den Verband.

Das mag meine Mutter nicht. Ist sie noch böse mit mir? Sie zwingt mich nicht mehr, den gelben Schleim zu schlucken. Aber sie zwingt mich, andere Sachen zu essen. Sie sagt: »Man muss essen, um zu leben!« und versteht nicht, dass ich es nicht kann. Ständig versucht sie mich zu füttern. Dauernd stopft sie mir irgendwas in den Mund, und ich spucke es regelmäßig wieder aus. Mein Würgen und meine Übelkeit treiben sie zur Verzweiflung. Wenn ich friere – und ich friere immer –, will sie, dass ich esse. Es ist ein ständiger Kampf. »Siehst du, du frierst, weil du so dünn bist und nichts isst. Iss endlich etwas, dann wird dir warm.« Das ist aber nicht wahr. Ich friere mit oder ohne Essen.

Meine Mutter muss aus dem Haus gehen, wenn es noch dunkel ist, und wenn sie spät abends nach Hause kommt, ist sie sehr müde und ganz weiß im Gesicht. Einmal habe ich die Großmutter gefragt, was sie den ganzen Tag macht. »Straßen kehren und Toiletten putzen«, hat diese knapp gesagt. Oft ist meine Mutter so erschöpft, dass sie am Morgen kaum noch aufstehen kann. Und sie friert, wie ich. Obwohl sie isst.

Auch mein Vater ist nie da. Er arbeitet bei einem Bautrupp, sagt meine Großmutter. Dann schweigt sie und antwortet nicht mehr auf meine Fragen. Sie näht einfach weiter. Das Rattern der Nähmaschine beruhigt mich immer.

Eines Tages bringt ein Mann meine Mutter schon am Mittag nach Hause. Sie ist bei der Arbeit zusammengebrochen und hat hohes Fieber, sagt der Arzt. Ich zeige ihm, wie gut meine Hand verheilt ist, aber er hat es eilig. »Haben Sie denn keine Medizin für sie?«, ruft meine Großmutter ihm hinterher. »Ich habe nichts mehr«, meint er bitter. »Halten Sie sie warm, und geben Sie ihr viel zu trinken.«

Ich freue mich, dass meine Mutter Fieber hat und warm gehalten werden muss, denn ich darf mich zu ihr ins Bett legen und an ihrem heißen Körper wärmen. Ich genieße die Glut des Fiebers, es ist so heiß wie das Feuer im Herd, und ich habe es ganz für mich allein.

 

Ein Tag ist anders als die anderen, ein besonderer Tag. Ich habe Geburtstag. Jetzt bin ich drei Jahre alt, und ich bekomme Besuch von den Großeltern und Irene. Ich kenne die Großeltern nicht. Nur einmal habe ich den Großvater gesehen, von dem meine Mutter mir manchmal erzählt, ihren eigenen Vater. Da war ich noch ganz klein. Es war in seiner Bäckerei, man legte mich in einen Brotkorb, und über mir sah ich sein großes, rotes Gesicht mit dem weißen, gezwirbelten Schnurrbart. Er lachte und duftete nach frischem Brot. In der Hand hielt er eine goldene Kette mit einer glänzenden, runden, tickenden Uhr, die ließ er vor meiner Nase baumeln, und ich folgte ihr mit den Augen. Das ist meine früheste Erinnerung.

Im Ghetto: Großmutter Anna (li.), Onkel Szymon mit seiner Frau (3./4. v. li.), Mutter Teofila (5. v. li.) – Romas Familie verbirgt die Armbinden mit dem Judenstern für diese Aufnahme (um 1941).

Jetzt sehe ich ihn wieder, hier im Ghetto. Er ist anders als die anderen, ein feiner Mann, das merke ich sofort, denn er lässt sich von all den Menschen um uns herum nicht stören. Sie sind wie Luft für ihn. Er trägt einen dunklen Mantel mit Pelzkragen, einen steifen Hut und in der Westentasche seine goldene Uhr. Er setzt sich in unserer Ecke auf das Bett meiner Eltern und schaut mich lange an. Dann seufzt er.

Sicher hat er gesehen, dass ich dunkle Augen habe wie mein Vater. Und nicht wie Irene, die nun ins Zimmer kommt. Wie schön sie ist! Ihre blauen Augen strahlen hell, und ihre blonden Haare sind wie Sonnenstrahlen. Darüber trägt sie eine blaue Mütze.

Die Großmutter Anna sieht streng und ernst aus. Sie hat ein hochgeschlossenes Kleid und eine weiße Bluse an, unter dem Kinn trägt sie eine goldene Brosche mit einem Gesicht darauf. An ihren Ohren baumeln glänzende kleine Kugeln. Ihre grauen Haare hat sie in einem Knoten hoch gesteckt, die Hände sind gefaltet. Sie lächelt mich an, aber ich weiche ein Stückchen zurück. Ich will zu meiner richtigen Großmutter.

Erleichtert sehe ich, dass sie nun auch ins Zimmer kommt, begleitet von meinen Eltern. Alle sind da. Sie heben mich hoch und zeigen mich herum. Der Großvater duftet immer noch nach Brot und nach Tabak. Irene nimmt mich auf den Arm, und ich berühre ihre goldenen Haare. Großmutter Anna zieht ein Paket aus der Tasche. Ich darf es selber auswickeln. Ein wunderschönes, weiches Strickkleid ist darin. Es ist weiß und hat einen runden Kragen, der mit kleinen blauen Blumen bestickt ist. Meine Mutter zieht es mir an. Ich bin sehr stolz und sehr schön in meinem neuen Kleid.

Sie haben mich alle so lieb, denke ich. Oder doch nicht? Sie schauen mich alle so traurig an. Sie runzeln die Stirn und tuscheln leise miteinander. So leise. Ich verstehe nur Wortfetzen.

»Wir müssen … morgen früh um sechs …«

»Aussiedlung …«

»…nur zwei Koffer … Aussiedlung … warme Kleidung …«

»Zieht euch warm an!«, sagt meine Mutter. Sie umarmt Irene. »Geh nicht«, bettelt sie, »du darfst nicht gehen, Irene! Du siehst doch so gut aus, so arisch!«

»Nein«, sagt Irene. Ihr Gesicht ist aus Stein. »Ich muss mit Mama und Papa gehen.«

»Lasst sie hier! Sie ist erst sechzehn Jahre alt! Sie ist blond! Sie muss hier bleiben!«, fleht meine Mutter die Großmutter Anna an. Sie hat auf einmal Tränen in den Augen, packt Irene am Ärmel. Wird sie ihr die Hand brechen?

Die Großmutter wendet sich ab und steht auf.

»Wir müssen gehen«, sagt sie steif. »Wir schicken euch Nachricht, sobald wir angekommen sind. Auf dem Lande.«

Großvater setzt seinen steifen Hut auf. Er hustet. Seine Augen glitzern. Er zwinkert mir zu.

Die Großeltern und Irene bleiben nur noch kurz. Nicht lange genug, um sich kennen zu lernen. Schon stehen sie in der Tür. Ich sehe noch Großmutter Annas Ohrringe blitzen, Irenes blaue Mütze.

»Sie ist doch erst sechzehn!«, ruft meine Mutter ihnen hinterher.

Dann treten sie hinaus, in die Dunkelheit. Hinaus aus meinem Leben.

Ich sehe sie nie wieder.

 

»Ich will auch blond sein, wie Irene«, sage ich zu meiner Mutter. Sie nickt. Schon wieder hat sie Tränen in den Augen. Ich sage lieber nichts mehr. Es ist Abend, und in der Küche stehen sie um den Tisch und singen. »Kaddisch« nennt man das, es ist ein Gebet für die Toten. Ich verstehe die Worte nicht, es ist eine fremde Sprache, die sie alle sprechen, aber ich fühle die unendliche Trauer, sehe die glasigen, unbeweglichen Augen der Menschen. Die Trauer und der Schmerz in dem Gesang erdrücken mich fast.

Irgendwann bin ich müde und nicke ein.

Auf einmal werde ich geweckt. Man hebt mich hoch, trägt mich in die Küche. Ich spüre, sie haben etwas mit mir vor, suche mit den Augen meine Großmutter. Aber sie ist nicht da.

Auf dem Tisch steht eine Schüssel. Sie gießen eine übel riechende Flüssigkeit aus einer grünen Flasche hinein. Und schon werde ich gepackt. Ich soll meinen Kopf in die Schüssel tauchen. Ich wehre mich, jammere und strample. Aber Widerstand ist zwecklos. Es sind so viele fremde Hände um mich, Hände, die mich zwingen, Dinge zu tun, die ich nicht tun will. Ich muss die Augen fest zupressen, ein Handtuch davor halten und den Kopf in die widerliche Flüssigkeit tauchen. Es brennt in den Augen. Dann gießen sie warmes Wasser über meine Haare, trocknen sie ab. Es brennt immer noch, in den Augen, auf der Haut.

Ich überlege, ob ich weinen soll, aber es ist wohl zu spät. Und weinen darf ich sowieso nicht, es ist immer zu laut hier in der überfüllten Wohnung.

Später drückt mir meine Mutter einen Spiegel in die Hand: »Schau, wie schön du bist«, sagt sie. »Jetzt siehst du aus wie Irene.« Und dann weint sie wieder.

Ich schaue in den Spiegel. Ich bin blond.

Aber meine Augen sind noch immer nicht blau.

 

Die Juden müssen ihre Pelzmäntel abgeben, dröhnt es aus dem Lautsprecher. Großmutter hält mich an der Hand. Wir stehen in einer langen Menschenschlange auf der Straße und warten. Die Stiefelmänner halten Wache.

Den Pelzmantel meiner Mutter, den dicken, braunen, weichen, der so warm und kuschelig ist, hat meine Großmutter unter dem Arm. Ich hoffe, dass ich meinen schönen, roten Mantel behalten darf. Auch wenn er nicht so warm ist wie Mamas Pelzmantel.

Es ist eisig draußen, und es schneit ununterbrochen. Ich friere. Auf der Straße liegt ein Berg von Pelzmänteln, die Schneeflocken fallen darauf. Sie tanzen in der Luft und bedecken die Mäntel mit einer dünnen, weißen Schicht.

Ich darf meinen Mantel behalten.

Es ist fast dunkel, als wir nach Hause kommen, und ich zittere vor Kälte.

»Sie hat wieder Fieber«, murmelt meine Großmutter.

Meine Mutter nimmt mich auf den Arm. Sie hat ganz rote Augen.

 

Wir brauchen neue Kennkarten, unsere sind nicht mehr gut.

»Es ist zwecklos«, flüstert mein Vater. »Eine arische Kennkarte ist teurer als Gold.«

Immer dieselben Worte: KENNKARTE. ARISCH. Das ist Deutsch, hat meine Mutter mir erklärt. Die Bedeutung der Worte hat sie mir nicht erklärt, aber ich weiß, dass man diese beiden Dinge braucht, um zu überleben. Und dass wir sie nicht haben. Meine Mutter kann Deutsch verstehen. Ich hasse Deutsch. Man muss es brüllen, und es gibt nur ganz wenige Worte:

HALT!

LOS!

SCHNELL!

VORWÄRTS!

KOMMALHER!

AUFSTEHN!

AUFMACHEEEN!

Sie heißen alle das Gleiche: Angst.

Ich schaue aus dem Fenster. Auf der Straße stehen Möbel. Sie glänzen vor Nässe. Es regnet seit Tagen. Großmutter sagt, es ist Frühling.

 

In unserem Haus wohnen jetzt noch mehr Leute. Vier statt drei Personen pro Fenster, hat mein Vater zu meiner Mutter gesagt. Warum? Es schaut doch sowieso niemand aus dem Fenster. Auch ich selbst nicht mehr. Das ist nämlich jetzt verboten, bei Todesstrafe. Weil wir an den arischen Wohnbezirk angrenzen, hat meine Mutter mir eingeschärft: Wer ein Fenster öffnet oder hinausschaut, wird von den Deutschen erschossen.

Wir haben zwei Fenster in dem dunklen Zimmer, in dem wir schlafen. Mein Gitterbett ist verschwunden, ich teile jetzt ein Bett mit meinen Eltern. Das ist auch wärmer, obwohl ich in letzter Zeit immer öfter das Gefühl habe, keine Luft mehr zu bekommen, zu ersticken. Es riecht süßlich. Die Luft ist abgestanden und schwer.

Auch die Nähmaschine ist nicht mehr da. An der Stelle unter dem Fenster, wo sie stand, wohnen die neuen Leute, sie schlafen auf dem Boden. Ich vermisse das beruhigende Rattern der Nähmaschine. Großmutter näht jetzt mit der Hand. Ihre knochigen Finger sind schnell und geschickt. Sie näht den Leuten Kleider und stopft ihre Sachen. Dafür bekommen wir ein bisschen Brot oder Tee oder eine Hand voll Mehl.

Wir sitzen in der dunklen Küche und warten. Wie Kaninchen in einer Höhle. Meine Großmutter hat mir einmal von Kaninchen erzählt. Es sind kleine, weiche Tiere mit langen Ohren, die sehr schnell laufen können, wenn sie gejagt werden. Sie werden meistens gejagt. Dann rennen sie schnell in ihre Höhlen unter der Erde und sind in Sicherheit.

Ich würde gerne einmal ein Kaninchen sehen.

 

Immer wieder höre ich jetzt das neue, deutsche Wort »AUSSIEDLUNG«. Ich weiß nicht, was es bedeutet, und Großmutter will es mir nicht erklären. Alle reden ununterbrochen davon. Ich spüre die Angst der Leute, wenn sie darüber sprechen, es muss etwas Schreckliches sein, dieses Wort.

Meinen Vater sehe ich nur noch selten, und meine Mutter ist grau im Gesicht geworden. Wenn sie da ist, stopft sie mir etwas in den Mund. Für etwas anderes ist keine Zeit.

Zum Glück habe ich meine Großmutter.

 

Nachts kommen sie und holen uns.

Jedes Mal, wenn ich die Stiefel auf der Treppe höre, das raue Hundegebell, die brüllenden Männer, denke ich das. Dann mache ich mich ganz schnell unsichtbar. Werden sie mich finden? Mein Herz klopft in der Dunkelheit. Es ist viel zu laut. Sie werden es hören.

Aber sie finden mich nicht. Diesmal nicht. Sie hämmern an die Tür. »KENNKARTEN!«, schreien sie. Die Hunde hecheln laut. Den dicken Mann mit dem Bart, der nachts immer so schnarcht, nehmen sie mit und auch die Frau, die mir den Kopf in die Schüssel getunkt hat. Und die Zwillinge aus dem obersten Stock, die ich manchmal im Treppenhaus gesehen habe. Obwohl ich mich wie ein Kaninchen unter der Decke verkrochen habe und den Atem anhalte, höre ich alles ganz genau. Das Schluchzen und Flehen der Frau. Und den jammernden Protest des dicken Mannes, das schnelle Schlurfen seiner Füße, während er hastig seinen Koffer packt. Die Zwillinge weinen leise.

Dann sind sie weg. Es ist vorbei, denke ich erleichtert, sie haben mich nicht gefunden. Ich will mich an meine Mutter kuscheln, aber sie ist hart und steif vor Angst. Ist sie tot? Ich zupfe an ihrem Ärmel. »Schlaf jetzt, Roma«, flüstert sie. Es ist so ein hohles Flüstern, wie aus einem Tunnel oder einem tiefen Brunnen. Ich wage nicht, etwas zu sagen, mich zu regen, zu atmen. Ich muss schlafen, denke ich. Aber dann höre ich sie wieder. Es ist nicht vorbei. Im nächsten Haus suchen sie weiter, und im übernächsten, und im überübernächsten. Menschen schreien, Hunde bellen, Männer brüllen. So geht es die ganze Nacht.

Im Morgengrauen vernehme ich dann im Halbschlaf das Getrappel der Füße draußen auf der Straße, es mischt sich mit dem Gebrüll der Deutschen.

LOS, LOS! RAUS, RAUS! WEITER! SCHNELL, SCHNELL!

Wohin gehen sie alle? Es sind so viele Füße, große und kleine.

Langsam entfernt sich das Fußgetrappel, das Hundegebell und das Gebrüll werden leiser, sind jetzt weit weg.

Vielleicht kommen sie wieder und holen mich. Es ist nicht vorbei.

Es ist erst der Anfang.

 

Ich stehe mit den anderen auf dem großen Platz und warte.

Ich weiß nicht, ob es heiß ist oder kalt. Es gibt keinen Unterschied mehr. Ich habe meinen roten Mantel an und meinen kleinen Koffer dabei. In dem Koffer ist das schöne Strickkleid, das ich zum Geburtstag bekommen habe. Es ist mir schon viel zu klein. Dann sind noch zwei Paar Strümpfe in dem Koffer. Den Rest habe ich vergessen. Wir hatten keine Zeit zum Packen.

Alle tragen schwere Koffer und Bündel, und alle haben Mäntel an und Mützen und Hüte auf dem Kopf. Es sieht so aus, als ob wir alle eine Reise machen. Aber wohin werden wir fahren?

Niemand wagt es, die Männer mit den Stiefeln zu fragen. Sie kontrollieren die Papiere, sortieren die Menschen aus. Keiner von uns weiß, worauf wir warten und was mit uns geschehen wird. Es kann eine Sekunde dauern oder Stunden. Eine Ewigkeit.

Manchmal versucht einer wegzulaufen. Wer weglaufen will, ist gleich darauf tot. Sie holen Gruppen von Frauen und Kindern aus der Menge. Meine Tante Dziunia ist auch dabei. Plötzlich läuft sie quer über den Platz, will fliehen. Schüsse peitschen durch die Luft, sie fällt um. Direkt neben mir. Sie hat einen Schuh verloren. Ein paar Leute schleppen sie weg, legen sie an den Straßenrand zu den anderen Toten.

Ich halte die Hand meiner Großmutter umklammert und sie die meine. Das ist das Einzige, was ich noch fühlen kann. Wir sind ganz still und rühren uns nicht. Wenn einer schreit, weint oder irgendein Geräusch macht, wird er auch erschossen.

Ich will nicht erschossen werden.

Lastwagen fahren jetzt auf den Platz. Aufregung ergreift uns alle, wie ein plötzlicher Windstoß. Viele Menschen reißen sich los, rennen zu den Lastwagen, andere werden mit Stöcken dorthin getrieben.

Meine Großmutter hält mich ganz fest.

Die Menschen werden auf große Lastwagen geladen. Die Männer mit den Stiefeln treiben sie mit Stöcken und Schlägen an, die Hunde schnappen nach ihren Fersen. Einige, die schon oben sind, verteidigen ihren Platz mit Ellbogen und Fäusten. Sie treten nach denen, die noch hinaufklettern wollen. Manche schaffen es nicht und fallen hin, viele lassen einfach alles fallen, andere werden von ihrem schweren Gepäck begraben. Sie werden sofort erschossen. Die Toten liegen neben mir auf dem Boden, und ich sehe, wie rotes Blut aus ihrem Körper rinnt und den weißen Schnee verfärbt. Oder ist es gar kein Schnee, nur Staub?

Es gibt keinen Unterschied mehr. Das Blut rinnt in Strömen über die Pflastersteine. Überall liegt verstreutes Gepäck, Koffer, Taschen, in Samt gebundene Bücher. Die Schreie und das Gebrüll mischen sich zu einem einzigen, langen Schrei, einem einzigen Brüllen. Ich sehe in die toten Augen der Menschen, die neben mir liegen. Sie sind wie aus Glas, weit aufgerissen, erloschen.

Und doch sehen sie mich so flehend an.

Ich mache die Augen zu, damit ich die Augen der Toten nicht sehen muss. Ich versuche wieder, mich unsichtbar zu machen, und es gelingt.

Jetzt bin ich ganz weit weg, und nichts kann mich mehr berühren.

 

»Alle müssen auf die Straße!«, schreien die Leute. Sie greifen sich irgendetwas, laufen die Treppe hinunter.

Ich will hinterherlaufen, doch Großmutter bleibt, wo sie ist. Sie sitzt ganz still auf ihrem Stuhl und näht. Ich höre die Stiefel im Flur, das Hundegebell, sie kommen hoch in die Wohnung. Ich erstarre vor Angst. Meine Großmutter steht auf, packt mich und schiebt mich unter den Tisch. Dann stellt sie sich schützend davor.

Alles geht ganz schnell. Die Tür wird aufgerissen. Ich sehe die schwarzen, glänzenden Stiefel, die kleinen Füße meiner Großmutter in den grauen Pantoffeln, die sich mit aller Kraft in den Boden stemmen und fortgerissen werden, als wären sie zwei dürre, kleine Äste im Sturm. Ich höre, wie Großmutter sich wehrt und verzweifelt um Hilfe schreit. Noch nie habe ich sie schreien hören. Ihre Schreie sind das Schlimmste, was ich je gehört habe und je wieder hören werde. Sie lassen mein Herz in Stücke springen.

Ich will unter dem Tisch hervorkommen und sie festhalten – doch da ist diese schwarze, offene Hundeschnauze mit den spitzen Zähnen, direkt vor mir, die mir den Weg zu meiner Großmutter versperrt. Speichelfäden tropfen aus dem Maul des Hundes auf den schmutzigen Boden. Und so bleibe ich unter dem Tisch sitzen wie ein Kaninchen und halte mir die Ohren zu, damit ich ihre Schreie nicht hören muss, als die Männer sie forttragen und die Treppe hinunterstoßen.

Da sitze ich auch noch, als, Stunden später, mein Vater nach Hause kommt. Neben mir steht der leere Stuhl mit dem bunten Kissen, auf dem die Großmutter immer saß. Mein Vater sucht mich mit den Augen, sieht mich unter dem Tisch, sieht den leeren Stuhl. Ich weiß, dass er alles weiß. Er setzt sich neben mir auf den Boden, hält sich den Kopf mit beiden Händen, wiegt sich stumm hin und her.

Ich will ihm alles erzählen, aber ich kann nicht sprechen. Ich habe keine Stimme mehr. Ich will mein Versteck unter dem Tisch nie wieder verlassen. Ich werde für immer dort bleiben.

Später sitzt mein Vater auf der Bettkante, wiegt sich immer noch stumm hin und her. Er sieht aus wie die Kinder, die ich am Straßenrand gesehen habe und die sich auch so wiegen. Meine Mutter kommt nach Hause, lässt bei seinem Anblick die Tasche fallen, setzt sich zu ihm. Sie umarmen sich wortlos.

Ich möchte mich auch dazusetzen, umarmt werden, aber ich kann nicht aus meinem Versteck.

Hinter meinem Rücken, dort, wo die Nähmaschine stand, schluchzt jemand.

Die ganze Nacht verbringe ich unter dem Tisch. Ich schließe die Augen, aber meine Ohren hören alles.

Die Männer mit den schwarzen Stiefeln sind unterwegs und holen sich noch mehr Menschen.

In der Morgendämmerung fahren schwere Autos durch die Straßen.

 

Sabine, die jüngere Schwester meiner Mutter, schaut kurz bei uns herein. »Rominka!«, sagt sie zu mir, »Rominka! Du bist ein hübsches Mädchen geworden!«

Ich finde, Sabine ist ein hübsches Mädchen. Sie lacht so nett, und sie schaut lustig aus, nicht so traurig wie meine Mutter. Um ihre dunklen Haare hat sie ein buntes Tuch geschlungen.

»Dass du es immer schaffst, so gut auszuschauen!«, sagt meine Mutter bewundernd.

Sabine verdient Geld. Sie handelt mit irgendetwas.

»Hast du einen richtigen Laden?«, piepse ich neugierig.

Sie lacht und klopft auf den kleinen, karierten Koffer, den sie bei sich trägt. »Das ist mein Laden!«

Ich würde nur zu gerne wissen, was in dem Koffer drin ist, aber sie macht ihn nicht auf.

»Sei bloß vorsichtig!«, warnt meine Mutter sie besorgt.

Aber Sabine macht sich keine Sorgen um sich. Sie macht sich Sorgen um ihren Mann, den Ingenieur Krautwirth, der als einer der ersten schon vor Monaten ins Lager gehen musste.

»Was ist mit Krautwirth? Was wird mit Krautwirth?« Sie nennt ihn nur mit diesem Namen.

Teofila (li.) und ihre Schwester Sabine (um 1933).

»Ich kann ohne Krautwirth nicht leben«, flüstert sie und lehnt den Kopf an Mamas Schultern.

Aber dann lächelt sie schon wieder, umarmt, drückt, küsst mich, wirbelt mich durch die Luft.

»Rominka!«, ruft sie, »meine kleine, süße Rominka! Warte nur, wenn du so weitermachst, werden die Männer dir zu Füßen liegen!«

Während ich überlege, was Sabine damit meint und ob sie wohl von den Toten spricht, die im Schnee vor meinen Füßen gelegen haben, sagt meine Mutter leise und traurig: »Sie ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten.«

Dann bringt sie Sabine zur Tür.

»Pass auf!«, sagt meine Mutter und küsst Sabine zum Abschied.

 

Die Angst wird jeden Tag schlimmer. Und das Geschrei. Kein Mensch redet mehr normal. Entweder sie schreien, oder sie weinen, oder sie flüstern. Wenn wir auf die Straße müssen, huschen wir nur. Wie graue, dünne Tiere. Wir sitzen in unserem Versteck und sehen zu, was sie mit den anderen Tieren machen. Dauernd wird jemand geholt und umgebracht. Alle sprechen darüber: Wer geht als Nächster? Jeder von uns kann der Nächste sein.

Alle huschen und tuscheln. Es gibt nur kurze Nachrichten, Gerüchte, Gegenstände, Zettel, die einem in die Hand gedrückt werden. Meine Mutter geht nicht mehr zur Arbeit, sie versteckt sich zu Hause und passt auf mich auf.

Eines Tages liegt der karierte Koffer von Sabine auf der Straße, leer. Und einmal kommt jemand und gibt meinem Vater einen goldenen Ring. Oft kommt jemand in die Küche und bringt einen Sack Kartoffeln oder ein, zwei Köpfe Kohl, und mein Vater gibt ihm einen Ring dafür. Aber diesmal ist es mein Vater, der den Ring bekommt, und er gibt dem Mann nichts dafür. Er umarmt den Mann, und sie setzen sich aufs Bett. Ich komme unter dem Tisch hervor. Mein Vater ist kalkweiß im Gesicht und sieht aus wie ein alter Mann. Der Ring liegt auf dem Tisch. Er hat einen roten Stein, in den zwei ineinander verschlungene Zeichen geritzt sind. Ich will ihn meinem Vater an die Hand stecken. Er lässt es müde zu, betrachtet seine Hand mit dem Ring. »Er ist schön«, sage ich. »Es ist Bernhards Ring«, sagt mein Vater. Seine Stimme klingt, als wäre sie weit, weit weg. »Es ist der Siegelring meines Bruders.«

 

»Die Kinder werden abgeholt … man darf sie nicht mitnehmen«, flüstert mein Vater. »Wir müssen Roma irgendwie rausbringen. Schnell, bevor es zu spät ist.«

Ich sitze unter dem Tisch, wie immer, und wünsche mir wieder einmal, ich hätte keine Ohren. Egal was ich höre, es macht mir Angst. So muss es den Kaninchen gehen mit ihren langen Ohren, denke ich. Sie hören alles.

Die Erwachsenen reden immer. Ihre Gespräche drehen sich um Papiere, Ausweise, Kennkarte, Aussiedeln, Abtransportieren, Verstecken. Wer geht, du zuerst, ich zuerst. Oder wollen wir zusammen sterben.

Ich wiederhole leise den Satz, wieder und wieder. Wir wollen zusammen sterben. Sterben, sterben, sterben …

Sie überlegen, was sie mit den Kindern machen sollen. Kann man sie überhaupt behalten?

»Ganze Familien bringen sich um, sie wollen zusammen sterben«, sagt meine Mutter heiser. »Das Gift ist so gut wie aus, Zyankali ist kaum noch zu bekommen.«

Zyankali, sage ich leise zu mir selbst, das ist ein schönes Wort.

»Roman ist schon draußen«, sagt mein Vater leise, aber bestimmt. »Da ist doch das Loch in der Mauer. Und sie ist ja jetzt blond. Mit einem Schlafmittel müsste es gehen.«

Lauf weg! ruft meine innere Stimme. Sie haben wieder etwas mit dir vor! Rette dich! Versteck dich! Schnell!

Aber wohin soll ich denn laufen? Ich sitze ja schon im Versteck. Dem einzigen, das ich kenne. Ich weiß, dass ich hier nicht sicher bin. Doch ich habe keine Wahl.

Sicherheit gibt es nicht.

 

Sie erklären mir alles. »Jemand wird dich mit hinausnehmen aus dem Ghetto«, sagen sie. »Du wirst bei guten Menschen sein und überleben.« Sie geben mir etwas zu trinken und packen mich in einen Koffer. Ich werde von Panik erfasst. Ich kämpfe um mein Leben, ich kratze, trete, schlage, beiße. Nur schreien kann ich nicht. Mein Mund ist trocken, wie zugeklebt, und meine Augenlider sind schwer wie Blei. Ich weiß, dass ich in dem Koffer ersticken werde, ich bekomme doch ohnehin schon längst keine Luft mehr, die Angst erstickt mich …

»Sie wird ersticken!«, ruft meine Mutter verzweifelt. Ich höre ihre Stimme ganz dumpf durch den schweren Kofferdeckel. Um mich herum ist es stockdunkel, schwarz, eng. Ich kann mich nicht bewegen. Ich kann nicht atmen. Ich sitze in der Falle, und ich werde ersticken.

Die Zeit bleibt stehen. Mein Herz bleibt stehen. Eine Ewigkeit lang.

Dann wird der Kofferdeckel aufgerissen. Licht überflutet mich, ich muss blinzeln, hole tief Atem. Wo bin ich? Bin ich schon tot?

Meine Mutter reißt mich an sich, drückt mich, bedeckt mein Gesicht mit Küssen. Sie ist ganz nass vor Tränen.

»Ich kann das nicht!«, ruft sie ein über das andere Mal, »David, ich kann das einfach nicht!«

Mein Vater seufzt, tief und schwer. Er stützt den Kopf in die Hände und sagt nichts. Er denkt nach.

 

Wir stehen in der Menschenschlange und warten, meine Mutter und ich. Es ist sehr, sehr heiß, die Sonne brennt auf den roten Mantel. Meine Beine sind so müde, dass ich mich kaum aufrecht halten kann. Und ich habe schrecklichen Durst, meine Kehle ist ausgedörrt. Aber ich weiß, dass ich stehen bleiben muss. Die Männer mit den Stiefeln haben ihre Gewehre auf uns gerichtet und beobachten uns. Einer von ihnen raucht eine Zigarette. Er ist so hoch wie ein Baum, und unter seiner Mütze sieht man seinen Haaransatz. Seine Haare sind strahlend blond, seine Augen himmelblau. Er lächelt nicht. Warum sollte er auch? Weil ein hässliches, kleines Mädchen mit schwarzen Augen vor ihm steht? Ein Judenkind? Ich würde ihn gerne weiter anschauen, aber ich habe Angst, ihm ins Gesicht zu sehen. Es ist verboten.

»WEITER! LOS!« Ich werde von der Menge nach vorne geschoben, sehe den Mann mit den Stiefeln nicht mehr. »KENNKARTE!« Sie kontrollieren die Papiere. Direkt vor uns wird eine junge Frau mit einem Säugling auf dem Arm von zwei Stiefelmännern aus der Reihe gezerrt. Sie heult und schreit, aber das macht es nur noch schlimmer. Der blonde Mann entreißt ihr das Kind und wirft es auf den Boden. Sein Kopf prallt mit einem dumpfen Knall auf die harten Pflastersteine.

Meine Mutter hält meine Hand noch ein bisschen fester. »Schau nicht hin!«, flüstert sie, »hab keine Angst …«

Das sagt sie immer, wenn sie Angst hat.

 

Wir haben ein blaues Stück Papier bekommen, und meine Mutter ist für einen Augenblick richtig glücklich. Sie zeigt es abends meinem Vater. »Wir haben einen Blauschein, wir sind arbeitsfähig!«, sagt sie immer wieder, »vielleicht wird doch noch alles gut!«

Dann stopft sie mir wieder etwas in den Mund.

Mein Vater schweigt. Er überlegt.

 

Auf dem großen Platz stehen und sitzen wieder viele, viele Menschen mit ihrem Gepäck. Die Lastwagen sind auch wieder da. Und die Stiefelmänner mit ihren großen Autos. Sie brüllen ihre Befehle. Sie treiben alte und kranke Menschen zusammen. Viele von ihnen können nicht richtig laufen. Ich sehe, wie ein alter Mann mit Krücken in dem Gedränge zu Boden fällt. Sie schlagen ihm mit dem Gewehr auf den Kopf und werfen ihn zur Seite wie einen Sack Müll.

Es ist immer noch unerträglich heiß. Meine Kehle brennt wie Feuer. Meine Mutter hat das blaue Stück Papier in der Tasche. Sie zittert.

Wir setzen uns auf unsere Koffer. Wir warten.

Schreie, Schüsse, Schläge. Gebrüll. Ich möchte mir die Ohren zuhalten, aber das ist verboten.

Wir warten. Die Stunden vergehen.

Auf einmal steht neben mir ein Junge. So groß wie ich, vielleicht ein bisschen größer. Er hat einen viel zu weiten Mantel an und eine Mütze, die ihm über die Augen rutscht.

Er lächelt mich an.

Ich halte den Atem an vor Schreck. Lächeln ist verboten!

Ich lächele kurz zurück.

Habe ich den Jungen nicht schon einmal gesehen? Er kommt mir so bekannt vor.

Ja, ich kenne ihn schon ganz lange. Mein ganzes Leben lang. Er ist mein Freund. Ich glaube, er heißt Stefuś.

Wir müssen ganz still sein. Sonst …

Er hat einen kleinen Stein in der Hand. Wir dürfen uns nicht bewegen. Aber wir spielen, eine Art Ballspiel. Er schiebt den Stein in meine Hand, ich ihn zurück in seine. Hin und her. Her und hin. Und wieder und wieder. Der Stein wird feucht und warm. Er ist schön, glatt, er gehört uns.

Ich habe einen Freund.

Plötzlich ist Stefuś weg. Sieht seine Mutter, die von einem Mann in Uniform auf den Lastwagen getrieben wird. Er rennt nach vorne, auf sie zu. Etwas prasselt zu unseren Füßen. Stefuś fällt zu Boden.

Ist er gestolpert?

Warum steht er nicht auf?

Ich sehe seine Füße, seine viel zu großen Schuhe. Die Schnürsenkel sind offen. Sicher ist er deswegen gestolpert.

Aus seiner geöffneten Hand rutscht der Stein, rollt über das Pflaster, bleibt ganz still liegen.

So still wie Stefuś. Warum steht er nicht auf?

Ich lese die Antwort in dem kleinen, roten Rinnsal, das unter seinem Mantel hervorquillt.

Sie schleppen ihn weg.

»Mama …«

»Schau nicht hin, Kind«, flüstert sie, »schau nicht hin.«

 

»Ich habe die Kennkarten«, flüstert mein Vater stolz, »sie sind echt, gestohlen. Arische Kennkarten. Du heißt jetzt Ligocka, mein Schatz. Und ich habe auch das Versteck. Es ist ein gutes Versteck.«

Sie sitzen wieder am Tisch und reden. Ganz leise und heimlich. Die anderen sollen es nicht hören. Und ich sitze in meinem Versteck unter dem Tisch und höre zu.

»Ligocka …«, murmelt meine Mutter. »Ob das Kind sich das merken kann? L-I-G-O-C-K-A … Wir werden das mit ihr üben müssen … davon kann unser Leben abhängen …«

Ich heiße doch Liebling, denke ich, ich will so nicht heißen, ich heiße doch Liebling …

»Ligocka …«, murmelt meine Mutter wieder. Sie seufzt und putzt sich die Nase.

»Was hast du dafür bezahlt?«, flüstert sie dann. Ich linse verstohlen unter dem Tisch hervor. Meine Mutter schaut sich misstrauisch um. Doch die anderen Leute kümmern sich nicht um sie. Sie haben mit sich selbst genug zu tun. Eine Frau wäscht sich in der Ecke die Haare. Zwei andere streiten sich um etwas. Ein dünner, bärtiger Mann sitzt auf einem Stuhl und starrt vor sich hin.

Mein Vater zuckt die Schultern. »Fast alles, was wir hatten«, sagt er bitter. Er streicht meiner Mutter über das Haar. Sie lehnt sich an seine Schulter und schließt die Augen.

»Ich will nicht Ligocka heißen!«, sage ich laut. »Ich heiße doch Liebling, wie ihr!«

Sie holen mich aus meinem Versteck heraus und reden auf mich ein. Sie üben mit mir den neuen Namen, bis ich müde bin. Ich krieche wieder unter den Tisch.

Sie reden noch lange, aber ich höre sie nicht mehr.

Ich sitze unter dem Tisch und denke an Stefuś.