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ANTHONY WARNER

EIN KOCH
PACKT AUS

ANTHONY WARNER

EIN KOCH
PACKT AUS

Schwachsinnige Ernährungstrends,
wie wir ihnen entkommen und
wieder sorgenfrei essen können

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

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1. Auflage 2018

© 2018 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

© der Originalausgabe 2017 by Anthony Warner

Die englische Originalausgabe erschien 2017 bei Oneworld Publishing Ltd. unter dem Titel The Angry Chef.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Annett Stütze und Britta Vorbach

Redaktion: Claudia Fregiehn

Umschlaggestaltung: Laura Osswald in Anlehnung an das Original

Satz: inpunkt[w]o, Haiger (www.inpunktwo.de)

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN Print: 978-3-7423-0492-6

ISBN E-Book (PDF): 978-3-7453-0011-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi): 978-3-7453-0012-3

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de.

INHALT

VORWORT

TEIL I EINFALLSTOR PSEUDOWISSENSCHAFT

1 DER OSTER-KIEBITZ

Zeit zum Nachdenken

Es gibt keinen Oster-Kiebitz

Der seltsame Kult um glutenfreies Essen

Darf ich vorstellen: Jamie

Das instinktive Gehirn

Wie man Kiebitze jagt

2 DETOX-DIÄTEN

Der Kreislauf des Unsinns

Der Mythos der Giftigkeit des modernen Lebens

»Du bist nichts als ein fauliges Gefäß voller böser Gifte«

Eine frei erfundene Heilmethode

Was ist da los?

Die große Frage

3 BASISCHE ERNÄHRUNG

Das Rätsel des Gesundheitsblogger-Schemas

Warum pinkelt Elle Macpherson auf einen Papierstreifen?

Was also ist basische Ernährung?

Warum die basische Ernährung solch ein Schwachsinn ist

4 REGRESSION ZUR MITTE

Das Problem mit Tommy

Regression zur Mitte

Regression zur Mitte im Sport

Regression zur Mitte und der Aufstieg der Gesundheitsblogger

Aber warum glänzen sie alle so?

Und so verbreitet sich das Ganze

Sind alle Ernährungs- und Gesundheitsratschläge falsch?

TEIL II WENN WISSENSCHAFT SCHIEFGEHT

5 KOKOSÖL

Das unglaubwürdigste Superfood von allen

Die merkwürdige Chemie von Kokosnüssen

Raffiniert, gehärtet oder kalt gepresst?

Mythos 1: Kokosöl kann Krankheiten heilen

Mythos 2: Das Abnehmwunder

Also, wozu ist Kokosöl außerdem nicht in der Lage?

Warum Kokosöl?

6 ZUCKER

Eine klebrige Angelegenheit

Die süße Verschwörung

Der Beweis kippt

Zuckerguss für die Wahrheit?

Der bittere Einsatz von Sprache

Die bitterste Ironie

7 PALEO

Die Paleo-Diät

Gekauft Wie kann ich mich nach Paleo ernähren?

Leidenschaften um Paleo

Das Problem mit Paleo

Warum ist die Paleo-Diät so populär geworden?

Das Low-Carb-Rätsel

8 ANTIOXIDANTIEN

Helden und Opfer

Darf ich vorstellen: Der Wissenschafts-Columbo

Paltrow-Wissenschaft

Der Wissenschafts-Columbo und die Antioxidantien

Was jetzt?

Das Ausmaß unserer Ignoranz

Die Paltrow-Wissenschaft lebt

9 DAS ERINNERNDE SELBST

Der wütende Koch ruiniert mal wieder den ganzen Abend

Die Macht der Überzeugung

Britt Marie Hermes

Vom erinnernden Selbst ausgetrickst?

TEIL III DER URSPRUNG DES AUSBRUCHS

10 DIE EVOLUTION VON MYTHEN

Ideen, die hängen bleiben

Die Evolution von Überzeugungen

Der Kampf

Das betrügerische Vermächtnis des Angry Chefs

11 DIE MACHT DES URALTEN WISSENS

Traditionelle Philosophien zu kulinarischer Gesundheit

Ayurveda

Traditionelle Chinesische Medizin

Warum nutzt überhaupt noch jemand diese Methode?

Macht das alles überhaupt etwas aus?

Was können sie uns lehren?

12 EINE GESCHICHTE DER QUACKSALBEREI

Die Signaturenlehre

Die Quacksalberei in England und der Vegetarismus

Viktorianer, die Experten für Quacksalberei

Der General, der die Scharlatane bekämpfte

Aus der Geschichte lernen

13 DAS GENIE DES WISSENSCHAFTS-COLUMBOS

Den Weg zur Wahrheit erstreiten

Wenn Wissenschaft schiefgeht

Wem können wir also die Schuld zuschieben?

Das Problem mit dem Essen

Zuckerwasser schafft es in die Schlagzeilen

TEIL IV DAS DUNKLE HERZ

14 RELATIVES RISIKO

Angst, Empörung und Risiko

Relatives und absolutes Risiko

Yeah! Speck ist gut

Warum wird das so gemacht?

Die Risiken von Speck

Riskante Aussichten

15 CLEAN EATING

Eine Anleitung, um die unaufhaltsame mehrköpfige Gesundheitshydra zu bekämpfen

Die Quelle des Ausbruchs

Tosca Reno

Die Schlüssel zum Erfolg

Bist du, was du isst?

Das große schmutzige Geheimnis

Der Kult des Obskuren

16 ESSSTÖRUNGEN

Ein verborgenes Übel

Die treibenden Kräfte bei Essstörungen

Diäten und Essstörungen - gibt es eine Verbindung?

Unsere Besessenheit vom Gewicht

Essen als Genuss

17 DIE GAPS-DIÄT

Natasha Campbell-McBride

Seltsame Überzeugungen und gefährliche Einschränkungen

Der Kaninchenbau der GAPS-Diät

Die Wirklichkeit

Behandlungsfehler

18 KREBS

Ein Allheilmittel?

Ein deformiertes Bild unseres früheren Selbst

Die Ursache

Die Versuchung der universellen Heilmethode

Die Gerson-Therapie

Die makrobiotische Ernährung

Die Kelley-Therapie

Moderne Krebs-Mythen

Der Schmerz falscher Hoffnung

Die wahren Kosten der falschen Glaubenssätze

TEIL V DER GEGENSCHLAG

19 FERTIGGERICHTE

Das Problem mit den Regeln

Industriell verarbeitete Nahrungsmittel

Die merkwürdige Allianz

Nutzlose Ratschläge

20 WISSENSCHAFT UND WAHRHEIT

Wenn der Wissenschaft etwas gelingt

Die Wichtigkeit des Scheiterns

Expertenschelte

Die Schönheit unserer Ignoranz

21 DER KAMPF GEGEN DIE PSEUDOWISSENSCHAFT

Der Kampf gegen Pseudowissenschaft - eine Entschuldigung

Das große Problem

Die sich verändernde Welt der Informationen

Das Problem mit der Medizin

Der Fluch des Wissens

Was ist also zu tun?

Wie Wissenschaft unterrichtet werden sollte

NACHWORT

Kurzer Ratgeber des wütenden Kochs zu gutem Essen

NACHTRAG 1

Leitfaden des wütenden Kochs, um Blödsinn in der Welt des Essens aufzudecken

NACHTRAG 2

Der einfache Leitfaden des wütenden Kochs, wem man in der Welt des Essens Glauben schenken sollte

DANKSAGUNG

ÜBER DEN AUTOR

ANMERKUNGEN

Endnoten

Anmerkungen zu den Kapiteln allgemein

»Unsicherheit auszuhalten ist schwierig, aber so verhält es sich auch mit den übrigen Tugenden.«

Bertrand Russell

VORWORT

Hallo liebe Leserin, hallo lieber Leser. Danke, dass Sie dieses Buch ausgesucht haben. Sie sind eindeutig ein sehr vernünftiger Mensch, der sich für Essen interessiert und etwas Neues erfahren will. Das ist gut, denn ich bin ein Koch, habe eine Leidenschaft fürs Kochen und einen Abschluss in Biologie und ich bin fasziniert davon, wie unsere Ernährung unsere Gesundheit beeinflusst.

Vielleicht hoffen Sie, dass ich hier ein streng gehütetes Geheimnis über gesundes Essen lüfte oder das Patentrezept für nachhaltiges Abnehmen liefere. Möglicherweise suchen Sie eine Liste mit zehn elementaren, gesundheitsfördernden Super-Nahrungsmitteln, die Sie zu sich nehmen sollten. Ich wünschte wirklich, ich könnte Ihnen diese Informationen verraten - ein paar simple Regeln und einfache Lösungen. Wäre das nicht nett? Aber leider läuft das Leben so nicht. Wenn es so wäre und ich all die Antworten wüsste, dann würde ich höchstwahrscheinlich gerade in einem goldenen Ferrari zu meiner brandneuen Yacht fahren.

In diesem Buch werden Sie keine Listen mit Regeln finden, die man einfach befolgen muss und schon hat man ein glückliches, gesundes Leben. Ich werde nicht versuchen, normale Nahrungsmittel in Listen einzuteilen, die entweder krebserregend sind oder Krebs heilen können. Ganz im Gegenteil: Falls dieses Buch sein Ziel erreicht, dann werden Sie vermutlich am Ende der Lektüre mit weniger gesichertem Wissen über Essen und Nahrungsmittel dastehen als im Moment. Oder zumindest mit weniger, als Sie glauben.

Als »Angry Chef«, wie ich mich in meinem Blog nenne, ging ich zum ersten Mal 2016 an die Öffentlichkeit, aber seine Wurzeln reichen ein paar Jahre weiter zurück. Damals nahm ich an einer Konferenz der Nahrungsmittel- und Gesundheitsindustrie in London teil und dort gab es eine Podiumsdiskussion zum Thema »Was ist gesunde Ernährung?«. Dort sollte eine damals noch wenig bekannte Gesundheitsbloggerin und Instagram-Berühmtheit auftreten. Ich hatte von ihr und dem »Clean Eating«-Trend, für den sie warb, gehört und war neugierig, was sie zu sagen hatte. Selbst ein altmodischer Technikfeind wie ich konnte nicht übersehen, dass der Aufstieg solcher Online-Stars im Informationszeitalter das Verhalten und die Überzeugungen der Millenials stark beeinflusste. Dass einige dieser neuen Stars sich dem Thema »gesunde Ernährung« verschrieben hatten, fand ich ermutigend.

Aber es dauerte nicht lange, bis ich die unkontrollierten Ratschläge, die diese neuen Stars verbreiteten, mit Sorge zu betrachten begann. Obwohl die fragliche Bloggerin sympathisch, intelligent und in manchen Bereichen auch sehr informiert war, so waren einige der Dinge, die sie sagte, doch ein wenig seltsam. An irgendeinem Punkt behauptete sie, dass alles, was man zu Hause kocht, auf jeden Fall gesünder sei, als das, was in Fabriken hergestellt würde. Ich erwartete Widerspruch im Saal, vor allem, weil dies eine Konferenz der Nahrungsmittelindustrie war. Als ich mich umschaute, schienen die Zuhörer jedoch einvernehmlich zu nicken und vollständig mit ihrer Argumentation einverstanden zu sein. Ich hatte kurz das Gefühl, in einem Science-Fiction-Film der späten 1950er gefangen zu sein - in einer Schreckensvision der Zukunft, in der ich der Einzige in der Menge war, der die falsche Prophetin erkannte.

Ich fuhr zwar leicht irritiert nach Hause, aber noch nicht besonders wütend. Ich wollte mehr über die seltsamen Überzeugungen der »Clean Eating«-Bewegung herausfinden und begann mit etwas Recherche. Je mehr ich las, desto skeptischer wurde ich angesichts der üblen Missverständnisse und dem absoluten Unsinn, der einigen dieser Trends zugrunde liegt.

Also bin ich nun in diesen Kaninchenbau hinabgestiegen und bin seitdem in einer Welt voll befremdlicher Pseudowissenschaft, willkürlicher Zurückweisung moderner Erkenntnisse und gefährlichem Blödsinn gelandet, die nun die Diskussionen um Essen und Gesundheit dominieren. »Clean Eating« begann als Randbewegung, ist inzwischen aber zu einer riesigen und reuelosen Flut von Ernährungsmist geworden. Jetzt hat die Gesundheits- und Wellness-Lobby das Ruder übernommen und drängt die Meinungen von Ernährungswissenschaftlern, Diät-Fachleuten und Gesundheitsämtern an den Rand. Ihre Bücher führen die Beststellerlisten an, ihre Webseiten haben Millionen Klicks und ihre Instagram-Accounts senden endlose Bilder von Kale-Smoothies und Quinoa-Schüsseln an ganze Armeen von Followern, die sie bewundern. Je genauer ich hinschaue, desto stärker werden mir die Augen über diese bizarre und manchmal sogar gefährliche Welt geöffnet: Eine Welt, in der täglich Lügen über Essen und Ernährung verbreitet werden.

In den zwei Jahren nach der Konferenz haben sich meine Faszination für und meine Abscheu gegen das »Clean Eating« beträchtlich weiter entwickelt. In vielerlei Hinsicht war diese spezielle Bloggerin nur die noch relativ harmlose Spitze eines gefährlichen, ständig wachsenden Eisbergs. Während der Trend stetig beliebter wird und neue Stars um ihren Platz in einem ständig dichter werdenden Markt kämpfen, werden die Ernährungstipps schlecht qualifizierter und verantwortungsloser Idioten immer extremer.

Was die einzelnen Stimmen dieser Bewegung alle vereint, ist die große Sicherheit, mit der sie ihre Botschaft verkünden. Wenn sie sagen, dass Zitronenwasser den Körper alkalisch macht, dann kaufen die Leute ihnen diesen Quatsch nur deshalb ab, weil sie selbst so überzeugt von ihrer Botschaft sind. Sehen Sie ihnen in die Augen und Sie werden erkennen, dass sie es selbst wahrhaftig glauben. In diesem Buch werden wir einige ihrer Behauptungen untersuchen und versuchen zu verstehen, was diesen falschen Überzeugungen zugrunde liegt und warum sie so viel Anklang finden.

In dem Maße, wie sich die Wellness-Bewegung ausgebreitet hat, ist sie auch immer einflussreicher geworden. Es kommt mir manchmal so vor, als ob es nur herzlich wenige wertvolle mäßigende Stimmen in dieser verrückt gewordenen Welt gäbe. Was alles noch schlimmer macht, ist, dass der Wahnsinn nicht bei den Gesundheitsbloggern halt macht. Wie wir noch sehen werden, sind auf den Zug aufspringende Promis, Mediziner und sogar eine wachsende Anzahl von Akademikern - vom Licht der Wellness-Stars geblendet, - dafür empfänglich und bereit, unserem unstillbaren Wunsch nach Sicherheit zu folgen.

Ganz im Gegensatz zu den Verkündern der Pseudowissenschaften, gegen die ich wettere, kann ich Ihnen keine Sicherheit anbieten, keine einfachen Antworten und keine simplen Wahrheiten. In der Ernährungswissenschaft hängt Fortschritt, wie in allen wissenschaftlichen Disziplinen, nicht von der Überzeugung der Experten ab, sondern von unserer Fähigkeit, das zu akzeptieren, was wir nicht wissen. Dieses Buch ist eine Untersuchung der »schlechten Wissenschaft« rund um die Ernährung und dazu gehört auch, zu verstehen, dass es Lücken in unserem Wissen gibt. Leider kann die Natur unseres Geistes uns das ganz schön schwer machen.

Das Zitat von Bertrand Russell zu Beginn dieses Buches ist eins meiner Lieblingszitate und es unterstreicht viele meiner Botschaften. Wir müssen im Leben manchmal Unsicherheiten aushalten und auch ohne Beweise handeln. Auch wenn die Ernährungs- und Gesundheitswissenschaft sehr komplex ist, müssen wir jeden Tag Nahrung zu uns nehmen. Wenn wir einen gesunden Umgang mit unserem Essen haben wollen, müssen wir lernen zu akzeptieren, dass wir nicht alles wissen. Ich sage nicht, dass wir nur die Schultern zucken, fette Sandwiches und Windbeutel zum Frühstück essen sollten, ohne uns um die Konsequenzen zu kümmern. Es gibt einige klare Verbindungen zwischen Ernährung und Gesundheit und unsere Essensentscheidungen haben einen Einfluss auf viele ernsthafte Krankheiten. Aber wir sollten nach Nachweisen suchen und oft ist die Beweislage nicht so gut, dass irgendjemand damit auf die Kanzel steigen könnte. Was uns zum ersten Puzzleteil führt...

TEIL I
EINFALLSTOR PSEUDOWISSENSCHAFT

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1
DER OSTER-KIEBITZ

ZEIT ZUM NACHDENKEN


Wenn ich mit diesem Buch eine Hoffnung verknüpfe, dann die, dass es viele Leute motivieren wird, sich ein bisschen Zeit zum Nachdenken zu nehmen. In unserem modernen Leben werden wir mit Informationen bombardiert und können uns sehr leicht dazu verführen lassen, nur noch schnelle, instinktive Urteile zu fällen. Unsere Instinkte können uns aber manchmal auf trügerische Pfade führen, besonders beim Thema Ernährung. Sich einfach mal ein paar Momente Zeit zu nehmen, den Schwall von Informationen, der jeden Tag auf uns einprasselt, zu verarbeiten, ist vielleicht unsere beste Waffe, um dem Unfug in der Welt des Essens den Kampf anzusagen.

Ich hatte viel Glück in meinem Leben. Die Arbeit als Koch bedeutete viele Jahre lang eine Menge Nullachtfünfzehn-Aufgaben und Routinearbeiten. Mobiltelefone waren in den meisten professionellen Küchen, in denen ich arbeitete, nicht erlaubt. (Das weiß ich, weil ich selbst das Verbot aussprach.) Andere Ablenkungen waren begrenzt, weil einem dieser Job nur mit viel Konzentration gelingt. Für eine große Zahl an Menschen zu kochen ist normalerweise ein langsamer, zeitaufwändiger Prozess, der einem viel Zeit zum Nachdenken lässt.

Als meine Karriere voranging und sich meine Aufgaben veränderten- und als die Informationstechnologie immer stärker Bestandteil unseres Lebens wurde-, verschwanden die langsamen, kontemplativen Momente aus meinem Alltag. Heute ist es eher selten, dass ich fünfzig Wolfsbarsche zu filetieren habe oder drei Kisten jungen Lauch putzen muss. Um es noch schlimmer zu machen, muss ich mich in meinem mittleren Alter widerwillig mit Social-Media auseinandersetzen und bin in eine Welt eingetaucht, in der Unmengen an Informationen durch einen Strom Klick-heischender Headlines verteilt werden. Jeden Tag fordern sie meine begrenzte Aufmerksamkeit - wie ein Nest voller hungernder Küken, die um Nahrung betteln. Wie die meisten Menschen bin ich einem Ansturm von E-Mails, Nachrichten, Newsfeeds, Headlines, Bildern, Benachrichtigungen, Timelines, Newslettern, Skype-Calls, 24-Stunden-Nachrichten-Kanälen und Werbung ausgesetzt. Alle sind immer genauer darauf ausgerichtet, meine kleinsten Wünsche und Bedürfnisse zu erfüllen; unnachgiebig, lärmig und bunt kämpfen sie um meine Aufmerksamkeit. Ich bin jeden Tag das Ziel zahlloser, Tausender von Informationen und dauernd dazu gezwungen, mich bei jeder davon instinktiv zu entscheiden. Soll ich sie ignorieren, mich damit beschäftigen oder antworten? Soll ich empört, amüsiert, angeekelt, empathisch, neidisch, ängstlich oder wütend sein? Das muss ich in wenigen Sekunden entscheiden, dann weitermachen - ansonsten gehe ich im Meer der Informationen unter.

Obwohl solch ein unmittelbarer und grenzenloser Zugang zur Welt mächtig und befreiend sein kann, ist es vielleicht das größte Paradox unserer Zeit, dass wir zwar immer mehr Informationen erhalten, aber immer weniger informiert sind. Das ist das »Paradox der Auswahl« und es verschandelt unsere moderne Welt. Dies ist nirgends schlimmer als in der Welt des Essens, in der uns ausufernde, einander oft widersprechende Informationen ratlos darüber zurücklassen, was wir nun glauben sollen. Viele Menschen geben den Kampf auf, treffen schnelle, instinktive Entscheidungen, wobei fast jeder auch falsche Entscheidungen treffen wird. Es gibt etwas, das uns hilft, bessere Entscheidungen zu treffen - und zwar sich jeden Tag einen Moment Zeit zu nehmen, innezuhalten und nachzudenken.

Deshalb laufe ich. Ich stehe jeden Morgen irrsinnig früh auf, früh genug, um ein wenig Ruhe zu haben, bevor mich der Informationssturm überwältigt. Noch ehe ich richtig wach bin, krieche ich aus dem Bett, schlüpfe in meine Laufschuhe und ziehe eine lange, immer gleiche Runde über die Felder und Wege in der Nähe meines Hauses. Mit trüben Augen, wirrem Haar und einem leicht derangierten Spaniel im Schlepptau quäle ich mich mit schmerzenden Knie- und Sprunggelenken mittleren Alters durch Feld und Wald, bei Regen, Wind, Schnee, Hagel, Eis oder Sonne Ich liebe das Laufen, nicht weil ich ein Wettbewerbstyp bin oder gesund leben will. Manche Leute sagen, Joggen ist langweilig, aber für mich ist diese Langeweile genau der Grund, warum ich es tue.

ES GIBT KEINEN OSTER-KIEBITZ


Meist verlasse ich noch im Dunkeln das Haus. Meine Joggingrunden auch während der Wintermonate durchzuhalten, ist hart, aber ich genieße die Einsamkeit, den Nachthimmel und die stillen Stunden vor dem Sonnenaufgang. Genauso erfüllt mich der Anblick der aufgehenden Sonne mit Freude, wenn der Frühling kommt. Die langsame Veränderung der englischen Landschaft auf dem Land im Laufe des Jahres ist mir ein willkommener Gegensatz zur Hektik, die mich erwartet, wenn ich nach Hause komme und den Laptop aufklappe.

Mit dem Frühling kommt neues Leben. Im März und April sehe ich Feldhasen auf einem bestimmten Stück meines Weges, wie sie bei ihrem verrückten März-Hasen-Ding immer selbstsicherer werden. In Szenen, die manchen Samstagabenden in der Kleinstadt gleichen, wird eine einzelne Hasendame von verrückten Hasenmännchen umzingelt - immer einer kommt ihr näher, nur um von ihren geschickten Boxhieben wieder verscheucht zu werden Vom Begehren verzehrt und blind, lassen sie mich manchmal bis auf fünf Meter nah an sie herankommen, sogar wenn ich von meinem hoppelnden Hund begleitet werde. Ganz selten sehe ich sogar eine Häsin neben einer Mulde voller farbiger Eier hocken.

Es ist ein kurioser Anblick. Während der Balzzeit sieht man Feldhasen oft nahe solcher Nester sitzen und die Mulden, in denen die Eier liegen, sehen ganz klar so aus, als ob sie mit den Hasenpfoten selbst erschaffen worden wären. Im mittelalterlichen Europa wurde die Legende geboren, dass Hasen die farbenfrohen Eier als Geschenke bringen, um die Ankunft des Frühlings zu feiern. Dieser Mythos hielt sich bis heute und man versteht schnell, warum. Hasen tauchen zum Frühlingsbeginn auf den Äckern auf. Sie tollen herum und paaren sich auf offenem Feld. Zur gleichen Zeit erscheinen auf denselben Feldern grobe Kuhlen im Boden und sie sehen so aus, als wären sie durch scharrende Pfoten entstanden. Diese Mulden werden mit Eiern gefüllt. Natürlich sind die Hasen für die Eier verantwortlich.

Diese Geschichte ist so überzeugend, dass sie in unsere Kultur eingegangen ist. Auch wenn die balgenden Hasen sich inzwischen in ein fast bedrohlich wirkendes, mannshohes Karnickel verwandelt haben und die Eier billige, in Folie eingewickelte Schokoladeneier in Markennestern geworden sind, ist es immer noch ein wirksamer Mythos. Doch er basiert auf einem Missverständnis. Wie wir hoffentlich alle wissen - Hasen legen keine Eier!

Die Eier, die ich auf meinen morgendlichen Runden sehe, werden nicht von herumtollenden Hasen gelegt, sondern von den etwas flüchtigeren Kiebitzen. Obwohl sie eigentlich in Feuchtgebieten zu Hause sind, sind die Kiebitze im Frühling Gäste auf den Feldern entlang meiner Laufstrecke. Fürs Eierlegen bevorzugen sie dieselben offenen Fluren, auf denen die Hasen leben. Kiebitze sind aber flüchtiger als ihre häsischen Nachbarn, und deshalb längst verschwunden, wenn Hunde oder Jogger mittleren Alters sich ihnen nähern. Man wird also öfter einen Hasen in der Nähe von Eiern sehen, als den Kiebitz, der sie in Wirklichkeit gelegt hat.

Es ist also leicht zu verstehen, wie die Menschen in die Irre geführt werden konnten (oder wie man sich darüber zumindest eine überzeugende Geschichte für ein gutgläubiges Kind ausdenken konnte). Um es wissenschaftlich auszudrücken: Die Feldhasen und die Eier stehen in einer Korrelation zueinander, in einer Wechselbeziehung. Wir sehen einen großen, unverkennbaren Hasen neben einem hellen, leuchtenden Eierhaufen sitzen und wir sehen weit und breit nichts, was diese Eier produziert haben könnte. Die Eier haben zufällig eine Größe, die ein Hase gelegt haben könnte. Der Hase sitzt daneben und ruft: »Schau mich an, ich bin ein verdammt großer Hase.« Die Kuhle im Boden sieht aus, als könnte sie von Hasenpfoten ausgescharrt worden sein. Schnell klammern wir alle unbekannten Möglichkeiten aus und unser Geist kreiert instinktiv eine Erklärung, um die Lücken zu schließen und eine Schlussfolgerung zu ziehen. Wenn wir diese Schlussfolgerung einmal gezogen haben, können die Geschichten, die wir kreiert haben, in unser Glaubenssystem gelangen. Wenn wir etwas mit unseren eigenen Augen gesehen haben, dann werden wir es meist mit voller Überzeugung glauben.

Es liegt in der menschlichen Natur, Korrelationen zu sehen und zu unterstellen, dass es deswegen eine Kausalität gibt, also das Prinzip von Ursache und Wirkung. Der Grund, warum Korrelationen zwischen zwei Dingen bestehen können, ohne dass es eine erkennbare Ursache gibt, ist ein sogenannter Störfaktor - er ist die echte Ursache der Korrelation, die man allerdings nicht sieht. Beim Beispiel mit Hase und Kiebitz ist es der Frühlingsanfang, der beide Tiere zur selben Zeit dazu bringt, auf dem Feld zu sein. Störfaktoren zu identifizieren, ist der Schlüssel zur Erklärung von Phänomenen, die nicht unbedingt kausal miteinander verbunden sind - doch das ist für unser Gehirn oft eine schwierige Aufgabe. Wir sind darauf gepolt, die Welt mithilfe der Informationen zu erklären, die uns zur Verfügung stehen.

Dass Korrelation nicht unbedingt einen direkten Kausalzusammenhang beinhaltet, ist zweifellos einer der wichtigsten Aspekte, die uns die Wissenschaft lehren kann. Ich werde in diesem Buch Dutzende von Beispielen irriger Überzeugungen und Pseudowissenschaft anführen, von denen die meisten aufgrund dieser Missdeutung zustande gekommen sind bzw. weiter die Runde machen. Oder genauer gesagt: Sie existieren, weil unser Gehirn instinktiv versucht, aus dem, was es wahrnimmt, eine stimmige Geschichte zu konstruieren - es sieht Hasen neben Eiern und reimt sich eine fantastische Erklärung vom Geschenke bringenden Osterhasen zusammen.

Auch wenn wir über die Märchen der mittelalterlichen Menschen lachen, die glaubten, dass dies wahr sei, sind wir alle geneigt, Korrelation mit Kausalität zu verwechseln und potenzielle Störfaktoren zu übersehen, solange die Geschichte zu unserer Weltsicht passt. Denken Sie also jeden Tag einen Moment lang über die Stories nach, die sie zu hören bekommen. Halten sie einen Moment inne und fragen Sie sich, ob die neue Wunderdiät oder das neue Superfood, von dem Sie erfahren haben, vielleicht ein schelmischer Hase ist, der rein zufällig neben einem Haufen bunter Eier sitzt.

DER SELTSAME KULT UM GLUTENFREIES ESSEN


Lassen Sie uns mit diesem Zauber gleich von Anfang an aufräumen, in Ordnung? Die glutenfreie Diät. Zöliakie ist eine schreckliche Sache, eine fiese Autoimmunerscheinung, bei der bereits das winzigste bisschen Gluten im Essen große Gesundheitsschäden auslösen kann. Bei Menschen, die an Zöliakie leiden, verursacht Gluten nicht nur folgenschwere Schäden an den Darmschleimhäuten, es kann auch die Wahrscheinlichkeit bestimmter Krebsarten erhöhen. Um das Ganze noch schlimmer zu machen, ist es verdammt nervig, Gluten zu vermeiden und verlangt eine komplette Ernährungs- und Lebensumstellung. Gluten vollständig wegzulassen ist eine Herausforderung für das eigene Sozialleben, es ist teuer und setzt Sorgfalt, Planung und professionelle Hilfe voraus, um sicherzustellen, dass man nicht mit Mangelerscheinungen endet, die durch die restriktive Diät ausgelöst werden.

Während der letzten paar Jahre ist nun etwas Seltsames passiert. Ein paar Nicht-Zöliakie-Betroffene scheinen beschlossen zu haben, dass eine glutenfreie Ernährung ein toller neuer Lebensstil ist, den sie unbedingt ausprobieren sollten. Rund um das Gluten wurde ein Ernährungsmythos aufgebaut und eine große Anzahl an Leuten verbannte Gluten völlig grundlos von ihrem Speiseplan - im irrigen Glauben, dass dies der Pfad zu einer besseren Gesundheit sei. Ich werde den Ursachen dafür weiter hinten im Buch auf den Grund gehen - fürs Erste muss es reichen, dass wir festhalten: Gluten verkörpert für viele das Böse im Essen. Nicht nur für Zöliakie-Kranke, sondern für jeden, der es isst.

Warum das so sein soll? Wenn man sich die »Clean Eating«- und Wellness-Bewegung genauer anschaut, sieht man, dass es für diesen Irrtum dunkle und komplexe Gründe gibt, aber fürs Erste genügt ein Blick auf eine einzelne - imaginäre - Fallstudie.

DARF ICH VORSTELLEN: JAMIE


Jamie ist ein junger Mann, der sich Sorgen um seine Gesundheit macht und unzufrieden mit seinem Gewicht ist. Er hat ein bisschen was über Gluten gehört und hat eine vage Vorstellung davon, dass glutenfreie Produkte irgendwie gesünder seien. Wie bei den meisten von uns ist sein Grundwissen über die wissenschaftlichen Hintergründe bestimmter Ernährungsempfehlungen relativ begrenzt. Oliver, sein Fitnesstrainer, rät ihm zu einer glutenfreien Diät und Jamie will es ausprobieren. Er recherchiert ein bisschen und beschließt, kein Brot, keine Pasta und keine Pizza mehr zu essen, räumt seinen Schrank aus und schmeißt viele Lebensmittel weg, fängt an, alle Zutatenlisten zu lesen und legt sich einen Vorrat an glutenfreien Produkten an.

Ein paar Wochen später fragt Oliver, wie es läuft. Die glutenfreie Ernährung ist ein bisschen teuer und irgendwie anstrengend, aber Jamie ist ziemlich zufrieden. Er hat ein paar Pfunde verloren, fühlt sich weniger aufgebläht und hat tatsächlich weniger Blähungen, hat schon länger keine Erkältung mehr gehabt und das Ekzem, das er am Ellbogen hat, scheint besser zu werden.

»Da hast du’s!«, sagt Oliver mit dem zufriedenen Grinsen, das nur persönliche Trainer perfektioniert haben, »das liegt am Gluten.«

Jamie isst glutenfrei. Er hat etwas Gewicht verloren und fühlt sich ein bisschen besser. Er hat etwas Bestimmtes verändert und sieht einen Effekt. Sein Gehirn wird sehr stark zu der Schlussfolgerung neigen, dass die Veränderung, die er vorgenommen hat, dieses bessere Gefühl verursacht hat. Jamie glaubt nun, dass das Weglassen des Glutens seine Gesundheit verbessert hat. Für ihn ist erwiesen, dass das Gluten ihm geschadet hat. Aber sind die Verbesserungen, die Jamie an sich beobachtet hat, genug, um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen? Ist also Gluten in diesem Fall ein Eier legender Kiebitz oder nur ein großer, doofer, unverkennbarer Hase, der neben einem Nest voller bunter Eier saß? Hat Jamie irgendwelche Störfaktoren übersehen, die vielleicht eine andere Erklärung bieten?

Die Antwort ist, dass wir es nicht wissen. Auch wenn wir nicht definitiv sagen können, dass das Weglassen des Glutens keinerlei Vorteile hatte, können wir genauso wenig sagen, dass es geholfen hat. Jamie hat nämlich viel mehr Dinge in seinem Leben geändert, als nur das Gluten wegzulassen. Gluten ist nur ein kleines Protein unter Tausenden von Chemikalien, die in Weizenmehl und vielen, vielen anderen Bestandteilen einer Pizza stecken. Jamie hat seine gesamte Ernährung drastisch umgestellt - er hat ein Hauptnahrungsmittel weggelassen, das er sonst immer aß. Das kann gut zur Kalorienreduktion und damit zum Gewichtsverlust beigetragen haben. Vielleicht hat er jeden Tag sehr große Mengen an Brot und Pasta gegessen - sodass der Verzicht nun zu weniger Blähungen geführt hat. Möglicherweise flammt sein Ausschlag nur phasenweise auf und ist während der letzten Tage mal wieder zurückgegangen.

Zu sagen, dass der Verzicht auf Gluten die Veränderungen herbeigeführt hat, ist, als würde man beim Anblick eines Ackers voller Tiere behaupten, dass der Hase, der da hinten so ruhig sitzt, definitiv die Eier gelegt habe. Der Grund, warum Jamie zu seiner Schlussfolgerung gekommen ist, ist das Narrativ, das schon im Vorfeld geschaffen wurde - sodass er die vielen anderen Erklärungsmöglichkeiten gar nicht erst in Betracht zieht. Hätte Jamie nie von Gluten gehört, aber Fortschritte in Sachen Gesundheit festgestellt, nachdem er Pizza weggelassen hatte, würde er sicher nicht plötzlich ausrufen »Ah, es geht mir besser, weil ich eine Intoleranz gegenüber einem kleinen Protein im Weizenmehl habe, das die Pizza kross macht.« Aber da sein wohlmeinender Fitnesstrainer ihm diesen Trugschluss schon suggeriert hatte, wird er auch genau diese Schlussfolgerung ziehen. Es ist egal, ob diese Information von jemandem kommt, der keine Qualifikation in Ernährungslehre hat. Wenn jemand ein Ergebnis korrekt vorhersagt, dann sind wir gerne bereit, seiner Erklärung zu glauben.

Was Jamie erlebt hat, kann man nicht als kontrolliertes Experiment bezeichnen. Es ist auch kein geeigneter Test, um eine Glutenunverträglichkeit zu diagnostizieren. Um herauszufinden, ob Jamie ein Problem mit Gluten hat, müssten wir nur Gluten - und zwar Gluten alleine - von seinem Speiseplan nehmen. Er müsste exakt dieselbe Menge an glutenfreier Pizza, glutenfreiem Brot und so weiter essen wie vorher. Nur dann kann man sicher sein, dass nichts anderes seine Gesundheit beeinträchtigte. Um eine verlässliche Schlussfolgerung zu ziehen, müssten wir außerdem auf echte, messbare Marker seiner Gesundheit schauen anstatt auf vage, selbst beobachtete Symptome.

DAS INSTINKTIVE GEHIRN


Um unsere häufig unlogischen Entscheidungen zu verstehen, ist es nützlich, von einem Zweier-System unseres Gehirns auszugehen. In der Welt des wütenden Kochs illustriere ich das gerne etwas krude mit Dialogen mit meiner seltsamen inneren Stimme.

Hallo. Wo bin ich?

Ah, Hallo. Wir schreiben wohl gerade an einem Buch.

Wirklich? Wir? Ein Buch? Wie konnte das denn passieren? Du weißt schon, dass du nur ein Koch bist?

Was ist daran falsch? Viele Köche schreiben Bücher.

Ja, aber die schreiben Kochbücher. Machen wir ein Kochbuch? Werden Fotos drin sein? Also, die Leute essen gerne Koreanisch. Und Gegrilltes. Wir könnten ein paar Grilltipps geben.

Nein, das wird ein Buch über pseudowissenschaftliche Ernährungstipps. Wir werden ein paar Irrtümer zu Esstrends ans Licht bringen und untersuchen, warum die Leute beim Thema Ernährung solche seltsamen Sachen glauben.

Ah, so wie die Eingangskapitel bei allen Kochbüchern, wo die Starköche über ihren Weg und ihre Philosophie sprechen.

Nein, überhaupt nicht. Wir haben zum Beispiel keine Essensphilosophie. Im Gegenteil. Regel Nummer 1 in Ein Koch packt aus: Traue niemandem, der behauptet eine Ernährungsphilosophie zu haben.

Okay. Ich fände es ganz schick, wenn wir uns zuerst die Gesundheitsblogger vornehmen. Wen zuerst? Hari? Wolfe? Die Hemsleys? Oh, ja, lass uns mit den Hemsleys anfangen.

Nein. Wir sind immer noch im ersten Kapitel und erklären die Gründe, warum die Leute so gerne falsche Sachen glauben.

Oh. Du wirst aber keine Diagramme und Statistiken reinbringen? Du weißt ja: Jeder findet Statistiken langweilig.

Nein, es wird keine Statistiken geben. Bisher jedenfalls noch nicht.

Okay, gut. Ich weiß aber immer noch nicht so ganz, warum ich hier bin. Ich habe eigentlich etwas Besseres zu tun, weißt du. Wir haben eine Packung Kekse unten, die sich nicht von alleine aufessen wird.

Du bist hier, weil ich den Leuten kurz das Konzept des »instinktiven Gehirns« vorführen will. Man kann sich unseren Geist so vorstellen, als würde er von zwei Systemen geleitet, die oft im Clinch liegen. Das instinktive Gehirn ist der Teil von uns, der schnell reagiert, oft mit nur wenig bewusstem Denken. In Richard Thalers und Cass Sunsteins sehr einflussreichem Buch, Nudge - Wie man kluge Entscheidungen anstößt, wird es das Homer-Simpson-Hirn genannt - nach der ungestümen Cartoonfigur, die anfällig für übereilte Urteile und Handlungen ist. Im Allgemeinen ist das instinktive Gehirn nicht ganz so chaotisch wie Homer, weil dieses System viel in unserem Alltagsleben managt und uns ermöglicht, mit wenig Aufwand durch die Welt zu navigieren. Das instinktive Hirn steckt hinter allen Dingen, die wir automatisch machen. Es sagt uns, wann wir hungrig sind, es gibt uns Bescheid, dass wir etwas, das schlecht schmeckt, nicht essen sollten - und mit ein wenig Übung kann es buchstabieren, tippen, Autofahren, Radfahren und ein bisschen elementare Mathematik. All diese Dinge tut es instinktiv und seine Fähigkeit, diese Handlungen auszuführen, entzieht sich oft unserer bewussten Kontrolle.

Das instinktive Gehirn ist außerdem unglaublich kraftvoll, es kann Entscheidungen und Urteile fällen, zu denen nicht mal die hochentwickeltsten Computerprogramme in der Lage wären. Es kann Gefahrensignale erkennen, bevor sie wirklich sichtbar sind und uns die Energie und den Impuls geben, zu fliehen. Es kann uns sagen, ob Mrs Angry Chef sauer auf uns ist (oder, um es genauer zu sagen, ob sie »nicht sauer, nur enttäuscht« ist) - und zwar anhand minimaler Veränderungen ihrer Stimme, auch wenn sie telefoniert und gerade mal »Hallo« gesagt hat. Es kann innerhalb von Millisekunden einschätzen, ob jemand, den wir gerade kennengelernt haben, uns mag oder auch anhand feiner, beinahe nicht wahrnehmbarer Merkmale erkennen, ob jemand vielleicht lügt. Durch das instinktive Gehirn können wir uns mühelos in der Welt zurechtfinden, ohne jedes bisschen an Information einzeln zu verarbeiten, ohne jede einzelne Interaktion zu analysieren, ohne dass wir zu jeder Handlung sachkundige und wohlabgewogene Entscheidungen brauchen. Es ermöglicht uns, unser Leben in großen Teilen ohne bewusstes Nachdenken zu führen und gibt unserem anderen Teil des Gehirns, dem »reflektiven Gehirn«, die so dringend nötige Zeit zum Denken.

Echt. Wow. Was du nicht sagst! Wieso machst du mich dann dauernd dafür verantwortlich, dass wir Ärger bekommen?

Das »reflektive Gehirn« ist der Teil unseres Geistes, den wir für unser »echtes Ich« halten. Es ist unser bewusstes Selbst. Es steuert unsere wichtigsten Langzeitentscheidungen, denkt über Beziehungen nach, betrachtet unsere Träume für die Zukunft und plant, wie wir sie uns erfüllen könnten. Das reflektive Gehirn liest gerade dieses Buch, es interessiert sich vielleicht für Statistiken und übernimmt komplexere kognitive Aufgaben. Thaler und Sunstein nennen es das »Spock-Gehirn« - nach der kühlen und logisch agierenden Figur aus Star Trek, obwohl das die Arbeit dieses Teils des Gehirns zu stark vereinfacht, denn es ist zu viel mehr fähig als zu kühlem, logischen Denken.

Wir sind also ein Team. Ein unaufhaltbares Kampfteam gegen die Pseudowissenschaften. Ich bin dein loyaler Kumpel mit besonderen Superkräften, um schnelle Autos zu fahren, Gefahr zu wittern und enttäuschte Ehefrauen zu erkennen.

Ja, so ungefähr. Nur leider ist unser Instinkt-Gehirn sehr darauf aus, dauernd Schlussfolgerungen zu ziehen und sich einfache Erklärungen zusammenzureimen, um die Welt zu verstehen. Dieser Instinkt war uns im Laufe der Geschichte sehr hilfreich, wenn es ums Überleben ging. Wenn es jedoch darum geht, fachkundige Entscheidungen zu treffen, kann das problematisch sein. Haben wir etwa die Wahl zwischen einem lächelnden Fitnesstrainer, der stolz verkündet: »Das liegt am Gluten.«, und einem mürrischen Weißkittel der Ernährungswissenschaft, der etwa sagt: »Es ist kompliziert. Die Veränderungen, die Sie spüren, könnten durch viele verschiedene Faktoren verursacht worden sein, wie Regressionseffekte, allgemeine Veränderungen Ihrer Ernährung oder durch andere, nicht diagnostizierte Unverträglichkeiten.«, dann wird unser Instinkt-Gehirn sehr gern der einfachen Botschaft Glauben schenken. Ob wir denjenigen dabei als deutlich weniger qualifiziert und weniger sachkundig einschätzen, spielt keine Rolle.

Ist das wirklich wichtig? Wenn sich Jamie besser fühlt und ein bisschen abgenommen hat, dann ist doch das sicher das Wichtigste?

Vielleicht. Aber denk mal kurz darüber nach. Gluten wegzulassen bedeutet für Jamie, die Hälfte seiner bisherigen Nahrungsmittel wegzulassen. Es ist potenziell ein gefährlich beschränkender Ansatz und Jamie macht das mit sehr wenig Wissen und ohne professionelle Unterstützung. Weizen ist ein wertvolles und gesundes Nahrungsmittel - ein wichtiger Bestandteil der Ernährung vieler Menschen. Auch wenn die Leute oft sagen, dass sie Brot weglassen wollen, weil es »voller Kohlenhydrate« ist, hat es den höchsten Proteinanteil aller Grundnahrungsmittel außer Soja und ist ein wichtiger Lieferant von Ballaststoffen und B-Vitaminen.

Jamie lässt außerdem viele leckere Sachen weg und verzichtet so auf tolle Genussmomente. Für viele Leute ist frisch gebackenes Brot eins der köstlichsten Nahrungsmittel, ein alchimistischer Mix einiger weniger, einfacher Zutaten, aus denen wahre Kenner des Backhandwerks wunderbare Dinge kreieren können. Genauso ist gut gemachte Pasta eine der größten kulinarischen Freuden, der Grundpfeiler einer der weltweit wichtigsten Küchen. Dasselbe gilt für Pasteten, Pizza, Nudeln, Croissants, Shortbread, Brioche und Yorkshire Puddings. Vielleicht sehen viele solch einen Verzicht als trivial an, aber wir unterschätzen oft, dass einfache Freuden in der Lage sind, unser Leben zu bereichern und unser Wohlergehen zu verbessern.

Auch wenn Jamie am Anfang seiner glutenfreien Diät eine vernünftige Nahrungsmittelauswahl trifft, stehen die Chance gut, dass er im Laufe der Zeit andere Gewohnheiten annimmt. Nur weil es glutenfreie Alternativen gibt, heißt das nicht, dass sie ungestraft gegessen werden können. Es gibt zahllose ungesunde glutenfreie Optionen und einige der Vorteile, die Jamie zu Anfang hatte, nutzen sich allmählich ab. Glutenfreie Nahrungsmittel haben oft einen höheren Fett- und Zuckeranteil als ihre glutenhaltigen Entsprechungen. Es kann also gut sein, dass Jamie eine ungesündere Ernährung als vorher haben wird.

Das Gefährlichste ist aber vielleicht das falsche Glaubenssystem, das um Jamies Diät erschaffen wurde. Jamie hat die Idee akzeptiert, dass das Weglassen bestimmter Nahrungsmittel ein Weg zu einem gesünderen Leben ist. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich diese Vorstellung tief in seine Psyche eingräbt und er in Zukunft, wenn etwa der anfängliche Erfolg seines glutenfreien Experiments verblasst ist, darüber nachdenkt, noch weitere Dinge wegzulassen - in der vagen Hoffnung, dass dies seiner Gesundheit nützen wird.

Wenn das Ausschließen und das Einschränken gar nicht sein müssen, dann sind sie das genaue Gegenteil dessen, was uns beim Essen gesund hält. Wenn Ursache und Wirkung zwischen bestimmten Nährstoffen und unserer Gesundheit weitgehend ungeklärt sind, dann ist der Schlüssel, die Unsicherheit zu akzeptieren und uns so vielseitig wie möglich zu ernähren.

Der entscheidende Punkt der glutenfreien Botschaft ist, dass es für an Zöliakie leidende Menschen einen direkten Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen spezifischen Nahrungsmitteln und ihrem Gesundheitszustand gibt. Diese Botschaft ist für unser Instinkt-Gehirn sehr attraktiv - es sucht ja bekanntlich nach einfachen Narrativen. Deshalb werden viele Menschen davon angezogen und obwohl die Diät schwierig einzuhalten, nervig und definitiv frei von Croissants ist, folgen sie ihr mit religiösem Ernst. Diese Leute wollen verzweifelt Kontrolle ausüben, ganz spezielle Wirkungen auslösen und vor allem wollen sie Sicherheit in einer unsicheren Welt. Das sind typisch menschliche Bedürfnisse, denen wir in diesem Buch noch öfter begegnen werden.

WIE MAN KIEBITZE JAGT


Wir verwechseln Kiebitze oft mit Feldhasen, um unser Instinkt-Gehirn mit einfachen Schlussfolgerungen zu befriedigen. Kiebitze sind normalerweise sehr ausweichend, schwieriger zu entdecken und erst recht kompliziert genau zu bestimmen, aber man kann sie finden. Seit dem Mittelalter, als man dachte, der Hase bringe Geschenke, um den Beginn neuen

Lebens im Jahreslauf zu feiern, hat die Wissenschaft viele wundervolle Werkzeuge entwickelt, um die Rolle des Hasen zu widerlegen, Verwechslungsfaktoren auszumachen und zu erkennen, wenn wir einen Kiebitz gefunden haben. Ich hoffe, dass ich Sie in diesem Buch, neben all dem Schimpfen, dem Irrsinn und dem lautstarken Niederreißen der pseudowissenschaftlichen Mythen, mit einigen wissenschaftlichen Methoden bekannt machen kann und Sie für deren Schönheit und für die wissende Unsicherheit, die sie bereithalten, begeistern kann.

Ich glaube daran, dass die wissenschaftliche Methode die größte Errungenschaft der Menschheit ist. Sie ermöglicht uns, zwischen Hasen und Kiebitzen zu unterscheiden, leichtfertig akzeptierte Narrative auszuklammern, Unsicherheit zu akzeptieren und immer weiter nach der Wahrheit zu suchen. Sie erlaubt uns auch, das instinktive Gehirn außer Kraft zu setzen und unserem wohlüberlegteren und reflektiven Selbst wieder eindeutig die Verantwortung zu übergeben. Erst als wir das gelernt hatten, begannen wir wahre Fortschritte zu machen. Nachdem es uns gelungen war, die Eier legenden Hasen außen vor zu lassen und die Kiebitze zu finden, dauerte es nur noch ein paar Hundert Jahre bis wir die Pocken besiegt hatten und zum Mond geflogen sind.