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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
The Four: The Hidden DNA of Amazon, Apple, Facebook, and Google
ISBN 978-0-73521-365-4

Copyright der Originalausgabe 2017:
Copyright © 2017 by Scott Galloway. All rights reserved.
Published in the United States by Portfolio/Penguin, an imprint of Penguin Random House LLC, New York.

Copyright der deutschen Ausgabe 2018:
© Börsenmedien AG, Kulmbach

Übersetzung: Egbert Neumüller
Covergestaltung: Liudmila Morozova
Illustrationen: Kyle Scallon
Satz und Herstellung: Johanna Wack, Daniela Freitag, Martina Köhler, Sarah Slimani
Lektorat: Karla Seedorf, Philipp Seedorf
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86470-487-1
eISBN 978-3-86470-543-4

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

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Für Nolan und Alec

Ich blicke nach oben, sehe die Sterne und habe Fragen.
Ich blicke nach unten, sehe meine Jungs
und habe Antworten
.

the four

Inhalt

Kapitel 1 Die Vier

Wer sind diese Unternehmen und wozu über sie schreiben?

Kapitel 2 Amazon

Wie Amazon zum disruptivsten Unternehmen in der größten Volkswirtschaft wurde

Kapitel 3 Apple

Technologie wird Luxus

Kapitel 4 Facebook

Liebe ist der Schlüssel zu einem langen Leben – und toller Werbung

Kapitel 5 Google

Der moderne Gott

Kapitel 6 Lie to Me

Die Vier und ihre komischen Geschäftsgebaren

Kapitel 7 Geschäft und Körper

Jedes Business zielt auf eines dieser drei Organe

Kapitel 8 Der T-Algorithmus

Was man braucht, um eine Billion zu bekommen

Kapitel 9 Der fünfte Reiter?

Wer ist der Nächste?

Kapitel 10 Die Vier und du

Folge deinem Talent, nicht deiner Leidenschaft

Kapitel 11 Nach den Reitern

Wo bringen uns die Vier hin?

Dank

Bildnachweise

Quellen

1. Kapitel

Die Vier

IN DEN LETZTEN 20 JAHREN haben uns vier Technologie-Giganten mehr Freude, Connections, Wohlstand und Entdeckungen beschert als jedes andere Unternehmen der Geschichte. Im Zuge dessen haben Apple, Amazon, Facebook und Google Hunderttausende gut bezahlte Stellen geschaffen. Diese vier sind für eine Palette von Produkten und Dienstleistungen verantwortlich, die mit dem Alltagsleben von Milliarden Menschen verwoben sind. Sie haben einen Supercomputer in Ihre Tasche gesteckt, bringen das Internet in Entwicklungsländer und kartieren die Landmassen und Ozeane der Erde. Die Vier haben ein beispielloses Vermögen (2,3 Billionen US-Dollar) generiert, das per Aktienbesitz Millionen Familien auf dem ganzen Planeten hilft, sich wirtschaftliche Sicherheit aufzubauen. Insgesamt betrachtet machen sie die Welt zu einem besseren Ort.

Das stimmt zwar alles und dieses Narrativ wird von Tausenden Medienkanälen sowie von diversen innovativen Kreisen (Universitäten, Konferenzen, Kongressanhörungen, Vorstandssitzungen) immer wieder übernommen – aber ziehen Sie auch einmal eine andere Sichtweise in Betracht.

Die vier Reiter

Stellen Sie sich einmal Folgendes vor: einen Einzelhändler, der sich weigert, Mehrwertsteuer zu bezahlen, seine Angestellten schlecht behandelt, Hunderttausende von Arbeitsplätzen vernichtet und trotzdem als Ausbund der unternehmerischen Innovation gefeiert wird.

Eine Computerfirma, die Bundesermittlern Informationen über einen Terrorakt im Inland vorenthält und dabei von einer Fangemeinde unterstützt wird, die dem Unternehmen fast religiöse Verehrung entgegenbringt.

Ein Social-Media-Unternehmen, das Tausende Fotos Ihrer Kinder analysiert, Ihr Telefon als Abhörgerät aktiviert und diese Informationen an Fortune-500-Unternehmen verkauft.

Eine Werbeplattform, die an manchen Märkten 90 Prozent des lukrativsten Mediensektors beherrscht, jedoch durch aggressive Gerichtsprozesse und Lobbyisten jegliche wettbewerbsrechtliche Regulierung vermeidet.

Auch dieses Narrativ ist rund um die Welt zu hören, allerdings im Flüsterton. Wir wissen, dass diese Unternehmen keine mildtätigen Wesen sind, und doch laden wir sie in die intimsten Bereiche unseres Lebens ein. Wir aktualisieren bereitwillig unsere Online-Profile in dem Wissen, dass sie in Gewinnabsicht verwendet werden. Unsere Medien erheben die leitenden Manager dieser Unternehmen in den Status von Helden – Genies, denen man vertraut und denen man nacheifert. Unsere Regierungen lassen ihnen Sonderbehandlungen bezüglich der kartellrechtlichen Regulierung, der Steuern und sogar des Arbeitsrechts angedeihen. Und die Anleger treiben ihre Aktien in die Höhe, liefern ihnen fast unendlich viel Kapital und Feuerkraft, damit sie die talentiertesten Menschen des Planeten anlocken oder Gegner zermalmen können.

Sind diese vier Konzerne also die vier Reiter namens Gott, Liebe, Sex und Konsum? Oder sind sie die vier apokalyptischen Reiter? Die Antwort auf beide Fragen lautet Ja. Ich nenne sie einfach die vier Reiter.

Wie konnten diese Unternehmen derart viel Macht anhäufen? Wie kann sich ein unbelebtes, gewinnorientiertes Unternehmen derart in unserer Psyche verwurzeln, dass es die Regeln dafür umschreibt, was ein Unternehmen tun und sein kann? Was bedeuten diese einmalige Größe und dieser einmalige Einfluss für die Zukunft der Unternehmen und der Weltwirtschaft? Sind sie wie andere Unternehmenstitanen vor ihnen dazu verdammt, von jüngeren, aufregenderen Rivalen überschattet zu werden? Oder sind sie dermaßen etabliert inzwischen, dass niemand – keine Person, kein Unternehmen, kein Staat und auch sonst niemand – gegen sie ankommt?

Der Stand der Dinge

Während ich dies schreibe, stehen die Dinge bei den Vieren so:

Amazon: Einen Porsche Panamera Turbo S oder Pumps von Louboutin zu kaufen macht Spaß. Zahnpasta und umweltfreundliche Windeln zu kaufen macht keinen Spaß. Als Lieblings-Online-Kaufhaus der meisten Amerikaner und zunehmend auch der ganzen Welt lindert Amazon das Leid dieser Strapazen – die Dinge zu beschaffen, die man zum Leben braucht.1, 2 Kein großer Aufwand: keine Jagd, wenig Sammeln, einfach nur (einmal) klicken. Die Erfolgsformel: beispiellose Investitionen in die Infrastruktur der „last Mile“, die ein irrational großzügiger Kreditgeber ermöglicht – Einzelhandelsinvestoren, die darin die verlockendste – verblüffend simple – Story sehen, die in der Geschäftswelt jemals erzählt wurde: der größte Kaufladen der Welt. Gepaart ist diese Story mit einer Umsetzung, die sich mit der Landung der Alliierten in der Normandie messen kann (abzüglich des großen Mutes und der enormen Opfer, um die Welt zu retten). Das Ergebnis ist ein Einzelhändler, der mehr wert ist als Walmart, Target, Macy’s, Kroger, Nordstrom, Tiffany & Co, Coach, Williams-Sonoma, Tesco, Ikea, Carrefour und The Gap zusammengenommen.3

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Während ich dies schreibe, ist Jeff Bezos der drittreichste Mensch der Welt. Bald wird er die Nummer 1 sein. Die derzeitigen Träger der Gold- und der Silbermedaille, Bill Gates und Warren Buffett, sind zwar in großartigen Branchen tätig (Software und Versicherungen), aber keiner von beiden steht an der Spitze eines Unternehmens, das um mehr als 20 Prozent im Jahr wächst und das milliardenschwere Sektoren attackiert, als wären es kleine Fische.4, 5

Apple: Das Apfellogo, das die begehrtesten Laptops und mobilen Geräte ziert, ist das globale Abzeichen von Wohlstand, Bildung und westlichen Werten. Im Kern erfüllt Apple zwei instinktive Bedürfnisse: sich Gott näher zu fühlen und für das andere Geschlecht attraktiver zu sein. Durch ein eigenes Glaubenssystem, Gegenstände der Anbetung, eine Anhängerschaft und eine Christusfigur hat es quasireligiösen Charakter. Zudem zählt es die wichtigsten Menschen der Welt zu seiner Glaubensgemeinde: die „Innovationsklasse“. Indem Apple als Unternehmen ein paradoxes Ziel erreicht hat – ein preisgünstiges Produkt, das zu einem hohen Preis verkauft wird –, ist es zum profitabelsten Unternehmen der Geschichte geworden. Das Pendant dazu wäre ein Automobilhersteller mit den Gewinnmargen von Ferrari und den Produktionszahlen von Toyota. Im vierten Quartal 2016 erzielte Apple einen doppelt so hohen Reingewinn, wie Amazon ihn insgesamt seit seiner Gründung vor 23 Jahren erwirtschaftet hat.7, 8, 9 Der Cashbestand von Apple ist fast so groß wie das Bruttoinlandsprodukt von Dänemark.10, 11

Facebook: Gemessen an der Anzahl der Nutzer und an der Nutzung durch den Einzelnen ist Facebook der größte Erfolg in der Geschichte der Menschheit. Auf der Welt gibt es 7,5 Milliarden Menschen und 1,2 Milliarden von ihnen treten täglich mit Facebook in Beziehung.12, 13 Facebook (Platz 1), Facebook Messenger (Platz 2) und Instagram (Platz 8) sind die populärsten mobilen Apps der Vereinigten Staaten.14 Das soziale Netzwerk und seine Teile erhalten täglich 50 Minuten der Zeit eines typischen Nutzers.15 Jede sechste Online-Minute wird auf Facebook verbracht und jede fünfte Minute mit mobilen Geräten wird auf Facebook verbracht.16

Google: Google ist der Gott des modernen Menschen. Es ist die omnipräsente Quelle unseres Wissens – Google kennt unsere dunkelsten Geheimnisse, kann uns sagen, wo wir uns gerade befinden und wo wir hinmüssen, und beantwortet sämtliche Fragen – banale wie tiefgründige. Kein Unternehmen besitzt so viel Vertrauen und Glaubwürdigkeit wie Google: Etwa jede sechste Anfrage, die an die Suchmaschine gestellt wird, wurde noch nie zuvor gestellt.17 Welcher Rabbiner, Priester, Gelehrte oder Lehrer könnte sich damit brüsten, dass ihm so viele Fragen vorgelegt werden, die nie zuvor von jemandem gestellt wurden? Wer sonst regt weltweit zu derart vielen Fragen über das Unbekannte an?

Als Tochterunternehmen von Alphabet Inc. erzielte Google im Jahr 2016 einen Gewinn von 20 Milliarden Dollar, steigerte seinen Umsatz um 23 Prozent und senkte die Kosten für seine Werbekunden um elf Prozent – für die Konkurrenz ein harter Schlag. Im Gegensatz zu den meisten anderen Produkten altert Google umgekehrt – mit zunehmender Nutzung wird es wertvoller.18 Es macht sich rund um die Uhr die Leistung von zwei Milliarden Menschen zunutze, die durch ihre Absichten (was sie wollen) und ihre Entscheidungen (was sie auswählen) miteinander verbunden sind, sodass sich ein Ganzes ergibt, das unendlich viel größer ist als die Summe seiner Teile.19 Die Einblicke in das Nutzerverhalten, die Google aus 3,5 Milliarden täglichen Suchanfragen bezieht, machen diesen Reiter zum Scharfrichter der traditionellen Marken und Medien. Die neue Lieblingsmarke ist das, was Google einem nach 0,0000005 Sekunden auswirft.

Zeig mir die Billionen

Zwar ziehen Milliarden Menschen erheblichen Nutzen aus diesen Firmen und ihren Produkten, doch nur verstörend wenige ernten den wirtschaftlichen Nutzen. General Motors hat einen wirtschaftlichen Wert von circa 231.000 Dollar pro Beschäftigtem geschaffen (Marktkapitalisierung durch Anzahl der Mitarbeiter).20 Das klingt so lange beeindruckend, bis man sich klarmacht, dass Facebook ein Unternehmen aufgebaut hat, das 20,5 Millionen Dollar pro Beschäftigtem wert ist … also etwa hundertmal so viel Wert wie die Unternehmensikone des vergangenen Jahrhunderts.21, 22 Das kann man sich so vorstellen, als würde die Bevölkerung der East Side von Manhattan so viel erwirtschaften wie ein G-10-Staat.

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Dieser Wertzuwachs scheint des Gesetzes der großen Zahlen zu spotten und noch weiter anzuziehen. In den letzten vier Jahren, vom 1. April 2013 bis zum 1. April 2017, wuchs der Wert der Vier um circa 1,3 Billionen Dollar (das entspricht dem BIP Russlands).23, 24

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Andere Technologieunternehmen – alte und neue, große und größere – verlieren an Relevanz. Alternde Giganten wie HP und IBM sind kaum der Aufmerksamkeit der Vier wert. Tausende von Start-ups surren wie Stechmücken um sie herum, nach denen zu schlagen sich kaum lohnt. Jedes Unternehmen, das Potenzial aufweisen könnte, den Vier Ärger zu bereiten, wird von ihnen übernommen – zu Preisen, die für unbedeutendere Unternehmen unvorstellbar sind. (Facebook bezahlte fast 20 Milliarden Dollar für die fünf Jahre alte, aus 50 Mitarbeitern bestehende Instant-Messaging-Firma WhatsApp.) Letztlich sind die einzigen Konkurrenten der Vier … die anderen drei.

Sicherheit durch Hass

Staaten, Gesetze und kleinere Firmen sind offenbar hilflos und können den Marsch der Vier nicht aufhalten, egal welchen Einfluss sie auf die Wirtschaft, die Gesellschaft oder den Planeten ausüben. Im Hass liegt jedoch Sicherheit. Besonders hassen die Vier sich gegenseitig. Inzwischen konkurrieren sie direkt miteinander, weil ihnen in ihren jeweiligen Sektoren die leichte Beute ausgeht.

Google signalisierte das Ende des Markenzeitalters, als die Verbraucher – mit der Suche bewaffnet – sich nicht mehr einer Marke zu beugen brauchten. Was beispielsweise Apple schadet, das außerdem in den Bereichen Musik und Film mit Amazon konkurriert. Amazon ist zwar der größte Kunde von Google, bedroht Google aber auch auf dem Gebiet der Suche – 55 Prozent der Menschen, die ein Produkt suchen, beginnen damit bei Amazon (und nur 28 Prozent auf Suchmaschinen wie Google).25 Apple und Amazon krachen mit voller Geschwindigkeit ineinander – auf unseren Fernsehbildschirmen und auf unseren Smartphones –, während Google mit Apple darum kämpft, das Betriebssystem des Produkts zu werden, das unsere Ära definiert, nämlich des Smartphones.

Indes haben sich Siri (Apple) und Alexa (Amazon) in die Donnerkuppel begeben – zwei Stimmen gehen rein, eine Stimme geht raus. In der Online-Werbung gräbt Facebook nun Google Marktanteile ab, denn es vollendet die große Wende vom Schreibtischcomputer zum mobilen Gerät. Und die Technologie, die in den nächsten zehn Jahren wahrscheinlich noch mehr Wohlstand schafft, nämlich die Cloud – Heerscharen von Dienstleistungen über das Internet, die je nach Bedarf der Nutzer hoch- oder heruntergeladen werden können –, ist Schauplatz des Kampfes Ali gegen Frazier im Technologiezeitalter: Amazon und Google prallen mit ihren jeweiligen Cloud-Angeboten aufeinander.

Die Vier befinden sich in einem epochalen Wettlauf darum, wer das Betriebssystem unseres Lebens wird. Der Preis? Eine Bewertung von über einer Billion Dollar sowie mehr Macht und Einfluss, als sie je ein Unternehmen in der Geschichte hatte.

Und nun?

Wenn man die Entscheidungen begreift, die die Vier auf den Plan riefen, versteht man die Geschäftswelt und die Wertschöpfung im digitalen Zeitalter. In der ersten Hälfte des Buches werden wir die einzelnen Reiter untersuchen sowie ihre Strategien und die Lehren dekonstruieren, die Unternehmenslenker daraus ziehen können.

Im zweiten Teil des Buches werden wir zunächst die Mythologie identifizieren und entzaubern, die die Vier um die Herkunft ihres jeweiligen Wettbewerbsvorteils herum gebaut haben. Dann befassen wir uns mit einem neuen Modell, anhand dessen man begreift, wie diese Unternehmen unsere Urinstinkte ausnutzen, um profitabel zu wachsen, und wir werden zeigen, dass die Vier ihre Märkte mit analogen Burggräben verteidigen: mit echter Infrastruktur in der wirklichen Welt, dafür gedacht, Angriffen potenzieller Konkurrenten die Spitze zu nehmen.

Was sind die Sünden der Reiter? Wie manipulieren sie Regierungen und Konkurrenten, um geistiges Eigentum zu stehlen? Das lesen Sie in Kapitel 8. In Kapitel 9 werden wir mögliche Kandidaten von Netflix bis hin zum chinesischen Einzelhandels-Giganten Alibaba bewerten, die Amazon hinsichtlich vieler Kennzahlen in den Schatten stellen. Hat irgendeiner von ihnen das Zeug, eine noch dominantere Plattform zu entwickeln?

Und schließlich werden wir uns in Kapitel 10 anschauen, welche beruflichen Attribute einem helfen, im Zeitalter der Vier voranzukommen. In Kapitel 11 spreche ich darüber, wohin uns die Vier bringen werden.

Alexa, wer ist Scott Galloway?

Alexa sagt: „Scott Robert Galloway ist ein australischer Profifußballer, der als rechter Verteidiger von Melbourne Victory in der A-League spielt.“

So ein Luder …

Aber gut, ich bin zwar kein Verteidiger, aber dafür saß ich bei den Hunger Games [deutsch: „Die Tribute von Panem“, Anm. d. Ü.] unserer Zeit in der ersten Reihe. Ich wuchs in einem Haushalt der gehobenen unteren Mittelschicht auf und wurde von einer Superheldin (einer alleinerziehenden Mutter) großgezogen, die als Sekretärin arbeitete. Nach dem College verbrachte ich zwei Jahre bei Morgan Stanley mit dem irregeleiteten Versuch, erfolgreich zu werden und Frauen zu beeindrucken. Investmentbanking ist ein schrecklicher Beruf, Punkt. Zudem fehlen mir die Fähigkeiten – Reife, Disziplin, Demut und Respekt vor Institutionen –, die man braucht, um in einer großen Firma (also für jemand anders) zu arbeiten, und deshalb wurde ich Unternehmer.

Nach der Business School gründete ich Prophet, ein Unternehmen für Branchenstrategien mit mittlerweile 400 Beschäftigten, die Verbrauchermarken helfen, Apple nachzueifern. 1997 gründete ich Red Envelope, einen Multichannel-Einzelhändler, der 2002 an die Börse ging und dann von Amazon langsam bis zum Tode ausgeblutet wurde. Im Jahr 2010 gründete ich L2, eine Firma zur Ermittlung von Kennzahlen zu den größten Verbraucher- und Einzelhandelsmarken der Welt in den Bereichen Social Media, Suchanfragen, mobile Geräte und Site-Performance. Wir verarbeiten Daten, um Nike, Chanel, L’Oréal und P&G zu helfen, und jede vierte der 100 größten Verbraucherfirmen der Welt erklimmt diese vier Gipfel. Im März 2017 wurde L2 von Gartner übernommen (NYSE: IT).

Nebenbei gehöre ich den Verwaltungsräten von Medienunternehmen (The New York Times Company, Dex Media, Advanstar) an, die alle von Google und Facebook zermalmt werden. Außerdem saß ich im Verwaltungsrat von Gateway, das im Jahr dreimal so viele Computer wie Apple mit einem Fünftel von dessen Gewinnspanne verkaufte – was nicht gut endete. Und schließlich gehöre ich auch den Verwaltungsräten von Urban Outfitters und von Eddie Bauer an, die beide versuchen, ihr Revier gegen den großen Weißen Hai des Einzelhandels – Amazon – zu verteidigen.

Auf der Visitenkarte, die ich nicht habe, steht allerdings „Professor für Marketing“. Im Jahr 2002 trat ich in den Lehrkörper der Stern School of Business der New York University ein, wo ich Markenstrategie und digitales Marketing lehre – bislang habe ich über 6.000 Studenten darin unterrichtet. Für mich ist das eine privilegierte Stellung, denn ich bin väterlicher- wie mütterlicherseits der Erste in der Familie mit einem Highschool-Abschluss. Ich bin das Produkt eines starken Staates, genauer gesagt der University of California, die beschloss, mir – obwohl ich ein auffallend unauffälliges Kind war – etwas Bemerkenswertes zu schenken: Aufwärtsmobilität dank einer Ausbildung von Weltrang.

Die Säulen eines Wirtschaftsstudiums – das (bemerkenswerterweise) innerhalb von nur 24 Monaten das Durchschnittsgehalt der Studenten von 70.000 (Anwärter) auf über 110.000 Dollar (Absolventen) steigert – sind Finanzwesen, Marketing, Betriebswirtschaft und Unternehmensführung. Dieser Lehrplan frisst das gesamte erste Jahr der Studenten, und die Fertigkeiten, die sie dabei lernen, erweisen ihnen während ihres restlichen Berufslebens gute Dienste. Das zweite Jahr der Business School ist größtenteils vergeudet: Kurse in Wahlfächern (welche das sind, ist egal), die die Lehranforderungen des festangestellten Lehrkörpers erfüllen und die jungen Leute dazu befähigen, Bier trinken zu gehen und zu reisen, um faszinierende (aber wertlose) Erkenntnisse etwa über die „Geschäftstätigkeit in Chile“ zu gewinnen, so der Titel eines der angebotenen Kurse an der Stern Business School. Damit erwerben die Studenten ihre Scheine für die Abschlussprüfung.

Das zweite Jahr ist nur dazu da, damit wir 110.000 statt 50.000 Dollar Studiengebühren verlangen können, um ein Wohlfahrtsprogramm für Überqualifizierte zu unterstützen: die Anstellung auf Lebenszeit. Wenn wir (die Universitäten) weiterhin die Studiengebühren in höherem Tempo als die Inflation erhöhen – und das werden wir –, müssen wir das zweite Studienjahr auf ein besseres Fundament stellen. Ich finde, die betriebswirtschaftlichen Grundlagen des ersten Jahres müssen um ähnliche Erkenntnisse ergänzt werden, wie man diese Fähigkeiten in einer modernen Wirtschaft anwendet. Die Säulen des zweiten Studienjahres sollten eine Untersuchung der Vier und der Sektoren sein, in denen sie aktiv sind (Suchanfragen, Social Media, Marken und Einzelhandel). Um diese Firmen sowie die Instinkte, die sie bedienen, und die Überschneidung zwischen Technologie und Shareholder Value zu verstehen, muss man Kenntnisse der modernen Geschäftsabläufe, über unsere Welt und über uns selbst gewinnen.

Am Anfang und am Ende jedes Kurses an der NYU Stern erkläre ich meinen Studenten, das Ziel des Kurses bestehe darin, ihnen einen Vorsprung zu verschaffen, damit sie für sich und ihre Familie finanzielle Sicherheit aufbauen können. Das vorliegende Buch habe ich aus dem gleichen Grund geschrieben. Ich hoffe, der Leser gewinnt Einblicke und einen Wettbewerbsvorteil in einer Wirtschaft, in der man so leicht wie noch nie Milliardär, aber so schwer wie noch nie Millionär werden kann.

2. Kapitel

Amazon

44 PROZENT DER AMERIKANISCHEN HAUSHALTE besitzen eine Schusswaffe und 52 Prozent haben Amazon Prime.1 Wohlhabende Haushalte nutzen mit größerer Wahrscheinlichkeit Amazon Prime als ein Festnetz-Telefon.2 Die Hälfte des gesamten Online-Wachstums und 21 Prozent des Einzelhandelswachstums in den Vereinigten Staaten im Jahr 2016 waren Amazon zuzuschreiben.3, 4, 5 Jeder vierte Verbraucher prüft Nutzerrezensionen auf Amazon, bevor er in einem Ladengeschäft seinen Einkauf bezahlt.6

Es gibt mehrere gute Bücher über Amazon, unter anderem Brad Stones beeindruckendes Werk „Der Allesverkäufer“, in denen die Geschichte des Hedgefonds-Analysten Jeff Bezos erzählt wird, der mit seiner Frau quer durchs Land von New York nach Seattle fuhr und unterwegs den Businessplan für Amazon entwickelte. Viele, die über Amazon schreiben, behaupten, die entscheidenden Aktivposten der Firma seien ihre operativen Kapazitäten, ihre Ingenieure oder ihre Marke. Ich hingegen würde argumentieren, die wahren Gründe, wieso Amazon all seinen Konkurrenten einen Tritt in den Hintern verpasst und wieso es wahrscheinlich zu einem Wert von einer Billion Dollar aufsteigen wird, sind andere.7 Wie auch die restlichen drei beruht Amazons Aufstieg darauf, dass es an unsere Instinkte appelliert. Der zweite Rückenwind, den es verspürt, ist eine simple, verständliche Story, die es ihm ermöglicht hat, enorm große Mengen an Kapital zu beschaffen und auszugeben.

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Jäger und Sammler

Das Jagen und Sammeln – die erste und erfolgreichste Anpassung des Menschen – deckt über 90 Prozent der Menschheitsgeschichte ab.8 Im Vergleich dazu ist die Zivilisation kaum mehr als ein Ausreißer in der jüngsten Vergangenheit. Dabei ist es gar nicht so schlimm, wie es klingt: Die Menschen der Altsteinzeit und der Neusteinzeit verbrachten pro Woche nur 10 bis 20 Stunden damit, die Nahrungsmittel zu erjagen und zu sammeln, die sie zum Überleben brauchten. Die Sammler – meist Sammlerinnen – waren für 80 bis 90 Prozent des Aufwands und der Menge verantwortlich.9 Die Jäger steuerten vor allem zusätzliche eiweißreiche Kost bei.

Das sollte einen eigentlich nicht überraschen. Männer sind meist besser darin, etwas aus der Ferne zu beurteilen – wo ja die Beute zunächst erspäht wird. Im Vergleich dazu können Frauen normalerweise besser eine Bestandsaufnahme ihrer unmittelbaren Umgebung machen. Außerdem mussten sich die Sammlerinnen mehr Gedanken darum machen, was sie sammeln sollten. Eine Tomate konnte zwar nicht vor der Sammlerin weglaufen, diese musste jedoch die nötigen Fertigkeiten ausbilden, um anhand von Nuancen in Reifegrad, Farbe und Form Anzeichen für Genießbarkeit oder Ungenießbarkeit einzuschätzen. Der Jäger hingegen musste schnell handeln, sobald sich die Gelegenheit zur Tötung ergab. Da war keine Zeit für Nuancen, hier waren Schnelligkeit und Gewalt gefragt. War die Beute dann erlegt, mussten die Jäger sie schnell einsammeln und umgehend nach Hause bringen, denn das frisch getötete Tier und auch sie selbst waren attraktive Zielscheiben.10

Beobachtet man Frauen und Männer beim Einkaufen, erkennt man, dass sich daran nicht viel geändert hat. Frauen befühlen Stoffe, probieren zu einem Kleid Schuhe an und möchten Waren in anderen Farben sehen. Männer sehen etwas, das ihren Appetit stillen kann, töten (kaufen) es und kehren damit so schnell wie möglich in ihre Höhle zurück.11 Wenn unsere Urahnen ihre Beute sicher heim in die Höhe geschafft hatten, erschien ihnen der Stapel nie hoch genug. Mit jeder Dürre, jedem Schneesturm oder jeder Seuche drohte eine Hungersnot. Daher war es eine kluge Strategie, zu viel zu sammeln: Der Nachteil von zu viel Essbarem war vergeudete Mühe, der Nachteil von zu wenig Sammeln war der Hungertod.

Die Menschen stehen mit ihrem Sammeltrieb nicht allein da. Für Männchen zahlreicher Tierarten schlägt sich Sammeln in Sex nieder. Sehen wir uns einmal den Steinschmätzer an, einen Vogel, der in trockenen, felsigen Regionen in Eurasien und Afrika heimisch ist. Die Männchen horten Steine. Je höher der Haufen (je höher der Preis des Lofts in Tribeca), umso mehr Weibchen sind an einer Paarung interessiert.12 Wie die meisten Neurosen beginnt das Sammeln mit besten Absichten und läuft dann aus dem Ruder. Jedes Jahr gibt es Dutzende Berichte über Menschen, die geborgen werden müssen, weil in ihrem (un)behaglichen Haus ihre Sammelstücke über ihnen zusammengebrochen sind. Der Mann, der unter 45 Zeitungsjahrgängen begraben von Feuerwehrleuten gerettet werden musste, war nicht verrückt – er stellte vor jedem seiner Besucher seine Leistungsfähigkeit im Darwin’schen Sinne zur Schau.

Unsere konsumierenden, kapitalistischen Ichs

Der Instinkt ist eine gestrenge Wächterin, die ihre Augen und Ohren überall hat und uns einflüstert, was wir tun müssen, um zu überleben.

So ist er vergleichbar mit einer Kamera, allerdings einer mit geringer Auflösung. Er braucht Hunderte oder gar Tausende von Jahren, um sich anzupassen. Nehmen Sie zum Beispiel Ihre Vorliebe für salziges, zuckerhaltiges und fettes Essen. In den frühen Tagen der Menschheit war das eine rationale Strategie, denn an diese Inhaltsstoffe kam man am schwersten heran. Heute ist das nicht mehr so. Wir haben die Produktion entsprechender Lebensmittel institutionalisiert, sodass etwa ein Whopper von Burger King unsere Bedürfnisse preisgünstig erfüllt. Unglücklicherweise halten unsere Instinkte nicht damit Schritt. Im Jahr 2050 wird vermutlich jeder dritte Amerikaner Diabetes haben.13

Auch hat sich unser Hunger nach mehr leider nicht an die begrenzte Kapazität unserer Kleiderschränke und Geldbeutel angepasst. Viele haben Schwierigkeiten, Essen auf den Tisch zu bringen und sich die notwendigsten Dinge zu kaufen. Millionen landen auch bei Medikamenten gegen Cholesterin wie Lipitor und bei Kreditkarten mit hohen Zinsen, weil sie ihren mächtigen Sammelinstinkt nicht im Griff haben.

Instinkt gepaart mit Gewinnabsicht führt zum Exzess. Und das schlechteste Wirtschaftssystem abgesehen von allen anderen – der Kapitalismus – ist konkret so gestaltet, dass er diese Gleichung maximiert. Unsere Wirtschaft und unser Wohlstand basieren weitgehend auf dem Konsum anderer Leute.

Grundlegend für die Geschäftstätigkeit ist die Auffassung, dass in einer kapitalistischen Gesellschaft der Konsument König und Konsum die vornehmste aller Aktivitäten ist. Somit entspricht der Platz eines Landes in der Welt seinem Niveau an Verbrauchernachfrage und Produktion. Nach dem 11. September lautete der Rat von Präsident George W. Bush an eine trauernde Nation, „mit der ganzen Familie nach Disney World in Florida zu reisen und das Leben so zu genießen, wie es uns gefällt“.14 Konsum ist an die Stelle gemeinsamer Opfer in Zeiten des Krieges und des wirtschaftlichen Elends getreten. Das Land braucht weiterhin immer mehr unser aller Konsum.

Wenige Branchen haben mehr Wohlstand geschaffen durch das Anzapfen unserer Konsumenten-Ichs als der Einzelhandel. Von den 400 reichsten Menschen der Welt (ohne diejenigen, die ihren Reichtum ererbt haben oder die im Finanzwesen tätig sind) gehören mehr zum Einzelhandel als zur Technologie. Armancio Ortega, der Besitzer von Zara, ist der reichste Mann Europas.15 Die Nummer drei, Bernard Arnault von LVMH, gewissermaßen der Vater des modernen Luxus, besitzt und betreibt über 3.300 Geschäfte und damit mehr als Home Depot.16, 17 Aber solche hinlänglich bekannten Erfolgsstorys aus dem Einzelhandel haben, gepaart mit niedrigen Eintrittsbarrieren und dem Traum, seinen eigenen Laden aufzumachen, eine Branche geschaffen, die aus zu vielen Geschäften besteht und sich wie die meisten anderen auch stets im Fluss befindet. So „dynamisch“ ist das Einzelhandelsumfeld in den Vereinigten Staaten:

Die zehn Aktien, die 1982 die beste Performance aufwiesen, waren Chrysler, Fay’s Drug, Coleco, Winnebago, Telex, Mountain Medical, Pulte Home, Home Depot, CACI und Digital Switch.18 Wie viele von ihnen gibt es heute noch?

Die Aktie der 1980er-Jahre mit der besten Performance? Circuit City (plus 8.250 Prozent).19 Falls Sie sich nicht mehr daran erinnern: Circuit City war der inzwischen bankrotte große Supermarkt, der Fernsehgeräte und sonstige Elektronik verkaufte und mit dem Slogan warb: „Wo Service der Stand der Technik ist“. Er ruhe in Frieden.

Von den zehn größten Einzelhändlern des Jahres 1990 stehen im Jahr 2016 nur noch zwei auf der Liste.20, 21 Amazon, das 1994 startete, verzeichnete 22 Jahre später im Jahr 2016 einen größeren Umsatz (120 Milliarden US-Dollar) als das 1962 gegründete Unternehmen Walmart nach 35 Jahren im Jahr 1997 (112 Milliarden US-Dollar).22, 23

2016 war für den Einzelhandel weitgehend eine beispiellose Erfolgsstory Amazons und ein Katastrophenjahr für den restlichen Sektor – abgesehen von ein paar Ausnahmen wie Sephora, Fast Fashion und Warby Parker. E-Commerce-Firmen sterben winselnd, nicht mit einem großen Knall, denn während der stationäre Einzelhandel ein Gesicht hat, ist der Tod eines E-Commerce-Unternehmens gesichtslos und deshalb weniger Angst einflößend. Eines Tages ist die Website, die man regelmäßig besucht hatte, einfach nicht mehr da – also sucht man sich eine andere und vergisst das Ganze.

Der Gang zum Schafott beginnt mit nachgebenden Margen – dem Cholesterin des Einzelhandels – und endet mit Sonderangeboten und Ausverkäufen. Damit kann man sich etwas Zeit erkaufen, aber solche Geschichten haben selten ein Happy End: Als die Einzelhändler in der Weihnachtssaison 2016 zwölf Prozent mehr im Lager hatten als sonst, erhöhten sie die Preisnachlässe von 34 auf 52 Prozent.24

Wie ist es so weit gekommen? Machen wir einen kleinen Spaziergang durch die Geschichte des Einzelhandels. In den Vereinigten Staaten und in Europa spielte sich die Evolution des Einzelhandels in sechs Stadien ab.25

Der Laden um die Ecke

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der Einzelhandel vom Laden an der Ecke geprägt. Kundennähe war das beherrschende Prinzip. Man ging zu Fuß ins Geschäft und trug heim, was man tragen konnte, bisweilen täglich. Einzelhandelsgeschäfte waren für gewöhnlich Familienbetriebe und hatten eine entscheidende gesellschaftliche Funktion innerhalb der Gemeinschaft inne, indem sie Lokalnachrichten verbreiteten, bevor Radio und Fernsehen das dann übernahmen. Ihre Kompetenz lag im Customer Relationship Management (CRM), wenngleich es diesen Begriff noch gar nicht gab. Die Ladenbesitzer kannten ihre Kundschaft und gaben einem aufgrund seines guten Namens Kredit. Unsere Liebesaffäre mit dem Einzelhandel und die Nostalgie, die wir verspüren, wenn ein legendärer Einzelhändler Konkurs anmeldet (man beachte, dass es nicht einmal in den Nachrichten erwähnt wird, wenn eine ehrwürdige Firma dichtmacht, die Erdölanlagen verkauft), ergibt sich aus unserer historischen Zuneigung zum Einzelhandel, die in unserer Kultur tiefe Wurzeln geschlagen hat.

Kaufhäuser/Warenhäuser

Harrod’s in London und Bainbridge’s in Newcastle bedienten ein neues Marktsegment: aufstrebende, wohlhabende Frauen, der sozialen Kontrolle überdrüssig. In London bot das ikonische Selfridges 100 Abteilungen, Restaurants, einen Dachgarten, Lese- und Schreibzimmer, Empfangsbereiche für Besucher aus dem Ausland, ein Erste-Hilfe-Zimmer und Fachpersonal. Die Abteilungsleiter wurden nach einem neuartigen Konzept geschult und bezahlt – der Verkaufsprovision. Die Idee, sich durch Service auszuzeichnen und vorübergehend zum besten Freund des Kunden sowie zu dessen Einkaufsberater zu werden, war bahnbrechend. Sie verlieh dem großflächigen Einzelhandel eine menschliche Note und lenkte die Investitionen in Humankapital auf Geschäftsebene um. Nach Selfridges breitete sich dieses Zelebrieren von Baukunst, Beleuchtung, Mode, Konsum und Gemeinschaft über ganz Europa und die Vereinigten Staaten aus.

Die Kaufhäuser definierten zudem die Beziehung zwischen Geschäft und Verbraucher neu. Traditionell nahmen Verbraucherfirmen eine paternalistische Rolle ein und sagten einem, was am besten für einen war. Die Kirche/die Bank/das Geschäft hatte das Sagen. Man sollte sich glücklich schätzen, mit dem Produkt ihrer kollektiven Weisheit gesegnet zu sein. Harry Selfridge prägte die Formel „Der Kunde hat immer recht“ – damals klang das schwach und unterwürfig. Doch de facto war sie tiefgründig und weitreichend: Vier der fünf ältesten noch existierenden Einzelhandelsunternehmen sind Kaufhäuser: Bloomingdale’s, Macy’s, Lord & Taylor und Brooks Brothers.26

Der Ruf der Mall

Als Amerika auf die Jahrhundertmitte zurollte, sorgten das Auto und der Kühlschrank dafür, dass wir weiter fahren konnten, um mehr Dinge zu kaufen, und dass wir sie längere Zeit unbedenklich lagern konnten. Fortschritte im Vertrieb führten zu weniger Geschäftsbesuchen, größeren Geschäften, größerer Auswahl und niedrigeren Preisen. Die Warenhäuser entwickelten sich zum Einkaufszentrum beziehungsweise zur Shoppingmall. Ebenfalls dank des Automobils erlebten die Vorstädte einen Aufschwung. Die Bauträger reagierten darauf, indem sie den Konsumenten eine bequeme Anlaufstelle boten, die mehrere unterschiedliche Geschäfte an einem Ort beinhaltete, welche durch Gastronomiebereiche und Kinos miteinander verbunden waren. Die Malls entwickelten sich gewissermaßen zur Hauptstraße von Vorstädten, die kein richtiges Zentrum mehr hatten. (Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie stolz die Bewohner von Short Hills in New Jersey auf ihre örtliche Mall sind. Das ist so, als hätte man eine Subway-Filiale – behaltet das lieber für euch, würde ich sagen.) Im Jahr 1987 wurde die Hälfte der Einzelhandelsverkäufe in den Vereinigten Staaten in Einkaufszentren getätigt.27

Doch im Jahr 2016 beklagte die Wirtschaftspresse das Ende einer amerikanischen Institution. 44 Prozent des Wertes der US-amerikanischen Malls steckt in nur 100 Standorten und der Umsatz pro Quadratmeter sackte in den letzten zehn Jahren um 24 Prozent ab.28 Die wirtschaftliche Verfassung eines Einkaufszentrums sagt eher etwas über die lokale Wirtschaft als über das Format an sich aus. Das Vorstadtsterben hat nicht wenigen von ihnen die Existenz gekostet. Aber viele florieren immer noch – vor allem diejenigen mit einem starken Angebot: einer guten Mischung aus Geschäften, Parkplätzen und der Nähe zum obersten Einkommensquartil der Haushalte.

Die Big Box

Das Jahr 1962 bescherte uns den ersten Amerikaner in der Erdumlaufbahn, die Kubakrise, die Fernsehserie „The Beverly Hillbillies“ – und Walmart, Target und Kmart.

Die großen Supermärkte, die man auch als „Big Box“ oder „Superstore“ bezeichnet, führten zu einem dramatischen Wandel der gesellschaftlichen Normen und transformierten das Einzelhandelsformat. Die Idee, Waren in großen Stückzahlen zu kaufen und die Einsparung an die Verbraucher weiterzugeben, ist an sich nicht revolutionär. Bedeutsamer ist, dass wir als Nation beschlossen, dem Verbraucher in jeder Hinsicht den vordersten Platz einzuräumen. Bei Home Depot konnte man sich sein Bauholz selbst aussuchen. Bei Best Buy konnte man jeden erdenklichen Fernseher kaufen und ihn in seinem Auto mit nach Hause nehmen.

Dass man die Dinge zu einem möglichst günstigen Preis kaufte, war nun wichtiger, als dass sie von irgendeinem bestimmten Laden waren oder aus einer bestimmten Branche, und selbst das Wohlergehen des Gemeinwesens wurde nachrangig. Die unsichtbare Hand begann, kleinen oder ineffizienten Einzelhändlern überall in den Vereinigten Staaten und in Europa Ohrfeigen zu verpassen. Die Tante-Emma-Läden, die zuvor einen großen Teil des Gemeinschaftslebens ausgemacht hatten, sahen sich einer übermächtigen Konkurrenz gegenüber. Diese Ära brachte auch eine neue Generation der Einzelhandelsinfrastruktur-Technologie hervor, unter anderem das erste Strichcode-Lesegerät, das 1967 bei Kroger installiert wurde.29

Bis in die 1960er-Jahre gab es Gesetze, die es verboten, dass Nachlässe für Großmengeneinkäufe gegeben wurden. Der Gesetzgeber befürchtete zu Recht, dass dies Tausende Läden vor Ort in den Bankrott treiben würde. Zudem setzten normalerweise die Herstellermarken die Preise fest, die die Einzelhändler für ihre Produkte verlangen durften. Infolgedessen waren Rabatte eine eingeschränkte und stumpfe Waffe.

Aus diversen Gründen, unter anderem wegen sinkender Gewinnspannen und zunehmender Konkurrenz, zog der Staat die Samthandschuhe aus und der große Preiskampf, den man auch als „Race to Zero“ kennt, begann. Heutzutage findet man auf der Homepage von hm.com ein langärmeliges geripptes Kleid mit Rollkragen für nur 9,99 Dollar. Für den gleichen Preis bekommt man auch einen Herren-Feinstrickpullover. Das ist nicht nur in heutigen Dollar, sondern auch in den Dollar des Jahres 1962 billig – eine erstaunliche Leistung und ein Zeugnis dieses halsbrecherischen Preiskriegs.

Sobald die Fesseln durchschnitten waren, schufen die Big-Box-Monster, die für weniger Geld mehr boten, ein Vermögen von Hunderten Milliarden Dollar. Die nächsten 30 Jahre brachten das damals wertvollste Unternehmen der Welt und den reichsten aus diesem Format hervorgegangenen Mann der Welt hervor, nämlich Sam Walton – ganz zu schweigen von der allgemeinen Ansicht, der Kunde sei nun endgültig König. Die Menschen klagen über die Jobvernichtungsmaschine Amazon – aber der eigentliche Gangster war Walmart. Sein Wertversprechen war klar und verlockend: Wenn man bei Walmart einkauft, ist das das wie eine Beförderung: Man bekommt ein besseres Leben, trinkt Heineken statt Budweiser und wäscht mit Tide statt mit Sun.

Fachhändler

Walmart war der große Gleichmacher. Aber die meisten Verbraucher wollen nicht wie alle andern sein, sondern etwas Besonderes. Und ein beträchtlicher Teil der konsumierenden Bevölkerung bezahlt für diese Aufmerksamkeit gerne mehr. Diese Fraktion besteht tendenziell aus den Verbrauchern mit dem höchsten verfügbaren Einkommen.

Der Marsch in Richtung „mehr für sein Geld kriegen“ erzeugte ein Vakuum für Konsumenten, die nach Expertise und sichtbaren Kennzeichen ihres höheren sozialen Status suchten. Daher der Aufstieg des Fachhandels, der es überwiegend wohlhabenden Verbrauchern ermöglichte, sich auf eine exklusive Marke oder ein exklusives Produkt zu konzentrieren, ohne auf den Preis zu achten. So ist der Erfolg von Pottery Barn, Whole Foods und Restoration Hardware zu erklären.

Die gute Konjunktur half dabei. Wir schrieben die blühenden 1980er-Jahre und die Yuppies fanden in den Fachgeschäften eine Heimat fern ihrer Heimat – Lustschlösser, in denen sie Dinge für ihre Wohnungen und ihre Kleiderschränke kaufen konnten, die ausdrückten, wie cool und kultiviert sie doch waren. Man konnte das passende Schweinefleisch in einem Haus kaufen, das nichts als Backschinken in Honig verkaufte, oder die perfekte Kerze in einem Laden, der nur Kerzen verkaufte (Illuminations), oder man suchte sich „Bettwäsche und noch ein paar Sachen“ aus – bei Linens ’n Things. Viele dieser Fachhändler vollzogen so gut wie nahtlos den Übergang in die Ära des E-Commerce, da manche bereits ihre Sporen mit Versandkatalogen verdient hatten und daher mit Daten und Bestellungen kein Problem hatten.

Die Einzelhandelskette, die den Fachhandel wahrhaft definierte, war The Gap. Anstatt Geld für Werbung auszugeben, investierte The Gap in das Einkaufserlebnis und wurde zur ersten Lifestyle-Marke. Wenn man bei The Gap einkaufte, kam man sich cool vor, wogegen der Kauf eines Sofas bei Pottery Barn einer Generation von Amerikanern das Gefühl gab, „es geschafft“ zu haben. Die Fachhändler erkannten, dass sogar Einkaufstaschen den Vorteil der Selbstdarstellung boten – mit einer Tüte von Williams-Sonoma war man cool, genoss die edleren Dinge des Lebens und kochte leidenschaftlich gern.

E-Commerce als Chance

Es ist eher so, dass Jeff Bezos dem Einzelhandel passierte, als dass der Einzelhandel Jeff Bezos passierte. In allen früheren Zeitaltern des Einzelhandels gab es brillante Menschen, die einen demografischen Wandel oder einen Geschmackswandel ausnutzten und damit Milliarden Dollar an Werten schufen. Bezos hingegen sah einen technologischen Wandel und nutzte ihn dann, um die gesamte Welt des Einzelhandels von Grund auf neu aufzubauen. Der E-Commerce wäre nur ein Schatten seiner selbst, wenn Bezos nicht seine Vision und seinen Fokus in dieses Medium eingebracht hätte.

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In den 1990ern war der E-Commerce für fast alle nur in diesem Bereich tätigen Firmen ein beschissenes, nicht lohnenswertes und undankbares Geschäft (und das ist immer noch so). Der Schlüssel zum Erfolg im E-Commerce war nicht die Ausführung, sondern dass viel Wind um das Potenzial eines Unternehmens gemacht wurde, das man dann an irgendeinen reichen Trottel verkaufte, bevor das Kartenhaus in sich zusammenstürzte. Das jüngste Beispiel waren Websites mit Blitzangeboten – sie versprachen fantastische Sonderangebote, aber nur für begrenzte Zeit. Die Presse kriegte sich nicht mehr ein. Erkennen Sie das Muster? Hype ist nicht gleich Umsatz.

Womöglich war der Einzelhandel risikobereinigt noch nie ein gutes Geschäft. Aber er war deutlich weniger unrentabel, bevor der Weiße Hai aus Seattle auftauchte und begann, sich alles einzuverleiben. In den letzten zehn Jahren bewegten sich die Marktkapitalisierungen der Einzelhandelsikonen des 20. Jahrhunderts – von Macy’s bis JCPenney’s – zwischen fürchterlich und katastrophal. In jeden Sektor wird nur eine begrenzte Menge an Kapital investiert und die Vision und das Geschäftsgebaren von Amazon haben den Großteil dieser Investitionen geschluckt. Das Ergebnis ist, dass ein einst sehr lebendiger Sektor von einem einzigen Akteur verwüstet und entvölkert wird.

Da wir in einer Konsumkultur leben, verläuft die natürliche Flugbahn des Einzelhandels nach oben. Wenn also die Sterne günstig stehen und ein neues Konzept funktioniert, lässt es sich schnell ausweiten und schöpft gewaltige Werte für Verbraucher und Aktionäre. Walmart bot den Menschen die Chance auf ein (zumindest materiell) besseres Leben. Und man kann sich wirklich besser fühlen, wenn man Zara Silver Patent Platform Oxfords trägt und seinen Saft mit einer Breville Juice Fountain von Williams-Sonoma presst.

Der Unterschied ist diesmal jedoch, dass dieser Wert in beispielloser Geschwindigkeit von einem einzelnen Unternehmen geschaffen wurde, denn da Amazon virtuell ist, kann es sich auf Hunderte Millionen Kunden ausweiten und in fast alle Einzelhandelsbranchen hineinwachsen, ohne dabei wie ein traditioneller Einzelhändler durch die Notwendigkeit gebremst zu werden, Geschäftsräume zu bauen und Tausende Mitarbeiter einzustellen. Bezos begriff, dass bei Amazon jede Internetseite ein Geschäft und jeder Kunde ein Verkäufer sein kann. Und dass das Unternehmen so schnell wachsen könnte, dass kein Winkel mehr frei bleibt, in dem sich Konkurrenten eine Nische einrichten könnten.

Der demnächst reichste Mann der Erde

Während des ersten Dotcom-Booms war Jeff Bezos bloß ein weiterer Wall-Street-Ausbrecher mit Informatikstudium, der sich in die Verheißung des E-Commerce verliebt hatte. Aber seine Vision und seine manische Konzentration erhoben ihn weit über den Rest. Für die Fassade des Online-Ladens, den er 1994 in Seattle startete, wählte er den Namen „Amazon“ als Hinweis auf das Ausmaß der Warenströme, die er ins Auge fasste. Jedoch war ein anderer Name, den er in Erwägung zog (die URL besitzt er immer noch) passender: relentless.com (zu Deutsch: „unerbittlich“).30

Als Bezos Amazon gründete, konnte Online-Shopping die echten Sammler noch nicht bedienen, weil die begrenzte Internet-Technologie (lahm) etwa so nuanciert und ausgereift war wie ein Lada – hässlich und schwach motorisiert. Zwei Dinge sind es, die eine Marke ausmachen: Versprechen und Leistung. Die Marke „Internet“ bestand in den Neunzigern und bis in die Nullerjahre hinein nur aus der einen Hälfte.

Im Jahr 1995 brauchte der E-Commerce eine leichte Beute mit hohem Wiedererkennungswert, die man mit wenig Wertverlust und geringem Risiko heim in die Höhle schleppen konnte, ohne dass man versehentlich eine Pflanze mitbrachte, die die gesamte Sippe vergiften würde. Bezos befand, ein Beutetier eigne sich dafür besonders: Bücher.

Leicht wiederzuerkennen, zu erlegen und zu verdauen. In einem Lager gestapelte Bücher mit einer Vorschau namens „Blick ins Buch“. Das Beutetier war also bereits für einen erlegt und gelagert. Ein neuer Industriezweig – Buchrezensionen – entstand, der erklärte, welche Bücher gut verdaulich/lesenswert waren, und dabei die von einem Buchladen angebotene sorgfältige Vorauswahl umging. Bezos begriff, dass Rezensionen die harte Einzelhandelsarbeit für ihn erledigen konnten. Amazon konnte auf die weniger lahmen Merkmale des Internets zurückgreifen: Auswahl und Vertrieb. Also keine netten Details wie hübsch beleuchtete Schaufenster, eine Glocke an der Tür und freundliche Verkäufer oder Verkäuferinnen. Stattdessen mietete er ein Lagerhaus in der Nähe des Flughafens von Seattle und bestückte es so, dass Roboter gut darin zurechtkamen.

In der Anfangszeit konzentrierte sich Amazon auf Bücher und Jäger – Menschen mit einer Mission, die ein bestimmtes Produkt suchten. Im Laufe der Jahre brachte das Breitband-Internet immer mehr Nischenangebote hervor und es tauchten Sammler auf, die bereit waren zu stöbern, Optionen abzuwägen und sich dabei Zeit zu lassen. Bezos wusste, dass er auf Dinge umsteigen konnte, von denen die Menschen es noch nicht gewohnt waren, sie online zu kaufen, zum Beispiel CDs und DVDs. Als Vorbote der Bedrohung alles Guten in unserer Gesellschaft stellte die CD I Dreamed a Dream von Susan Boyle auf der Plattform Verkaufsrekorde auf.

Um die Mitbewerber zu überholen und den zentralen Wert der Auswahl noch zu verstärken, gründete man Amazon Marketplace und ließ Drittfirmen die Nischen füllen. Verkäufer bekamen Zugang zur größten E-Commerce-Plattform der Welt und zu ihrem Kundenstamm, und Amazon konnte dadurch seine Angebote ohne die Kosten für zusätzliche Lagerbestände enorm erweitern.

Amazon Marketplace macht inzwischen 40 Milliarden Dollar oder 40 Prozent des Umsatzes von Amazon aus.31 Die Verkäufer sind mit dem massiven Kundenstrom zufrieden und verspüren nicht den Drang, in eigene Einzelhandelskanäle zu investieren. Indes bekommt Amazon die Daten und kann in jedes Geschäft eintreten (also anfangen, selbst Produkte zu verkaufen), sobald eine Kategorie attraktiv wird. Das heißt, sollte sich Amazon dazu entschließen, könnte es direkt Wandklebebilder eines „alten Asiaten“ [„old asian man decal“, Anm. d. Ü.], Nicolas-Cage-Kissenbezüge und 200-Liter-Fässer Schmieröl verkaufen.

Amazon spricht unseren Jäger-Sammler-Instinkt an, mit minimalem Aufwand immer mehr Dinge zu horten. Uns bedeuten diese Dinge sehr viel, denn es überlebte derjenige Höhlenmensch, der die meisten Reiser, die richtigen Steine zum Aufbrechen harter Gegenstände und den farbigsten Lehm hatte, um Bilder an die Wand zu malen, damit seine Nachkommen wussten, wann sie säen mussten oder welchen gefährlichen Tieren sie aus dem Weg gehen sollten.