Über Andi Rogenhagen

Andi Rogenhagen wurde mitten in die Tristesse der 1960er-Jahre hineingeboren. 2011 erschienen sein Debütroman Heldensommer und sein erfolgreicher Kinofilm Ein Tick anders. Der Grimme-Preisträger lebt mit seiner Familie in Bochum.

Ich sitze auf der Rückbank im Auto meiner Eltern. Die warme Sommerluft wummert in den offenen Autofenstern. Die Sonne steht schon schräg in den Feldern. Es ist August.

Mein Name ist Philipp, und ich bin fünfzehn Jahre alt. Wir kommen von der Beerdigung meines Opas, und ich habe mir vor der Abfahrt in dem bescheuerten Restaurant eine Zwiebel mitgenommen, denn auf Opas Beerdigung konnte ich gar nicht weinen – obwohl ich es wirklich wollte und auch aufrichtig versucht habe.

Jetzt zerknibbele ich die Zwiebel unauffällig in der Hosentasche und reibe mit den Fingern in meinen Augen herum. Sie beginnen zu brennen. Ich klimpere ein paarmal mit den Lidern, und dann verschwimmt mein Blick tatsächlich hinter Tränen. Ich schniefe gut hörbar und setze mich aufrecht hin, damit mein Vater die Tränen im Rückspiegel auch sieht. Wenn ich gar nicht weine, ist er vielleicht unzufrieden mit seiner Erziehung. Dann glaubt er, ich wäre nicht liebesfähig, denn eine Freundin habe ich auch noch nicht. Also tu ich ihm einfach den Gefallen. Aber ich darf auch nicht zu viel weinen, denn dann fährt mein Alter womöglich rechts ran, um mich zu trösten, und ich verpasse noch mehr von Borawskis Party, die heute Abend steigt.

Jetzt bekomme ich Angst, dass einer aus meiner Familie die Zwiebel riechen könnte. »Der heult doch nicht echt, der hat bestimmt eine Zwiebel in der Tasche! Durchsucht ihn!«

Ich nehme die Zwiebel heimlich aus der Hosentasche und drücke sie tief in den Schlitz zwischen Rückbank und Lehne.

Ich drehe meinen Kopf zu meiner angeschnallten Schwester und denke an den Geruch im Flur meiner Großeltern. Schrumpeliger Apfel, Ölheizung, kalte, schwarz-weiß gesprenkelte Treppensteine. Als Kind sitze ich auf den Stufen und klatsche die Knie unter meinem schlabberigen Schlafanzug zusammen. Ich warte auf meinen Opa, der mich zum Schlafengehen die Treppe hochträgt. Ich halte seinen großen Rücken, rieche das Rasierwasser und sinke danach in das immer wieder auf wundersame Weise neu prall aufgeblasene, duftende Bettzeug.

2

Meine gefühlvolle Mutter glaubt, dass ich »einen Freund brauche, der mich wegen Opa tröstet«, und lässt mich genialerweise schon nach fünfzehn Minuten von zuhause abhauen. Ich leih mir das Rad von meinem Alten, weil meins seit drei Monaten platt ist.

Auf der Fahrt durch die lauwarme Augustluft muss ich grinsen. Ein Freund, der mich tröstet, ist eine bescheuerte Vorstellung – jedenfalls, wenn es so läuft, wie es sich meine Mutter in ihren VHS-Kursen ausmalt.

Borawski steht im Garten rum. Seine Alten sind weg. Es sind vierzehn Typen und zwei total fest vergebene Mädchen da. Einige Kotzer werden bereits im Gebüsch betreut. Ich bin spät dran. Borawski freut sich, mich zu sehen.

»Ey, Alter, tut mir leid wegen deinem Opa, meiner ist auch letztes Jahr abgekackt. Komm, wir saufen!«

Ich nicke, und wir stoßen an.

Ich wache im Wald hinter Borawskis Haus auf. Es ist noch dunkel. Durch die Bäume blitzen die Laternen der Reihenhaussiedlung. Riesige Spielwürfel, die auf einer Galeere arbeiten. Sie rudern im Gebüsch rauschend vor und zurück. Wo sind die anderen alle?

Ich liege da rum, und dann liege ich zuhause in meinem Zimmer. Es ist das Jugendzimmer eines Zwölfjährigen – denn ich weiß nicht, wie wohnen geht, und ich will es auch gar nicht wissen.

Es ist hell. Mein Vater weckt mich, weil er sein Fahrrad nicht finden kann. Jetzt will er es wiederhaben, weil er zu »Rema« fahren will. Unser Hausladen, ein »Aktivmarkt«, obwohl es meiner Ansicht nach eher ein Passivmarkt ist, weil man da stundenlang herumstehen kann, ohne dass man wahrgenommen wird. Erst nach Geschäftsschluss wird man bemerkt und als unbekanntes, stehen gelassenes Objekt aus Sicherheitsgründen sofort gesprengt.

Mann! Warum läuft der Alte denn nicht einfach zu diesem Laden?

»Mann … nerv nicht, das Rad steht im Keller.«

»Blödsinn, da hab ich schon nachgesehen!«

Das ist natürlich dumm. Jetzt liege ich hier wie eine warme Sardine und weiß nicht, was ich sagen soll. Ich muss aber was sagen.

»Mh? Ja, dann … klar, bei Borawskis vor der Haustür.«

»Wieso das denn? Wie bist du denn nach Hause gekommen?«

Verdammt! Das ist eine gute Frage. Ich habe keine Ahnung. Ich drehe mich auf die andere Seite zur Wand.

»Na ja, ich hol das später. Wir sind gelaufen.«

»Wir? Wer denn?«

Verdammt! Nerv nicht! Ja, wer denn? Keine Ahnung.

Mein Vater flucht über seinen faulen Sohn und stampft nach unten, wo er sein Rad aber zum Glück schnell wieder vergisst, weil jemand anruft und er noch ein bisschen wegen seines toten Vaters weinen muss. Es ist elf Uhr, und ich will noch ein bisschen pennen. Er soll einfach abhauen!

4

Ich rufe bei Borawskis an. Seine Mutter ist dran und geht für mich in ihrer ekeligen, gekachelten Einfahrt nach dem Rad meines Vaters gucken. Dann kommt sie zum Telefon zurück.

»Nein, Philipp, da ist kein Rad mehr.«

 

»Ich hol mal das Rad«, rufe ich ins Wohnzimmer, meine Alten nicken, und ich laufe los. Draußen riecht es nach trockenem Sand, Kiefern und warmem Straßenbelag. Sonnenflecken flirren auf den Bürgersteigen unserer kleinen Stadt, die nur aus zweispurigen Straßen, Beton und Aktivmärkten besteht. Und aus Siedlungen, in denen Siedler leben, die überall siedeln und alles zersiedeln und unheimlich siedelig drauf sind.

»Ey, du Siedel, wo siedelst du denn rum?«

»Ja, ich siedle da vorne in der einen Siedlung.«

»Ach, ja klar, jetzt erinnere ich mich – ja, wir ham uns ja auch schon beim Siedeln getroffen – da warst du aber nicht hier, sondern da drüben in deiner Siedlung.«

»Genau, und ich war in meiner.«

Leckt mich alle am Arsch, und das Fahrrad ist nicht da! Ich laufe durch den Wald hinter Borawskis Haus, und da vorne kommt der alte Borawski mit seinem Hund. Mist! Nein, der darf mich jetzt nicht fragen, was ich hier im Wald hinter sei

»Hallo, Philipp. Na? Was machst du denn hier?«

Borawskis ekeliger Hund, der gestern zum Glück im Waschkeller eingesperrt war, hechelt mich an. Soll er doch seine eigene Kackwurst vom Kachelboden fressen! Ich senke den Blick.

»Mein Opa ist gestorben, und ich muss einfach mal ein bisschen rumlaufen, Herr Borawski.«

Ich bin selbst ganz erstaunt über diese geniale Antwort! Schon beinahe erschüttert über diese Aufrichtigkeit eines Fünfzehnjährigen! Wie der mit dem Tod umgeht! »Er ist eben sehr reif«, sagen die Damen aus der Siedlung beim Kaffee, verabschieden sich schnell und rennen heimlich nach Hause, um zu onanieren. Der alte Borawski steckt seine Hände in die Taschen. Er blickt zu Boden und nickt, als wenn er es mit einem Erwachsenen zu tun hätte.

»Das verstehe ich, Philipp.« Dann zieht er eine Hand wieder aus dem Mantel und reicht sie mir. Ich nehme sie. Sie ist wärmer, als ich dachte. Und kleiner. Ey, was für eine kleine Hand haben Sie denn?!

»Es tut mir leid. Grüß bitte deine Eltern ganz herzlich von mir.«

Einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, als wenn er es wirklich ernst meint – was natürlich unmöglich ist, denn er kannte meinen Opa ja gar nicht. Der alte Borawski, diese Heuchelsau! Du Hundesabbler! Wieso wiegt dein Sohn mit sechzehn schon siebenhundert Kilo? Fresst ihr eigentlich nur Scheiße zuhause? Endlich haut er ab. Ich suche weiter nach dem Rad, aber es ist einfach nirgendwo. Weg!

Mein Vater sitzt über seiner Fernsehzeitung am Esstisch und schüttelt den Kopf über den Müll, den die privaten Kanäle anbieten. Ich nehme vor der Tür etwas Schwung und komme fassungslos rein.

»Es ist geklaut worden!«

Mein Vater sieht hoch.

»Was? Mein Rad?! Wo?«

»Na, bei Borawskis! Direkt vor der Haustür, wo ich es abgestellt habe.«

»War es denn abgeschlossen?!«

»Natürlich!«, sage ich, und mir fällt das große Ringschloss ein, das ich heute noch tief in unserer Mülltonne versenken muss. Oder ich wickle es in einen der alten Öllappen vom Rasenmäher und verklappe es in dem scheppernden Altkleidercontainer vorm Aktivmarkt.

»Diese Arschlöcher!«, schreit mein Alter los und hört gar nicht mehr auf. »Dass die da den Kindern ihre Räder klauen, das wissen die ganz genau!! Diese Schweine!!«

Ich nicke betroffen. Mein Vater verzieht sich kopfschüttelnd. Alles klar. Das mit dem Rad wäre geklärt!

6

Ich rufe Ingo an, weil ich noch nicht weiß, was ich heute Abend machen soll. Borawski hat sicherlich Stubenarrest, nachdem seine Eltern ihr »kaputtgeficktes« Ehebett entdeckt haben – zumindest war da ein Blutfleck und der vordere Teil des Bettes zusammengebrochen. So hat Borawski es am Telefon erzählt. Durchaus möglich, dass alles total erlogen ist, damit ich da

Ingo ist der Einzige, der schon eine eigene Wohnung hat, wo man ungestört abhängen kann. Er hat sogar schon einen Führerschein. Der Einzige, der in Ingos Wohnung nervt, ist Ingo selbst. Zum Beispiel holt er nie Bier. Er beteiligt sich noch nicht mal an den Diskussionen darüber, wer jetzt zur Bude gehen muss.

Ingo sagt, ich soll vorbeikommen, aber er hat kein Bier da.

»Mama, wir schreiben morgen Deutsch. Ich geh noch zu Ingo rüber, lernen.«

Meine Mutter, die in den letzten zehn Jahren noch nicht mitbekommen hat, dass Ingo nie in meiner Klasse war, nickt. Sie merkt auch nicht, dass ich weder meine Tasche noch Stifte, noch sonst was mitnehme, außer einem Zehneuroschein, den ich ihr heimlich aus dem Portemonnaie ziehe, damit ich Ingo Bier mitbringen kann. Dann sitze ich bei Ingo und muss mir

»Ich bin dafür, alle Generatoren der ganzen Welt in eine Stahlpresse zu werfen und mit unfassbarer Gewalt zu einem einzigen gigantischen Teil zusammenzudrücken, dem Mega-Generator-Block!«

Ingo nickt.

»Gute Idee.«

Darauf stoßen wir an.

7

Wir haben Doppelstunde Französisch, und das ist das Schlimmste in der ganzen Woche. Herr Mairesse, Jacques Mairesse, Ende vierzig und schon graue Haare, ein schlaumeierischer Austauschlehrer aus Frankreich, hat nämlich eine Mission. Er interessiert sich wirklich dafür, dass wir Französisch lernen! Er glaubt – wie mein Vater –, dass es Europa besser geht, wenn ich drei statt nur zwei Vokabeln Französisch beherrsche. Sein Vorgänger, Dr. Fisch, der jetzt im Austausch in Mairesse’ Schule abhängt, hatte uns allen immer eine Drei gegeben, damit er beliebt war und wir seine kalte Schnapsfahne nicht an die Schulleitung verrieten.

Jetzt, da Dr. Fisch in Frankreich ist, wo Saufen während der Arbeit meines Wissens nach zum guten Ton gehört, hat er es gar nicht mehr nötig, sich beliebt zu machen. Wahrscheinlich säuft er jetzt sogar mit den Schülern und fühlt sich dabei unheimlich frei und leicht, weil er ihnen entspannt Sechsen geben kann. Dr. Fisch schlendert durch die Stuhlreihen und schenkt

»Philipp. Was meinst du?!«

Mairesse schlendert von der Europakarte weg und setzt sich auf den Tisch. Wieso glaubt er, dass ich ihm zugehört habe? Nur weil ich zufällig in seine Richtung gucke? Diese Sau lässt die Beine baumeln und wartet auf meine Antwort. Ich bin still. Was soll ich auch sagen? Dann wiederholt Mairesse die Frage noch einmal, gemeinerweise aber auf Französisch. Davon versteh ich nun wirklich nichts. Die Sprache klingt, als ob einem ein eingeölter Vogel auf die Zunge getackert wäre.

Ich drehe mein Leberwurstbrot unter der Bank. Geh doch zurück in dein blödes Holland, Quatsch, Frankreich mein ich natürlich. Ich versuche auszusehen wie jemand, der nachdenkt. Deshalb nicke ich sanft und hole dabei langsam und genussvoll Luft, genau so, wie ich es in den Schamhaaren von Martina Fennsbeck tun würde, die drei Reihen vor mir sitzt und doch so weit weg ist wie eine Katze, die von der russischen Raumfahrtbehörde netterweise in Begleitung einer Ikone ins All geschossen wurde. »Damit du nicht alleine stirbst« ist auf Russisch in den Ikonenrahmen geschnitzt. So etwas ist wirklich asozial.

»Ich glaube, das ist asozial, Monsieur Mairesse.«

Mairesse haut auf den Tisch. Irgendwas passt ihm nicht. Mann, was ist denn los mit dem? Hoffentlich war es keine dieser Nazifragen, die man unbedingt mit »Nein!« beantworten muss. Mairesse nervt nämlich ständig mit einem Denkmal der Résistance in seinem Heimatdorf, übrigens das Dorf, in dem jetzt Dr. Fisch tot auf dem Toilettenboden der Schule liegt. Dieses Denkmal zeigt nämlich stellvertretend für alle anderen gefallenen Helden des französischen Widerstandes seinen Großvater, den alten Mairesse, der in dieser Résistance wohl

Mairesse, der jetzt auf mich zukommt, glaubt sogar, er sähe seinem in Stein gemeißelten Großvater ähnlich, aber das ist natürlich totaler Quatsch. Diese Köpfe sehen ja noch nicht mal denen ähnlich, die es sein sollen. Ich muss leider mein Leberwurstbrot fallen lassen, lege die Hände auf den Tisch, setze mich aufrecht hin und sehe Mairesse an.

»Hast du denn nichts gelernt, Junge? Willst du mich provozieren?«

Kacke! Ich weiß wirklich nicht, worum es geht!

»Nein«, sage ich, »aber, Monsieur Mairesse, es gibt ein paar Dinge, die muss man einfach beim Namen nennen. Und mein Name dafür ist halt ›asozial‹. Stellen Sie sich einfach vor, es wäre der Nachname eines guten Freundes.«

Mairesse geht kopfschüttelnd zu seinem Stuhl, vergräbt die Hände im Gesicht und winkt uns alle raus.

»Haut ab. Alle.«

Als ich in der Tür bin, bewegt sich Mairesse schon wieder. Er sieht mich an.

»Denk bitte an die Klausur morgen.«

8

Ich sitze in meinem ekeligen Kinderzimmer. Ich habe einen Spanplattenschrank mit hellem Holzfurnier, einen Spanplattentisch mit hellem Holzfurnier und eine Spanplattenbettkiste

Da wurde ein Typ gezeigt, der es irgendwann nicht mehr aufs Klo schaffte, weil er immer weiterspielen musste. Also kackte er in den Drehstuhl, auf dem er saß. Als ihm der Strom abgestellt wurde, den er monatelang nicht bezahlt hatte, nahm er sich einen Strick. Neben seiner Leiche, die mit einer Wäscheleine an einem Bilderhaken hing, fand man vier randvolle, mit Kippen und Asche gefüllte Zehnlitereimer. Damit er nicht die ganze Bude zuschiss, hatte er sich irgendwann einen Schal mit den Farben seines Lieblingsfußballklubs in den Arsch gesteckt, damit der auch wirklich dicht war. So hing er tot an der Wand, mit einem aufgequollenen Bauch und der Schal baumelte hinten aus seinem Hintern raus. Die Mutter musste dann die ganze Sauerei wegmachen.

Ich gucke in mein Französischbuch und schnall nichts. Mann, was heißt das alles? Können die nicht auch Deutsch sprechen? Draußen scheint die Sonne. Ich lehne mich im Stuhl zurück und betrachte mein Zimmer. Es lohnt sich nicht, hier was zu verändern. Ein Mädchen wird nie hier hinkommen. Ich hab Rollläden, die ich zum Onanieren runterlassen könnte – mach ich aber nicht, weil dann die Leute auf der Straße denken: Ah, jetzt onaniert der wieder! In drei Jahren hab ich Abi und Führerschein, schreib mich für irgendeinen Müll ein und zieh aus. Leckt mich alle am Arsch!

Ich klappe das Buch zu. Es wird schon gut gehen. Eine Fünf auf dem Zeugnis kann ich mir erlauben. Mairesse, die Sau!

Ich ruf Borawski an, und wir fahren zu Wörnie. Wörnie ist unser Dealer. Er ist Mitte zwanzig, also schon richtig erwachsen. Ich bewundere ihn, er ist ein echter Freak, der vor nichts Angst hat. Wörnie lebt bei seinen Eltern in einer Hochhaussiedlung. Borawski und ich klingeln. Wörnies fette Mutter macht auf, und uns schlägt dieser typische Kleinwohnungsgeruch entgegen. Hamster, Waschmaschine und gebratener Speck.

»Na ihr beiden?! WÖRNIEE, BESUUUCH

Wörnies Mama dampft ab in die Küche. Wörnie kommt aus seinem Zimmer durch den dunklen Flur geschlufft.

»Hey Jungs, was liegt an?«, fragt er, aber da er die Antwort bereits kennt, dreht er gleich ins Wohnzimmer ab. Mama Wörnie stellt uns ungefragt die gläserne Wasserpfeife auf den Tisch, die sie extra gespült hat. Wörnie bröselt von einem faustgroßen Haschklumpen eine Mischung auf und stopft sie in die Pfeife. Mama Wörnie reicht Feuer, und wir ziehen blubbernd den weißen Rauch durch das frische Leitungswasser der lieben Stadtwerke, die es sich zweimal überlegen würden, Wasser herzustellen, wenn sie wüssten, was damit getrieben wird. Papa Wörnie liegt im gleichen Raum mit übereinandergeschlagenen Beinen vorm Fernseher. Man riecht seine warmen grauen Socken. Nur hin und wieder murmelt er: »Scheiße …«, sucht, ohne hinzusehen, nach der Fernbedienung auf dem Marmortisch, findet sie endlich und schaltet um. Er hat noch nicht mal hochgesehen, als wir an ihm vorbeigelaufen sind. Wörnie hat es gut. Seine Eltern wissen alles und unterstützen ihn bei seiner Arbeit. Wörnies Hasch liegt sogar unter dem Ehebett der Eltern. Falls die Bullen kommen, gucken sie da bestimmt nicht nach.

»Denen hau ich in die Fresse!«, sagt Mama Wörnie, und ihr Kopf ist so fett und glänzend, ihre kleine Küche ist so sauber, und was im Siphon los ist, will ich gar nicht wissen. Wir kaufen

Wörnie legt eine Scheibe auf, und wir hören Musik, mit geschlossenen Augen, wie es sich gehört, wenn man zugekifft ist – jedenfalls macht es Wörnie so, also machen wir es auch so. Nach einem Stück stehe ich auf und tu so, als ob ich mich für Wörnies Schlangen interessiere, die in einem Terrarium am Fenster stehen. In Wirklichkeit kann man von da den Eingang des Hochhauses sehen und gucken, ob nicht doch Bullen kommen. Ich stelle Fachfragen zu den Schlangen und überlege dabei, wie viele Typen hier eigentlich jeden Tag auflaufen und was die alles da draußen erzählen. Eigentlich müssten jede Sekunde die Bullen hereinstürmen! Wörnie steht auf und zeigt mir – weil ich ja so interessiert bin – uninteressanten Schlangenscheiß.

»Guck mal, der kleine Mann, verstehse, hat gestern ’ne Ratte gekriegt, willste mal in die Hand nehmen? Der kann nichts tun, verstehse? Hab ihm die Zähne im Winter …« – und so weiter und so weiter und so weiter. Achtzig Prozent von dem Müll hab ich letztes Mal schon gehört und die fehlenden zwanzig Prozent vorletztes Mal.

Ich sehe auf die Uhr. Wir sind jetzt seit einer halben Stunde hier. Wörnie denkt bereits, dass wir ihn auch besuchen würden, wenn er nicht Dealer wäre, also können wir wieder abhauen.

»Ja, ich glaube, wir machen uns mal so langsam vom Acker …«

Borawski nickt.

»Ja, Scheiße Mann, ich muss noch … Mann, bin ich breit, das ist wirklich gutes Dope, Alter!«

»Ey, Alter, sicher, das hab ich von ’ner Connection aus Bayern, verstehse? Da is nichts gepanscht, kein Genschrott, voll natürlich, verstehse? Eins a Maroc.«

Wörnie nimmt unter einem staubigen Raumschiffmodell einen Holzstab aus dem Regal hervor und schubst seine Schlange damit.

»Ey, hör mal, das ist echt gutes Dope, sagen die, verstehse?«

Ich kichere und nicke. Meine Hände sind heiß. Ich stecke sie in die Jacke, die ich die ganze Zeit gar nicht ausgezogen habe. Borawski sieht mich an. Ich schlendere zur Tür und nehme die Klinke in die Hand.

»Jau, Wörnie. Danke, ne? Dann, bis die Tage.«

Wörnie legt den Holzstab weg und dreht sich zu uns um.

»He, he, jau, danke, sag mal, wie läuft’s denn in der Schule und so bei euch?«

Mann, was ist das jetzt für ein Smalltalkmüll?! Was soll ich ihm denn über die Schule erzählen?

»Mein Opa ist letzte Woche gestorben, deshalb war ich gar nicht da.«

Wörnie fährt sich durchs Haar.

»Oh Mann, krass, Alter, verstehse? Jau, das ist echt kacke, das tut mir voll leid, verstehse, so ein alter Mann sollte gar nicht sterben, verstehse? Der hat uns noch so viel mitzugeben, verstehse, an die jüngere Generation, die Sachen, die der mal gemacht hat, das sind Dinge, die weiß doch keiner mehr, verstehse? Das geht doch alles verloren. Das sollten die doch mal organisieren, dass das nicht verloren geht, was die so wissen, verstehse? Das find ich doof, dass der gestorben ist, bevor die das gemacht haben.«

Ich überlege, wen er mit »die« meinen könnte, die das organisieren sollen, und stelle mir meinen Opa vor, der ein Seminar leitet und jugendlichen Teilnehmern mit leuchtenden Augen weitergibt, was sonst unwiederbringlich verloren ginge, nämlich Rasenmähen, Treppensteigen und Metall zertrümmern.

Borawski nickt.

»Is vielleicht sogar ’ne geile Geschäftsidee!«

»Kann sein. Wir checken das. Tschau, Alter.«

»Tschau.«

Wir wühlen uns durch den dunklen Flur, passieren Wörnies Vater, der nicht hochsieht, weil er nur noch auf Steinwürfe ab drei Kilo reagiert, verabschieden uns von Wörnies Mutter, die den Küchentisch schon wieder abgeräumt und gewischt hat, und dann sind wir endlich draußen an der frischen Luft. Wir schlendern den offenen Durchgang entlang. Es beginnt zu nieseln. Der Wind weht mir winzige Tropfen auf die heiße Haut. Ich schiele nach der Polizei.

»Echt cool, der Typ.«

Borawski stößt die Glasgittertür zum Treppenhaus auf.

»Jau, Mann. So würd ich auch gerne mal leben. Wenn ich da an meine Alten denke. Grausam!«

10

Mairesse läuft durch die Tischreihen und verteilt seine Klausurzettel. Ich kriege auch einen. Mairesse stellt sich vorne hin.

»So, fünfundvierzig Minuten Zeit, wer früher fertig wird, kann einfach hier vorne abgeben und gehen.«

Ich lege den Zettel vor mich auf den Tisch und lese ihn erst mal durch. Ich bin gar nicht nervös, obwohl ich eigentlich schon auf Fünf stehe, na ja, wenn die Sau Mairesse Gnade walten lässt, dann vielleicht nur Vier minus.

Die erste Aufgabe verstehe ich schon nicht. Ich blättere im Wörterbuch, bis ich sie zusammenhabe.

Ich suche im Wörterbuch nach »Spanplattentisch«, kann das Wort aber nicht finden. Noch nicht mal »Spanplatte« steht da drin! Was für ein sinnloses Buch, wo das wichtigste Wort der Moderne nicht drinsteht! Dann erfinde ich eben eine Wohnung. Mairesse wird ja wohl kaum zur Kontrolle bei uns vorbeikommen. Ich suche »Tisch«, »Stuhl« und »Bett« und schreib das hintereinander auf. Fertig. Nächste Aufgabe. Borawski schielt rüber, und natürlich lasse ich ihn großzügig abschreiben. Mann, diese geile Fennsbeck! Keine zwei Meter entfernt! Die zweite Aufgabe versteh ich auch nicht. Wörterbuch. Blätter, blätter. Aha! Beschreiben Sie eine Landschaft in Frankreich. Damit meint Mairesse seine nervtötenden, mit Tränen in den Augen gehaltenen Vorträge über sein geliebtes Frankreich. Ich entscheide mich für Paris. Ich schreibe auf Deutsch auf den Zettel: »Keine Stadt ist wie Paris. Einfach toll!« – und keine Perle in unserer Klasse hat einen geileren Arsch als diese Fennsbeck! Mann. Ich könnte noch einen Pimmel auf das Blatt zeichnen und dann abgeben.

Die Fennsbeck räumt ihren Kram zusammen, steht auf und gibt ab. Mann, wenn ich jetzt auch abgebe, kann ich mit ihr bis zum Fahrradständer schlendern. Wir würden uns über die Klausur und die Sau Mairesse unterhalten, und dann würde sie ihren göttlichen Hintern auf ihr Fahrrad schwingen, und wir würden gemeinsam zu mir nach Hause fahren. Von meinen Eltern und meiner Schwester finde ich auf einem Zettel Rechenpapier die gekritzelte Nachricht, dass sie weggefahren sind, um gemeinsam in den Tod zu gehen. Ich führe die Fennsbeck die Treppe hoch. »Hast du aber ein geiles Zimmer«, wird sie sagen, und dann noch: »Hast du was dagegen, wenn ich mich ausziehe?«

Dritte Aufgabe: »In meinem Heimatdorf steht ein Denkmal. Was weißt du darüber?« Mann, Mairesse! Ich weiß alles über dieses Scheißdenkmal! Aber, … wie sag ich es dir? Ich lutsche am Stift. Dann schreibe ich auf Deutsch: »Alle Postboten der Gegend sitzen seit 1946 im Rollstuhl.«

11

Mein Vater sitzt mir am Frühstückstisch gegenüber.

»Wenn du aus der Schule bist, machen wir unseren Ausflug!«

Unseren Ausflug? Ich schnappe einen Toast und beiße ab. Marmelade.

»Was denn für einen Ausflug?«

»Weißt du das nicht mehr?«

»Nö. Woher?«

Meine Mutter guckt ganz besorgt. Vermutlich hat sie wieder was über Drogen oder Online-Spielsüchtige im Fernsehen gesehen, wo einer, der in der letzten Szene tot ist, auch vorher einmal »Nö. Woher?« zu seiner Mutter gesagt hat.

Ach ja. Jetzt weiß ich wieder. Nach Opas Tod hatte mein Alter so einen Anfall, dass wir mehr Zeit als Familie verbringen müssen. Genauso hat er es gesagt: müssen! Er hat beschlossen, dass wir mal wieder einen Ausflug zusammen machen sollen, weil »man sich ja gar nicht mehr sieht«. Das gilt allerdings nicht für mich, denn ich sehe die jeden Tag. Morgens, wenn ich zu spät zur Schule komme, und mittags, wenn ich Alibizeit vertrödeln muss, bevor ich endlich abhauen kann. Ich glaube,

»O.K. Ich muss los«, sage ich und schnappe meine Tasche, die immer gleich gepackt – also unausgepackt – im Flur an der Heizung lehnt.

»Komm bitte nach der Schule sofort nach Hause!«

12

Ich laufe über den leeren Schulhof. Die Luft ist diesig, feucht und kühl. Sagenhaft, wie viele Luftsorten es gibt. Schönes Wetter ist doch mit das Langweiligste, was unser Planet zu bieten hat. Ich gehe die Treppen zum Anbau hinauf, durch die Glastür mit dem abgenudelten Holzgriff und in die Klasse. Die 9b ist schon vollständig vorhanden, inklusive Mattern, der Geschichtesau. Ich setze mich. Borawski wälzt sich zu mir rüber.

»Schon da gewesen?«

»Wo gewesen?!«

»Du sollst dich im Sekretariat melden. Da hängt ein Zettel am Schwarzen Brett.«

Mattern betrachtet mich.

»Wieso bist du zu spät, Philipp?«

»Ich musste ins Sekretariat, da ist ein Zettel im Glaskasten gewesen.«

»Und, was wollten die?«

Schon wieder! Schon wieder dieses »die«. Die allmächtigen »Die’s«, die fremde Macht, die alles kann, aber meistens nichts tut, nur um uns alle zu quälen.

»Es geht um eine Art Wissensbörse, die ich mit Herrn Mairesse organisiere. Dort sollen ältere Bürger der Stadt Jugendliche unterrichten, damit die Alten ihre Fähigkeiten weitergeben, bevor sie …«

Mattern legt den Kopf ein bisschen schief und wartet auf das Ende meines Satzes.

»… na ja, bevor sie es nicht mehr können. Bevor die Fähigkeiten unwiederbringlich verloren sind. Entweder sie sind abgekackt, oder die verfaulen im Altenheim. Sie wissen ja, wie’s läuft, als Historiker.«

Mattern hebt den Kopf wieder.

»Das ist eine wunderbare Idee von Kollege Mairesse, und ich finde es toll, dass du ihm hilfst.«

Wie ich dieses verlogene Pädagogengelaber hasse.

»Entschuldigen Sie, Herr Mattern, aber es ist ganz und gar meine Idee gewesen. Ich habe Herrn Mairesse mit ins Boot geholt.«

»Ah … o.k. Gut. Vielleicht erzählst du irgendwann genauer, was ihr da vorhabt.«

»Gerne.«

Mann, Scheiße! Was will die Direktorsau bloß von mir?!

13

Direktor Doktor Grundmann öffnet die Tür, und ich laufe bis zu einem Sessel in eine Art gemütliche Ecke, wo ich mich setze. Hier machen die bestimmt auch Besprechungen, die mit Berufen und vielleicht sogar mit Sex zu tun haben. Vielleicht beschließt der Direktor in einem hautengen Lederanzug mit seinem Stellvertreter, der nur ein gehäkeltes gelbes Säckchen um die Hoden trägt, in diesen Sitzkissen, wer aus dem Kollegium

»Ähm, Philipp Karn, ich dachte, wir setzen uns lieber an meinen Schreibtisch.«

»Oh, sicher. Ziemlich gemütlich hier, deshalb hab ich mich einfach schon mal gesetzt.«

Ich höre, was ich da gerade gesagt habe, schüttele darüber den Kopf, stehe auf und setze mich einen Meter später wieder hin. Was für ein Quatsch! Doktor Grundmann setzt sich auf die andere Seite des Tisches, auf dem ein Zettel liegt. Grundmann nimmt ihn hoch. Es ist meine letzte Französischklausur. Grundmann schnauft und betrachtet mich. Gut, dass ich auch was auf Deutsch reingeschrieben hab, sonst würde der arme Grundmann gar nichts von dem kapieren, was da steht.

»Dies hat mir unser neuer Kollege Mairesse gegeben. Wir haben darüber ausführlich diskutiert, und nun wollen wir dich auch zu Wort kommen lassen.«

Doktor Grundmann sieht auf die Klausur.

»Was soll das?! Da steht nur Unsinn. Findest du nicht auch, dass es etwas mit Respekt zu tun hat, unserem französischen Gast mehr als drei französische Wörter zu präsentieren?! Und es ist auch nicht das erste Mal, so hörte ich.«

Grundmann guckt mich an. Offensichtlich darf ich jetzt auch was sagen. Aber was bloß?!

»Nun, Herr Doktor Grundmann. Ich hatte vor Mairesse unseren lieben Alkoholikerfreund Dr. Fisch …«

Doktor Grundmann haut auf den Tisch.

»Ich verbitte mir diesen Ton. Kollege Fisch ist ein ausgezeichneter Pädagoge!«

»Das ist richtig, Herr Doktor Grundmann, so bleibt er auch im Falle seines Todes in meiner Erinnerung, selbst wenn diese Erinnerung für immer überschattet ist vom Geruch seines Erbrochenen im Spülstein der 8b.«

Doch ich muss hier hocken. Ach ja, und der Ausflug mit meinen Alten, da komm ich dann wohl auch zu spät. Mein armer Vater. Seine Familie zerbricht vor seinen Augen, und er kann nichts dagegen machen.

»Kollege Mairesse findet … wir finden, dass du, Philipp, noch nicht weit genug bist, um deine mittlere Reife abzulegen. Deshalb werden wir dich dieses Jahr nicht versetzen. Obwohl deine Leistungen in den anderen Fächern ganz passabel sind, wird Kollege Mairesse dir mit meinem Segen dieses Jahr eine Sechs geben. Außerdem …«

Doktor Grundmann betrachtet mich. Ich sehe zurück.

Grundmann schnauft.

»… außerdem, sagt Kollege Mairesse, hättest du revanchistische Tendenzen. Stimmt das?«

»Revanchistische was?«

»Auf Deutsch: Er sagt, du wärst vielleicht ein Neonazi.«

Mann, dieser Mairesse! Nur weil ich sein blödes Denkmal nicht ernst nehmen kann! Jetzt aber aufpassen! Nicht wegen einer Nazifrage von der Schule fliegen! Ich falte die Hände, wie es unschuldige Angeklagte in amerikanischen Gerichtsfilmen machen, wenn sie am Ende doch noch freigesprochen werden.

»Mir ist sehr wohl bewusst, dass Herr Mairesse aus einer Familie kommt, in der der Widerstand gegen die herrschende Klasse Tradition hat. So wurde das Gesicht seines Großvaters

Doktor Grundmann nickt. Offensichtlich kennt auch er diese Geschichte bereits. Und offensichtlich ist auch ihm der Name des Dorfes wieder entfallen.

Ich sehe Doktor Grundmann an.

»Aufgrund dieser Tradition wundert es mich umso mehr, dass Herr Mairesse überhaupt mit Ihnen redet.«

14

Borawski steht am Anbau. Er raucht eine nach der anderen und zittert. Auch er bleibt sitzen. Frau Segel hat ihm in Sport auch ’ne Fünf gegeben. Mairesse, Mattern und Segel, die Verbrecher. Drei Fünfen. Keine Chance.

Die alte Segel legt Wert darauf, den Dicken zu zeigen, dass niemand sie haben will. Sie lässt Mannschaften wählen, und natürlich bleiben die Dicken immer als Letzte übrig. Auch ich wähle Borawski natürlich nicht. Man kann mit ihm in einer Mannschaft einfach nichts anfangen. Er stolpert über die Bälle, verwechselt die Teams, prallt vor Wände und jammert nach zehn Metern, dass er nicht mehr kann. Sobald er an der frischen Luft ist, qualmt er eine.

Während der Spielerwahl steht die Segel schmunzelnd auf dem quietschenden Turnhallenboden, der vollgewabert ist mit Schweiß und Kotzgeruch, verschränkt die Arme und schüttelt beim Anblick der unbeliebten Fetthaufen sanft den Kopf. Nur ganz sanft, als ob es das verabredete, geheime Zeichen wäre, um im Geräteraum die Giftspritzen klarzumachen. Dann lässt Frau Segel die schönen, sportlichen Menschen Ballspiele ma

Im Grunde müsste man Borawskis Mutter eine Fünf geben, denn sie ist es schließlich, die ihrem Sohn jeden Tag fünf Kilo Leberwurstbrote zum Fressen mitgibt und ihn nach der Schule zusammenschlägt, wenn er nicht alles aufgegessen hat.

Jetzt weint Borawski fast.

»Mein Vater bringt mich um. Segel, diese blöde Sau!«

Er zieht an seiner Zigarette. Und noch mal ein Zug. Mein einziger Lichtblick ist die Fennsbeck, die auch sitzengeblieben ist. Borawski, Karn und Fennsbeck steigen ab. Was hat die wohl in ihre Klausur geschrieben? Mann, das werd ich die fragen, astreine Idee! Vielleicht lohnt sich der ganze Scheiß ja doch noch! Damit lege ich den Grundstein zu einer tollen Zeit in der nächsten Klasse. Da kennt sie mich schon, vertraut mir, der ganze Scheiß, eben die erste Liebe! Ich sehe mich um, ob wir auch alleine sind. Dann lege ich Borawski meine Hand auf die Schulter. Viel zu weich und zu warm. Das ist doch keine Schulter, das ist ein Haufen Scheiße!

»Mann, Alter. Deine Alten müssen es doch gar nicht erfahren, oder?«

Jetzt schreit er fast.

»Wie soll das denn gehen?!«

»Na, du sagst es ihnen einfach nicht, wiederholst die Klasse, und wenn du Abi machst, zählen sie auch schon falsch, ohne es zu merken. Jedenfalls mach ich es so.«

»Echt?! Unsinn. Mann, mein Alter reißt mir den Kopf ab!«

Dieser nette Mann im Wald mit seinem schlabberigen

Ich schnaufe und betrachte das Moos im Beton unter dem Fahrradständer. Ich kratze mich.

»Mairesse, die Sau, wird bluten! Dieser Gedanke hält mich am Leben.«

»Was willst du denn machen? Ihm die Reifen aufschlitzen? Na und? Dann kauft er neue, jeder weiß, dass du es warst, und du bist immer noch in der neunten Klasse. Am Arsch …«

Borawski bläst den Rauch steil in die Luft und spuckt auf den Boden.

»… und deine Alten? Sind die cool?«

Ich schüttele den Kopf.

»Die sind einfach nur bescheuert.«

Ingo hat neue Boxen, und Borawski und ich müssen ständig CDs hören, bei denen die Dynamik Ingos Meinung nach besonders hoch ist. Zwei riesige Klötze, die sein ganzes Zimmer verschandeln und statt Musik Messwerte von sich geben.

Ich lege den Kopf aufs Sofa und schließe die Augen, um so zu tun, als bewerte ich die ausgefeilten Pegelwerte der neuen Boxen. Dabei muss ich an Mairesse denken. Irgendwas muss ich unternehmen! Er kann nicht ungestraft davonkommen. Mann, dieser Mairesse! Sitzt jetzt gemütlich in seinem Scheißholland, Quatsch, -frankreich meine ich natürlich, frisst Käse und säuft Rotwein. Dazu hört er eine Platte von Jacques Brel, und zwar die nervtötende, die mein Alter auch hat. Dabei kommt er sich unheimlich französisch vor. Er lässt seine Hose runter und spielt mit seinem Schwanz. Eigentlich will er nur pissen, aber dann holt er sich doch einen runter. Kurz bevor er kommt, öffnet er quietschend den Fensterladen und betrachtet den Kopf seines Opas auf dem Denkmal auf dem sonnenüberfluteten, gleißend hellen Dorfplatz. Dabei spritzt er seine gesamte Fensterbank voll und wirft sich lachend ins Bett, weil er jetzt an mich denken muss, den Irren, den er abserviert hat.

»Mairesse, diese Sau!«, sage ich.

Borawski und Ingo heben die Pullen und brüllen im Chor:

»MAIRESSE, DIE SAU

Wir stoßen, kling, kläng, klang, an und trinken.

»Irgendwas musst du tun. Das war echt nicht fair! Nur: Reifen aufschlitzen … das bringt es nicht.«

Ich weiß gar nicht, was dieser Borawski immer mit seinen Reifen hat. Ich hab nie was davon gesagt, dass ich unbedingt Reifen aufschlitzen will. Ingo, der weder Mairesse noch einen anderen Französischlehrer in seinem Leben gesehen hat, meldet sich zu Wort.

»So ein Scheiß. Das ist doch primitiv!«

Borawski wälzt sich im Sessel.

»Außerdem wissen wir längst, wo der am empfindlichsten ist. Wenn es nämlich um seinen Opa geht.«

»Genau.«

Ich betrachte Borawski und bin gespannt, ob er jetzt alles richtig auf die Reihe kriegt, um es Ingo zu erklären. Borawski hat es nämlich nicht so mit Messwerten.

»Sein Opa hat gegen die Nazis gekämpft, und als die für die Helden ein Denkmal im Dorf gebaut haben, haben die sich an dem seiner Fresse orientiert. Haben die nachgebaut.«

O.K., das kann ich so stehen lassen. Wieder diese allmächtigen »Die’s«! Ingo trinkt.

»Dann Farbbeutel draufhauen, ist doch klar.«

»Aber das Teil steht doch in Frankreich.«

»Ja, dann sofort hinfahren und Farbbeutel draufwerfen!«

Borawski kichert in seinen wabbeligen Speck.

»Das ist gut, Mann!«

»Quatsch! Wozu?!«

»Damit der sich ärgert!«

Ich schüttele den Kopf.

»Da ärgert der sich doch nicht. Da freut der sich, dass sein Opa immer noch Feinde hat! Überleg mal, was für einen Auftritt die Sau dann hat: die Farbe wegmachen und im Fernsehen wegen der Familienehre weinen und so …«

Ingo betrachtet seine Boxen. »Mhm …«

»Nein, nein, man muss es intelligenter machen. Man müsste es zerstören, aber keiner merkt was. Erst in Jahren oder so merkt Mairesse, dass es seit Ewigkeiten kaputt ist!«

»Meinst du, der merkt das jahrelang nicht, wenn da nur noch ein Haufen Schutt auf dem Dorfplatz liegt?«

Ich sehe aus dem Fenster. Draußen wird es langsam dunkel. Es ist schon bald Mitte August.

Borawski ist beinahe ganz vom Sessel verschluckt.

»Frankreich wär schon geil … das könnt ich meinen Alten noch als Bildungsreise verkaufen.«

Ingo läuft zum CD-Regal, um neue digitale Steuerungswunder hervorzuzaubern, und ich will eigentlich nur noch nach Hause.

»Leute, ich muss los. Wegen dem Fahrrad von meinem Alten. Also, nicht, dass ich zuhause bleiben muss – ich bin ja jetzt auch hier, wie ihr seht – aber ich muss denen jetzt ein altes Rad frisch machen, damit der Alte wieder fahren kann.«

»Mach das doch morgen, Alter.«

»Nein, vergiss es. Ich hau ab.«

Ingo schüttelt vorwurfsvoll den Kopf, aber sie lassen mich gehen.

16

Jetzt laufe ich durch die Nacht. Die Straßenlaternen glimmen orange und schimmern auf dem regenfeuchten Straßenbelag. Mein Dope habe ich in meinem Finger eingeklemmt, damit ich es sofort wegwerfen kann, falls eine Polizeikontrolle kommt. Ich habe in unserer Siedlung noch nie eine Polizeikontrolle erlebt, aber trotzdem. Sicher ist sicher. Wenn jetzt zum Sitzenbleiben und dem verschwundenen Fahrrad noch eine Anzeige wegen Drogenbesitz hinzukommt, dann gute Nacht.

Die Luft ist süß, und die Tropfen an den Blättern glitzern in den Straßenlaternen. Ich hätte Lust, mich ins Gebüsch zu legen und zu pennen. Erde! Ich will Erde essen und Regen trinken. Was soll ich zuhause? Ich gehe noch einen Umweg und einfach an unserem Haus vorbei, als wenn ich da gar nicht wohnen

Jetzt bekomme ich Angst, auf einen Igel zu treten. Mann! Kaum fühle ich mich mal zehn Sekunden gut, kommt irgendeine Scheißangst daher! Ich ignoriere die Igelgedanken, aber meine Schritte werden tastender, unsicherer. Gut, dass ich dicke Sohlen habe, wegen der Stacheln. Der Wald ist schwarz. Wind weht in den Baumkronen. Ich kann den Weg nur im Himmel erkennen, da, wo ein kleiner, heller Streifen zwischen den Ästen läuft. Der Boden ist pechschwarz. Ich lege den Kopf in den Nacken und laufe mit Blick in den Himmel.

Hoffentlich kommt jetzt keiner! Ich sehe mich um und ärgere mich wieder über mich. Wer soll denn jetzt hier sein?! Da vorn kommt die Lichtung mit Blick über das Feld. Mit jedem Schritt wird es heller. Aus Schwarz wird Grau, dann Hellgrau, und dann kommt plötzlich eine Spur Blau dazu, die für die gesamte riesige Leinwand reicht. Hier den Feldweg rein geht es zum alten Denkmal runter. Da war ich ewig nicht. Denkmal war ja gerade Thema. Ob es überhaupt noch steht? Ich biege in den Feldweg ein und laufe durch die graue Nacht, hinter mir schmilzt ein schwarzer Balken aus Wald zu einem bedeutungslosen Strich zusammen. Ich stehe auf einem runden Ball aus Feld.

Meine Igel-platttret-Angst ist beinahe weg. Dafür kommt jetzt die »Hoffentlich halten die mich nicht für einen Nazi, wenn ich nachts zu diesem Denkmal gehe.« Angst. »Die« steht für alle, die mich jetzt zufällig beim Hundegassigang oder beim Wegschaffen einer Leiche noch treffen könnten. Oder, falls man mich schon seit Tagen heimlich beobachtet und hier überall Scheinwerfer postiert sind, die gleich alle – wosch! – auf einmal angehen.

Die Scheinwerfer-Angst weicht jetzt der »Hoffentlich sind

Dann sehe ich die schwarze Silhouette des Denkmals. Unheimlich. Ein schwarzer Mann, ein Soldat mit Gewehr. Nass und schwer steht er mit Wehrmachtshelm und blickt auf das Tal herunter. Alles an ihm ist anderthalb mal so groß wie normal. Dass so was überhaupt rumstehen darf! Meines Wissens nach haben Leute in diesem Aufzug in ganz Europa Kinder ins Feuer geworfen!

»Unseren Helden 19141918 und 19391945« steht auf dem Steinsockel.

Was für ein Scheiß! Cool wäre ein Denkmal von meinen Helden! Mein Dealer Wörnie mit einem riesigen Klotz Hasch, seinen zwei Schlangen und natürlich die Fennsbeck, die sich gleich eins der Schlangenenden nimmt und in ihre Muschi steckt. Ich könnte mich jetzt nackt hinhocken und mir einen runterholen. Ich sehe mich um. Hier ist doch keiner. Ich mache meine Hose auf. Die nassen Wiesenhalme fühlen sich am Sack bestimmt super an. Meine Hand macht eine Bewegung über die Halme und ist sofort tropfend nass. Wenn dann allerdings einer kommt, dann bin ich geliefert, dann bringen die mich in die Klinik. »Die« schon wieder, diese »Die’s«!