Im Leben mehr Glück

auf unsere Erzählungen. Das Herz hängt aber an

denen fest, die der Blick nicht mehr finden kann.

Anna Seghers, ›Der erste Schritt‹

Stichworte zum Thema Heimat, Land, Geschichte

ARBEIT Wer über ungetrübte Erinnerungen seiner Vorfahren verfügt, wird das Leben auf dem Land nicht a priori für das gesündere halten. Berichte von Mühsal und Armut, beides gemildert durch das Versprechen auf ein Jenseits, in dem die Äcker weniger steinig sind, die Rücken weniger gekrümmt … Aber ebensosehr wie die detailfreudigen Schilderungen meiner Eltern, die im Unteren Mühlviertel aufgewachsen sind, hat mich ein erfindungsreiches Gedicht des Schriftstellers Wulf Kirsten beeindruckt. Kirsten lebt seit langem in Weimar, stammt jedoch aus der Gegend um Meißen, deren Massiv wie das Mühlviertel aus Granit besteht, und ist dem ländlichen Österreich wie dessen kritischen Chronisten – vor allen anderen dem Kärntner Michael Guttenbrunner, dem Oberösterreicher Franz Kain – eng verbunden gewesen. Kirstens Vater war Steinmetz, seine Mutter ging zu Bauern arbeiten. Sie hatten fünf Kinder und ein Stück Land, das ihnen im Zuge der Bodenreform in der Sowjetisch Besetzten Zone 1945 übereignet wurde; das Gedicht die ackerwalze handelt davon, wie sie mangels Zugviehs sich selbst ins Joch spannten und statt einer eisernen Walze, die nicht aufzutreiben war, eine gestürzte Grabsäule

 

BRÜDERLICHKEIT Ohne Verweis auf ihre Seelenlandschaft lassen sich Leben, Werk und Gesinnung der Linzer Arbeiterschriftstellerin Henriette Haill nicht begreifen. Im Mühlviertel, hat sie einmal gesagt, sei sie aufgegangen, »als wenn ich es selbst gewesen wäre. Das Hohe, das Gigantische ist mir nichts, mir ist nur das Kleine, wie ich selbst bin, etwas. Die Hügel, die kleinen Erhebungen, das Herbe. Das Mühlviertel ist ja herb im Winter. Mich hat das Herbe so angezogen.« Darüber hat sie unzählige Gedichte, auch in Mundart, und viele Erzählungen verfaßt. Aber nicht diese will ich jetzt würdigen, sondern eine Reminiszenz aus dem Ersten Weltkrieg, bei der sich Haills Tugend erweist, mit dem Herzen eines anderen zu fühlen. Damals, 1915, mußten russische Kriegsgefangene einen alten Wasserspeicher am Linzer Römerberg instand setzen. Mit einem der jungen Männer, Porf‌iri Oleschko, freundete sich die elfjährige Jettel an. Porf‌iri erzählte ihr von seinen Eltern, den Geschwistern, der Not zu Hause in Odessa und davon, daß er im Krieg, aus revolutionärer Überzeugung, nicht auf die österreichischen Soldaten geschossen habe. Nach beendeter Arbeit, ehe der zerlumpte Trupp wieder abgezogen wurde, küßte er die rauhe, rissige Hand ihrer Mutter und strich dem Mädchen übers Haar, während er ihr seine Wahrheit zuflüsterte: »Du darfst nicht vergessen Porf‌iri Oleschko, einmal nicht mehr

 

CHRISTKINDL, BESITZANZEIGEND Elektropost aus einer Heimat, die weder arm noch verwüstet ist, genau hundert Jahre später. Erstens: »Sehr geehrter Herr Hackl, wir möchten keine Flüchtlinge in unserer Christkindlsiedlung. Wir sind ganz sicher, dass Ihre Mutter das auch nicht gewollt hätte. Mit freundlichen Grüßen Ihre Gegenübernachbarn ███ ████ ███████ Von meinem iPhone gesendet 4400 Steyr.« – Zweitens: »Sehr geehrter Herr Hackl! Ich habe von Ihrem direkten Nachbarn in der Goldbacherstraße, Steyr Herrn Schober erfahren, dass Sie überlegen im Haus Ihrer verstorbenen Mutter Asylanten oder Flüchtlinge unterzubringen. Ich möchte Ihnen – nachdem ich Sie bislang nicht erreichen konnte – auf diesem Weg mitteilen, dass ich in unserer Siedlung keine Flüchtlinge oder Asylanten einquartiert haben möchte und ich mir das auch offen zu sagen traue. Mit freundlichen Grüßen aus der Wegererstraße Mag. Gerhard ██████ 4400 Steyr.«

 

DEFINITIONEN Die erste stammt vom spanischen Dichter Antonio Machado, der in der andalusischen Metropole Sevilla aufwuchs und in der kastilischen Kleinstadt Soria seine Erfüllung fand. Uno es de donde nace al amor, no a la lautete seine Botschaft. »Einer ist von dort, wo er zur Liebe erwacht, nicht zum Leben.« Den zweiten Satz hat Machados Landsmann Max Aub geschrieben, der in Paris geboren und im mexikanischen Exil gestorben ist: Se es de donde se hace el bachillerato. »Man ist von dort, wo man die Matura macht.« Wo man also erste Bindungen außerhalb des Elternhauses eingeht, nach Orientierung sucht, das Bewußtsein von Recht und Unrecht schärft, Wissen und Ohnmacht im Umgang mit Lehrern und anderen Erwachsenen erfährt. Die dritte schlüssige Definition hat der Dramatiker Heiner Müller gegeben, im Monolog Ajax zum Beispiel, sie lautet kurz und bündig: »Heimat ist / Wo die Rechnungen ankommen sagt meine Frau.«

 

EINMAL NOCH … schrieb mein Vater am 13.3.1982 auf ein Blatt Papier, unter der Überschrift »Gedanken in der Intensivstation« … »möchte ich vorm Haus auf der Gasse beim Wasser spielen / neben dem Fluder kleine Wasserräder laufen lassen / in der Hammerschmiede spielen, den Wasserrädern zuschauen / mit Onkel Hans den Wehrkanal bis zur Weißen Aist abgehen / am Sonntag vorm. während des Hochamtes den Reiterweg mit meiner Großmutter begehen / mit meiner Mutter die Gärten spritzen / mit Tante Gusti in die Maiandacht gehen / in der Mühlkammer Holz bearbeiten u. basteln / auf dem Mühlboden alte Bücher und Schriften anschauen und lesen / dem Müller Onkel Max in der Mühle helfen / auf dem Mühlanger herumlaufen und in der Waldaist baden / meiner Mutter beim Brotbacken im großen Backofen helfen / im Herbst bei der Flachsbearbeitung mithelfen / Freunden und Gästen in der großen Stuben

 

FREUNDSCHAFT In Erinnerung der Partisanentätigkeit im Salzkammergut würdigte Franz Kain die Bedeutung der Großfamilie. Entfernte Verwandte, zu denen früher kaum noch Beziehungen bestanden hatten, seien den von den Nazis Gejagten beigestanden. »Eine alte, im Dialekt noch durchaus lebendige Bezeichnung für die Verwandtschaft ist ›Freundschaft‹. Der Ausdruck ›wir sind in der Freundschaft‹ heißt soviel wie ›wir sind miteinander verwandt‹. Diese Freundschaft hat sich bewährt in der schwersten Zeit als eine Freundschaft auf Leben und Sterben. Tauf- und Firmpaten, meist nur noch Formalität und freundliche Gefälligkeit, bekamen das Gewicht echten und tapferen Beistandes. Viele dieser ›Godn‹ und ›Gödn‹ haben in bewundernswerter Solidarität unter Einsatz ihres eigenen Lebens das der tödlich bedrohten ›Patenkinder‹ gerettet.« – Auch unter der Francodiktatur half der Familienzusammenhalt oft über politische Abgründe hinweg. Der österreichische Spanienfreiwillige Josef Kotz, der während des Bürgerkriegs Josefa Gimeno Charco geheiratet hatte und kurz vor der Niederlage der Republik nach Frankreich geflohen war, kehrte 1940, nach dem Überfall Deutschlands auf Frankreich, heimlich nach Barcelona zurück, wo er unter seinem katalanisierten Namen José Cots als Chauffeur arbeitete. Obwohl sie mit den Frankisten sympathisierte, hielt seine Schwägerin ihre

 

GEFALLEN Hier die Erinnerung des spanischen Chemieprofessors Miguel Ángel Alario Franco, mitgeteilt in einem Leserbrief an die Tageszeitung El País: Im April 1965 war Miguel Ángel zusammen mit vierzig anderen jungen Leuten nach Perpignan gefahren. »Uns zog Europa an, ein magischer, beinahe mythischer Begriff für unsere Generation. Die Freiheit sehen. Vielleicht war das unser eigentliches Reiseziel gewesen.« Dort in der südfranzösischen Stadt begegnete er einem etwa dreißigjährigen Mann, ärmlich gekleidet, der einen zwei- oder dreijährigen Jungen an der Hand führte. Der Mann war Spanier, vertrieben mitsamt seinen Eltern. Als er herausfand, daß Miguel Ángel geradewegs von dort kam, fragte er: »Darf ich dich um einen Gefallen bitten?« – »Ja natürlich«, sagte Miguel Ángel ein wenig überrascht. »Kannst du dem Jungen einen Kuß geben?« Und wie um sich zu rechtfertigen, fügte er hinzu: »Es ist … weil ihn noch nie jemand aus Spanien geküßt hat.«

 

HEIMWEH Frage Nr. 5 aus Max Frischs Fragebogen zum Thema Heimat: »Gesetzt den Fall, Sie wären in der Heimat verhaßt: könnten Sie deswegen bestreiten, daß es Ihre Heimat ist?« Eine Antwort darauf hat Fritz Kalmar gegeben, in einer seiner »Heimwehgeschichten aus Südamerika«, die er unter dem Titel Das Herz europaschwer veröffentlicht hat. Darin wird erzählt, wie im fernen Bolivien die aus Wien vertriebenen Juden Anfang 1945 in helle Aufregung gerieten,

 

IDYLLE Was der Kommunistin Haill das Mühlviertel, ist ihrem Genossen Kain das südliche Salzkammergut gewesen: Landschaft, die seinem Wesen entsprach, nicht weil er sie, wie Haill, aus freien Stücken erwählt hatte, sondern weil er in sie hineingeworfen worden war. Sie gefiel ihm, aber er hielt sie weder für lieblich noch für idyllisch, denn, so schrieb er über sich in der dritten Person, »er weiß zu viel von ihr«.

 

 

KOMMUNISMUS Während der Vorführung des Films Über die Jahre des österreichischen Regisseurs Nikolaus Geyrhalter mußte ich an ein Bonmot aus der Zeit des Kalten Krieges denken, das Johannes Bobrowski einmal zitiert hat: »Kommunismus ist, wo allen alles gehört und niemand etwas hat.« Die Menschen, die Geyrhalter über zehn Jahre gefilmt hat, leben im nördlichen Waldviertel. Zu Beginn der Dreharbeiten, 2004, sind sie die letzten Arbeiter einer

 

LOSER Der hegemonialen Auffassung zufolge gelten sie jedoch gerade ihrer beständigen Anspruchslosigkeit wegen als Loser: Verlierer, die um so verachtenswürdiger sind, als ihnen nicht in den Sinn kommt, das Leben für ein verpflichtendes Gewinnspiel zu halten. Ihr Widerstand ist beachtlich, trotz der Tatsache, daß ihnen Aufruhr und Empörung fremd sind. Vermutlich gehen die meisten von ihnen nicht einmal wählen oder geben jenen Parteien ihre Stimme, die gegen »Sozialschmarotzer« wie sie hetzen.

 

MACHADO Noch einmal der Dichter Antonio Machado: Se canta lo que se pierde. »Man besingt, was man verliert.« Die Kindheit, die Liebe, die Heimat, oder was man dafür hält.

 

NESTBAUEN Eugenie Kain zufolge, der Tochter des Schriftstellers, die selber eine bedeutende Schriftstellerin war, lassen sich zwei Menschentypen unterscheiden: die Nestbauer und die Zeltaufsteller. Mit den Nestbauern, die ihre Häuser in die Landschaft klotzen, umzäunen, mit allerlei Schöner Wohnen-Zeug, »Hier wache ich«-Schildern und Alarmanlagen dekorieren, wollte sie sich nicht anfreunden; das Zelten dagegen war ihr lieb und vertraut. Unterwegs sein, »daheim im Reisen – und auf der Hut«, das war Eugenies

 

ORIGINALE Vor neunzig Jahren hat der junge Ernst Fischer sich an der Provinz abgearbeitet, an der Kleinstadt, die ihm im Gegensatz zur großen nichts, oder nur Abstoßendes, bedeutete, und mir scheint, sein harsches Urteil ist nicht überholt: »Hier in der Provinz, wo sich das Leben langsam im Kreise dreht, ist jeder, da große Aufgaben, lodernde Horizonte fehlen, immerfort mit sich selber beschäftigt, hier wuchert der Individualismus, hier wird man zum Original, weil es das einzige ist, was man werden kann. Der Pensionist, der Raunzer, der Nörgler, er ist das Urbild des Originals, und mannigfaltig variiert beherrscht der Typus die Stadt. Wunderliche Gestalten, geisterhafte Figuren, Sonderlinge und Eigenbrötler aller Art treiben sich in den Kaffeehäusern, in den Gärten und Gassen umher, und der Schatten, den sie werfen, ist grotesk, phantastisch, unwahrscheinlich. Kleine Absonderlichkeiten blähen sich auf und werden zur Weltanschauung, eifersüchtig wacht jeder von diesen Aposteln seiner selbst darüber, daß keiner ihm nachahme, keiner ihm ähnlich sei. Nirgends gibt es so selbstbewußte, so selbstgefällige Narrheit wie in der Provinz.«

 

PERIPHERIE Alberto Nessi ist im Mendrisiotto aufgewachsen, dem südlichsten Zipfel des Tessins, hart an der italienischen Grenze, der lange das Armenhaus der Schweiz war – die Männer suchten Arbeit in den Marmorsteinbrüchen von

 

STIMMUNG In einem nachgelassenen Gedicht bringt Franz Xaver Hofer zur Sprache, was ihn zeitlebens geprägt hat – ohne den Begriff ›Prägung‹ überhaupt zu verwenden. Er kommt auch ohne die geläufigen Synonyme wie Herkunft,

Ich komme aus dieser Stimmung.

Woanders komme ich nicht her.

Ich gehe wohin, ohne das Woher

vergessen zu können oder zu wollen:

Ich komme aus der Stimmung

des Kornspeichers

der Scheune

des Kellers

und der schwarzen Selchkammer.

TOTSCHLAG Ein anderer Mühlviertler Autor, Bauernkind wie Hofer, der die Torheiten des heutigen Landlebens grimmig benennt und, stets gefährdet, darüber zu verzweifeln, die Fülle handwerklicher und bäuerlicher Verrichtungen rühmt, ist Richard Wall: »Wer sagt, das Einfamilienhaus ist eine Brutstätte von Mord und Totschlag, gehört nicht zu uns! Also, wohin gehöre ich?«

 

VAGABUND Der größte soziale Dichter des vergangenen Jahrhunderts, Theodor Kramer, hat den Vagabunden – einem Menschenschlag angehörig, der bei uns offenbar ausgestorben ist – wie allen Menschen am Rand jene Gerechtigkeit widerfahren lassen, die ihnen von den Behausten vorenthalten wurde, und in ihrer Bedürftigkeit, Verzweiflung, Verworfenheit, aber auch in ihrem Stolz ernst genommen. Daniela Strigl weist darauf hin, daß in Kramers

Wie viel es, Bauer, sind, die mich vertreiben;

an dir allein versteh ich Haß und Ruh.

Ich lieg, der Erbfeind, hier vor deinen Scheiben,

und liebe doch das Land so tief wie du.

[…]

Vielleicht muß einer düngen, pflügen, graben

und ein Erhalter und Bewahrer sein,

ein andrer aber nichts als Beine haben,

die rastlos fallen in ein Schreiten ein.

WEITE UND WÜRDE In einem Gespräch über seinen Film Seit die Welt Welt ist hat Günter Schwaiger staunend festgestellt, daß Weite sich erst dann einstellt, wenn man die Nähe sucht. »Je näher man einer Figur kommt, desto mehr erweitert sich der Horizont. Je tiefer man in den Mikrokosmos dringt, umso größer wird der Makrokosmos. Die Figur von Gonzalo, die familiäre Beziehung, das Dorf, die Entvölkerung, die Landschaft – all das zusammen stellt etwas Universelles dar. Je länger wir dort arbeiteten, umso klarer wurde mir, daß dieses Dorf für so vieles symptomatisch ist, was nicht nur in Kastilien, sondern in der ganzen Welt passiert.« Nehmen wir Schwaiger den Ausrutscher, seinen

 

ZUVERSICHT die wenigstens für die Dauer der Vorstellung und einige Stunden, Tage danach anhält. Schwer zu sagen, ob das viel ist oder wenig, in dieser Zeit.

(2017)

Ein zweites Mal im Friedhof am Perlacher Forst. Nachprüfen einer verwehten Erinnerung, an eine Geschichte der Heimat. Die Öffnungszeiten sind gleichgeblieben: Oktober bis Februar 817 Uhr, März und September 818 Uhr, April bis August 819 Uhr. Das Mitnehmen von Hunden und das Radfahren sind untersagt. Neu ist der Grablichterautomat gleich neben dem Eingang. In einem Schaukasten wird das Münchner Totenadreßbuch angezeigt, es ist im Buchhandel oder direkt beim Verlag um 35 DM erhältlich. Ferner ergeht die Bitte an alle Friedhofsbesucher, bei der Ermittlung von Blumen-, Blumenschalen- und Vasendieben zu helfen. »Für Hinweise, die der Überführung eines Täters dienen, wird eine Belohnung bis 2000 DM ausgesetzt.«

Angrenzend an den Friedhof, die Justizvollzugsanstalt Stadelheim. Stahlbeton, Panzerglas, drei Wachtürme. Aber die Eingangstür, der Türgriff und die getönten Fensterscheiben, hinter denen Beamte in Zivil vor Monitoren sitzen, würden einer Bankfiliale gut anstehen. Vor dem Eingang die Haltestelle der Autobuslinie 39, Radweg, Papierkorb, Zeitungsständer. Bild: »Schulstreik gegen einen achtjährigen Tyrannen«. Abendzeitung: »Münchner TV-Skandal: Warum der ORF über Antenne kaum mehr zu empfangen ist«. tz: »Die Royals: Das neue Skandal-Buch im Vorabdruck«.

Ende und Anfang

Die Nachtschicht in den Steyr-Werken dauerte von halb vier bis halb eins. Jemand hatte Draber einen Packen Flugblätter ins Magazin gebracht, gegen den Naziwahn, in einer Arbeitspause legte er sie neben das Montageband, in die Autos, neben die Maschinen. Gegen Mitternacht stolzierte ein Kollege an ihm vorüber, das Hakenkreuz am Kragen, und rief ihm zu: Jetzt ist es soweit! Spinnst, antwortete Draber. Dann wusch er sich, schlüpfte in die Jacke und fuhr mit dem Rad nach Hause. Auf der Ennsbrücke kamen sie ihm schon entgegen, jubelnd, mit Fahnen.

Acht Stunden später, als Draber die übriggebliebenen Flugblätter im Klo runterspülte, fuhr Bloderer auf einer Puch 200 durch das Steyrtal. Er war mit Genossen am Kasberg skifahren gewesen, dann hatte er mit dem schwarzen Betriebsratsobmann Riha das gemeinsame Vorgehen bei der von Schuschnigg angesetzten Volksabstimmung abgesprochen. In Grünburg sah er zu seinem Erstaunen junge Männer in weißen Stutzen herumlaufen. In Neuzeug war

Draber war völlig überrascht.

Bloderer traute seinen Augen nicht.

Vorstellbar, was Punzer empfunden hat an diesem Märztag neunzehnhundertachtunddreißig.

Überwindung der Schwerkraft

Draber war der erste. Er zögerte kurz, als er vor sich den Acker sah, auf dem zehn oder zwölf Häftlinge arbeiteten, dann lief er nach rechts, die Mauer entlang über die Wiese. Punzer hinter ihm hielt sich weiter links, das war ausgemacht, jeder sollte seine eigene Linie finden. Bloderer hatte es am schwersten. Er rannte schräg hinüber zum Friedhof, man konnte ihm also den Weg abschneiden.

Vier oder fünf Häftlinge nahmen, auf Zurufen der Aufseher, die Verfolgung auf, einer holte Bloderer ein, stürzte sich aber nicht auf ihn, sondern stürmte vorwärts, Punzer hinterher.

Draber war schon weit voraus, als Punzer stürzte, Bloderer sah es aus dem Augenwinkel. Draber behauptete später, er habe Schüsse gehört, Bloderer konnte das nicht

Punzer, inzwischen, wurde zurück in die Zelle geschleppt.

Das war am 30. November 1944, kurz nach neun Uhr morgens, die Temperatur betrug zwei Grad Celsius.

Aber wie, aber wo

Draber war damals einundzwanzig, gelernter Werkzeugmacher, Jungsozialist in einer roten Stadt. Im Februar vierunddreißig hatte er auf der Ennsleite gekämpft, aber als die Heimwehr kam, saß er im Keller eines Bekannten und spielte Schach. Es war ihm nichts nachzuweisen, außerdem hatte er so ein treuherziges Gesicht. Bubenlächeln, eine Haarsträhne fiel ihm in die Stirn.

Sein Freund Karl Punzer war ein Jahr älter, hoch aufgeschossen, dabei zaundürr, von daher rührte sein Spitzname Gandhi. Er hatte eine Tischlerlehre absolviert, dann als Laufrichter in den Steyr-Werken gearbeitet. Punzer war belesen, er hatte die Menschheitsgeschichte im kleinen Finger. Wenn sie Ausflüge im Faltboot machten, zu zweit oder mit ihren Freundinnen, legten sie an einer Sandbank an, und dann erklärte ihm Punzer die Welt.

Auch Draber war unabkömmlich. Er arbeitete an den hydraulischen Aggregaten für die Messerschmittmaschinen, erzeugte Öldruckschalter, Bloderer mußte jedes Werkstück kontrollieren. Mißtrauen des Älteren, als Draber ihn zu Bergtouren einlud, an denen auch Punzer teilnahm. Ende vierzig, Anfang einundvierzig fingen sie an, die Widerstandszellen zu reorganisieren. Sie sammelten im Auftrag der Roten Hilfe ein paar Mark für Wenzel Wagner, dessen Sohn in Spanien gefallen war, oder für die Mutter von Herta Schweiger, die von der Gestapo totgeschlagen worden war. Hertas Vater hatte sich aus Verzweiflung kurz danach das Leben genommen.

Immer noch das Mißtrauen, die Mischung aus Angst und Ethos: Und wenn wir etwas Schmirgel reingeben. Dann stürzt das Flugzeug ab. Und der Pilot? Oder, später, der Plan, den Erzzug im Ennstal entgleisen zu lassen. Und der Lokführer. Und der Heizer. Dann, als die ersten aus ihrer

Querfeldein

Am Abend des ersten Tages stand er an der Isar. Da wußte Draber, er war im Kreis gegangen. Einmal führte die Straße mitten durch eine Kaserne, und er hörte, wie links und rechts Alarm gegeben wurde. Einmal fand er eine weiche Birne. Einmal vergrub er seinen Abschiedsbrief. Einmal schneite es, und er deckte sich, zitternd, mit Reisig zu. Einmal lief ihm ein Hund nach. Einmal bat er eine Frau um einen Teller Suppe. Einmal sagten drei Männer, du bist verdächtig, du kommst mit. Einmal lief er mit letzter Kraft querfeldein. Einmal stürzte er. Einmal kam er nicht mehr hoch. Einmal wartete er, zerlumpt und durchnäßt, auf einem Bahnhof auf den Zug nach Ried, und draußen auf dem Vorplatz kontrollierte die Gestapo.

Verschärfte Einvernahme

Schuld war ein Genosse aus Bad Hall, der mit seiner Frau im schlechten Einvernehmen lebte. Der prahlte vor ihr, die Deutschen werden den Krieg verlieren, wirst sehen, dann bin ich hier Bürgermeister! Die Gestapo verlor keine Zeit. Zuerst holte sie sich den Riepl, dann Ulram, dann Palme, dann Koller. Bloderer und Punzer hatten zwei Zellen nebeneinander, mit Hilfe ihrer Trinkbecher, die sie gegen die

Angeordnet war: Verschärfte Einvernahme.

So spring doch

Bloderer folgte der Autobahntrasse. Einmal begegnete er einem Gendarmen. Einmal kam ein SS-Mann des Weges, und der Schäferhund ging mit gesträubtem Nackenfell auf Bloderer los. Einmal legte ein Flurwächter das Gewehr auf ihn an. Einmal suchte er bei einem Pfarrer Hilfe. Aber der alte Mann wies ihm die Tür. Einmal kroch er ins Heu. Einmal stahl er ein Fahrrad. Einmal ließ er jede Hoffnung fahren. Da stand er auf der Brücke über den Inn und hörte eine Stimme sagen: Spring, so spring doch.

Die Füße, zwei blutige Klumpen.

Das Verlangen

Die erste Verhandlung vor dem Volksgerichtshof, im August 1942, wurde vertagt, weil alle drei sagten, die Geständnisse seien aus ihnen herausgeprügelt worden. Sie saßen in Einzelhaft, drüben in Stadelheim, und rechneten sich gute

Das Schafott, der Galgen und die Todeszellen befanden sich im zweiten Stock. Die Hinrichtungen fanden in der Regel zweimal pro Woche statt, dienstags und donnerstags. Um neun kam der Staatsanwalt, die Kandidaten wurden aus der Zelle geholt, das Urteil verlesen und bestätigt. Es gab eine Henkersmahlzeit. Der Scharfrichter traf um siebzehn Uhr ein. Einmal beobachtete Draber Zigeunerkinder, die in der Armensünderzelle tanzten und lachten. Denen hat man wohl gesagt, sie kommen frei. Und Bloderer hörte einen tschechischen Arbeiter von neun bis siebzehn Uhr singen, auch dann noch, als ihm die Zähne ausgeschlagen wurden, heiser, röchelnd, immer wieder die Internationale.

In den zweihundert Tagen, die sie in der Todeszelle zubrachten, unternahmen die drei Steyrer vier Ausbruchsversuche: Einmal sägten sie das Fenstergitter durch; einmal kratzten sie mit einem Nagel ein Loch zur Nachbarzelle; einmal planten sie, den Schließer zu überwältigen; einmal sprengten sie mit einem Eisenkübel das Türschloß. Draber, der im Zuchthaus viel herumkam, weil er für die Aufseher Bienenkörbe flickte und Fahrräder reparierte, wußte, daß es irgendwo eine Pforte gab, die nicht versperrt war.

Am 29. November 1944 wurde durch eine Fliegerbombe die Wasserleitung zerstört. Die Aufseher befahlen ihnen, Wasser in Eimern nach oben zu schleppen, damit das Blut unter dem Schafott weggespült werden konnte. Am Morgen des dreißigsten wurden sie noch einmal zum Wassertragen geholt. Plötzlich ließen sie die Eimer fallen und rannten los. Halt! rief ein Aufseher. Draber, Punzer, machts mich

Zwischenzeit

In der Furtmühle bei Bad Hall, in einer Kammer unter dem Dach, erholte sich Draber von den Strapazen. Während er für den Müller das Roßgeschirr flickte, lief die Müllnerin nach Steyr hinüber, in der Tasche eine Zwirnspule, in der Spule, unter der Vignette, den zusammengerollten Brief an seine Eltern. Von ihnen erfuhr er, daß Punzer am fünften Dezember geköpft worden war.

Bloderer versteckte sich in Leonstein, bei einem alten Freund der Familie. Bevor dessen Sohn, der ein fanatischer Nazi war, auf Fronturlaub nach Hause kam, brachte ihn ein alter Genosse auf Skiern hinüber ins Ennstal. In Kleinreifling, in der Dachkammer eines Trafikanten, hielt er sich bis Kriegsende versteckt.

Nach der Befreiung

Zuerst trennte sie die Demarkationslinie, die quer durch Steyr verlief: Draber befand sich diesseits, Bloderer jenseits der Enns. Im Westen die US-Amerikaner, im Osten die Sowjets. Der Stadtverwaltung West stand ein Sozialdemokrat vor, der Stadtverwaltung Ost ein Kommunist. Im Osten, im Stadtteil Münichholz, wurde gleich nach der Befreiung eine Straße nach Karl Punzer benannt.

Draber arbeitete bis zu seiner Pensionierung im Magistrat Steyr. Er war freundlich, fleißig, verläßlich. Da er auch Kommunist war, wurde seinen Ansuchen um Beförderung nie stattgegeben. Mit der Zeit lockerte sich der Kontakt zwischen den beiden, aber pünktlich an jedem dreißigsten November telefonierten sie miteinander. Bloderer starb im August 1994, Draber überlebte ihn um zwei Jahre. Seit 2011 gibt es am nördlichen Stadtrand von Steyr, hinter dem Krankenhaus, eine Franz-Draber-Straße. Von ihr zweigt, in westlicher Richtung, die Josef-Bloderer-Straße ab.

Für und wider

Er habe einige Male nachstudiert. Ob sich der Kampf gelohnt hat. Ob er ihn noch einmal führen würde. Und er müsse zu seinem Bedauern sagen, nein. Denn er sei von den Menschen enttäuscht worden, die drehen sich – großteils!, es gibt schon Ausnahmen – nach dem Wind. Und wenn er, Bloderer, sie so meckern hört …

Draber sagte, er würde wieder so handeln. Er habe auch nicht viel getan, nur gegen den Krieg gekämpft, und er habe sich nicht geändert, sei auch heute noch für den Frieden, wir

(2000)