Cover

Über dieses Buch

Mit der Novelle »Carmenoxid« gelingt Ana María del Río ein so berührendes wie sprachlich funkelndes Stück Literatur:

Carmen und ihr jüngerer Halbbruder leben, von ihren Müttern verlassen, bei der gestrengen Großmutter in einem alten, herrschaftlichen Haus. »Wie ein Gewittersturm« zieht dort auch die stets misstrauische Tante ein, am Händchen ihr verhätschelter Filius. Die Männer der Familie sind »nach einem Spaziergang« verschwunden, zeigen sich nur selten und hoch zu Ross oder hausen, wie der verwirrte Onkel Ascanio, in einem Hühnerstall auf dem Dach, wo die beiden Kinder Zuflucht finden vor der Strenge des weiblichen Regiments. So entdecken Carmen, der »nach Hexe zumute« ist, und ihr Halbbruder, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, ihre Liebe zueinander – in aller Unschuld zunächst, dann, ein Skandal, in heftiger Leidenschaft.

»Inzest ist in dieser sprachlich dichten Geschichte eine Folge der Isolation, der Verleugnung von gesellschaftlicher Anteilnahme – und zugleich steht daneben der Blick auf die Unbefangenheit jugendlicher Sexualität, die wie ein Korrektiv die Normen der Gesellschaft bloßstellt.« (Martin Grzimek in der Frankfurter Allgemeinen)

Die Autorin

Ana María del Río wurde 1948 in Santiago de Chile geboren. Sie veröffentlichte mehrere Romane, Erzählungen sowie Kinder- und Jugendbücher und gewann zahlreiche Preise, unter anderem den Premio María Luisa Bombal für ihren Roman »Carmenoxid«. Auch als Drehbuchautorin hat sie sich einen Namen gemacht. Neben ihrer Arbeit als Schriftstellerin unterrichtet Ana María del Río als Professorin für spanische Sprache und lateinamerikanische Literatur an verschiedenen Universitäten in Chile und den Vereinigten Staaten. An der Nationalbibliothek von Santiago de Chile bietet sie zudem Werkstätten für kreatives Schreiben an.

Der Übersetzer

Thomas Brovot, geb. 1958, lebt als Übersetzer (u. a. Juan Goytisolo, Federico García Lorca) in Berlin. Für seine Neuübersetzung von Mario Vargas Llosas »Tante Julia und der Schreibkünstler« erhielt er 2012 den Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis.

Ana María del Río
Carmenoxid

Aus dem chilenischen Spanisch
von Thomas Brovot

Edition diá

Inhalt

Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn

Impressum

Eins

Tante Malva wurde fuchswild, wenn ihr Mann, Don Pedro Bugeaut, französischer Physiker, uns mal wieder die Sache mit der Oberflächenspannung erklärte und dabei aus Unachtsamkeit den Wein verschüttete. Dann zog sie das Tischtuch weg, mit allem Drum und Dran, und hielt uns einen ellenlangen Vortrag über das Martyrium, Tag für Tag mit dem menschlichen Ungeschick unter einem Dach zu leben.

Aber Onkel Pedro Bugeaut war einfach wunderbar. Nie zupfte er an seiner Krawatte oder räusperte sich wie die anderen Leute. Von ihm habe ich gelernt, wie man eine Gottesanbeterin aus Papier faltet und dreidimensionale Drachen bastelt, und oft kroch er mit uns unter das Blumenarrangement aus riesigen Callas und Gladiolen in dem kleinen Zimmer mit den Regenschirmen, zweimal zusammengeknickt, denn Onkel Pedro Bugeaut hatte die Statur eines Schauermanns, sagte Tante Malva, wenn sie wütend war, und das war sie fast immer. Er war so zerstreut, dass er einmal ein hartgekochtes Ei in der Tasche seines Morgenrocks vergaß. Tante Malva steckte ein Vermögen in Rattengift, Seife für die Dienstmädchen und Desinfektionssprays, ehe sie es schließlich entdeckte.

Wir mochten Onkel Pedro Bugeauts Hände, die so groß waren, dass er selbst eine Steineiche hätte erwürgen können, mit Fingerkuppen wie Blütenblätter, dicke Blütenblätter.

Carmen und ich fanden, dass viel eher Onkel Pedro derjenige war, für den es allmählich zur Folter wurde, neben Tante Malva aufzuwachen. Sie quälte ihn mit winzigen Mahlzeiten, ohne Salz, und ließ ihn jeden Abend, komme, was wolle, im ganzen Haus nach dem Licht sehen: Hier wird kein Strom verschwendet, bloß damit der Schauermann es bequem hat, sagte sie.

Eines Tages machte Onkel Pedro Bugeaut einen Spaziergang zum Parque Forestal und kam nicht wieder zurück.

Zu unserer Strafe quartierte sich Tante Malva darauf im ersten Stock des Hauses meiner Großmutter ein, unter dem großen Oberlicht.

Eine Woche brauchte sie für ihren Umzug. Wir sahen sie hereinbrechen wie einen Gewittersturm aus schwarzen Koffern und Packpapierpaketen, verschnürt mit dicken Kordeln und festen Knoten, die über unseren Köpfen aufplatzten. Alle ihre Kisten und Schränke waren dunkel, dunkler noch als ihre Augenbrauen.

Auch wir wohnten dort. Papa hatte sich gerade von Mama getrennt, seiner zweiten Frau, nach einigen undeutlichen Szenen, die durch meine Albträume ziehen, ohne wirklich greifbar zu werden: laute Wortwechsel, immer wieder Kniefälle mit ausgebreiteten Armen, irgendwelche Schwüre; Papa mit eingeseiftem Gesicht, den Pinsel schwingend wie einen Dolch, zertretene Fotos auf den Fliesen in der Küche; Mama, die sagt, wer mir das antut, der kann sehen, wo er bleibt.

Mein Vater wurde nach Chena versetzt. Die Armee war nicht der Meinung, dass sich ein emotional so labiles Wesen wie er in der Hauptstadt halten konnte.

Ich war kein ganz richtiger Bruder von Carmen, vor allem nicht, als ihre Mutter noch lebte, von der es heißt, sie hätte im hintersten Hof gewohnt, in einem verglasten Zimmer, damit man sie von weitem im Auge behalten konnte, während sie irgendeine Näharbeit machte, umsonst würden wir sie nämlich nicht durchfüttern, ihr Leben lang eingemauert, sagte Carmen, immer in einer Wolke von Auslassungspunkten, wenn sie von ihr sprach. Außerdem, hieß es, sei sie sehr dunkelhäutig gewesen, mit schlechten Neigungen, und sie hätte nicht richtig »Meche« aussprechen können.

Carmen sagte zu mir, ja, ganz bestimmt, ihre Mutter sei Tänzerin und Spionin gewesen, und das seien zwei Berufe, bei denen die Erwachsenen es nicht ertragen könnten, dass es so etwas außerhalb des Kinos gebe. Ich bekam von ihr nur die Haare zu sehen, die leuchteten wie ein lautes Lachen, pechschwarz, ohne ein rötliches Schimmern.

»Und hat sie gut spioniert?«, fragte ich Carmen. Sie nickte, wie abwesend, und dachte längst an etwas anderes.

Meine Mutter war da aus anderem Holz geschnitzt, versicherte Großmutter: zeitlebens Königin der Wohltätigkeitsbälle und Tombolas der Englischen Schule, kapriziöse Freundin des Sportclubs Lord Cochrane und anderer bedeutender Ereignisse und Institutionen von Punta Arenas. Sie kannte sich erstaunlich gut mit Rouge und Schminke aus, die wirklich jedem Typ gut standen, und hatte unfassbare Vorahnungen von der Zukunft ihrer Freundinnen, in der sich oftmals dunkle Männer tummelten, leidenschaftliche Männer, die nicht allzu schwer zu finden waren, vor allem leidenschaftliche Esser. Meine Mutter kam stets als Letzte zu den Festen und wurde ungeduldig erwartet. Schon in der Wiege wusste sie, welche und wie viele Gläser zum Galadiner gehörten und wer neben wem zu sitzen hatte, auch wenn sie manchmal höchstpersönlich mit einem Zwinkern ihrer wundervollen braunen Augen die eigenen Regeln übertrat.

Sie war von greller Eleganz. Ihr Lachen hatte etwas Eisiges, das die tiefsten Ängste hervorlockte. Ihre Hände waren so zauberisch gewandt wie ihr Make-up steif, das Importware sein musste und dem sie drei Viertel ihres Lebens widmete. Immer hatte sie Dinge wie lange Handschuhe aus echtem Leder, kostbares Porzellan und geschliffenes Glas um sich und brillierte mit Sätzen wie: »Mich lässt niemand warten« oder »Falsch geboren, schon verloren«, denen ich später in verschiedenen Zeitschriften wiederbegegnet bin und die wirklich berühmt sind.