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Peter Kasza

Fußball spielt Geschichte

Das Wunder von Bern

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

ebook im be.bra verlag, 2013

© der Originalausgabe:

www.bebraverlag.de

Inhalt

1 | Anstoß

2 | Dribbeln und Demokratie – Ungarn nach 1945

3 | Keine Nation, keine Mannschaft – die Stunde Null der deutschen Fußballrepublik

4 | Zwischen Volk und Regime – die ungarische Nationalmannschaft als sozialer Kitt

5 | Man spielt wieder mit uns – Deutschland und die geknickte Souveränität

6 | Ungarn zwischen Reform und Endspiel

7 | Deutschland 1954: Sieg und Wirtschaftswunder

8 | Die Bäume wachsen nicht bis zum Himmel – Ein verlorenes Spiel und ein gescheiterter Volksaufstand

9 | Sind wir wieder wer? – Deutschland nach der Weltmeisterschaft

10 | Wir gegen uns – Die DDR zwischen brüderlicher Solidarität und nationaler Verbundenheit

11 | Nach dem Spiel

Anhang

Anmerkungen

Zeitzeugen

Ausgewählte Literatur

Danksagung

1 | Anstoß

Die Spieler unserer Goldenen Mannschaft waren für uns Nationalheilige. Dazu gehörte auch György Szepesi, der legendäre Rundfunkreporter. Er war der zwölfte Mann der Mannschaft. (…) Anfangs sah es so aus, als würde es ein absolut routinemäßiger Sieg werden – genauso, wie wir es erwartet hatten. Wir waren gespannt, weil es an diesem Tag um nicht weniger als das Schicksal unserer Nation ging.

image György Dalos in der Erinnerung an das Finale von Bern

3:2 – Der Titel von Fritz Walters Buch beschränkte sich auf das Notwendige – und er ließ nichts offen. 3:2 – so gewann die deutsche Fußball-Nationalmannschaft im WM-Endspiel am 4. Juli 1954 in Bern. 3:2 – und niemand hatte es erwartet. Für die Experten waren die Deutschen höchstens Außenseiter. Erst seit 1950 durften sie wieder international mitspielen und sie hatten es mehr schlecht als recht getan; durch die WM-Qualifikation hatten sie sich geschleppt, in der Vorrunde des Turniers 3:8 gegen Ungarn verloren und erst im Viertel- und Halbfinale des Turniers hatten sie wirklich überzeugt.

2:3 – Ein Buch, das in Ungarn niemand schreiben wollte – auch dieser Titel hätte nichts offen gelassen. 2:3 – so verlor die ungarische Fußball-Nationalmannschaft im WM-Endspiel am 4. Juli 1954 in Bern. 2:3 – und niemand hatte es erwartet. »Goldene Mannschaft« nannte man sie. In 32 Spielen in Folge ungeschlagen, über vier Jahre lang; Olympiasieg in Helsinki; das Jahrhundertspiel in Wembley gewonnen; die Deutschen in der Vorrunde abgefertigt. Ungarn war der größte Favorit aller Zeiten. Und nun das … Deutschland war Weltmeister. Ungarn war nichts.

Rein sportlich war das von der deutschen Warte aus gesehen höchst erfreulich und von der ungarischen aus mehr als betrüblich. Doch die Bedeutung des Endspiels von Bern ging über den rein fußballerischen Aspekt hinaus. Der Sieg wurde zum gesamtgesellschaftlichen Wunder, die Niederlage zur Katastrophe – einige würden an dieser Stelle anfügen: »verklärt«.

Tatsächlich geht es um Mythenbildung, wenn das »Wunder von Bern« das deutsche Bewusstsein berauscht, und der Einfachheit zuliebe wird die Realität gerne ein bisschen zurechtgestutzt. Da heißt es schon mal, dass ohne das »Wunder von Bern« das Wirtschaftswunder vermutlich später eingesetzt hätte, wenn es denn überhaupt gekommen wäre – als ob ein gewonnenes Fußballspiel das Bruttosozialprodukt in die Höhe treiben könnte. Vom »eigentlichen Gründungsakt der Bundesrepublik« ist da schnell die Rede – als ob ein Fußballspiel das Fundament eines Staates sein könnte. Wenn man beim Historiker Joachim Fest nachfragt, ob er diesen ihm zugeschriebenen Satz wirklich so gesagt hat, dann winkt er ab. Was er einmal in einer Fernsehsendung gesagt habe sei, dass es drei Gründungsväter der Republik gegeben habe: Adenauer im politischen, Erhard im wirtschaftlichen und Fritz Walter im mentalen Bereich. Das ist natürlich etwas anderes und damit kommt man dem Kern der Ereignisse von Bern ziemlich nahe: Mental ist das entscheidende Stichwort, sowohl für Deutschland, als auch für Ungarn, wiewohl sich das magische Dreieck Politik, Volk und Sport nicht auseinanderreißen lässt. Wenn Fußballmannschaften auf internationaler Ebene gegeneinander antreten, dann finden sich ganze Nationen hinter ihren Teams zusammen. »Wir haben gewonnen«, heißt es dann, oder »Wir haben verloren«.

Politisch waren die Spiele der deutschen und der ungarischen Mannschaft bereits vor dem Endspiel von Bern. Wenn Deutschland auf Frankreich oder auf Jugoslawien traf, dann traf es auf eine Nation, der sie während des Krieges Ungeheuerliches angetan hatte. Wenn Ungarn auf Österreich traf, dann fand die Rivalität der k. u. k.-Zeit ihre subtile Fortsetzung. Nur die politische Klasse selbst ging in beiden Ländern auf ganz unterschiedliche Weise mit dieser Rolle um. In Deutschland leugnete man von Seiten der Politik zwanghaft jegliche politische Bedeutung des Sportes – in Ungarn wurde der Sport am Volk vorbei zum Zeichen der Überlegenheit eines ganzen Gesellschaftssystems stilisiert. Woher diese Unterschiede in der politischen Bewertung? Welche Rolle nahmen die Mannschaften in beiden Gesellschaften ein?

Es war der Kalte Krieg, der das Schicksal beider Nationen bestimmte. Ihre neuen Gesellschaftsordnungen hatten beide nicht aus freien Stücken gewählt, sie wurden ihnen von den Alliierten vorgegeben: die kommunistische auf der einen, die demokratische auf der anderen Seite. In Ungarn war es bald der pure Hass auf den stalinistischen Terrorstaat, in Deutschland eine apolitische Reserviertheit der ungewohnten Demokratie gegenüber, die auf ganz gegensätzliche Weise die Entfremdung zwischen Staat und Volk kennzeichneten. Die Nationalmannschaften nahmen in beiden Ländern eine Mittlerposition ein.

Die Spieler um ihren Kapitän Ferenc »Öcsi« Puskás waren so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner zwischen stalinistischem Regime und ungarischem Volk – eine Art nationaler Kitt. Auch wenn die Partei die Fußballer als Waffe im Propagandakrieg nutzte – die Menschen standen zu ihren Jungens. Die Siege der Mannschaft waren auch ihre Siege, sie sorgten für Selbstbewusstsein und für Augenblicke nationaler Zusammengehörigkeit. In Bern war dieser Kitt mürbe geworden: Nach dem Schlusspfiff brach sich die Wut des Volkes Bahn. In Ungarn kam es zu den ersten Ausschreitungen, seitdem die Kommunisten die Herrschaft inne hatten – und sie fielen in eine Zeit, da bereits ein Machtkampf zwischen Stalinisten und Reformern in der kommunistischen Partei brodelte. Die Niederlage im Fußball war der Auslöser, die Ursachen lagen tiefer: Die Proteste richteten sich gegen die Stalinisten um Parteichef Mátyás Rákosi – und sie waren das Vorspiel zum Volksaufstand zwei Jahre später.

So wie die ungarische Mannschaft nach der Niederlage in Bern ihre Funktion als Vermittler eingebüßt hatte, so manifestierte sich diese Rolle in Deutschland erst nach dem Sieg der Fußballer um Fritz Walter. Der Weltmeistertitel bescherte den Menschen ein Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit und auch der Identifikation mit ihrem Staat. Weniger neues Selbstbewusstsein, als viel mehr ein neues Bewusstsein von sich selbst hätten die Deutschen bekommen, urteilt Joachim Fest. Dass es etwas anderes war als die plumpe Wir-sind-wieder-wer-Floskel, das bestätigen auch die anderen für dieses Buch befragten deutschen Zeitzeugen.

Um die Bedeutung dieses Endspieles für beide Nationen zu begreifen, um die völlig unterschiedlichen Erwartungen an die Mannschaften zu verstehen, muss man ihre Entwicklung vor dem Hintergrund der jeweiligen Nachkriegsgesellschaften sehen. Vergleicht man sportliche und gesellschaftliche Tendenzen jener Jahre, so wird deutlich, auf welch unterschiedliche Weise Fußball Geschichte spielen kann.

Die Reportagen des Endspiels sind in beiden Ländern zu Legenden geworden – »Kinder, ist das eine Aufregung. Ihnen an den Lautsprechern wird es genauso gehen, wie den 30.000 Schlachtenbummlern, die sicherlich aus Deutschland wieder hergekommen sind, und wie uns drei, vier Leuten in der engen Rundfunkkabine. Wir haben heute übrigens die beste Rundfunkkabine. Zum ersten Mal, aber auch begründet, denn wir sind ja auch im Endspiel … schön«, freute sich Herbert Zimmermann zu Beginn der Übertragung, während der kleine Hans-Christian Ströbele in Marl, Westfalen, in Richtung elterlicher Wohnung eilte: »Ich war etwas zu spät, als ich durch die Straßen unserer kleinen Werkssiedlung rannte, vorbei an all den offenen Fenstern. Das Endspiel hatte schon begonnen und aus jeder Wohnung hörte ich die Stimme meines Onkels. Ich war natürlich wahnsinnig stolz, weil mein Onkel ein so berühmter Rundfunkreporter war«, erzählt Ströbele, heute stellvertretender Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag. Der Onkel erzählte seinem Neffen später, dass er es nicht unbedingt als dankbare Aufgabe empfunden habe, ein Spiel zu übertragen, in dem Deutschland sowieso verlieren würde. Deshalb habe er sich schon vorher überlegt, was er sagen könnte – und so stapelte er gleich zu Beginn der Reportage permanent tief: es sei ja schon ein großer Erfolg, dass man ins Endspiel gekommen sei. Zimmermanns schnarrende Stimme gehört zum auditiven Repertoire einer Generation: von einem pädagogischen »Was wir befürchtet haben, ist eingetreten« nach der frühen Führung der Ungarn über ein dankbar geschrieenes »Toni, du bist ein Teufelskerl. Toni, du bist ein Fußballgott« nach einer Glanzparade des deutschen Torwarts und einem vorsichtig selbstbewussten »Ja, also liebe Ungarn, jetzt müssen wir sagen: Jetzt habt ihr Glück gehabt«, kurz vor der Halbzeit, als beinahe die Führung für die Deutschen gefallen wäre, bis hin zu »Toooor! Toooor! Toooor! Toooor!« und »Aus! Aus! Aus!« Die Reportage ist ein Glanzpunkt – und sie ist ein Spiegelbild der deutschen Seele der fünfziger Jahre: Zimmermanns Betonen, es handle sich nur um ein Fußballspiel, sein Enthusiasmus und die auf dem Fuße folgende Entschuldigung dafür.

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Der ungarische Nationaltorhüter Gyula Grosics beim »Jahrhundertspiel« im Wembley-Stadion, das die Ungarn 6:3 gegen England gewannen.

»Die Hymnen sind verklungen, in Kürze beginnt das große Endspiel. Nach langen Wochen aufregender Spiele treffen heute noch einmal die ungarische und westdeutsche Auswahl aufeinander, um herauszufinden, wer der Beste ist. Bisher hat bei den vier stattgefundenen Weltmeisterschaften zwei Mal Uruguay und zwei Mal Italien gewonnen. Wie es heute auch ausgehen wird – es wird ein neuer Name sein, der in den Rimet-Pokal eingraviert werden wird«, so begann der ungarische Kommentator György Szepesi seine Reportage – und dass Ungarn als Sieger vom Platz gehen würde, daran zweifelte der Reporter genauso wenig, wie der Rest der Nation. »Szepesi gehörte mit zur Goldenen Mannschaft«, sagt der Schriftsteller György Dalos, der das Spiel damals als Zwölfjähriger in einem Lungensanatorium mit 20 anderen Jungens angehört hatte. »Seine Reportagen waren in romantischem Stil gehalten, mit sehr vielen Emotionen.« Von seinem jovialen »Na, jetzt ist alles in Ordnung« nach dem frühen 2:0 über ein flehendes »Jungens aufpassen! Ruhig spielen! Wir haben noch Zeit! Wir müssen dieses Spiel gewinnen!« nach dem deutschen Ausgleich und über ein: »Es ist schwer, sehr sehr schwer. Wer hätte gedacht, dass die Deutschen einander die Bälle so gut zuspielen. Mit ihrer Stürmerreihe machen sie (…) die ungarische Verteidigung verrückt« kurz vor der Halbzeit, bis hin zum weinenden »Liebe Hörer, Rahns Schuss ist drin, in der rechten Ecke, sechs Minuten vor Schluss. (…) Die Jungens stehen zusammengebrochen da. Die Menge schreit. Sechs Minuten noch. Blendend hat die ungarische Mannschaft gespielt. Ich kann nichts anderes sagen. Meine Tränen fließen, aber glauben sie mir, dass die Jungens alles gegeben haben.« Szepesi sprach 90 Minuten ununterbrochen – mit der Geschwindigkeit eines Maschinengewehrs. Er schrie, er haderte mit dem Schicksal – und im nächsten Satz analysierte er treffend die Fehler der ungarischen Hintermannschaft. Er lobte die Deutschen: wunderbaren Fußball würden sie spielen, aus dem Lehrbuch – so wie seine Reportage. würden sie spielen, aus dem Lehrbuch – so wie seine Reportage.

Die beiden Reporter synchronisierten das Wunder und die Katastrophe. Auszüge ihrer Reportagen führen als Roter Faden jeweils zu Beginn der Kapitel durch dieses Buch – denn die Nachkriegsentwicklungen der Nationalmannschaften und der Nationen – sie folgten der gleichen Dramaturgie wie das Endspiel von Bern.

Und noch ein Reporter war live dabei: Wolfgang Hempel, der Kommentator des DDR-Rundfunks. Seine Reportage klang etwas reservierter: »Hallo liebe Fußballfreunde in Deutschland. (…) Der große Tag ist da. Der Tag des Fußballendspiels der Fußballweltmeisterschaft 1954. In dieser Sekunde hat Schiedsrichter Ling aus England das Spiel angepfiffen. Das letzte Spiel nach 25 Auseinandersetzungen soll nun den Besten der Fußballweltmeisterschaft 1954 ermitteln. Ungarn gegen Westdeutschland, das ist diese Paarung (…) im restlos ausverkauften Berner Wankdorfstadion.«

Das war der Auftakt für einen Seiltanz. Hempel durfte nur von der westdeutschen Mannschaft sprechen, keinesfalls von der deutschen – Anweisung von oben. Mit dem Klassenfeind wollte sich die offizielle DDR nicht gemein machen und drückte die Daumen für den sozialistischen Bruderstaat. Die Bevölkerung hielt allerdings aus nationaler Verbundenheit eher zu ihren westlichen Landsleuten. So saß Hempel zwischen allen Stühlen – und kommentierte mit objektiver Begeisterung.

Wie die DDR in der Zeit, da sich die Teilung Deutschlands auf Dauer manifestierte, mit dem Spiel umging, das ist ein eigenes Kapitel wert. Denn auch hier spielte Fußball Geschichte.

2 | Dribbeln und Demokratie – Ungarn nach 1945

Dann kommt der Ball weiter nach vorne zu Kocsis. Na, Sanji, jetzt pass auf! Schuss! Der Ball springt zu Puskás. Puskás schießt … TOOOR … EIN GROSSARTIGES TOOOR! Das ist das Führungstor. Öcsis linker Fuß ist gesund … Das konnte man bei diesem Schuss sehen … Und jetzt empfängt er froh die Gratulationen. Kocsis erster Schuss ist abgeprallt, wenn ich das richtig gesehen habe, von Kohlmeyer; kommt genau zum herbeilaufenden Puskás. Und Puskás schießt aus zehn Metern Entfernung mit dem linken Fuß in die linke untere Ecke. Unser Führungstor!

Und jetzt ruhig, Jungens, so, wie wir beim 8: 3 gespielt haben.

image György Szepesi, 6. Spielminute

»Unser Napoleon, unser Feldherr« –
Ferenc Puskás, der Krieg und der Fußball

Das erste Nachkriegstor der ungarischen Fußball-Nationalmannschaft hatte ziemliche Symbolkraft: just in jenem freudigen Moment platzte der Ball. Es war in der 18. Spielminute an einem sonnigen Budapester Augustnachmittag im Jahr 1945, als Ferenc Rudas den fälligen Foulelfmeter mit derartiger Gewalt in die rechte österreichische Torecke beförderte, dass der Nachkriegsflickenball zerbarst.1 Am darauf folgenden Tag fanden sich erneut 42.000 Zuschauer im Budapester Stadion ein, denn da traten die Ungarn gleich noch einmal gegen Österreich an. Das war in gewisser Weise typisch für die Nachkriegszeit: wenn irgendetwas zu haben war – Kartoffeln, Brennholz, österreichische Fußballer – nahm man so viel mit, wie eben ging. Nun spielten Österreich und Ungarn also innerhalb von 24 Stunden gleich zweimal gegeneinander und als die Fußballsachverständigen auf den Rängen immer noch sinnierten, wie dieses erste Nachkriegstor vom Vortag wohl zu deuten sei, da passiert das eigentlich Zukunftsweisende: Denn an diesem 20. August lief erstmals der etwas zu kurz und etwas zu dick geratene 18-Jährige auf, dem bei dieser Gelegenheit nach eigenem Bekunden vor Aufregung die Knie zitterten, wie später nie wieder in seinem Leben. »Öcsi« nannten sie ihn damals, »Öcsi« nennen sie ihn noch heute, wenn sie von ihm sprechen. »Kleiner Bruder« heißt das. Auf dem Spielfeld zitterte der kleine Ferenc Puskás dann nicht mehr, vielmehr wirbelte er und schoss und traf. Das erste Mal. Das erste von 83 Toren in 84 Spielen für die ungarische Nationalmannschaft.

»Er war unser Napoleon, er war unser Feldherr«. Rundfunkkommentator György Szepesi bemüht gerne militärisches Vokabular, wenn es um Fußball geht und er fügt mit Stolz hinzu: »Es war auch meine Premiere. Puskás’ erstes Tor, war auch mein erstes Tor. Das erste, das ich jemals im Rundfunk übertragen habe.« Über 300 Mal ließ Szepesi in der Folge die ungarische Mannschaft in ungarischen Wohnzimmern auflaufen – auch dann noch, als Puskás’ Zeit längst vorbei ist. »Er war«, sagt Szepesi über Puskás, »der wichtigste Spieler der Goldenen Mannschaft.«

An besagtem 20. August 1945 sprach man noch nicht von Goldener Mannschaft, und während Öcsi sich für die Nation auf dem Rasen mühte, war sein Freund József »Cucu« Bozsik zum Zusehen verdammt. Zwei entbehrungsreiche Jahre musste er noch warten, bis sie auch ihn ins Team der Besten beriefen, bis auch er in der Nationalmannschaft mit seinem Freund zusammenspielen konnte, so wie damals in Kispest, wo alles anfing:

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»Unser Napoleon, unser Feldherr« – Ferenc Puskás, der Kapitän der ungarischen Nationalmannschaft. (Privatarchiv Moritz Rapp)

»Zwei halbwüchsige Jungen stehen einander gegenüber. Einer hält die Hände hinter dem Rücken und legt einen Kieselstein von einer Hand in die andere. Plötzlich bleibt der Kiesel in der linken Hand liegen, die Arme schnellen vor und legen sich übereinander. – ›Wähle!‹

Der andere spricht kein Wort, sondern schlägt auf die ihm entgegengestreckte rechte Faust. Sein Partner lacht voll Schadenfreude: ›Nichts! Ich wähle zuerst … Puskás!‹ ruft er, worauf ein schmächtiges Bürschchen sich hinter ihn stellt. Das Gesicht des anderen verfinstert sich für einen Augenblick, leuchtet dann aber um so heller auf: ›Bozsik!‹ – ruft er voller Triumph.

Ein kleiner blauäugiger, schwarzhaariger Strubbelkopf stellt sich sofort hinter ihn.«2 So war das damals beim AC Kispest mit Öcsi und Cucu, 1938, im Jahr der Weltmeisterschaft in Frankreich – oder wenigstens stellte sich das der Journalist István Csillag im Nachhinein so vor, 1954, im Jahr der Weltmeisterschaft in der Schweiz. 16 Jahre liegen zwischen den beiden aufeinanderfolgenden Weltmeisterschaftsteilnahmen Ungarns. 16 Jahre, in denen sich Ungarn von einem rechts-autoritären in einen stalinistischen Staat wandelte. 16 Jahre, in denen sich der ungarische Fußball stetig entwickelte. 16 Jahre, in denen die Goldene Mannschaft geboren wurde. 16 Jahre, von einer Silbermedaille bis zur nächsten. Und natürlich ging es in beiden Weltmeisterschaftsfinals mehr als nur um Fußball.

Damals, 1938, rechnete man in Ungarn mit einiger Vermessenheit damit, den Weltmeisterschaftstitel zu holen, was nach allgemeiner Ansicht nur recht und billig gewesen wäre, ging es nach all den politischen und wirtschaftlichen Rückschlägen doch gerade wieder ein Stückchen bergauf. »Sieger in der Niederlage« nennt Paul Lendvai sein Buch über die ungarische Geschichte und der Titel verleiht dem grundsätzlichen Gefühl der Ungarn Ausdruck, immer schon von der großen weiten Welt verraten, im Stich gelassen oder als Spielball missbraucht worden zu sein. »Wir können uns besser an verlorene Schlachten erinnern, als an gewonnene. Das geht schon seit 1526 so«, sagt der Schriftsteller Péter Esterhazy auf die Niederlage gegen die Türken anspielend und zitiert schmunzelnd die letzte Strophe der ungarischen Nationalhymne: »Für Vergangenheit und Zukunft hat dieses Volk schon gesühnt…« Armes Ungarn. Im Laufe der Zeit hatte der »Verrat« Ungarn politisch ziemlich kastriert und die Wut über den »Verrat« war bald der Angst gewichen, von der großen weiten Welt mit Gleichgültigkeit behandelt zu werden – und das war irgendwie noch schlimmer, als verraten zu werden. Es sind die beiden Urängste, die sich fest in der ungarischen Psyche verankert haben.

Auch im Ersten Weltkrieg hatte sich Ungarn für die Seite der Verlierer entschieden. Die Folge war 1920 der Vertrag von Trianon, der das Land eines großen Teiles seiner Potenz beraubte: Vormals 283.000 Quadratkilometer groß, wurde es auf 93.000 Quadratkilometer zurechtgestutzt, verlor also über zwei Drittel seines Territoriums. Die Bevölkerung sank dadurch von 18,2 auf 7,6 Millionen Einwohner.3 Die Ungarn beklagten lauthals, dass nun 3,5 Millionen ihrer Landsleute außerhalb der Staatsgrenze zu leben gezwungen waren, vergaßen darüber aber, dass zuvor die Grenzen des ungarischen Staates so großzügig gezogen waren, dass 7,1 Millionen Menschen anderer Herkunft unter unfreiwilliger ungarischer Obhut gestanden hatten. Nun blieb Trianon für die Ungarn das, was für die Deutschen Versailles war, und der Ruf nach Revision des von allen als ungerecht empfundenen Vertrages übertönte sogar alle politischen Differenzen. Reichsverweser Miklós Horthy errichtete auf diesem Fundament in den zwanziger Jahren eine paternalistische, autoritäre und, mit ihrer feudalistischen Grundstruktur, auch etwas anachronistische Diktatur, die sich bald darauf als eines der zusätzlichen Räder der Achse Berlin-Rom nützlich machen sollte.

Die Vorbilder, denen der junge Puskás und der junge Bozsik nacheiferten, hießen in dieser Zeit der Kollaboration Ungarns mit Italien und Deutschland Gyula Zsengellér und Dr. György Sárosi. Auch Fritz Walter erinnerte sich an die ungarische Mannschaft von 1938 mit einer fußballerischen Respektsbekundung »Die ungarischen Spieler besaßen legendären Ruhm. Vor allem Dr. Sárosi im Sturm der Magyaren war eine international anerkannte Größe, ein Vollblutfußballer, wie ihn sich jeder Trainer für sein Team wünscht.«4 Dieser Vollblutfußballer führte 1938 die ungarische Nationalmannschaft zur Weltmeisterschaft nach Frankreich. 36 Länder nahmen teil, das beste Team durfte indes nicht mehr mitspielen, weil dessen Staat nicht mehr Österreich, sondern Ostmark hieß, und auch kein Staat mehr im eigentlichen Sinne war. Er hatte die Eigenständigkeit eingebüßt, was ein Großteil der Bevölkerung, wenn schon nicht politisch, so doch fußballerisch bedauerte. Das legendäre Wunderteam um Matthias Sindelar hatte seinen Zenit zwar schon überschritten, dennoch war das Wiener »Scheiberlspiel« mit kurzen Pässen und filigraner Technik das non plus ultra der Fußballkunst in den dreißiger Jahren. Die Frage, ob sie sich die Weltmeisterschaftskrone hätten aufsetzen können, stellte sich nicht mehr – denn sie wurden »heim ins Reich geholt«. Das Spielverständnis von Ostmark und Altreich wollte nicht recht harmonieren und so flog der großdeutsche Kameradschaftsbund von Reichstrainer Herberger schon in der Vorrunde raus, wohingegen die Ungarn im Finale landeten. Dort warteten die Italiener, die seit 13 Jahren nicht mehr gegen Ungarn verloren hatten, und setzten – Achsenverwandtschaft hin oder her – diese Serie unbeeindruckt fort. 4:2 verloren die Ungarn. Immerhin: Eine Silbermedaille für das geschrumpfte Land – doch ganz so locker sahen das die Menschen daheim nicht. Als die Mannschaft am Budapester Ostbahnhof eintraf, empfing sie eine schlecht gelaunte Menschenhorde und drohte mit Prügel. Erst die Polizei konnte für Ordnung sorgen, später dann der ungarische Fußballverband, der mit dem typischsten aller Reflexe des Gewerbes reagierte: Er feuerte Trainer Dr. Károly Dietz, wegen seiner »taktischen Fehler«. Dietz hatte – sehr zum Zorn der Fans – die Mannschaft völlig umgestellt, drei der beliebtesten Spieler hatte er gar nicht erst antreten lassen und zeigte sich auch nach dem Spiel über alle Zweifel erhaben: »Ich halte diese Aufstellung nach wie vor für die beste. Es geht die Öffentlichkeit nichts an, warum ich mich für diese Lösung entschied!«5 Da hatte er sich getäuscht, wie sich später herausstellen sollte. Aber war er vielleicht nur ein Werkzeug größerer Mächte? Der Flügelstürmer Ferenc Sas witterte eine Verschwörung: »Es war ein politisch abgekartetes Spiel. Mussolini hätte es damals nicht ertragen, wenn die Italiener nicht Weltmeister geworden wären. Sie mussten siegen, siegen um jeden Preis. Uns hatte zwar niemand aufgetragen, nicht einsatzvoll zu spielen oder keine Tore zu schießen. Aber wir wurden in einer Aufstellung in den Final geschickt, in der wir nicht zu siegen vermochten.«6 Da war er also wieder, der Verrat der großen weiten Welt.

Tatsächlich zeigte sich der Duce in Fragen der Gebietszuteilung im Nachhinein gönnerhaft. Durch zwei Schiedssprüche zwischen ihm und Hitler profitierte Ungarn von der »Zerschlagung der Tschechoslowakei« und später dann vom Krieg auf dem Balkan. Das war aber eher darauf zurückzuführen, dass sich Horthy so vorbildlich an den neuen großdeutschen Nachbarn geschmiegt hatte, als auf die Niederlage im Endspiel. Von 1938 bis 1941 wuchs das ungarische Staatsgebiet wieder auf das Doppelte an. Das tat zwar der ungarischen Seele gut, aber wohl weniger jenen Tschechen, Rumänen und Kroaten, die sich einmal mehr unter ungarischem Diktat und heftiger Magyarisierungspolitik wiederfanden.7 Die Revisionspolitik des konservativautokratischen Regimes schien aufzugehen und das Programm Landnahme ging weiter. Ungarische Truppen marschierten 1941 an der Seite der Achsenmächte nach Russland.

12 Jahre war Öcsi Puskás, als der Krieg ausbrach, und er klagte zwar über diverse Mängel, ganz besonders die unzureichende Versorgung mit ungarischer Wurst, aber der Krieg in all seiner Schrecklichkeit kam lange Zeit nicht auf ungarischen Boden. Deshalb konnte man bis in die Saison 1944/1945 hinein in der nationalen Liga relativ unbehelligt weiterkicken. Auch Öcsi Puskás und sein Freund Cucu Bozsik spielten mit, und zwar heimatnah beim AC Kispest, der in Kürze zur vielleicht bedeutendsten ungarischen Ligamannschaft werden sollte. Mit 16 debütierte Puskás in der ersten Mannschaft bei einem Spiel gegen Nagyvarad, weil viele der Stammspieler in den Krieg gezogen waren.8 »Ich hatte das Glück, dass ich zu jung war, um einberufen zu werden«, sagte er retrospektiv. Anfangs haben sie Öcsi, den Kleinen, noch ausgelacht. Aber er behauptete sich.

Die Nationalmannschaft spielte in Kriegszeiten von September 1939 bis 1943 erstaunliche 22 Mal. Beim letzten Match, am 7. November 1943 gegen Schweden, gab sich selbst der greise Reichsverweser Horthy die Ehre, und so wenig er seinem Land Glück brachte, so wenig wirkte sich seine Tribünenpräsenz positiv auf das Spiel aus. Zur Halbzeit stand es noch 2:2, dann aber kassierten die Ungarn in der zweiten Hälfte fünf Tore. Danach hatten sie anderthalb Jahre Zeit, sich von dem Schock zu erholen, denn solange wurde nicht mehr auf internationaler Ebene gespielt – bis eben an jenem Augustnachmittag im Jahre 1945, als der Ball platzte.

Jüdische Spieler standen bei diesem ersten Spiel im August 1945 nicht auf dem Platz. Viele der jüdischen Sportler hatten den Holocaust nicht überlebt. Sehr früh waren sie gezwungen, die Sportvereine zu verlassen. Die rassische Gesetzgebung in Ungarn übertraf nach Historiker Raoul Hilberg schon im frühen Stadium die Nürnberger Gesetze, wenn es um die Definition der Religions-, respektive »Rassenzugehörigkeit« ging. Insgesamt 850.000 Menschen waren in ihrer beruflichen Existenz und von der »Endlösung« bedroht.9 Trotz der strengen Auslegung des »Judenseins« war Hitler nicht zufrieden mit Horthy, der von allen die Judenfrage am schlechtesten löse, wie Goebbels in seinem Tagebuch vermerkte. Denn Horthy und dem Großteil der Bevölkerung waren, bei allem Antisemitismus, Deportationen, wie sie die Nationalsozialisten planten, zuwider. So urteilt auch der Publizist Paul Lendvai: »Nirgends in Mittel- und Osteuropa konnten (die Konvertierten mitgerechnet) über 800.000 Juden (trotz der Judengesetze) so lange in relativer Sicherheit leben, wie in Ungarn.« Aber, so Lendvai weiter: »Nirgends in Mittel- und Osteuropa wurden die Juden (…) so schnell und so brutal in den Tod geführt, wie in Ungarn.«10 Dass es dazu kam, bedurfte eines aktiven Eingreifens der Deutschen. Horthy hatte sich nicht nur gegen Deportation der ungarischen Juden verwahrt, er hatte darüber hinaus begonnen, mit den Westalliierten zu kungeln. Nach dem Stocken der Hitler’schen Offensive in Russland und nach der Vernichtung der 2. Ungarischen Armee in der Schlacht am Don, suchte Horthy die Annäherung an die Alliierten. Gleichzeitig wurde Ungarn für Nazi-Deutschland strategisch immer bedeutender, da die Sowjets ihrerseits bald an den Grenzen Ungarns standen. Horthys fixe Idee, aus dem Krieg auszusteigen, veranlasste Hitler 1944 das verbündete Ungarn zu besetzten, damit die Verbündeten auch verbündet blieben. Horthy wurde zur Zustimmung genötigt, doch machte er noch einen letzten Versuch: Im Oktober 1944 erklärte er einen Waffenstillstand, worauf ihn Hitler zum Rücktritt zwang und die ungarischen Nationalsozialisten, genannt Pfeilkreuzler, an die Macht brachte. Im Schlepptau der deutschen Truppen kam auch Adolf Eichmann, Leiter des »Judenreferats« im Reichssicherheitshauptamt, mit 200 seiner »besten Männer«. Diese Organisatoren des Holocaust brachten es in kürzester Zeit mit deutscher Präzision fertig, einen Großteil der bedeutendsten jüdischen Gemeinde Europas zu ermorden. 476.000 ungarische Juden wurden deportiert. Der Großteil hat die Vernichtungslager nicht überlebt. Alfréd Brüll, einer der wichtigsten Sportfunktionäre des Vorkriegsungarn war unter ihnen. 1905 war er Präsident des Sportvereins MTK (Magyar Testgyakorlók Köre = Ungarischer Turnerzirkel) geworden und war es 35 Jahre geblieben. Die starke Verwurzelung im jüdischen Bürgertum brachte das vorläufige Ende für einen der ältesten und bedeutendsten ungarischen Vereine. Bereits 1939 waren Juden aus den Führungspositionen des Sportes vertrieben worden und am 18. Juli 1940 wurde der »Judenverein« MTK aufgelöst. Die Oberen hatten ihre Fans noch aufgerufen, den sozialdemokratischen Club von Vasas zu unterstützen – der sei wenigstens antifaschistisch.

Auch die lokale Konkurrenz von Ferencváros, genannt Fradi, hatte gegen die Auflösung von MTK protestiert. Der Verein aus einem Budapester Vorort war ehemals von deutschstämmigen Ungarn gegründet worden. Er war ein klassischer Arbeiter- und Kleinbürger-Verein. Auch bei Fradi hatte es Ende der dreißiger noch ein Dutzend jüdische Funktionäre gegeben. Der Protest, den die Vereinsführung gegen die Auflösung von MTK vorbrachte, war nicht von Erfolg gekrönt. Stattdessen wurde Fradi »arisiert« und zum Vorzeigeverein der Pfeilkreuzler umgemodelt. 1944 bekam Fradi schließlich mit Innenminister Andor Jaross den Organisator der ungarischen Juden-Deportationen als Präsidenten. Dessen Amtszeit war recht kurz, denn nach dem Krieg wurde ihm der Prozess gemacht und er wurde als einer der Hauptschuldigen an der Ermordung Hunderttausender gehängt.

Der Präsident vom MTK, Alfréd Brüll, war nach Auschwitz deportiert worden. Joseph Mengele soll auf der Rampe stehend gerne Shakespeare zitiert haben, wenn er die Menschen nach rechts oder nach links einteilte und damit über ihr weiteres Schicksal befand. Die Legende besagt, dass Brüll Mengele korrigiert habe, weil der Shakespeare fehlerhaft wiedergab. Brüll wurde 1944 ermordet.11

Hoffnungsvoller Neubeginn –
Politik und Fußball im Nachkriegsungarn

Ungarn wurde erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1944 zum Kriegsschauplatz. Auf Befehl Hitlers hielten die Wehrmacht und die SS Budapest – und verwandelten die Stadt in eine Trümmerwüste. Mitte Januar 1945 wurde Pest, das linke Donau-Ufer, von der Roten Armee befreit. Bis Februar verschanzten sich deutsche Einheiten und Pfeilkreuzler auf der Burg. Die letzten deutschen Truppen verließen Ungarn am 4. April 1945. Zurück blieb ein Land mit gewaltigen Kriegsschäden, die dem Volkseinkommen von fünf Jahren entsprachen.12 Bald forderten die Regierungen derjenigen, die unter den Ungarn gelitten hatten, Reparationen: 300 Millionen Dollar sollten an die Sowjetunion, an Jugoslawien und an die Tschechoslowakei gezahlt werden. Sehr viel, für ein Land, das selbst am Boden lag. An der Front waren 120.000 bis 160.000 Ungarn gefallen, 80.000 bis 110.000 Zivilisten hatten ihr Leben verloren, genauso viele waren in Kriegsgefangenschaft geraten. Zusammen mit den ermordeten jüdischen Ungarn war es ein Verlust von 700.000 bis 800.000 Menschen.13 Selbstredend wurde das Land von den Alliierten auf die Größe des Trianon-Ungarns zurückgestutzt.14 Bald begann die Vertreibung der deutschstämmigen Ungarn – Komplizenschaft mit den Nazis wurde ihnen pauschal vorgeworfen und in Kispest zitterte man deswegen. Die Familie Puskás hatte bis vor nicht allzu langer Zeit Purczeld geheißen, denn ihre Wurzeln lagen irgendwo in Deutschland.15 Nicht auszudenken, wenn unser Öcsi … nein nicht auszudenken. Aber die Familie blieb in Kispest und Öcsi spielte weiter.

»Der Krieg«, sagte Puskás, »brachte viele bittere Erlebnisse, aber meine Liebe zum Fußball konnte er nicht ändern.«16 So ging es wohl auch vielen anderen, denn der Spielbetrieb im Fußball war wirklich eines der ersten Dinge, die nach dem Krieg wieder funktionierten. Am 5. Mai startete die Nachkriegsliga mit zwölf Mannschaften. Die kamen zunächst nur aus dem Großraum Budapest, weil kriegsbedingt Schienen und Straßen nicht befahrbar waren. Die Nationalmannschaft spielte dann im August gegen Österreich – und dass es mal wieder nicht nur um Fußball, sondern um viel mehr ging, wurde spätestens deutlich, als der Sportfunktionär Sándor Barcs anlässlich des ersten Spiels im Sommer 1945 sagte: »Unsere erste Aufgabe ist jetzt, das Land wieder aufzubauen. Aber dabei vergessen wir auch den Sport nicht. Im Fußball müssen wir Mitteleuropa wieder das bieten, was in der Vergangenheit so große Begeisterung hervorgerufen hat.«17

Das hörte sich nach Zukunft an. Und tatsächlich: trotz Holocaust, Zerstörung und russischer Besatzung keimte Hoffnung auf, Hoffnung nach den Jahren der Diktatur. Anders als in Polen, Rumänien und Bulgarien, wo jeglicher demokratische Neuanfang unterbunden wurde, sah es in Ungarn gar nicht so schlecht aus. Die provisorische Regierung, die sich noch während der letzten Kriegstage gebildet hatte, setzte sich zwar aus verhältnismäßig vielen Kommunisten, aber eben auch aus Sozialdemokraten und Vertretern der Kleinbauernpartei zusammen. Zu freien Wahlen kam es im November des Jahres 1945 und sehr zum Erstaunen der sowjetischen Besatzer gewannen nicht die Kommunisten, sondern die Kleinbauern. Sie bekamen eine absolute Mehrheit von 57 Prozent, die Kommunisten 17 Prozent, die Sozialdemokraten 17,4 Prozent.18 Es sollten die letzten freien Wahlen in 45 Jahren sowjetischer Besatzungszeit sein. Hinter den Kleinbauern standen Klerus, Bürgertum, wohlhabende Bauern und ein großer Teil der Intellektuellen. Deshalb drängten die Sowjets auf »proletarischen Ausgleich«. Das führte zur absurden Situation, dass die Kleinbauernpartei trotz absoluter Mehrheit nur die Hälfte der Ministerien erhielt. Dennoch: die wirtschaftliche und politische Zukunft schien noch offen zu sein und als am 1. Februar 1946 eine bürgerliche Republik proklamiert wurde, dachte man, die Entscheidung sei gefallen. Dennoch standen die sowjetischen Truppen im Land und die Politik war letztendlich durch sie mitbestimmt. Der Historiker Miklós Molnár spricht über die Zeit von 1945 bis 1948 von einem »beschränkten und überwachten demokratischen Regime« in Ungarn.19

Eine Agrarreform beendete 1945 das anachronistische Feudalsystem, brachte den Kleinbauern dringend benötigtes Land und sollte die Basis für eine gesunde Kleinbauern-Wirtschaft bilden. Vormals verfügten 0,9 Prozent aller Grundbesitzer über 45,4 Prozent des Bodens. Nun wurde Grundeigentum über 100 Morgen enteignet und den Kleinbauern und Landarbeitern zugeteilt. Die Großgrundbesitzer verloren dadurch auch einen Großteil ihrer politischen Macht, was aber nur die wenigen kümmerte, die noch im Lande waren, denn die meisten Grundbesitzer waren aus Angst vor den Sowjets ohnehin schon gen Westen geflüchtet.

Eine Währungsreform stabilisierte das Land und auch sie war angesichts der Inflationsrate dringend geboten. Der neue Forint hatte den Wert von 400.000 Quadrillionen Pengö, (4 x 10027), der bisherigen Währung. Trotz sowjetischer Präsenz und kommunistischer Agitation herrschte so etwas wie Aufbruchstimmung. Die Kleinbürger hatten unter den Enteignungen nicht wirklich zu leiden gehabt, andererseits brachten sie den Kleinbauern endlich eigenes Land. Die sowjetischen Truppen standen zwar auf ungarischem Territorium – doch ganz große Optimisten rechneten mit deren Rückzug nach der Unterzeichnung eines Friedensvertrages. In Aussicht gestellt war er für das Jahr 1947. War Ungarn mal wieder Sieger in der Niederlage? Bei allem Schrecken, den der Krieg über das Land gebracht hatte, schien es nun aufwärts zu gehen.

3 | Keine Nation, keine Mannschaft – die Stunde Null der deutschen
Fußballrepublik

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image Herbert Zimmermann, 8. Spielminute