Marina Fiorato

Die Madonna von Saronno

Historischer Roman

Deutsch von Karolina Fell

Kapitel 1

Die letzte Schlacht

Meinen Namen zu nennen hat keinen Nutzen, denn ich muss nun sterben.

 

Lasst mich stattdessen den ihren nennen – Simonetta di Saronno. Für mich besaß er immer den zauberhaften Klang eines Liedes oder einer Gedichtzeile. Sein Rhythmus schmeichelt dem Ohr, und wie die drei Worte von der Zunge rollen, erinnert mich an ihre edle Körperhaltung.

Ich sollte wohl besser den Tag meines Todes nennen. Es ist der vierundzwanzigste Februar im Jahre des Herrn 1525, und ich liege auf dem Rücken auf einem Feld vor Pavia in der Lombardei.

Meinen Kopf kann ich nicht mehr bewegen, nur noch meine Augen. Schneeflocken fallen auf meine warmen Augäpfel und schmelzen dort – ich blinzle die Flüssigkeit weg wie Tränen. Zwischen dem fallenden Schnee und den gefallenen Söldnern sehe ich Gregorio – den vortrefflichsten aller Knappen! – immer noch kämpfen. Er schaut zu mir, und ich entdecke Furcht in seinen Augen – ich muss wahrhaft einen bedauernswerten Anblick bieten. Sein Mund formt meinen Namen, aber ich höre nichts. Die Schlacht tobt um mich, doch ich vernehme nur das Pochen des Blutes in meinen Ohren. Ich höre nicht einmal das Dröhnen der verdammenswerten neuen Waffen, denn die, von der ich getroffen wurde, hat mich mit ihrer brüllenden Stimme ertauben lassen. Gregorios Gegner verlangt Aufmerksamkeit – er hat keine Zeit, mich zu bedauern, wenn er seine Haut retten will, so sehr er mich auch geliebt hat. Er schwingt sein Schwert mit mehr Kraft als Kunstfertigkeit von links nach rechts, und dennoch, er steht auf seinen Beinen, ich dagegen, sein Herr, liege darnieder. Ich hoffe, dass er den nächsten Morgen erlebt – vielleicht wird er meiner geliebten Dame berichten, dass ich auf ehrenvolle Art gestorben bin. Er trägt immer noch meine Farben, auch wenn sie blutverschmiert sind und in Fetzen hängen. Der Schild in Blau und Silber – die drei silbernen Ovale auf azurblauem Grund. Mir gefällt der Gedanke an meine Vorfahren, die in den Ovalen Mandeln sahen, als sie sich in die Wappenrolle eintrugen. Ich will, dass sie das Letzte sind, was ich sehe. Wenn ich sie alle drei nacheinander angesehen habe, schließe ich meine Augen für immer.

Ich kann trotzdem noch etwas spüren. Tot bin ich noch nicht. Ich bewege meine rechte Hand und ertaste das Schwert meines Vaters. Es liegt immer noch da, wo ich gefallen bin, und ich umklammere sein Heft – es ist abgenutzt durch viele Schlachten und fügt sich gut in meinen Griff. Woher hätte ich wissen können, dass mir dieses Schwert genauso wenig nutzen würde wie eine Vogelfeder? Alles hat sich verändert. Dies ist die letzte Schlacht. Die alten Sitten sind so tot wie ich. Und doch ist es immer noch richtig, dass ein Soldat mit seinem Schwert in der Hand den Tod findet.

Ich bin nun bereit. Aber meine Gedanken wandern von meiner eigenen Hand zu ihrer – ihre Hände sind von vollendeter Schönheit –, nur noch von ihrem Gesicht werden sie übertroffen. Sie sind lang und weiß, wundervoll und fremdartig, denn ihre mittleren drei Finger haben dieselbe Länge. Ich habe ihre Kühle auf meiner Stirn gespürt, und jetzt legt meine Erinnerung ihre Finger erneut an diese Stelle. Erst vor zwölf Monaten lagen sie dort und kühlten mich, als ich das Wasserfieber hatte. Sie strich mir über die Stirn und küsste sie auch, und ihre Lippen waren kühl auf meiner erhitzten Haut; kühl wie der Schnee, der jetzt meine Stirn küsst. Ich öffne die Lippen, sodass ich den Kuss schmecken kann, und Schneeflocken rieseln hinein, erfrischen mich in meinen letzten Atemzügen. Und ich erinnere mich, dass sie eine Zitrone nahm, sie entzweischnitt und den Saft in meinen Mund träufelte, damit ich mich wieder besser fühlte. Es war sauer, doch mir wurde der Geschmack durch die Liebe versüßt, mit der sie mich umsorgte. Es schmeckte metallisch, wie der Stahl meiner Klinge, die ich erst heute Morgen küsste, bevor ich meine Männer in die Schlacht führte. Ich habe den Geschmack auch jetzt im Mund. Aber ich weiß, es ist nicht der Saft einer Zitrone. Es ist Blut. Mein Mund füllt sich mit Blut. Jetzt ist es mit mir zu Ende. Lasst mich ihren Namen noch ein letztes Mal sagen:

Simonetta di Saronno.

Kapitel 2

Das Schwert und die Pistole

Simonetta di Saronno saß in ihrem großen Sonnenfenster. Von den hohen Fensterflügeln umrahmt, wirkte sie wie ein Engel von einem Retabel, den Altarbildern aus der Kirche. Den Bürgern von Saronno kam dieser Gedanke oftmals, denn sie saß jeden Tag dort und sah mit leerem Blick auf die Straße hinunter. Die Villa Castello, ein quadratisches, vornehmes Haus, lag in majestätischer Einsamkeit etwas außerhalb der Stadt. Es war, wie man so sagte, passeggiata lunga ma cavalcata corta – ‹ein langer Marsch, aber ein kurzer Ritt›. Die Villa war dort errichtet worden, wo sich die lombardische Ebene langsam zu den Bergen emporschwang, nur so weit erhöht, dass man von dem Haus einen Blick über die kleine Stadt hatte und dass die Leute vom Marktplatz der Stadt aus das Haus sehen konnten. Mit seinem Verputz in der Farbe eines roten Hummers, seinen eleganten Säulengängen und den vornehmen, hohen Fenstern wurde es vielfach bewundert und hätte Neid erwecken können – wenn seine großen Tore nicht jederzeit allen offen gestanden hätten. Die Händler und Bittsteller, die sich auf dem langen, gewundenen Pfad durch die üppigen Gärten und Parks der Tür näherten, hörten von den Bediensteten stets – und darin waren sich alle einig –, wie großzügig ihre Herrin und ihr Herr waren. Tatsächlich konnte man in der Villa die Saronnos selbst symbolisiert sehen; nahe genug an der Stadt, um ihre Verpflichtungen als Feudalherren zu erfüllen, und zugleich weit genug entfernt, um sich von ihr abzusondern.

Simonettas Flügelfenster konnte man schon von der Straße nach Como sehen, die sich als unbefestigte Bahn zu den schneebedeckten Bergen und den spiegelnden Seen emporschlängelte. Die Gemüseverkäufer und die Warenhändler, die Hausierer und die Wasserträger, alle sahen die Dame in ihrem Fenster, Tag für Tag, wenn sie zu ihren Geschäften unterwegs waren. In früheren Zeiten hätten die Leute darüber vielleicht einen Scherz gemacht, doch diese Zeiten der Fröhlichkeit waren vorbei. Zu viele Männer waren in einen der zahlreichen Kriege gezogen und nicht mehr zurückgekommen. Kriege, die kaum etwas mit ihrer Lombardei zu tun zu haben schienen, sondern eher mit den größeren Zielen und den niedrigen Beweggründen hochgestellter Herren – mit dem Papst, dem König von Frankreich und dem machtgierigen habsburgischen Kaiser. Ihre kleine, prosperierende, safranfarbene Stadt Saronno, die zwischen den städtischen Herrlichkeiten von Mailand und der silbrigen Gewaltigkeit der Berge lag, hatte sehr unter den Auseinandersetzungen gelitten. Söldnerstiefel hatten die schönen Pflaster der Piazza abgelaufen, und stählerne Steigbügel hatten Stücke aus dem weichen Stein an Häuserecken geschlagen, als die Reiterarmeen von Frankreich und aus dem Kaiserreich in einem Sturm falschen Gerechtigkeitsempfindens durchgezogen waren. Daher wussten die guten Leute von Saronno, worauf Simonetta wartete, und obwohl sie eine hochgestellte Dame war, verspürten sie Mitleid für sie und ihr menschliches Empfinden, das sie mit allen Müttern, Frauen und Töchtern der Stadt teilte. Sie bemerkten alle, dass Simonetta, sogar als der Tag gekommen war, den sie so sehr gefürchtet hatte, weiter im Fenster saß, Tag und Nacht, und seine Rückkehr erhoffte.

Über die Witwe von der Villa Castello, denn das war sie nun, wurde viel geredet in der Stadt. Die alten, goldfarbenen Steine, aus denen Saronno gebaut worden war, die sternförmig von der Piazza abgehenden Straßen, hörten alles, was die Bürger zu sagen hatten. Sie sprachen von dem Tag, an dem Gregorio di Puglia, der Knappe des Herrn Lorenzo, blutig und verletzt den Weg zur Villa emporgetaumelt war. Die Mandelbäume, die den Weg säumten, wiegten sich sacht, als er vorüberging, ihre silbrigen Blätter flüsterten die folgenschwere Nachricht, die er zu überbringen hatte. Endlich verließ die Herrin ihren Platz im Fenster, nur dieses eine Mal, und erschien am Eingang der Loggia. Sie strengte die Augen an, wollte sie zwingen, in der Erscheinung, die sie vor sich hatte, den Herrn und nicht den Knappen zu sehen. Als sie den Gang und die Gestalt Gregorios erkennen musste, traten ihr Tränen in die Augen, und als er näher kam und sie das Schwert sah, das er bei sich trug, sank sie leblos zu Boden. Das alles hatte Luca gesehen, der Sohn vom alten Luca und Untergärtner der Villa. Der Junge hatte als einziger Zeuge dieser Szene in der Stadt mehrere Tage lang einige Berühmtheit genossen. Wie ein Wanderprediger erzählte er davon einer kleinen Gruppe von Leuten aus der Stadt, die sich in den Schatten des Campanile drängten, um Schutz vor der stechenden Sonne zu finden und sich den Klatsch anzuhören. Die Menge bewegte sich mit dem wandernden Schatten, und es dauerte eine volle Stunde, bis das Interesse und die Mutmaßungen ein Ende fanden. Sie sprachen so lange von Simonetta, dass sich sogar der Kirchengeistliche, sonst eine langmütige Seele, bemüßigt fühlte, die Kirchentür zu öffnen und Luca aus der dunklen Kühle heraus einen kopfschüttelnden Blick zuzuwerfen. Der Untergärtner beeilte sich, zum Schluss seiner Geschichte zu kommen, während sich die Tür der Kirche wieder schloss, denn er wollte nicht gerade den fesselndsten und geheimnisvollsten Moment der ganzen Tragödie auslassen. Der Knappe hatte nämlich noch etwas anderes vom Schlachtfeld mitgebracht: lang und metallisch war es … nein, kein Schwert. Luca wusste nicht genau, was es war. Er wusste nur, dass die Herrin und der Knappe einige Stunden in einem vertraulichen und ernsten Gespräch verbracht hatten, nachdem sie das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Danach war die Herrin wieder in ihrem Fenster erschienen, und dort würde sie wohl auch noch bis zum Jüngsten Tag bleiben. Bis zu dem Tag, so erflehten es alle von Gott, an dem sie wieder mit ihrem Gatten vereint würde.

 

Simonetta di Saronno fragte sich, ob es überhaupt einen Gott gab. Sie erschrak vor ihrem eigenen Gedanken, doch nachdem er einmal in ihrem Kopf aufgetaucht war, konnte sie ihn nicht mehr loswerden. Mit tränenlosen Augen und steifen Gliedern saß sie da und schaute hinunter zu den Mandelbäumen, während der Himmel sich abendlich färbte und die Steine unter ihren Händen die Sonnenwärme verloren. Saronno lag am Fuße der Berge und strahlte im Dämmerlicht kupfrig wie eine Münze, die jemand verloren hatte. Das Gefühl, abgesondert zu sein, das sie früher geschätzt hatte, überwältigte sie nun: Ihr abgelegenes Haus war zu ihrem Gefängnis geworden, als wäre sie eine Maid aus alten Erzählungen, die in ihrem Turm von einem Drachen bewacht wurde, oder eine Novizin, die abgeschieden in einer Zelle lebte. Rafaela, ihre Zofe, legte ihr einen weichen Pelzumhang um die Schultern, doch Simonetta bemerkte es kaum. Und genauso wenig fühlte sie die Wärme. Das Einzige, was sie spürte, war der Schmerz, der in ihrer Brust saß, als hätte sie einen Stein verschluckt. Nein – eine Mandel. Denn als man ihr die erste Frucht von den Bäumen gegeben hatte, die mit ihrer Mitgift erworben worden waren, hatte sie die ganze harte Steinfrucht mit ihrer Schale hinuntergeschluckt. Sie war eine dreizehnjährige Braut gewesen, und Lorenzo, selbst erst fünfzehn Jahre alt, hatte ihr die Mandel gegeben, denn das gehörte zu der Zeremonie, die in ebendiesem Hain abgehalten worden war, auf den sie jetzt Tag und Nacht hinabschaute. Sie hatten in der Chorkirche Santa Maria dei Miracoli in Saronno geheiratet. Die schöne weiße Kirche mit ihrem achteckigen Baptisterium, dem kühlen Kloster unter den Bäumen und dem schlanken neuen Turm, der sich himmelwärts reckte, hatte nie zuvor solchen Prunk gesehen. Das neue Glockenspiel ließ die frohe Kunde über die Ebene schallen – zwei bedeutende Familien hatten sich vereint, während die Leute auf der Piazza jubelten und feierten. Danach kam die eher heidnische Zeremonie in dem Hain, wo die Kindsbraut und der Kindsbräutigam Kronen aus silbernen Mandelblättern trugen und einige der Früchte austauschten. Die Übergabe und das Essen einer ungeraden Anzahl von Mandeln bei einer Hochzeit war ein sehr alter Brauch, der Glück, gute Ernten und Fruchtbarkeit bringen sollte. Doch die Zeremonie war nur zögernd vonstattengegangen, denn Simonetta wäre bei dem Versuch, die Mandel mitsamt der harten Schale zu essen, fast erstickt. Lorenzo hatte gelacht, als ihre Mutter ihr Wasser und Wein gegeben hatte, um die Nuss hinunterzuspülen. «Du musst sie zuerst aufbeißen, sie mit den Zähnen knacken!», rief er liebevoll. «Erst dann schmeckst du ihre Süße.» Er hatte recht – denn sie hatte nur den Geschmack von trockenem Holz im Mund gehabt. Dann küsste er sie – und da war alle Süße, die sie jemals im Leben begehren würde.

Sie erinnerte sich, dass die Mandel während der ganzen Hochzeitsfeier in ihrer Kehle gesteckt hatte. Ihre Mutter, die gerne Moralpredigten hielt und Gottes Hand allerorten wirken sah, verbot ihr grimmig, sich zu beschweren. «Diese Lektion wirst du hoffentlich nicht vergessen, meine Tochter. Manchmal müssen Dinge zerstört werden, damit wir ihre Süße kennenlernen können. Dein Leben war leicht und voller Glück, du bist in deiner Kindheit mit viel Liebe bedacht worden und nun mit Schönheit und einer sehr guten Ehe gesegnet, doch kein Leben geht immer auf diese Art weiter. Eines Tages wirst auch du leiden, und daran solltest du immer denken. Nur so kannst du die Kraft deiner Gefühle wirklich erfahren und gottgefällig leben – im Leiden, aber auch in der Erleuchtung.»

Simonetta hatte geschwiegen und noch ein bisschen Wein getrunken. Ihr war bewusst, dass sie ihrer Mutter verpflichtet war und ihr Gehorsam schuldete, doch schließlich bewegte die Mandel sich in ihren Magen, und sie spürte stattdessen die Wärme des Rebensaftes. Sie ließ die Augen zu ihrem Bräutigam wandern und fühlte noch eine andere Wärme: eine sündige Erregung und Freude darüber, dass sie mit diesem jungen Gott verheiratet war und bald ihre Hochzeitsnacht anbrechen würde … Sie hörte ihrer Mutter nicht länger zu. Sie nahm sich vor, für immer mit Lorenzo glücklich zu werden, und sie wusste, dass dieser Wunsch Wirklichkeit werden würde. Außerdem glaubte Simonetta den Grund für die Unzufriedenheit ihrer Mutter zu kennen – sie sah an ihr vorbei zu ihrem Vater. Gutaussehend und kräftig gebaut, hatte er seine Tochter angebetet, seit sie auf der Welt war, doch sie war keineswegs die einzige junge Dame, die er anbetete. Simonetta wusste, wie sehr ihre Mutter wegen der amours ihres Vaters gelitten hatte. Hausmädchen, die mit einem Mal frech wurden, Wein verkaufende Dirnen, die zu oft ins Haus kamen. Simonetta war sicher, dass ihr keine solche Zukunft bevorstand. Sie hatte nach Lorenzos Hand gegriffen und allzu gern vergessen, was ihre Mutter gesagt hatte.

 

Bis jetzt.

 

Woher hätte sie wissen sollen, dass ihr Leben auf diese Art zerstört werden würde? Durch diesen unerträglichen Schmerz, den ihr der Tod des Mannes zufügte, der sie so lange glücklich gemacht hatte? Sie war davon überzeugt, dass sie alles hätte ertragen können, nur das nicht. Selbst wenn Lorenzo anderen Frauen schöne Augen gemacht hätte, was er nie getan hatte. Nun glaubte sie, dass sie auch die Herausforderungen der Untreue gemeistert hätte. Wenn er nur noch da wäre, noch lebte, mit ihr lachen und scherzen würde, wie er es immer getan hatte. Doch an diesem Gefühl, an diesem erstickenden Klumpen in ihrer Brust, diesem Leid, dessen Sitz in ihrem Körper sie genau bestimmen konnte, würde sie sterben, so wie auch er gestorben war. Und es wäre ein Segen. Sie legte ihre weißen Hände auf das Schwert – sein Schwert, das Gregorio vom Schlachtfeld nach Hause gebracht hatte. Dann wandte sie sich dem anderen Ding zu, das ihr Gregorio gegeben hatte. Es war lang und wirkte bedrohlich mit seinem metallischen Rohr und dem hölzernen Griff, aus dem an einer Seite eine gebogene Metallkralle hervorstand. Sie konnte das Ding kaum hochheben, selbst wenn sie es gewollt hätte.

«Was ist das?» Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Gregorio stand vor ihr und knetete mit feuchten Augen seine Samtmütze in den Händen.

«Sie nennen es Arkebuse, Herrin. Es ist eine von den neuen Waffen. So ähnlich wie eine Kanone, aber ein einzelner Mann kann sie festhalten und mit einem Zündholz auslösen.» Er deutete auf die verkohlte Schnur am Griff des Dings und auf den s-förmigen Haken, der in einen Drehzapfen aus Metall eingebaut war.

«Warum hast du sie zu mir gebracht?» Ihre Kehle schmerzte bei dieser Frage.

«Weil mir so eine meinen Herrn genommen hat. Ich musste sie Euch bringen, damit Ihr seht, dass er nicht das Geringste dagegen tun konnte. Ihr kennt meinen Herrn. Er war der beste Kämpfer, den man sich vorstellen kann. Ein großer Ritter. Niemand konnte ihn beim Fechten schlagen. Aber der spanische Marchese de Peschara hat uns mit mehr als fünfzehnhundert Männern mit solchen Gewehren überrascht. Ganze Abteilungen berittener Franzosen habe ich unter dem Feuer der Arkebusier fallen sehen. Die Männer, die nicht von den Schüssen getroffen wurden, stürzten zu Boden, als ihre Pferde flüchteten. Und der Lärm! Als sei der diavolo selbst zwischen uns gefahren, um mal wieder etwas für seinen Ruf zu tun.» Gregorio verschränkte die Arme vor seinem zerschlissenen Wappenrock.

Simonetta schluckte schwer. Sie konnte ihrer Stimme nicht vertrauen. Deshalb entließ sie Gregorio nur mit einem Nicken und nahm die zwei Waffen, die alte und die neue, mit zum Fenster, damit sie weiter hinaussehen konnte.

Du Narr, dachte sie und war plötzlich wütend auf Lorenzo. Sie legte eine Hand auf das Schwert und die andere auf die Arkebuse. Die stählerne Kälte beider Waffen kroch in ihre Finger. Die Vergangenheit und die Zukunft. Du warst wirklich ein Ritter ohnegleichen. Aber das hier hast du dennoch nicht kommen sehen, nicht wahr? Was haben dir deine ritterlichen Vorstellungen von Ehre und deine noblen Kampfesregeln angesichts dieser Waffen genutzt? Deine Welt ist untergegangen, und eine neue Zeit ist angebrochen. Eine Zeit, in der die alten Regeln nicht das Geringste mehr wert waren. Simonetta wusste nicht, ob sie in einer solchen Zeit leben wollte. Sie fragte sich, ob es ihr gelingen würde, die Arkebuse gegen sich selbst abzufeuern, sodass sie mit Lorenzo im Paradies vereint wäre. Oder vielleicht konnte sie sich in einem Wäldchen erhängen, so wie es vor langem eine verzweifelte Magd getan hatte. Doch sie wusste, dass sie damit die schwerste aller Sünden begehen würde. Die Sünde des schlimmsten aller Sünder. Die Sünde von Judas Ischariot.

Simonetta war von ihrer Mutter streng religiös erzogen worden und erinnerte sich gut an die Darstellung des Jüngsten Gerichts in der Taufkirche, in der sie zu Hause in Pisa die Messe besuchten. Jeden Tag betrachtete sie, während der Geistliche die bekannte lateinische Liturgie intonierte, wie die schwarzen Teufel die Selbstmörder verschlangen, an ihren Gliedern nagten und ihre Zungen lüstern in ihr Blut tauchten. Sie waren schrecklich und aufregend zugleich, und sie rutschte auf ihrem Platz in der Familienbank herum, fühlte, wie ihr Gesicht heiß wurde, als hätte das Fegefeuer auch sie erreicht, bis sie schließlich von ihrer Mutter fest in den Arm gezwickt wurde.

Nein – sie konnte sich das Leben nicht nehmen. Dennoch war ihr Leben, so wie sie es gekannt hatte, zu Ende. Sie hatte nicht geglaubt, dass eine Ehe so viele Freuden bringen könnte. Lorenzo und sie hatten glücklich vereint in der Villa Castello gelebt, hatten Feste gefeiert, waren auf die Jagd gegangen und an den Hof und zu großen Ereignissen gereist. Sie hatten den Wein von ihren eigenen Reben getrunken und die Mandeln von ihren Bäumen gegessen. Einmal in der Woche besuchten sie die Messe in Santa Maria dei Miracoli, in der Kirche ihrer Hochzeit, doch sonst genossen sie sehr irdische Freuden im Bett und an der Tafel. Sie hatten keine Kinder bekommen, doch das empfanden sie in der vollkommenen Erfüllung ihrer Zuneigung füreinander nicht als Mangel. Sie waren jung – sie hatten alle Zeit der Welt. Als die Pest von 1523 ihre beiden Familien ausgelöscht hatte, überstanden sie auch diese Prüfung unbeschadet. Das ganze Jahr fanden sie immer neue Vergnügungen. Lorenzo war von heiterem Wesen, und er lehrte seine Frau, wie man Freude am Leben empfinden und überall etwas zum Lachen finden kann, bis sie darin genauso flink war wie er. Simonetta blühte während ihrer Ehe auf und verlor ihre kindlichen Rundungen. Sie wurde zu einer berühmten Schönheit mit engelsgleicher Haltung, vollem, rotgoldenem Haar und perlweißen Händen. Armut kannten sie nicht – ihrer beider Vermögen reichte für jedes käufliche Glück und jeden kostspieligen Luxus. In ihren Zimmern hingen reichbestickte Tapisserien, sie beschäftigten die besten Künstler und Musiker. Ihre Speisetafel bog sich unter den erlesensten Fleischgerichten und Pasteten, und ihre schönen Körper hüllten sie in kostbare Pelze und Samt. Simonettas lange, kupferfarbene Locken waren mit Perlschnüren geschmückt und mit den feinsten Hauben, die mit Juwelen und Silberfäden bestickt waren.

Und dann kamen die Kriege – Jahre des Aufruhrs und der Kämpfe zwischen den Guelfen und den Ghibellinen. Mailand, Venedig, die päpstlichen Gebiete, alle wurden zu Mitspielern in einem tödlichen Schacher zwischen fremden und einheimischen Mächten. Lorenzo, der schon von früh auf zum Kämpfer erzogen worden war, machte sich sehr verdient und wurde bald zum Armeeführer ernannt. Seine Aufträge führten ihn von zu Hause fort, und mehr als einmal musste die Herrin seines Herzens den Michaelstag oder das Christfest feiern, während sein mächtiger, holzgeschnitzter Stuhl am Kopfende der Tafel leer blieb. Eine große Traurigkeit machte sich dann in Simonetta breit, doch sie bemühte sich, im Bogenschießen oder dem Lautespiel Ablenkung zu finden. Manchmal, wenn Lorenzo fort war, hätte sie gern ein Kind von ihm gehabt, damit sie sich besser beschäftigen konnte, doch dieser Wunsch verflüchtigte sich, sobald sie ihn auf dem Weg zwischen den Mandelbäumen wieder nach Hause reiten sah und sie ihm so schnell sie konnte entgegeneilte. Dann presste er sie fest gegen seine Rüstung und küsste sie gierig auf den Mund, und obwohl sie sich sofort in ihre Schlafräume zurückzogen, war ihre Hoffnung auf eine Frucht ihrer Vereinigung längst vergessen.

Jetzt würde es diese Früchte niemals mehr geben. Von seinem Feldzug, den er unter dem Befehl des Marechals Jacques de la Palice unternommen hatte, würde Lorenzo niemals wiederkehren. Der große französische Armeeführer war tot, Lorenzo war tot, und jetzt spürte sie schmerzlich, welch großen Trost sein Sohn oder seine Tochter ihr geschenkt hätte. Aber nun war sie schon siebzehn Jahre alt, und die besten Jahre, um ein Kind zu gebären, waren vorüber. Sie war vollkommen allein.

Und so fragte sich Simonetta di Saronno, ob es überhaupt einen Gott gab. Hätte Gott sie wirklich auf diese Art zugrunde gerichtet? Hätte er wirklich zwei einander so ergebene Seelen getrennt, deren Verbindung in seinem Haus und durch eines seiner Sakramente geschlossen worden war?

Doch dann breitete sich Angst in ihr aus. Sie hatte nicht ein einziges Mal gebetet, seit Gregorio gekommen war. Wenn sie sich von Gott abwandte, würde sie bestimmt in Verzweiflung versinken und den anderen Weg einschlagen – den verderblichsten Weg von allen. Und einmal in der ewigen Verdammnis der Hölle, würde sie niemals mit Lorenzo wiedervereint werden. Das wäre ein noch schlimmeres Los als das, was sie jetzt erdulden musste, denn sie schöpfte allein aus der Hoffnung, dass sie sich eines fernen Tages im Paradies wiedersehen würden, die Kraft für den nächsten Atemzug. Als sie noch glücklich gewesen war, hatte sie sich immer vertrauensvoll an die Jungfrau gewandt, denn kannte die heilige Maria nicht die Liebe zu einem Mann und die Freuden der Ehe mit Joseph? Simonetta fasste einen Entschluss: Sie würde am nächsten Tag in aller Frühe zur Chorkirche von Santa Maria dei Miracoli gehen, die Kirche der Wunder, und die gesegnete Jungfrau um Trost anflehen. Denn Trost zu empfinden käme für sie wirklich einem Wunder gleich, und nichts Geringeres konnte ihr helfen. Sie löste ihre Hände von dem Schwert und der Arkebuse und verließ endlich ihren Platz im Fenster. Sie kniete sich ans Fußende ihres Bettes, betete das Padrenostro, wickelte sich in den Pelz und ließ sich auf ihr Bett fallen, als habe sie gerade ein tödlicher Schuss getroffen.

Kapitel 3

Selvaggio

«Nonna, im Wald ist ein wilder Mann.»

«Amaria Sant’Ambrogio, du hast auf dieser Welt jetzt schon zwanzig Sommer erlebt, und dein Verstand ist immer noch nicht größer als eine Erbse. Was für einen Unsinn erzählst du da?»

«Ehrlich, Nonna, ich schwöre es beim heiligen Ambrosius. Silvana und ich waren an den Quellen, und wir haben ihn gesehen. Außerdem redet die ganze Stadt von ihm. Sie nennen ihn Selvaggio, den Wilden!» Amarias dunkelbraune Augen waren so groß wie Suppentassen.

Die alte Dame setzte sich an ihren bescheidenen Tisch und betrachtete kopfschüttelnd ihre Enkelin. Das Mädchen sah selbst aus wie eine Wilde. In ihrem schwarzen Haar, das normalerweise glatt bis zu ihrer Hüfte hinabhing, hatten sich Beinwell und Ranken verfangen, sodass es nach allen Seiten abstand. Ihre gebräunten Wangen waren vom Laufen gerötet. Rund um das Tiefschwarz ihrer Augen war das Weiße zu sehen, sodass sie an ein Pferd erinnerte, das in Panik geraten war. Außerdem war ihr Mieder gelockert, und so wurde mehr, als sich mit dem Anstand vertrug, von ihrem vollen Busen sichtbar, der die Schnürbänder spannte. Dazu hatte sie, um leichter laufen zu können, ihre Röcke bis zum Knie gerafft und damit ihre kräftigen Waden entblößt. Man konnte Amaria keineswegs dick nennen, denn ihre Mittellosigkeit erlaubte gar keine Völlerei. Doch sie besaß die prallen Rundungen eines reifen Pfirsichs, und ihre junge Fraulichkeit zeigte sich als strahlender, gesunder Inbegriff des blühenden Lebens. Sie bot mit ihrer rosigen, üppigen Schönheit jedem Mann, der sie sah, einen verführerischen Anblick, trotz der Tatsache, dass ihre schwellenden Formen und fülligen Rundungen nicht dem gerade herrschenden Schönheitsideal entsprachen. Vornehme Damen taten alles für eine alabasterweiße Haut, sie rieben sich sogar mit bleihaltigen Pasten ein, um ihrem Teint den richtigen Farbton zu geben. Amarias Haut dagegen schimmerte zartbraun, wie Sand, den Sonnenstrahlen zum Leuchten brachten. Adelige Frauen waren zudem schlank wie Rennhunde; Amaria dagegen bestand nur aus Kurven und Grübchen. Bedeutende Signoras bleichten ihr Haar mit den unwahrscheinlichsten Mitteln, damit es rot oder goldfarben wurde; Amarias Mähne schimmerte im Gegensatz dazu im Blauschwarz eines Rabenflügels. Obwohl es für Nonna keine andere Frau auf der Welt gab, die sie jemals schöner finden würde als ihre Enkelin, verzweifelte sie langsam an ihrem Vorhaben, Amaria zu verheiraten. Wer wollte schon ein altes Mädchen von zwanzig Jahren, das zwar reichlich Pfunde auf den Rippen hatte, dem aber ein Vermögen und offenbar auch der Verstand fehlte? Wenn sie zum Beispiel in diesem Aufzug in Pavia umherlief – dann sah sie kaum besser aus als die Freudenmädchen, die in der Abenddämmerung auf dem Marktplatz umherschlenderten.

Nonna schob den Tabak, den sie für gewöhnlich kaute, mit einem Seufzer von der einen in die andere Backentasche. Sie liebte Amaria innig und wünschte ihr nur das Beste, und gerade weil sie das Mädchen so sehr liebte, fürchtete sie, dass ihre Worte oft strenger ausfielen, als sie es beabsichtigt hatte. «Ich hätte mir denken können, dass Silvana etwas mit dieser Geschichte zu tun hat. Sie unterstützt dich wirklich bei jedem Unsinn. Jetzt bring dein Haar und deine Kleidung in Ordnung, Kind, und bete dein Ave-Maria. Beschäftige dich mit Gott statt mit deiner pummeligen Freundin und bete, anstatt ohne Unterlass zu plappern wie ein Papagei.»

Amaria bürstete ihr Haar und ließ ihre Röcke hinab. Solcher Tadel war nichts Ungewöhnliches für sie, und er änderte nichts an ihrer Zuneigung für die alte Dame. Sie nahm eine Garnrolle und eine Nadel vom Kaminsims und setzte sich hin, um ihr Mieder zu flicken. «Aber ich habe ihn selbst gesehen, Nonna. Wir hatten … unseren Blick zufällig gerade auf die glatte Wasseroberfläche gerichtet, und da erschien plötzlich seine Spiegelung, noch bevor ich ihn selbst erblickte. Er hat rote Haut, Klauen und ein Fell, aber sein Blick ist recht freundlich. Glaubst du, das ist ein Waldgeist?»

«Rote Haut? Klauen und ein Fell? Waldgeist? Woher hast du diese heidnischen Vorstellungen? Viel wahrscheinlicher ist er eine von diesen armen Seelen, die den letzten Auseinandersetzungen entkommen sind – ein Soldat, der seinen Verstand verloren hat. Womöglich ein Spanier, die sind schließlich alle verrückt.» (Niemand hätte bei Nonnas scherzhaftem Ton vermutet, dass die Spanier ihr Leben zerstört hatten.) «Was hattet ihr überhaupt an den Quellen zu suchen, wenn ich fragen darf? Wir haben mehr als genug Wasser hier und außerdem noch einen sehr schönen Brunnen auf dem Marktplatz, wenn ich mich nicht irre.»

Amaria senkte den Kopf über ihrer Näharbeit, und ihre Wangen fingen erneut an zu glühen. «Wir waren … also … Silvana wollte in … den pozzo di marito schauen.»

Nonna schnaubte verächtlich, doch in ihre alten Augen trat ein sanfter Blick. Sie kannte den Volksglauben in der Region, nach dem ein Mädchen, das in eine der natürlichen Quellen in den Wäldern um Pavia schaute, dort das Antlitz ihres späteren Ehemannes erblickte. Sie wusste, dass Amaria davon träumte, sich eines Tages zu verlieben und zu heiraten, doch sie wusste auch, dass Amarias fortgeschrittenes Alter und ihr niedriger Stand eine gute Verbindung unmöglich machten; und eine schlechte Verbindung würde sie mit ihrer großmütterlichen Liebe zu verhindern wissen. Das Mitgefühl und die Enttäuschung, die sie für ihre Enkelin empfand, ließ Nonna noch bissiger als gewöhnlich werden.

«Das ist doch alles kindischer Unsinn! Lass dir das gesagt sein. Das war ein armer Eremit oder vielleicht auch ein Franzose. Die Leute erzählen, dass der französische König bei Pavia von den Spaniern gefangen wurde – Cesare Hercolani hat ihn glatt vom Pferd gestoßen … Hatte er etwa eine Krone auf dem Kopf, dein zukünftiger Ehegemahl?»

Amaria lächelte. Von den politischen Strategien, die mit dieser jüngsten Schlacht zu tun hatten, verstand sie nichts. Sie wusste nur, dass viele Männer in den Kampf gezogen und nur wenige wieder zurückgekehrt waren, sodass sich ihre Aussichten, eines Tages zu heiraten, nur noch verschlechtert hatten. Andererseits musste sie so auch keinen Mann beweinen. Sie musste keine Totenwache für ihn halten oder Totenkerzen anzünden wie die Witwen in der Basilika. Auch Amaria hatte erfahren, dass der französische König François I. von den siegreichen Spaniern gefangen genommen worden war und sie jetzt Mailand besetzt hatten. Doch vom Wesen der französischen Untertanen wusste sie nichts, bis auf die Tatsache, dass sie bunt gekleidet waren und die Leute behaupteten, die Franzosen könnten mit ihren Pferden sprechen, so seltsam und voller schnaubender Laute sei ihre Sprache. Sie seufzte. «Du hast recht. Es muss ein Wahnsinniger gewesen sein. Oder ein Soldat.»

Ohne aufzusehen nähte sie schweigend weiter. Doch das Gespräch über den Krieg hatte den Blick ihrer Großmutter zur Wand gelenkt, an der über dem Kamin Filippos Dolch hing. War es wirklich schon mehr als zwanzig Jahre her, dass Nonna ihren Sohn, ihren über alle Maßen geliebten, einzigen Sohn, ihren strahlenden Jungen verloren hatte? Waren all die Jahre seit der Schlacht von Garigliano 1503, als sie und all die anderen Mütter um Nachrichten von ihren Söhnen gebetet hatten, wirklich vergangen? Das Schicksal derjenigen, die sich für immer fragen mussten, ob ihre Söhne lebten oder tot waren, musste sie nicht teilen – die Spanier hatten keinen Zweifel an Filippos Ende gelassen. Sie hatten Hunderte von Leichen nach Pavia zurückgebracht und auf den Marktplatz gelegt. Sie war zusammen mit den anderen Müttern hingegangen und hatte auf dem grausigen Hügel, über dem Fliegen und Bussarde kreisten, so lange gesucht, bis sie sein geliebtes Gesicht entdeckte. Sein Antlitz war blutüberströmt und kalt gewesen. Die Stadtoberen hatten angeordnet, dass der gesamte Leichenberg verbrannt werden sollte, um einer Pestepidemie vorzubeugen. So konnte sie Filippo nicht einmal nach Hause bringen und ihn waschen, wie sie es so oft getan hatte, als er noch ein kleiner Junge gewesen war, oder ihn zur Totenwache aufbahren und für ihn beten, wie es sich gehört hätte. Sie konnte nichts weiter tun, als ihm die Augen zu schließen und seinen Dolch an sich zu nehmen, der unter seinem Hosenbund steckte – mehr hatten die Leichenfledderer nicht übrig gelassen. Später war sie wieder in ihr Haus zurückgekehrt. Ihr ganzes Leben lang würde sie den grässlichen Gestank menschlichen Fleisches nicht vergessen, der sich verbreitet hatte, als der Leichenberg mit heißen, hoch auflodernden Flammen verbrannte und der Rauch ihr endlich die Tränen in die Augen trieb, die bis dahin nicht hatten fließen wollen.

Sie hätte für alle Ewigkeit so weiterleben können. Stumm und taub vor Gram, sämtliche Gefühle in ihr waren erstorben. Doch dann hatte Gott ihr Amaria geschenkt. Denn an der gleichen Quelle, zu der das Mädchen am Morgen gegangen war, hatte sie Amaria eines Tages gefunden, wie Moses im Schilf. An dieser Stelle wurden viele Neugeborene ausgesetzt, und noch mehr in diesen Zeiten, in denen so viele Kriegswaisen von Mädchen geboren wurden, die von längst verschwundenen Soldaten in Schwierigkeiten gebracht worden waren. Nonna war an jenem Tag dorthin gegangen, um Wasser zu holen, denn die Brunnen der Stadt waren von den Zersetzungssäften der vielen Leichen verunreinigt. Als sie sich zum Wasser hinabbeugte, vernahm sie ein ersticktes Wimmern. Sie teilte das spröde Gras neben der Quelle und hatte ein nacktes, blutiges Neugeborenes vor sich, aus dessen zerknautschtem Gesichtchen schwarze Augen blitzten. Das Baby fing an zu strampeln, als das ungewohnte Sonnenlicht auf seine Glieder fiel. Nonna hatte das Kind sofort in ein Tuch gewickelt, nicht einmal darauf geachtet, ob es ein Mädchen oder ein Junge war, und es mit nach Hause genommen. Sie sehnte sich so sehr nach irgendeiner Beschäftigung und danach, wieder etwas zu fühlen, nachdem sie ihren Sohn verloren hatte, der ihr ganzes Leben gewesen war. Doch zunächst ließ es sie ungerührt, wenn das Kind nächtelang erbärmlich weinte, den ganzen Tag nach der Mutterbrust schrie und auch, wenn es zappelte, während sie es in die Windeln wickelte, die sie genäht hatte. Inzwischen wusste sie, dass es ein Mädchen war. Nonna blieb wie erstarrt bis zu dem Tag, an dem das Baby ihren Blick mit seinen dunklen Korinthenaugen einfing und ihr sein erstes, zahnloses Lächeln schenkte, so arglos, so unschuldig an allem, was mit dem Krieg und seinen Schrecken zu tun hatte. Nonna drückte das Kind an ihre Brust und begann zum ersten Mal, seit sie Filippos Augen zugedrückt hatte, herzzerreißend zu schluchzen.

So kam es, dass Nonna von Amaria und Amaria von Nonna gerettet wurde. Nonnas Herz war so übervoll mit Liebe und Kummer gewesen, dass es gebrochen wäre, hätte sie nicht ein anderes menschliches Wesen gefunden, das sie mit ihrer Liebe überschütten konnte. Nach dem Wort für Liebe, Amore, nannte sie das Mädchen Amaria und gab ihm noch den Namen des Stadtheiligen von Mailand: Sant’ Ambrogio. Es war in dieser Region üblich, Waisen auf diesen Familiennamen zu taufen, denn man erhoffte sich den Segen des Heiligen für das schwere Leben dieser Kinder. Als das Mädchen älter wurde, hatte sie ihm gesagt, es solle sie einfach nur Nonna – Großmutter – nennen, da sie sich mit vierzig für zu alt hielt, um als Mutter angesprochen zu werden. Amaria war zu einer wunderschönen, lebhaften jungen Frau herangewachsen, deren Mund niemals stillstand, mochte nun etwas Sinnvolles oder auch nur Unsinn herauskommen. Ihre Schönheit und ihr freundliches Wesen zogen viele junge Männer an, doch weil Amaria Waise und noch dazu unvermögend war, entwickelte keiner von ihnen ernsthaftes Interesse. Jeden Tag dankte Amaria Gott, dass er sie mit Nonnas Liebe bedacht hatte. Und Nonna dankte demselben Gott, dass er ihr jemanden geschickt hatte, den sie selbst lieben konnte. Indem sie Amaria aufgenommen hatte, war sie wieder ins Leben zurückgekehrt. Und nun, gute zwanzig Jahre später, schien jemand anderes Hilfe zu brauchen, mochte er nun Spanier sein oder nicht. Gott hatte Filippo zu sich genommen, doch er hatte ihr Amaria gesandt und sie damit reich gesegnet. Erbat er nun eine Gegenleistung? Sie betrachtete ihre geliebte Enkeltochter und ließ darauf ihren Blick zurück zu dem Dolch wandern. Dann nahm sie die Waffe von der Wand und steckte sie unter ihren Gürtel, genau an die Stelle, an der sie den Dolch bei ihrem toten Sohn gefunden hatte. Amaria blickte überrascht auf, als Nonna sagte: «Zeig ihn mir.»

 

Sie gingen eine gute Stunde, zwischen Vesper und Complet. Die Glockenschläge der Basilika und das ununterbrochene Geplauder Amarias begleiteten ihren Weg, und wie immer wandte Nonna ihren Blick von dem Marktplatz ab, als sie an der großen Kathedrale vorbeikamen. Niemals konnte sie die Piazza ansehen, ohne dass die Bilder des Leichenberges vor ihr erstanden und sie das verbrannte Fleisch ihres Sohnes roch. Indem sie dies tat, übersah sie – anders als Amaria – die inständigen Bitten an Gott und all seine Heiligen, die an die Kirchentür geheftet waren. Hunderte und Aberhunderte flatternder Papierfetzen, auf denen die Heimkehr der Vermissten erfleht wurde, von denen man zugleich fürchtete, sie seien längst tot.

Als der Weg außerhalb der Stadt steiler wurde, reichte Amaria ihrer Großmutter die Hand; Nonna atmete so schwer, dass sie ihren Kautabak ausspucken musste. Sie hielten einen Moment inne, um sich zu erholen, und blickten zurück auf Pavia, den Ort, den die Leute die Stadt der hundert Türme nannten. Es war die zweitgrößte Stadt der Lombardei, die nur noch von dem etwas weiter nördlich gelegenen Mailand übertroffen wurde. Großmutter und Enkeltochter setzten sich eine Weile ins Gras, legten einander den Arm um die Schulter und kamen langsam wieder zu Atem. Sie betrachteten die Krähen, die im Sonnenuntergang ihre Kreise um die hohen Mauern zogen, die sich gegen den blutroten Himmel abzeichneten. Die rote Flanke des Duomo wölbte sich gegen den Horizont, und die rotbraunen Wohnhäuser schmiegten sich an das steile Gefälle bis hinunter an den Fluss, wo ihr eigenes bescheidenes Haus in einer der engen Gassen beim Anlegeplatz stand. Der Ponte Coperto, die berühmte überdachte Brücke, schien sich in eine höckrige rote Schlange verwandelt zu haben, die ihre Windungen über den Fluss ausgestreckt hatte. Das Wasser des Ticino glitzerte metallisch wie eine Messerklinge. Am jenseitigen Ufer im Süden lag das große Feld, auf dem vor kurzem Tausende ihr Leben gelassen hatten. Nun herrschte dort Stille und Leere; ein dunkles Schreckensareal, auf dem längst die Waffen der Toten gestohlen waren und die Aasvögel ihr Werk verrichtet hatten. Als die Sonne tiefer sank, leuchteten die Mauern der Häuser und Türme rot im Abendlicht, als hätten sie das Blut des Schlachtfeldes aufgesaugt wie eine Blume das Wasser.

Sich gewahr werdend, dass es spät wurde, ließ sich Nonna von Amaria auf die Füße ziehen, und gemeinsam gingen sie in den düsteren Wald. Als sie schließlich ihr Ziel erreicht hatten, sahen sie in der stillen Dämmerung nur die dunkelblau glitzernden Becken der Quelle, aber keinen Waldmenschen. Doch dann knackte unvermittelt ein Zweig, und Nonna zog den Dolch heraus. Die unsicheren Zeiten hatten ihre Sinne geschärft, und sie kam oft in diese Wälder, um einen Hasen für das Essen zu fangen. Sie hörte mit ihren alten Ohren besser als Amaria, und sie führte das Mädchen ins Unterholz zu einer dunklen Höhle, deren Eingang mit Ranken bewachsen war.

Dort war er. Während sich die alte und die junge Frau vorsichtig ins Dunkel vortasteten, rief Amaria den Namen, den man in der Stadt diesem Schatten dort hinten in der Höhle gegeben hatte. «Selvaggio!»

«Dummkopf», zischte ihre Großmutter. «Wie soll er auf einen Namen hören, von dem er nicht weiß, dass er ihn hat?» Dann rief Nonna in mailändischem Dialekt: «Keine Angst! Wir wollen dir im Namen des heiligen Ambrosius helfen.» In der unbehaglichen Stille, die darauf folgte, fragten sich die beiden Frauen, was sie wohl angerufen haben mochten. Nonna dachte an Filippo und sagte: «Wir sind weder Spanier noch Franzosen, einfach nur Freunde.»

Als er langsam auf sie zukam, sahen sie zuerst seine Augen blitzen, doch als er schließlich in voller Gestalt vor ihnen stand, keuchte Amaria entsetzt auf. Das Geschöpf war entsetzlich mager, jede einzelne Rippe stach hervor. Seine rote Haut entpuppte sich als getrocknetes Blut, sein Fell als verfilztes Haar und ein monatelang nicht geschnittener Bart. Seine Klauen waren Fingernägel und Fußnägel, die so lange ungehindert gewachsen waren, dass sie sich um sich selbst bogen. Der Mann konnte entweder siebzehn oder siebzig Jahre alt sein. Doch seine Augen waren so grün wie frisches Laub, und aus ihnen sprach, genau wie Amaria gesagt hatte, ein reines, freundliches Wesen. Es hatte den Anschein, als könne er hören, aber nicht sprechen – langsam wankte er nach vorne und drohte bei jedem einzelnen Schritt zusammenzubrechen. Nonna fühlte zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren Tränen in sich aufsteigen, denn dieser Mann vor ihr hätte Filippo sein können, wenn er überlebt hätte und nun zu ihr zurückkehren würde. Das war kein Wilder. Das war einfach nur ein junger Mann. Diejenigen, die ihm das angetan hatten, das waren die Wilden. Sie hielt mit einer Hand ihre Enkelin fest, die am liebsten davongelaufen wäre, und streckte ihre andere Hand dem Mann entgegen. Sie wusste kaum, woher die Worte kamen, aber dass es die richtigen waren, spürte sie genau. «Komm nach Hause», sagte sie.