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Martin Keune

Black Bottom

Kriminalroman

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ebook im be.bra verlag, 2013

Inhalt

FORD A, ROT

TEN CENTS A DANCE

FEMINA

GAS

FRÄULEIN WUNDER

GENNAT

TATORT

HALLSTEIN

DIE LISTE

HERTHA FUHS

DIE POLIZEI

ZELLENGEFÄNGNIS

ABENDZEITUNG

BAHNHOF ZOO

MOKA EFTI

MASSEN

RAZZIA

BLACKOUT

JUDEN

PROBLEME

WAHLKAMPF

TIERGARTEN

GAS (II)

BLUE NOTES

PHANTOME TANGO

RHAPSODY IN BLUE

DIE BOMBE MIT DEM SCHNURRBART

KICKIN’ A HOLE IN THE SKY

BAD ASS BLUES

SOLO FÜR KLARINETTE

BLACK BOTTOM

TEN CENTS A DANCE (II)

SÁNDOR LEHMANN

NACHWORT

FORD A, ROT

Halb acht abends. Von der Marienkirche klangen zwei Glockenschläge durch das Verkehrsgetöse herüber; höchste Zeit, endlich Feierabend zu machen und zu sehen, dass er raus in die Stadt kam.

Zwischen Sándor Lehmanns etwas zu eleganten schwarzen Schuhen und der Sandsteintreppe knirschte der Split der Straße, als er die breite Treppe hinunter zum Ausgang ging. Er drückte sich an das schwere Geländer, um eine schimpfende Gruppe von Menschen vorbeizulassen, die nach oben wollten: Lehmanns Kollegen von der Nachtschicht schleppten ein paar Randalierer in die Vernehmungsräume; die Spätschicht fing ganz offensichtlich gleich mit Hektik an.

Sándor nickte den Kollegen zu und streifte die Festgenommenen mit einem kurzen Blick. Das sah nach Politik aus; die Streithähne wären am liebsten noch hier auf der Treppe mit Fäusten und Zähnen aufeinander losgegangen und mussten mit Gewalt daran gehindert werden. Der Polizeipräsident hatte vor ein paar Tagen mal wieder den Angriff verboten, doch die Nazis verkauften ihr Radau-Blatt trotzdem und bekamen sich natürlich prompt mit den Roten in die Haare. Die Prügelei hatte sich die halbe Friedrichstraße hinuntergezogen, bis Lehmanns Kollegen den ganzen Pulk en bloc in die grüne Minna gezerrt und ins Revier am Alexanderplatz verfrachtet hatten, erläuterte ihm Kollege Hansen, außer Atem von dem Gerangel. Jetzt musste sortiert werden, wer in welche Zelle kam. Da durfte man keine Fehler machen, sonst gab es Hackfleisch hinter Gittern. Aber die Jungs von der Nachtschicht – Lehmann erkannte neben Hansen Schmitzke und den dicken Plötz – hatten das Ding im Griff, da war er sicher. Es war ja nicht das erste Mal. Die Zeitungsverkäufer und die Kommunisten kriegten unten in den Vernehmungsräumen im Keller ihre Abreibung – und morgen waren für jeden blauen Fleck und jeden verlorenen Schneidezahn drei neue von diesen Burschen auf der Straße im Einsatz. Eigentlich sollten wir Kriminalbeamten uns ja um die Klassiker des menschlichen Zusammenlebens kümmern, dachte Lehmann, um Mord und Totschlag, um Nutten, Hehler und Banditen. Stattdessen hielt sie rund um die Uhr die Politik auf Trab.

Die Politik! Er selbst hatte aufgehört, an die Politik zu glauben, vor Langem schon. 14/18 hatten sie ihm die Politik ausgetrieben; im Schützengraben gab es keine Weltanschauung, da war man kein Monarchist oder Demokrat oder was auch immer. Da war man ein armes Würstchen mit vollgeschissenen Hosen, und man schwor sich: Wenn ich hier rauskomme, hole ich alles nach, was ich an Leben verpasst habe. Um jeden Preis.

Sándor Lehmann hatte nicht viel geschworen im Leben – den Fahneneid, den Polizisteneid und sicherlich ein paarmal die ewige Treue –, aber den Eid im Schützengraben, den hatte er gehalten. Nichts mehr verpassen im Leben. Nichts auf die Zukunft verschieben, auf irgendein gerechtes bolschewistisches Paradies oder das großdeutsche Arierland der besoffenen Herrenmenschen, die mit dem Hitlergruß aus den Bierkellern gekrochen kamen, sondern jetzt sofort loslegen mit dem Leben.

Loslegen – das war natürlich leicht gesagt für einen einundzwanzigjährigen Habenichts aus dem Wedding. Für einen, der im Arbeiter-Schalmeienorchester die Klarinette geblasen hatte, die erste Zigarre geraucht mit zwölf, das erste nackte Mädchen gesehen als Spätzünder mit fünfzehn. Der sonst noch nichts erlebt hatte, als der Krieg kam.

Und nach dem Krieg war das große Leben auch erst mal ein gutes Stück Arbeit. Ohne Geld war die süße Sause, die Sándor Lehmann vorgeschwebt hatte, wirklich verdammt viel Arbeit.

Immerhin war schnell klar gewesen, wie man als Habenichts wenigstens in Sichtweite des großen Lebens kommen konnte: bei der Polizei. Natürlich hatte die Schmiere bei Lehmann und seinen Weddinger Jungs keinen sonderlich exzellenten Ruf. Wer ihm mit zwölf prophezeit hätte, dass er mal Bulle würde, hätte gleich in die Fresse gekriegt – aber waren diese ganze Weddinger Kumpanen-Duselei, diese gesalbte Arbeiterklassensülze nicht auch nur Politik, bei der man selbst als Einzelner nur auf der Strecke bleiben konnte? Sándor Lehmann wollte nicht auf der Strecke bleiben, ums Verrecken wollte er das nicht, und schon in seinen ersten Jahren als kleiner Schupo hatte er mehr Regierungsgebäude, Bankfilialen und Protzvillen im Westend von innen gesehen als sein Vater und sein Großvater zusammen in ihrem ganzen Leben als achtbare Proletarier. Er hatte noch keinen Smoking im Schrank gehabt – das hatte sich inzwischen geändert –, aber trotzdem war er in den mondänsten Restaurants und Tanzpalästen unterwegs. Auch wenn es damals vielleicht nur einen bekloppten Zechpreller zu verhaften gegeben hatte.

Apropos Tanzpalast: Höchste Zeit, standesgemäß den Feierabend einzuläuten. Lehmann sah auf die Armbanduhr und bog in ein Treppenhaus im Hofgebäude ein. Die Wagenmeisterei im Keller freute sich regelmäßig über seine kleinen Aufmerksamkeiten aus den Kneipenrazzien – eine Flasche Schnaps, sorgfältig in Zeitungspapier gewickelt – und war ihrerseits geradezu begierig darauf, ihm selbst ab und zu mal eine Freude zu machen.

Unten in der Tiefgarage am Alexanderplatz standen die beschlagnahmten Karossen all der wilden Männer, die hier tagtäglich wegen ungebührlichen Betragens befragt wurden. »Was genau hat Sie emotional so aufgeregt, dass Sie den Bankkassierer und zwei unschuldige Bankkunden mit einem importierten 455er Webley-Revolver erschießen mussten?« Psychologie war der letzte Schrei, die Psyche der Täter wurde in dünne Scheiben geschnitten und vorsichtig unterm Mikroskop bestaunt. Man könnte uns für den Zoologischen Garten halten, dachte Lehmann, für Wissenschaftler, die voll Ehrfurcht eine neue Spezies erforschten – eine Spezies mit scharfen Zähnen zwar, aber ohne jede Spur von Bosheit. All die wilden Tiere töteten und raubten nur, weil das Gesetz der Wildnis es ihnen so befahl …

Sándor lachte kopfschüttelnd auf. Immerhin gab es auch noch altmodische Methoden, zum Beispiel die Spurensicherung – und sein Chef Gennat war bei allem Interesse für die menschliche Psyche vor allem auch ein exzellenter Handwerker. Ein Einschuss in der Beifahrertür, ein Blutfleck auf der Rückbank oder ein Skelett im Kofferraum: alles gute Gründe, die einkassierten automobilen Beweisstücke auch mal den Kollegen in der Keithstraße am Wittenbergplatz vor die Nase zu halten. »Beweisstücksichtung« stand dann bei der Mordkommission im Protokoll, und wer es seltsam fand, dass er einen für die Überführung zwischen den Revieren bereitgestellten Maybach oder 260er Mercedes schon am Vorabend des geplanten Transportes aus der rolltorgesicherten Tiefgarage fuhr, sollte lieber froh sein, dass hier ein aufopferungsbereiter Bulle sogar nach Feierabend noch eigenhändig zur Aufklärung eines Falles beitrug.

Diesmal war es ein eleganter roter Ford A, überschwänglich parfümiertes Beweisstück im Fall einer erpresserischen Hausbediensteten. Das rote Biest schnurrte vorbildlich am Berliner Schloss vorbei. Unter den Linden stieg das Premierenpublikum aus den Limousinen; Busse scheuchten die Radfahrer vor sich her wie der Hecht das Kroppzeug. Sándor Lehmann hupte, einfach nur so, weil sein sportliches Gefährt eine Hupe hatte. Der Frühling 1930 war warm und lebendig; die Stadt vibrierte; die Frauen, die bei jedem Hupen großäugig und verträumt aufsahen, waren noch schöner als vor ein, zwei Wochen. Er sann rhythmisch hupend vor sich hin. Im Eau-de-cologne-getränkten Innenraum des Wagens schien sich eine der frühlingshaft entblätterten Grazien schon mit glänzenden Lippen auf der Rückbank zu räkeln – nein, in Wahrheit kollerte dort nur die Klarinette im schwarzen Pappfutteral hin und her. Sándor betrachtete sein regloses, durch die kräftige Stirn und die flach gehauene Nase trotzdem ziemlich markantes Konterfei unter seinen Römerlöckchen im Rückspiegel und grinste. Ein hupender Bulle mit Klarinette und nicht ganz legal abgezweigtem Ford A auf seinem Weg in die Berliner Nacht: Es gab, weiß Gott, miserablere Anfänge für einen gelungenen Abend als diesen.

TEN CENTS A DANCE

Der Pförtner in der Keithstraße 30 hätte so spät am Abend für die Hofgarage sowieso keinen Schlüssel gehabt, wenn Lehmann ihn danach gefragt hätte: Schon deshalb musste die Abgabe des knallroten Beweisstückes leider bis morgen warten, und Sándor hatte den Wagen über Nacht für sich. Einmal war es ihm tatsächlich passiert, dass ein blasierter Schnösel vor einem mondänen Weinrestaurant im Grunewald neben dem Corpus Delicti – einem aufreizend geschwungenen Mercedes in zweifarbiger Lackierung, cremeweiß und himmelblau – aufgetaucht war und das beschlagnahmte Gefährt entgeistert als sein Eigentum reklamiert hatte. Sándor war seelenruhig ausgestiegen, hatte den Wagen umrundet und sich unangenehm nah an den rotgesichtigen Wagenbesitzer gestellt. Er sprach mit gedämpfter, aber scharfer Stimme, und die Zornesadern auf der Stirn schwollen ihm an dabei.

»Ihr Automobil? Mein lieber Scholli, stecken Sie nicht schon tief genug drin im Schlamassel? Wollen Sie jetzt noch aus lauter Blödheit eine Ermittlungsarbeit behindern, die oberste Reichsangelegenheit ist? Wenn Sie jetzt Krach schlagen – oder wenn Sie morgen früh auch nur einer Menschenseele ein Sterbenswörtchen von diesem Zusammentreffen sagen; und wenn’s der Polizeipräsident selber wäre –, dann können wir nichts mehr für Sie tun, dann sind Sie geliefert. Deshalb gehen Sie mir besser aus dem Blickfeld, bevor ich Sie an Ort und Stelle hopsnehme, Sie Fettsteiß, Sie!«

Das wirkte immer, und das hatte auch diesmal gewirkt. Der Bankdirektor, Reitstallbesitzer, Generalbevollmächtigte oder was auch immer war das Anherrschen von Untertanen gewöhnt – aber selber angeherrscht zu werden hatte verheerende Auswirkungen auf sein Selbstwertgefühl. Der Mann hatte sich so schnell zusammengefaltet, wie er sich zuvor aufgeplustert hatte, etwas unverständlich Besänftigendes gemurmelt und war zurück ins Weinlokal gekrochen. Sándor hatte zufrieden gegrunzt; gegrunzt mit dem ganzen Selbstbewusstsein des passionierten Sportwagenfahrers, und auf der Havelchaussee hatte er der Kiste richtig die Sporen gegeben und um Haaresbreite einen Trupp Wildschweinfrischlinge zu Halbwaisen gemacht. Wildschweine und Bankdirektoren sollten ihm besser nicht in die Quere kommen auf seinem Weg die Havel entlang.

Heute Abend parkte er den roten Ford A in der Nürnberger Straße, einer belebten Seitenstraße des Tauentziens, wo vor der Femina schon reger Andrang herrschte. Die protzige Femina! Der Schuppen hatte nach allerhand Turbulenzen wieder neu eröffnet, noch exaltierter und spektakulärer als zuvor, und war der luxuriös schillernde Diamant im Nachtleben der westlichen Vergnügungsmeile an Ku’damm und Wittenbergplatz. Allerdings zog es Sándor Lehmann noch nicht in den festlich illuminierten Eingang des modernen Tanzpalastes. Auf der anderen Straßenseite schimmerte, weit weniger pompös, eine Reihe kleiner Bars, von denen er eine betrat. Der Laden schien leer zu sein; hinterm Tresen döste die etwas aufgetakelte Wirtin mit Damenbart unter halb leeren Schnapsflaschen, die sich erwartungsvoll aufsetzte, ihn dann aber erkannte und mit einem freundlichen »’n Abend, Sándor« wieder in sich zusammensank. Sándor durchquerte den kleinen Raum und kletterte die schmale Bierträger-Stiege hinunter in ein alkoholisch riechendes Kellerloch, wo ein ganzes Sextett smokinggekleideter Männer auf Bierfässern hockte, umgeben von Koffern aus der gleichen schwarzen Pappe, aus der auch Sándors Klarinettenschachtel war.

»’N Abend«, die Männer blickten kaum auf, begrüßten ihn halblaut, emotionslos, so wie vielleicht ein Sargträger von anderen Sargträgern begrüßt wurde. Lehmann wusste diesen Ton lässigen Understatements zu schätzen; sein Alltag unter den gedemütigten, zu Polizisten degradierten kaiserlichen Offizieren und Oberwichtigtuern war eine Welt des Imponiergehabes, des Balztanzes und Muskelspiels; hier so selbstverständlich und ohne Brimborium akzeptiert zu werden bedeutete ihm viel.

Natürlich waren die Männer keine Sargträger, obwohl Dr. Joseph Goebbels, der oberste Krawallmacher Adolf Hitlers, für dessen Festsaalreden man inzwischen eine ganze Reichsmark Eintritt bezahlen musste, sie zweifellos so bezeichnet hätte – Sargträger der deutschen Musikkultur nämlich. Allerdings wurde der Sarg, den Goebbels mit flammendem Blick beschworen hätte, hier unten im Kneipenkeller mit erstaunlichem Schwung zu Grabe getragen, denn die Männer waren Musiker, Jazzmusiker. Nicht irgendwelche fahrlässigen Trompetenschwinger, sondern das begehrte und gut bezahlte Personal der »Julian Fuhs Follies Band«, einer der meistgebuchten Tanzkapellen der Stadt. Fuhs – der eben mit etwas ungelenken Bewegungen die Stiege heruntergekraxelt kam, ein kleiner Mann mit Glatze und einer runden Hornbrille, die mancher Karnevalsmaske zur Ehre gereicht hätte –, Fuhs hatte den auf gekratzten, anfangs sehr pointierten und keineswegs breit arrangierten Swing aus den USA mitgebracht, wohin er 1910 mit gerade 19 Jahren ausgewandert war. 1924 hatte es ihn zurück nach Berlin verschlagen, und in den sechs Jahren seither hatte der »Amerikaner« – eigentlich ein braver Berliner Jude, der überaus gesittet das Stern’sche Konservatorium besucht hatte – die besten Solisten der Stadt um sein Piano geschart und im Eden-Hotel, dem Mercedes-Palast oder dem Palais am Zoo frenetische Anhänger gefunden, die zu jedem seiner zahlreichen Auftritte strömten. Nach und nach waren die rauen Hot-Eskapaden einem sinfonischeren Sound gewichen, der den Jazz-Puristen zu glatt war – und die Massen begeisterte. Sándor staunte insgeheim über die Hartnäckigkeit des Bandleaders: Julian war nie fertig mit einem Stück; er feilte an den Arrangements, schuf Spannungsbögen und Brüche und bediente sich seiner Band wie eines einzigen, vielstimmigen Instruments, mit dessen Hilfe er jede Stimmungsnuance des Publikums reflektieren und zu einem Baustein eines hymnischen, beseligenden und dabei meist verflucht virtuosen Gesamterlebnisses machen konnte. Die Solisten waren in diesem Konzept nur die Sahnehäubchen, die kleinen kantigen Knusperstückchen eines breiter fließenden Sounds. Das gefiel nicht jedem von ihnen; es gab ausufernde Selbstdarsteller an Trompete und Zugposaune, die am liebsten den ganzen Abend ein einziges, nicht endendes Solo gespielt hätten. Doch Julian hatte letztlich die besseren Argumente.

»Ihr spielt euch warm, wir bauen zusammen den Song – und dann ist jeder kurz vorn und ist heiß und frisch und neu. Stochert nicht mit der Tröte in der Musik rum, sondern hört zu – und wenn ihr was zu sagen habt, haut es raus in möglichst wenigen Takten. Nicht schwafeln, Männer – zielen und treffen!«

Charlie Hersdorf, Arno Lewitsch und Wilbur Curtz waren ausgemachte Individualisten – doch diesem Konzept fügten sie sich, um den mäßig, aber regelmäßig bezahlten Job bei den »Follies« nicht aufs Spiel zu setzen. Und Sándor selbst hatte keine musikalischen Ambitionen; er ließ sich – ganz anders als draußen im echten Leben – an- und ausschalten, wie Julian es wollte, und war zufrieden damit.

An Sándor Lehmann hatte Fuhs einen Narren gefressen; Sándor wusste selbst nicht, warum, und hatte den strahlenden und überschwänglichen Klavierspieler anfangs schlicht für schwul gehalten, bis er Julians Verlobte Lily Löwenthal kennengelernt hatte, eine schöne, aber schwermütige und theatralische Wienerin, die ihren Julian vergötterte. Nein, Julian Fuhs schätzte Sándor Lehmann für sein Klarinettenspiel, und das war eine bodenlose Schmeichelei, weil Sándor nie zum Üben kam und die schwarze Pappröhre wirklich nur alle ein, zwei Wochen mal hier unten im Probenraum für eine halbe Stunde öffnete.

»Üben … kein Mensch muss üben!«, hatte Fuhs begeistert abgewunken. »Man muss es haben, und dann hat man’s, und basta. Was aus einem selbst kommt, braucht man nicht zu üben.« Er hatte sich an Lily gewandt, die ihm fasziniert zuhörte: »Oder übst du Niesen, Schatz?«

Lily hatte die großen Augen aufgerissen und Fuhs mit einem Blick bedacht, für den andere Männer gemordet hätten oder sich nackt ausgezogen, und mit ihrer etwas kehligen, klagenden Stimme geantwortet: »Wenn du es willst, Julian …«

Im Gelächter der anderen Musiker war jeder weitere Widerspruch von Sándor untergegangen, und dabei blieb es: Er konnte kommen und gehen, wann er wollte, und mitspielen. Für einen, der im Leben nach allem griff, was er haben wollte, war dieses bedingungslose Geschenk des »Amerikaners« eine unerwartete Geste; ein Angebot, das ihn geradezu verlegen machte, wenn Verlegenheit in seinem rau gerüpelten Wortschatz noch vorgekommen wäre.

Dass sie sich überhaupt kennengelernt hatten, war reiner Zufall gewesen. 1925 hatte es im Westhafen eine Reihe von Morden gegeben, die Sándor – dessen erster großer Fall es damals gewesen war – und seinen Chef Gennat auf Trab gehalten hatten. In Überseekoffern und verplombten Kisten hatten sie mumifizierte, teilweise skelettierte Tote gefunden, unbekannte, entstellte Männer, die, so hatte es jedenfalls zunächst ausgesehen, wochenlang in ihren Sarkophagen die Ozeane überquert hatten, bevor sie in Berlin-Moabit an der Beusselbrücke in den bauchigen Lagerhäusern auf dem Hafengelände gelandet waren. Auf der Suche nach Hinweisen hatten sie ein ganzes Lager mit Diebesgut entdeckt; Hehlerware, die zum Teil vor Jahren schon beiseitegeschafft worden war und mit der man wie aus einem versteckten Kaufhaus vom Westhafen aus die halbe Stadt beliefert hatte. Ganze Luxusautomobile, palettenweise französischer Champagner, der nie in Amerika angekommen war, und umgekehrt tonnenweise Lieferungen aus den Staaten, die unterwegs verschwanden und ihre Adressaten auch hier in Berlin nie erreicht hatten. Sándor war sich vorgekommen wie der Weihnachtsmann, als er da tagelang in diesen Kathedralen von Lagerhallen über die wertvollen Gegenstände wachte, während alle, die in den letzten Jahren Lieferungen aus den Staaten als verloren angezeigt hatten, durch die vollgestopften Gänge wandelten und ihre verschwundenen Wertgegenstände aufstöberten und identifizierten. Alle bekamen unerwartete, verloren geglaubte Geschenke – außer ihm selbst. 28 Jahre war er damals jung gewesen, und die meisten dieser teuren Dinge hatte er im ganzen Leben noch nicht gesehen. In einem unbeobachteten Augenblick hatte auch er sich zwischen den Regalen herumgetrieben und gesichtet, was es dort abzustauben gab. Der langweilige Aufpasserjob musste doch, verdammt noch mal, irgendeinen kleinen Nutzen für ihn haben? In einer verplombten Holzkiste, deren Deckel die Jungs vom polizeilichen Ermittlungsdienst aufgebrochen hatten, war das Equipment einer ganzen Jazzband gewesen – erlesenste Musikinstrumente in einer Qualität, wie Sándor ihnen in seinem lausigen Weddinger Schalmeienorchester nie begegnet war. In einem schmalen Futteral, das mit blauem Samt ausgeschlagen war, lag die schönste Klarinette der Welt, ein kurzes, kraftstrotzendes Stück Holz, dessen Klappen verlockend in dem schrägen Sonnenlicht glänzten, das seitlich durch die Dachluken des Lagerhauses einfiel. Sándor Lehmann sah sich um. Johnny Dodds, Artie Shaw, Sidney Bechet: Solche Männer spielten auf einem Instrument wie diesem. Das Ding war purer Sex. Er würde einer solchen Klarinette nie mehr näher kommen als jetzt, in dieser einen unbeobachteten Minute. Schnell klappte er das Futteral wieder zu, legte es vor der Kiste auf den Boden und schob es mit der Schuhspitze unter die Palette, auf der die Überseekiste stand. Dorthin konnte das Ding auch zufällig gerutscht sein, und wenn der Besitzer sein Hab und Gut abgeholt hätte – falls es überhaupt einen Besitzer gab; manche Güter blieben einfach hier, weil die Eigentümer selbst Kriminelle waren oder tot oder längst weitergezogen –, wenn die Kiste abgeholt würde, könnte er in Ruhe zurückkommen und die Klarinette holen. Sándor sah sich noch mal um; hatte es ein Geräusch gegeben zwischen den Regalen? Nein. Niemand war da. Er ging. Er ging vielleicht zehn Meter weit, dann blieb er stehen. Noch verlockender als der Wunsch, dieses Wunderinstrument zu besitzen, war die Vorstellung, darauf zu spielen. Er sah sich noch einmal um und ging zurück, angelte die Klarinettenschatulle unter der Palette hervor und klappte das schwarze Etui erneut auf. Das schwarze Holz war kühl von der Kälte des Lagerhauses; das Mundstück war etwas trocken, aber die Klappen öffneten und schlossen sich mit einem sanften Ticken und reibungslos. Sándor führte das Instrument an die Lippen und hauchte hinein, ein langer, sanfter Ton, an den er einen meckernden Schnörkel hängte, wie um gegen die Stille des Lagerhauses zu protestieren. Ein kleiner Schlenker, schon spielte er ein simples Thema, dreimal, viermal variiert, das in ein kurios purzelndes Solo mündete. Sándor war hingerissen und vergaß den Ort und seine Rolle hier im Lagerhaus; er war der Mann mit der Klarinette, sonst gar nichts. Er spielte, spielte nach langen Jahren mal wieder, erkundete mit den Tönen seine eigene Erinnerung, das Echo der gewölbten Hallendecke ließ die Klarinette jubeln und zwitschern, und spielte – und als er das Instrument absetzte mit sirrenden Lippen und ohne Atem, hatte er Tränen in den Augen.

Jemand applaudierte. Ein einsames, entschlossenes Klatschen hinter einer der Kisten. Sándor Lehmann fuhr zusammen. Da stand ein Mann im Smoking, ganz unverkennbar ein Musiker, ein Typ mit einem verschmitzten Gesicht und einer kuriosen runden Hornbrille, und klatschte.

»Gestatten – Julian Fuhs. Ich wollte meine Instrumente abholen; vor zwei Jahren ist all das Blech und Holz auf dem Weg von Chicago hierher irgendwo über Bord gegangen … Ich habe längst neue gekauft, aber man hängt ja doch an den alten Schätzchen. Schön, dass Sie so gut darauf aufgepasst haben, junger Mann.«

Er kam näher und streckte die Hand aus, eine entschlossene, weiß behandschuhte Rechte.

»Was Sie da gerade mit meiner Klarinette gemacht haben, das war … ungewöhnlich. Wenn Sie übermorgen Nachmittag in meiner Jazzband vorspielen, dürfen Sie das Instrument als Dankeschön behalten. Als Dankeschön fürs Wiederfinden … und für drei Minuten eines ganz außergewöhnlichen Musikerlebnisses.« So fing das an, so kam eins zum anderen. Zwei Tage später war er in der Nürnberger Straße und lernte Julian Fuhs und die anderen kennen; den Schlagzeuger Hersdorf, Lewitsch mit seiner Geige; Curtz und die übrigen Blechbläser. Die wechselnden Sängerinnen, gelegentliche Gitarristen, einen Bassisten. Echte Berliner Musiker, mit denen er als Bulle sonst wenig zu tun hatte.

Seitdem hatte Sándor Lehmann immer wieder mal mit der »Follies Band« auf der Bühne gestanden, stets nur kurz für ein atemloses, nie wiederholtes oder auswendig gelerntes Solo bei einem oder zwei der Stücke – und Fuhs hatte auf Lehmanns ausdrücklichen Wunsch auf der Bühne nie den Namen des Musikers genannt und auch wohlwollend akzeptiert, dass Sándor sein ziemlich unverkennbares Gesicht hinter einem falschen Schnurrbart versteckte, der rot und so monströs groß war, dass er beim Spielen aufpassen musste, das struppige Ding nicht zwischen die filigranen Silberklappen der Klarinette zu bekommen. Die anderen Musiker kannten ihn nur beim Vornamen; Julian, der Fuchs, hatte beim Vorstellen einen klangvollen ungarischen Nachnamen hinzugedichtet, der so viele ö und j enthielt, dass die Jungs sich gar nicht erst die Mühe machten, ihn auswendig zu lernen. Der Bursche spielte Klarinette und machte ihnen ihren Job nicht streitig, das war alles, was sie wissen wollten in einer Zeit, in der es viel zu wenig Arbeit für viel zu viele Musiker gab. Der Tonfilm hatte in den Lichtspieltheatern die Orchestergräben geleert; das aufkommende Radio stand im Verdacht, nun den Schallplattenorchestern den Garaus zu machen. Arbeitslosigkeit grassierte, man unterbot sich bei den Gagen – wer da bei einem großen Namen wie Julian Fuhs engagiert war, konnte sich glücklich schätzen. Und solange keine anderen Anwärter da waren, gab es auch keine Probleme.

Heute hatten die »Follies« – oder, wie Sándor die schweigsamen, aber keineswegs abstinenten Jazzhelden gern nannte, die »Vollis« – einen kleinen Auftritt in der eleganten Femina vor sich; deshalb fand die Probe gleich in voller Abendgarderobe statt. Die Bar auf der anderen Straßenseite gehörte praktischerweise Julians Mutter Hertha, die oben hinterm Tresen döste, und die »Follies« waren wie zu Hause hier. Julian Fuhs hielt sich auch gar nicht erst mit großen Begrüßungsfloskeln auf, als er die Stiege herabgestiegen war, sondern sagte nur lächelnd: »Ten Cents, Gentlemen« und schnippte den Takt mit den Fingern vor. Die Gentlemen hatten nur teilweise ihre Instrumente aus den Koffern geholt; zwei Blechbläser – Wilbur Curtz, gesucht und gebucht, gab sich mal wieder bei Julian die Ehre – schoben noch ein spektakulär ramponiertes Klavier aus einer Wandnische in die Raummitte, aber der Bassist war schon bereit und zupfte aufreizend langsam einen trägen Basslauf, der Fuhs’ Rhythmus glatt ignorierte und aus dem Foxtrott mehr Trott als Fox machte. Jetzt raschelte das Becken sein Messingflüstern über das dunkle Summen, das Tomtom nahm den Takt auf, beschleunigte ihn. Sándor hatte die Klarinette in der Hand, aber sein Solo war noch weit entfernt, und die Herren des Blechs inspizierten noch ihre Instrumente, als sähen sie die glänzenden Tuben und Klappen das allererste Mal.

Da mischte sich plötzlich ein ganz anderer Takt in die aufblühende Jazzmusik: leichte Schritte auf der hölzernen Stiege. In der von oben beleuchteten Luke wurden zwei Frauenbeine sichtbar, ein enges silbrig weißes Etuikleid, dessen Trägerin langsam herunterkam zu der staunenden Combo. Nein, das war nicht Lily Löwenthal, denn Lily konnte nicht singen, und die Frauenstimme, die jetzt von der Treppe aus zu hören war, klang samtig, dunkel und von einer fast schläfrigen Nachlässigkeit.

»I work at the Palace Ballroom … I’m much too tired to sleep« – es waren die ersten Zeilen des von Julian Fuhs angespielten Richard-Rodgers-Songs Ten Cents a Dance.

Sándor Lehmann hatte die Klarinette sinken lassen und sich mit seinem breiten Rücken an eins der hölzernen Bierfässer gelehnt, um den Auftritt der jungen Dame in Ruhe beobachten zu können. Nach einer Ten-Cents-, einer Groschentänzerin also sah die Kleine wahrhaftig nicht aus, auch wenn sie das laszive Animierliedchen mit einer mustergültigen Koketterie zu Gehör brachte. Nein, diese hier hatte Klasse; jedenfalls weit mehr als die Sängerinnen, die Fuhs sonst üblicherweise in den Keller schleppte. »Soll ich dir mal meine Bierfässer-Sammlung zeigen?«, so juxten die Männer sonst über Julians unbeholfene Versuche, der Jazz-kapelle für den einen oder anderen Song eine Sängerin zu verschaffen. Und zugegeben, die stimmlichen Qualitäten waren nicht das wichtigste von Fuhs’ Auswahlkriterien – auch Lily war als Sängerin eine Katastrophe gewesen und schien vom Bandleader nun trotzdem fürs ganze Leben angeheuert zu werden … für alles außer fürs Singen. Doch die Frau auf der Stiege hatte beides, eine Stimme für den Jazz und eine Ausstrahlung, die den stickigen Keller für Sándor augenblicklich zur Gebärmutter einer Weltklassekapelle machte.

»All that you need is a ticket«, lockte die fremde Sängerin und sah ihn, den Größten hier unten, herausfordernd an, »come on, big boy, ten cents a dance.«

Der Bassist, der Schlagzeuger Charlie Hersdorf und auch Julian Fuhs selbst, der die letzten Takte noch mit ein paar synkopischen Klavierakkorden ausgetupft hatte, ließen den Song ausklingen, ohne den gaffenden Bläsern einen Einsatz zu geben. In das atemlose Schweigen hinein kramte Sándor in der Hosentasche nach einem Groschen und legte ihn stumm neben die Sängerin auf ein Fass. Die Frau schien aus dem Lied aufzutauchen wie aus einem Mittagsschlummer, drehte den Blick, ohne auf den Groschen zu sehen, zu Sándor, schaute ihm belustigt in die Augen und sagte mit einer frechen Mädchenstimme, die mit dem gesungenen Timbre keine Ähnlichkeit hatte: »Ein einziger Groschen? So billig kommen Sie normalerweise davon? Julian, was für einen Hungerlohn zahlst du deinem Klarinettisten? Sieh mal, wie sein Smoking sitzt … er sieht aus wie ein Schupo!«

Julian Fuhs ging auf den hellsichtigen Affront nicht ein; er lächelte selig in die Runde, machte eine knappe Geste mit der rechten Hand und stellte vor: »Jungs, unsere neue Sängerin – Bella, die Jungs. Sei nett zu ihnen, sie hatten eine schwere Kindheit.«

FEMINA

Die Luft vor der Bar war gefüllt mit allen Gerüchen des Großstadtfrühlings. Die Platanen waren über Nacht grün geworden, die Autos rochen nach Benzin und Schmieröl – ein wunderbarer Duft. Die Frauen auf dem Gehweg trugen die Parfüms der Saison, und Sándor Lehmann wurde schwindelig von all dem »Soir de Paris«, das Chanels Wunderparfümeur Ernest Beaux vorletztes Jahr für Bourjois kreiert hatte und das dem Berlin von 1930 seinen eigenen, unpariserischen Verführungsduft zu geben schien. Abend in Berlin; schwere Regentropfen punkteten das Trottoir unter den Gaslaternen schwarz, und die ganze Nürnberger Straße wurde überstrahlt von dem gleißend hellen Entree der Femina, wo jetzt im Zehnsekundentakt die Limousinen stoppten und elegante Paare aus den chromleistenverzierten Fahrzeugtüren stiegen.

Die Femina – das war der magische Anziehungspunkt für Hunderte von Nachtschwärmern, für jeden vergnügungssuchenden Berliner und die Gäste der Stadt. Bielenberg und Moser hatten mit der Architektur des Tanzpalastes ihr Europahaus noch weit übertroffen, und der gestrenge Raumkünstler Michael Rachlis, der unter dieser Kathedrale nächtlichen Vergnügens ein karges, arrogant sachliches Grand Café inszeniert und möbliert hatte, hatte sich einen Teufel um die populäre Gier nach Schwulst geschert und diese Vorhölle zum Paradies ganz und gar dem Auftritt ihrer Besucher selbst untergeordnet, die nicht überstrahlt werden sollten, sondern eingebettet in ein Understatement aus Holz, Stein und Stahl.

Sándor steckte die Hände in die Hosentaschen – er war, wie er so seelenruhig am Straßenrand stand und den triumphalen Auftakt des Konzertabends begutachtete, eine lässige und elegante Erscheinung zugleich; die perfekte Mischung aus Flegel und Gentleman, wie er selbst wusste – und überquerte die Straße im gemäßigten Tempo des Flaneurs. Julian Fuhs und seine Combo hatten schon wegen der Musikinstrumente den Künstlereingang zu benutzen; er selbst bevorzugte den von zweitausend elektrischen Glühbirnen erhellten Haupteingang. Doch der livrierte Türsteher, der eben noch einem pummeligen Frackträger – von seiner weiblichen Begleitung um anderthalb Köpfe überragt und sicher doppelt so alt wie sie – die Schwingtür aufgehalten hatte, schob sich breitschultrig zwischen das blank gewienerte Messing-portal und Sándor. »Entschuldigen der Herr, bis 22 Uhr ist im Ballsaal Paartanz; ohne Begleitung können Sie heute nur die Bar am Nebeneingang …« – und Sándor blieb, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen, vor dem Mann stehen und stieß nur ein knappes, raues »Paartanz?« hervor.

Der Türsteher blickte mürrisch auf, erkannte Lehmann dann aber offenbar und riss mit einer gestammelten Entschuldigung eilig die Vier-Meter-Tür auf.

Sándor atmete ungeduldig aus. Er kannte den Burschen; er kannte überhaupt Hunderte Menschen wie Fritz Hallstein, den kleinen Schmuckhehler, der tagsüber den Taschendieben die Ketten und Uhren abkaufte, die sie abends hier und anderswo mitgehen ließen. Für die Femina war der Mann eigentlich eine Katastrophe, und der Femina-Besitzer Liemann hätte sich für einen diesbezüglichen Tipp zweifellos erkenntlich gezeigt. Lehmann hatte dieses Erkenntlichzeigen bisher jedoch noch nicht in Anspruch nehmen wollen, also ließ er Hallstein, den er irgendwann mal in flagranti erwischt hatte, ein paar Jahre zappeln und sich selbst unterdessen eilfertig die Tür aufhalten.

»Wer ist oben?«, fragte er Hallstein, ohne den gescheiterten früheren Preisboxer eines Blickes zu würdigen, und der Mann be eilte sich, all die Namen der Filmsternchen, mächtigen Männer und dubiosen Adeligen herunterzuhaspeln, die heute Abend schon das Grand Café durchquert hatten und jetzt oben im Ballsaal ihre Cocktails schlürften. Sándor kommentierte die Aufzählung nicht, schlenderte hinüber ins Café und genehmigte sich im perlenden Klang einer gläsernen Harfe einen Mokka und einen klirrend kalten grünen Escorial.

»Schupo« hatte Bella, die neue Sängerin, ihn genannt, schon allein dafür würde er Hallstein, der nichts dafür konnte, gern in den Arsch treten – einfach, um überhaupt irgendwem in den Arsch zu treten. Sah man ihm den Bullen wirklich so sehr an? Manchmal erwischte Sándor sich dabei, wie er morgens unverwandt nackt vor dem Spiegel in der Kleiderschranktür stehen blieb und diesem Kerl, diesem Sándor Lehmann in der ovalen Scherbe auf der Türrückseite, in die zerknautschte Fresse starrte. Sah der Typ wie ein Bulle aus? Und wenn ja, was hätte er daran ändern können? Irgendwer hatte ihn in dieses Leben geschubst, es hatte wenig zu wählen gegeben, und was er wählen konnte, das wählte er mit weit offenen Armen.

Der Abend nahm Fahrt auf. Die Herren Eintänzer wuselten um den Tresen herum und knurrten sich halblaut kleine Frechheiten zu. Sándor verzog ironisch das Gesicht. Das Gros dieser eitlen Fatzkes fassten die Frauen oben im Saal wirklich nur für das Kopfgeld an, das sie vom Management pro Tanz kassierten; jeder von ihnen war ein begnadeter Selbstdarsteller und modisch wie aus dem Ei gepellt. Haargel, aufgezwirbelte Schnurrbärte, gestärkte Hemdkragen: Während draußen die Straßen voller Lumpen waren, voller Hunger und Gewalt, wurde hier drin noch die Illusion männlicher Schönheit aufrechterhalten. Dabei waren einige dieser Burschen ausgemachte Halunken; mehr als einen von ihnen hatte er selbst schon an den Eiern gehabt, die geklauten Uhren und Ringe aus ihnen herausgeschüttelt für eine Information, für eine Indiskretion, eine Handvoll Bares. Deshalb machten die Brüder jetzt auch einen Bogen um ihn; er war, solange er mit seinem eigenen, schnurrbartlosen Gesicht auftauchte, zu bekannt in der Femina, um als Opfer eines Taschendiebstahls oder eines kleinen Trickbetruges infrage zu kommen. Sexuelle Avancen machte ihm von diesen Burschen auch keiner. Mit Bullen bumst man nicht: Das war vielleicht eine sehr kategorische Haltung, aber Sándor war es ganz recht so.

Von seiner zweiten Existenz oben im Scheinwerferlicht hatte keiner der Eintänzer eine Ahnung. Verrückt genug, dass die ganze Bande sich von dem albernen roten Bühnenschnurrbart so blenden ließ und er nie mit dem Jazzklarinettisten in Julian Fuhs’ »Follies Band« in Zusammenhang gebracht wurde; allerdings hatte er selbst schon die Erfahrung gemacht, dass es Menschen gab, die mit jedem Haarschnitt und unter beliebigen Maskierungen doch immer nur als sie selbst erkennbar waren, während andere schon mit einem blauen Auge und erst recht mit einem falschen Schnurrbart sogar von ihrem eigenen Spiegelbild nicht mehr gegrüßt wurden. Er war so ein Glückspilz. Seine Visage war derart markant, dass man sie mit nichts und niemand anderem verwechseln zu können glaubte – und doch reichte eine kleine Unterbrechung dieses expressiven Looks, um unsichtbar zu werden. Es war frappierend und riskant, aber es funktionierte. Und Unsichtbarkeit war die beste Voraussetzung für das Doppelleben, das er nun schon eine Weile führte.

Die Rohrpost und die Tischtelefone hatten den Betrieb aufgenommen; Rasseln und Rauschen mischten sich unter das Stimmengewirr und die Harfenmusik. Ohne diese technischen Sensationen konnte man heutzutage kein Vergnügungslokal mehr betreiben; das Resi – das Ballhaus im Residenz-Casino in der Blumenstraße 10 – gab den Takt vor, in dem in Berlin die Unterhaltungstechnik ihre Triumphe feierte, und alle ahmten nach, was im Resi die Massen begeisterte. 20.000 Glühbirnen illuminierten dort die endlos langen Festsäle; 1927 hatte das Resi die Tischtelefone eingeführt; heute konnte außerdem mit Lichtsignalen die Gemütsverfassung des werten Saalgastes signalisiert werden: War man sich selbst genug (blau), oder sehnte man sich nach Gesellschaft (rot)?

»Der Herr drüben an Tisch 26, hat der Interesse, oder ist er blau?«

Letztes Jahr, 1929, hatte das Resi die Saalrohrpost in Betrieb genommen; ein technisches Wunder auch dies. Die Femina hatte auf den letzten Metern noch versucht, den Konkurrenten zu überflügeln, und bei Mix & Genest ebenfalls 16 Stationen bestellt, aber das Resi war wie immer schneller gewesen. Doch auch die 16 Stationen in der Femina sorgten bei den Nutzern für Begeisterung. Ein Bastkörbchen mit Pralinen für Tisch 12, ein Photomaton-Porträt des eigenen Konterfeis als bildhafte Bewerbung bei der kühlen Schönheit von Tisch 4: Die Rohrpost war ein Heidenspaß.

Sándor schüttelte den Kopf. Warum sollte man ein Foto von sich durch die Rohrpost jagen, wenn man selbst die paar Schritte zum Tisch der Dame gehen und sein Anliegen kurzerhand vortragen konnte? Er selbst brauchte solche Spielereien nicht, und die Damen, die er hier in der Femina oder auf all den anderen Stationen seiner meist auf die neuen, westlichen Vergnügungsviertel konzentrierten nächtlichen Streifzüge kennenlernte, wollten auch lieber von seinen geübten Händen berührt, von seinem trockenen, warmen Atem gestreift werden als von einem Stück Blechrohr.

Er sah sich um. Ja, verdammt, es gab erbärmlichere Ecken in dieser unglaublich großen Stadt. Irgendwo schickten Mütter ihre kleinen Töchter auf den Strich, irgendwo verhungerte ein Veteran aus dem Franzosenkrieg in einer fensterlosen Dachkammer, und irgendwo salutierten stramme junge Männer vor Befehlshabern, die schon jetzt kein Reichspräsident und keine Reichstagswahl mehr dauerhaft an ihrem fanatischen Machtstreben hindern konnten. War das wichtig für ihn? Er war froh, kein Kommunist zu sein, weil denen die Zähne eingeschlagen wurden. Und ob die Juden sich noch lange mit ihrer zur Schau getragenen Ehrbarkeit gegen all die Anschuldigungen würden behaupten können, musste sich erst noch zeigen. Aber er selbst, Sándor Lehmann, Nichtkommunist, Nichtjude, er war da, wo er hingehörte, und solange er sich in die Politik nicht einmischte und jeden Morgen eine frische Unterhose anzog, konnte er alles tun, wonach ihm gerade der Sinn stand.

Sándor ließ noch einmal den Blick über die angeregte Menschenmenge und das erfreulich minimalistische Rückendekolleté der Harfinistin gleiten, schob das leere Escorialglas mit einem knappen Schwung über den polierten Steintresen und verschwand dann unbemerkt in einem Personaleingang, der neben den Toilettentüren zu den Künstlergarderoben führte.

Eine halbe Stunde später waren sie auf der Bühne. Der schmalzige Jargonsänger im Erdgeschoss und die kurzen Revueeinlagen hatten das Publikum in eine fiebernde Vorfreude versetzt; jetzt wollte man tanzen. Julian Fuhs ließ sich nicht bitten und eröffnete den Set gleich mit einem feurigen »Black Bottom« – dem Modetanz der letzten Saison, der mit seinem stampfenden Rhythmus und dem anzüglichen Aneinanderstoßen der Hinterteile, dem »Bump«, sogar dem Charleston den Rang abgelaufen hatte und auch ein paar Jahre nach seiner Erfindung in Harlem noch die Berliner Tanzwütigen elektrisierte. Es folgten zwei, drei andere Up-Tempo-Nummern, die die Tanzfläche füllten und die Raumtemperatur fühlbar anhoben.

Als Fuhs eine ausgelassene halbe Stunde später das Tempo langsam herunterfuhr, ging mit einem fauchenden Klatschgeräusch der fette Suchscheinwerfer an, und der Lichtmeister dämpfte die Deckenbeleuchtung im Tanzsaal der Femina. Arno Lewitsch, der Geigenspieler, und Sándor standen allein im Scheinwerferkegel. Eine Geige in einer Hot-Jazz-Kapelle: Das war auch eins der amerikanischen Souvenirs, die Julian geschickt in sein Showprogramm hineinbastelte. Eine Violine stand für Gefühl, für Sentimentalität, und der Kontrast zum beschwingt grummelnden Bass und den schmetternden Fanfaren der drei Saxofonisten war beträchtlich. »You’re the only one for me, I’m lost without you«: Was als sehnsuchtsvoll schunkelnder Foxtrott begonnen hatte, schmolz weg zu einer sentimentalen Ballade, bei der die Paare auf der Tanzfläche im plötzlichen Dunkel näher zusammenrückten und Lewitschs Geige und seine eigene Klarinette sich in einer intimen Zwiesprache aneinanderschmiegten. Das war heikel; Schiebertänze waren in den meisten Etablissements verboten, und die Sitte war das Letzte, womit die von behördlichen Auflagen und gesetzlichen Einschränkungen sowieso schon gebeutelten Tanzsaalbesitzer zu tun bekommen wollten. Trotzdem – das Publikum wollte Knutschpausen, wenigstens zwei, drei schwelgerische Minuten, bevor der Schlagzeuger und das Blechbläsertrio das Tempo wieder anzogen und die Scheinwerfer die Tanzfläche bis in den letzten Winkel ausleuchteten.

Arno ließ es sich nicht nehmen, noch ein bisschen Schattenspiel zu machen und die Rundungen der Violine zusammen mit seiner eigenen, frackbeschoßten Silhouette im Schlagschatten des Lichtkegels zu einer aufreizenden Frauenfigur zu komponieren, die dem mit sich selbst beschäftigten Publikum wie immer entging. Schließlich öffnete die elektrisch betriebene Hydraulik geräuschlos das gewaltige Schiebedach, das den ganzen Ballsaal überspannte, und unter den Begeisterungsseufzern der Tanzenden wurde der Himmel sichtbar, der zwischen den abziehenden Regenwolken von einer Unzahl von Sternen perforiert war.

Sándor schloss die Lider und überließ die Klarinette ihrem eigenen trudelnden Flug, und als er die Augen wieder aufschlug, begegnete er dem Blick von Bella, die seitlich neben der Bühne auf ihren eigenen Einsatz wartete und in diesem Moment jeden Spott und jede Distanziertheit verloren hatte und ihn nur lange und mit fast traurigen Augen ansah.

Hinter Bella zündete im Publikum jemand eine Zigarette an in einer kurzen silbernen Zigarettenspitze, und die Zündhölzer beleuchteten ein ungerührtes, jungenhaftes Gesicht, eine pausbäckige Visage, die Sándor Lehmann den Schweiß auf die Schläfen trieb. Der Mann hinter Bella war ihm nicht unbekannt – und es war keiner der Kleinkriminellen und Hehler, über die er hier in der westlichen Stadthälfte mit intrigantem Geschick regierte. Der Mann war Belfort, Kriminalkommissar wie er selbst, ein neuer Kollege in derselben Abteilung, als Aufpasser oder Konkurrent abgestellt von ganz oben. Von oben – oder von noch weiter oben. Sándors Solo schmierte irritiert ab, aber Belfort hatten die Töne des Musikers mit dem gigantischen roten Schnurrbart sowieso nicht erreicht; er schien aus einem anderen Grund hier zu sein, als Musik und Tanz zu genießen, er war vielleicht auf der Jagd, ermittelte. Bandmusiker hatte er dabei offenbar nicht im Visier, und Sándor war froh, dass es so war.

Bella schien Lehmanns Blick gefolgt zu sein und hatte ebenfalls einen – allerdings gelangweilten – Blick auf Belfort geworfen, und während die Saxofonisten Sándors Rückkehr zum Thema des Songs aufnahmen und der Schlagzeuger das Tempo mit scheppernden Schlägen wieder antrieb, drehte sich Bella plötzlich um und strebte dem Ausgang zu. Auf der Tanzfläche setzte Bewegung ein; die innigen Pärchen wurden von Neuankömmlingen angerempelt, der Foxtrott nahm Fahrt auf, die Saalbeleuchtung flackerte wieder auf, und Julian schnippte mit den Fingern. »I’m lost without you«, skandierten die Saxofonisten im Wechsel mit ihren Instrumenten im Chor, »I’m lost without you«. Und auch Belfort wandte den Blick von der Tanzfläche und folgte Bella zur Treppe.

Sándor beerdigte das Solo mit einem etwas hastigen, schrillen Schnörkel, drückte sich im Off an dem erstaunt kopfschüttelnden Julian vorbei, durchquerte die Künstlergarderobe, griff sich seinen Mantel und folgte Bella und Belfort, ohne recht zu wissen, wohin und wozu.

GAS