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ANETTE DOWIDEIT

VORSICHT, ARZT!

Wie unser Gesundheitssystem
uns krank und andere reich macht

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Copyright der deutschen Ausgabe 2016:
© Börsenmedien AG, Kulmbach

Gestaltung Cover: Holger Schiffelholz
Coverbild: Getty Images
Gestaltung und Satz: Sabrina Slopek
Herstellung: Daniela Freitag
Lektorat: Egbert Neumüller
Korrektorat: Hildegard Brendel
Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

ISBN 978-3-86470-386-7

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

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Allen Patienten und den Ärzten, die sie versorgen

INHALT

1 PATIENT GEGEN GELDUMSCHLAG

WARUM MAN SEINEM ARZT NICHT BLIND VERTRAUEN SOLLTE

2 BESTECHLICHE HEILER

WARUM DIE VERBRECHENSBEKÄMPFUNG SO SCHWIERIG IST

Frust bei der Polizei

Ein Leben für die Korruptionsbekämpfung

Luftrezepte

Vergebliche Liebesmüh?

Privatpatienten abzocken

Keine Konfrontation gewünscht

Das Antikorruptionsgesetz – ein Rohrkrepierer?

SELBSTBEDIENUNGSLADEN SELBSTZAHLER-LEISTUNG

Teure Tierchen

Die Gouda-Fraktion

Zerrüttetes Vertrauen

Medizin der Mythenbildung

Ärzte halten IGeL-Kritik für überzogen

WENN ÄRZTE IHRE EIGENEN PATIENTEN BETRÜGEN

Geschäfte mit Darmspiegelungen

Der Patient als Mischkalkulation

Undurchsichtiges Versicherungssystem

Scheine für Tote

KORRUPTION IM GESUNDHEITSWESEN – EINES DER POPULÄRSTEN DELIKTE UNSERER ZEIT

Der 240-Milliarden-Euro-Apparat

Von Falschabrechnungen und Bestechung

Spitzenreiter beim Betrug: Apotheker

PHARMAFIRMEN UND ÄRZTE – EINE UNHEILVOLLE ALLIANZ

Lukrative Krebsmedikamente

Mein Essen zahl’ ich selbst

3 VERLOREN IN DER ARZTPRAXIS

DEMENZ UND ALKOHOLSUCHT: WARUM KRANKE ÄRZTE TROTZDEM WEITERMACHEN

Schatten

Behandlungsfehler am laufenden Band

Bis zu 20 Prozent überlastet

Fehlerquelle Arzt

Angst vor dem finanziellen Absturz

Schuldenlast

Pratzen wie ein Holzhacker

Meist merkt der Patient nichts

Freie Berufsausübung – ein hohes Gut

Schutz durch Technik?

WERBUNG AUF DER OP-HAUBE – ODER: DIE MÄR VOM ARMEN ARZT

Von Heilkunst und Integrität

„Von Kassenpatienten kann ich nicht leben“

Dicke Autos

KINDERARZT – EIN FINANZIELL UNATTRAKTIVER BERUF

Die lange Suche nach dem Kinderarzt

Kaum Privatpatienten

1.000 Kinder pro Quartal

Nachwuchssorgen

ABZOCKE MIT „SELBSTZAHLER-TERMINEN“

Wartezeit: acht Wochen

„Den Andrang kanalisieren“

Ein Patient muss sich lohnen

Fehlende Kontrolle

TERMINSERVICESTELLEN – TEURER ROHRKREPIERER

Kräfte messen

Bock als Gärtner

Selbsttest

DAS MILLIONENGESCHÄFT MIT DEN ZAHNSPANGEN

Zahlbar aus eigener Tasche

Aufgedrängte Leistungen

Nicht alles ist medizinisch sinnvoll

Immer mehr Kieferorthopäden

Lukratives Geschäft für Versicherer

WER DENKT NOCH AN DEN ÄRZTLICHEN BERUFSEID? – MEDIZINETHIKER KLAGEN AN

Hippokrates hatte es leicht

Scheitern an den Sachzwängen

Ein moderner Eid?

4 EINGELIEFERT – AUSGELIEFERT? WIE ES PATIENTEN IM KRANKENHAUS ERGEHT

EIN MÄDCHEN IST TOT – WEIL SICH EIN CHIRURG ÜBERSCHÄTZTE

Nur ein kleiner Eingriff

Keime

„Beinahe-Unfälle“ durch Unterbesetzung

Über-Ökonomisierung

Wenn Pfleger die Jobs von Ärzten machen

Drehtür-Patienten

Ehrgeizige Pläne

Massenweise Krankenhausbetten

Begrenzte Qualität

Auch schlechte Häuser müssen bezahlt werden

Verpfuschte OPs ausbügeln

Gute von schlechten Häusern unterscheiden? Schwierig!

Menge machen

Blutige Entlassung

Ein Arzt unter Druck

Man muss sich selbst schlau machen

TOTGEBURT KRANKENHAUSREFORM

Ein tödlicher Fehler

Das leere Versprechen von den zusätzlichen Pflegern

Kliniken schließen würde allen helfen

Reform-Versäumnisse

PRIVATZAHLER-STATIONEN STATT QUALITÄT FÜR ALLE

Patienten oder Kunden?

Ein Krankenhaus ist kein Hotel

Verplant

Alte Patienten bringen weniger

WARUM ES VON DER POSTLEITZAHL ABHÄNGT, OB EIN ARZT IHNEN DEN BAUCH AUFSCHNEIDET ODER NICHT

„Wer würde schon widersprechen?“

Spurensuche

Kein leichter Eingriff

Dicke Frauen?

O-Beine

VON BILLIGEN HÜFTEN UND MINDERWERTIGEN KNIEN: WARUM DER MARKT FÜR PROTHESEN IN DEUTSCHLAND KAUM REGULIERT IST

Eine Glaubensfrage

Laxe Regeln

Wirtschaftliche Interessen

Der Rolls-Royce unter den Hüften

WIE MAN EINE NEUE KRANKHEIT ERFINDET UND DARAN VERDIENT

Messwerte deuten

Schlechteres Befinden durch Früherkennung

Kassenschlager Cholesterinwert

5 VON ÄRZTEFUNKTIONÄREN UND FORSCHUNGSCLIQUEN

ÄRZTE UND PHARMAINDUSTRIE – EINE PROBLEMATISCHE VERQUICKUNG

Hoffnung für Todkranke

Warnung vor Nebenwirkungen

Am Tropf der Pharmaindustrie

Einfluss, Ansehen, Annehmlichkeiten

David gegen Goliath

Was wollen die Patienten?

SO KAUFEN SIE SICH EINE LEITLINIE

Richtig oder falsch ist relativ

Es gibt nur einen Hersteller

DER FISCH STINKT VOM KOPF HER: WIE DIE ÄRZTE-FUNKTIONÄRE, DIE UNSERE VERSORGUNG SICHERN SOLLEN, UNS OFT MEHR SCHADEN ALS NÜTZEN

Ochsentour zum Arzt

Konkurrenz-Abwehr

Auf die Finger geschaut

Ein Neurologe für 18.000 Menschen

Bürokratische Instrumente für politische Interessen

Hinter verschlossenen Türen

Schweigeallianz

Besitzstandswahrer

Internes Hickhack

WARUM MENSCHEN MIT SCHWEREN CHRONISCHEN SCHMERZEN IN DEUTSCHLAND OFT KEINEN ARZT FINDEN – UND WER DAVON PROFITIERT

Das Leben einer 80-Jährigen

Unrealistische Patientenquote

„Patienten müssen lernen, mit dem Schmerz zu leben“

KAMPF UM DEN PATIENTEN – AMBULANTE ÄRZTE GEGEN KLINIKEN

Der kranke Mensch als Einnahmequelle

Aktives Rekrutieren

Massenweise Fehldiagnosen?

6 SICH WEHREN STATT RESIGNIEREN

WIE KANN MAN SICH ALS PATIENT WAPPNEN?

Gefährlicher Informationsvorsprung

Informiert auftreten

WAS BRINGEN KRANKENKASSEN UND PATIENTENSCHÜTZER?

Zweitmeinungsverfahren

Patientenschützer und –informanten

BRAUCHEN WIR EIN ANDERES GESUNDHEITSSYSTEM?

Großer Wurf

Nord-Süd-Gefälle

Datenschutz als höchstes Gut

Zustände wie bei den Briten

Abhängig vom ärztlichen Gewissen

Blaupause Großbritannien?

DANK

LITERATURVERZEICHNIS

KAPITEL 1

PATIENT GEGEN GELDUMSCHLAG

WARUM MAN SEINEM ARZT NICHT BLIND VERTRAUEN SOLLTE

Es ist ein kalter Herbstabend, draußen regnet es. Seit zwei Stunden sitzt Marius Kleisner in seinem Auto, einem unauffälligen dunklen Kleinwagen, und fröstelt. Der Privatdetektiv wechselt sich seit einer guten Woche jeden Abend mit zwei Kollegen ab, um einen renovierten Altbau in einem der gehobenen Stadtteile von Frankfurt am Main im Blick zu behalten. Die beschattete Bewohnerin ist Ärztin mit einem gut bezahlten Spezialgebiet. Sie ist Radiologin. Doch Kleisners Auftraggeber halten die Frau für eine Straftäterin.

Es dämmert bereits, als die Ärztin ihre Wohnung verlässt, in ihren Geländewagen steigt und losfährt. Kleisner folgt ihr in unauffälligem Abstand. In den folgenden beiden Stunden dreht sie eine Runde durch mehrere Orte im Frankfurter Speckgürtel: Bad Homburg, Königstein, Kronberg. An mehreren großzügigen Einfamilienhäusern macht sie halt. Kleisners Recherche wird später ergeben, dass hier Orthopäden und Internisten leben. Der Privatdetektiv greift zum Fotoapparat und dokumentiert, was er nun beobachtet: An jeder dieser Stationen holt die Ärztin einen Briefumschlag aus ihrer Handtasche, wirft diesen Umschlag in den Briefkasten, schaut sich noch einmal vorsichtig um, geht dann schnellen Schrittes zu ihrem Auto zurück und fährt weg. Auffällig ist: Die Szene spielt sich zum Monatsende ab.

Marius Kleisner, der eigentlich anders heißt, und seine Kollegen arbeiten für das Frankfurter Ermittlungsbüro KDM Sicherheitsconsulting. Eine Firma, die sich darauf spezialisiert hat, in Fällen von Wirtschaftskriminalität zu recherchieren. Für gewöhnlich sind die Auftraggeber Unternehmen, die Betrug in den eigenen Reihen oder Korruption von Konkurrenten vermuten. Der Chef der Ermittler ist Klaus-Dieter Matschke – ein ehemaliger Kriminaloberrat. In seiner Detektei arbeitet ein gutes Dutzend Ex-LKA-Ermittler, Zollfahnder und Verfassungsschützer. Immer wieder, erzählt Matschke, kommen seine Aufträge seit ein paar Jahren aber aus einem anderen Bereich: dem Medizinbetrieb. Krankenkassen engagieren ihn und seine Kollegen zum Beispiel, um Abrechnungsbetrug aufzudecken: von Krankenhäusern, die nicht erbrachte Leistungen bei den Kassen abrechnen. Oder ambulanten Pflegediensten, die den Pflegeversicherungen vorgaukeln, Senioren zu pflegen – die tatsächlich aber gar nicht pflegebedürftig sind.

Die Beschattung am nasskalten Herbstabend aber, und das ist ungewöhnlich, hat ein Mediziner selbst bezahlt. Ein anderer Radiologe hat die Detektei engagiert. Er will sich gemeinsam mit einem Berufskollegen in Neu-Isenburg südlich von Frankfurt mit seiner eigenen Praxis niederlassen. Das aber ist eine teure und riskante Investition: Um eine radiologische Praxis einzurichten, müssen die beteiligten Ärzte je nachdem, welche Technik sie anschaffen – etwa Geräte für Magnetresonanztomografie (MRT) oder Computertomografie (CT) – mit Anlaufkosten von deutlich über einer Million Euro rechnen. Geld, das nur dann per Darlehen nach und nach abgezahlt werden kann, wenn genügend Patienten in die Praxis kommen. Der Radiologe, der seine Firma damals beauftragte, erzählt Matschke, hat während seiner Gründungsplanung jedoch Hinweise erhalten, dass sein Businessplan nicht aufgehen könnte. Denn es soll im Großraum Frankfurt zwei andere radiologische Praxen geben, die sich mit unlauteren Mitteln ihre Kundschaft besorgen. Die Rede ist in diesen Hinweisen von Kick-back-Zahlungen an andere Arztpraxen, die ihnen Patienten zuführen. Jedes Mal, wenn ein Kranker in einer der beteiligten Orthopädie- oder Internistenpraxen eine Überweisung zum Radiologen brauche, werde eine der beiden radiologischen Einrichtungen empfohlen. An sich sind solche Empfehlungen nicht verwerflich – sofern der überweisende Arzt überzeugt ist, dass der empfohlene Mediziner außergewöhnlich gut arbeitet. Fließt jedoch dafür Geld, ist es eine Straftat.

Die Ermittler sollen nun helfen, diesen Verdacht zu erhärten. In den kommenden Monaten lassen sie sich Termine bei den in Verdacht stehenden „Partner-Praxen“ geben und hören sich an, wie deutlich die Mediziner und deren Sprechstundenhilfen die Patienten zum Besuch bestimmter Radiologenpraxen drängen. Tatsächlich erleben sie dort handfeste Beeinflussungen: „Wir empfehlen Ihnen, die Röntgenaufnahmen bei dieser speziellen Radiologiepraxis machen zu lassen“, hören sie immer wieder. Und damit nicht genug: „Wir rufen gleich mal an und machen einen Termin für Sie aus.“

Bis dahin klingt das nur nach einer überzeugten Empfehlung und Service am Patienten. Um zu beweisen, dass für diese Empfehlungen auch Geld fließt, beschließen die Ermittler, auch die im Verdacht stehende Radiologin zu observieren – und beobachten schließlich, wie sie die Umschläge einwirft. Dass sich darin Geldscheine befinden, sagt Ermittler Matschke, habe man auch feststellen können – weil manchmal Umschläge versehentlich neben den Briefkasten gefallen und dabei aufgeplatzt seien – wie es wohl im Detektiv-Jargon heißt.

Ärzte-Bestechung in bar und mit persönlicher Zustellung: Solche Fälle sind ein Grund für dieses Buch. Es scheint, als nehme eine wachsende Zahl an Ärzten es mit ihrem ärztlichen Berufsethos nicht mehr so genau. Wer im Gesundheitssystem recherchiert und in die Niederungen des Praxiswesens, der Krankenhausstrukturen und der ärztlichen Selbstverwaltung eintaucht, der stellt fest: Im Medizinbetrieb ist häufig nicht mehr nur die bestmögliche Versorgung des Patienten das Ziel. Im Fokus einiger Mediziner steht stattdessen offenbar, möglichst viel aus dem Patienten, der sich ihm und seiner Fachkenntnis anvertraut hat, herauszuholen. Teils geschieht das mit rechtlich lauteren, aber moralisch fragwürdigen Methoden. Teils geschieht es auch mit illegalen, teils hoch komplizierten Tricks.

Das Phänomen zeigt sich beispielsweise in dem Trend, dass Patienten in der Arztpraxis unnötige Selbstzahler-Leistungen aufgeschwatzt werden. Es geht weiter mit kleinen Betrügereien: Kranke zahlen in der Klinik Aufpreise für eine vermeintlich luxuriösere Versorgung, die dann aber gar nicht geleistet wird. Niedergelassene Ärzte stellen gesetzlich Versicherten Rechnungen für Leistungen, die ihnen bereits die Krankenkasse bezahlt hat. Sie kassieren ganz plump doppelt ab. Andere lassen Kassenpatienten Eintrittsgelder für ihre Arztpraxis zahlen: Sie vergeben sogenannte Selbstzahler-Termine, mit denen man deutlich schneller drankommt als ein anderer gesetzlich Versicherter, der sich diese Sonderzahlung nicht leisten kann.

Manchmal aber geht die Geschäftstüchtigkeit noch deutlich weiter – so weit, dass sie die Gesundheit der Patienten gefährdet. Im Laufe der Recherchen für dieses Buch und zuvor für Zeitungsartikel, die in der Welt am Sonntag erschienen sind, kamen viele Beispiele dafür zusammen. Da ist …

… der Augenarzt, der trotz zitteriger Hände weiteroperiert und dadurch Kunstfehler am laufenden Band produziert – was schon einige seiner Patienten das Augenlicht gekostet hat.

… der Chirurg, der sich selbst überschätzt und an Patienten Operationen durchführt, die er zuvor noch nie gemacht hat.

… der Gynäkologe, der aus finanziellen Erwägungen und aus Bequemlichkeit Babys per Kaiserschnitt zur Welt bringt und dafür die werdenden Mütter ohne Not auf den OP-Tisch legt.

… und der Orthopäde, der Knie und Rücken operiert, obwohl diese Verletzungen genauso gut von selbst heilen könnten. Dabei nehmen er und seine Berufskollegen, die es ihm gleichtun, in Kauf, dass bei diesen unnötigen Eingriffen manchmal Menschen sterben.

Es gibt auch einflussreiche forschende Mediziner, die eine ganze ärztliche Fachrichtung maßgeblich beeinflussen, gleichzeitig aber mit der Pharmaindustrie verstrickt sind. Sie haben die Macht zu verhindern, dass alternative, pharmaunabhängige Therapien erforscht werden, die todkranken Patienten vielleicht helfen könnten – und diese Macht scheinen sie zuweilen auch auszunutzen.

Und dann sind da noch die Ärztefunktionäre, die maßgeblich darüber bestimmen, wie viele Arztpraxen sich wo im Land niederlassen dürfen. Ihnen hat der Gesetzgeber die verantwortungsvolle Aufgabe übertragen, die bestmögliche Versorgung der Patienten im Land mit Ärzten sicherzustellen. Stattdessen tun sie aber immer wieder das Gegenteil davon: Sie begrenzen zum Beispiel die Zahl der Ärzte, um denen, die schon eine Praxiszulassung haben, ihre Kundschaft zu sichern. Das Kuriose: Für diese Arbeit werden die Funktionäre an der Spitze der ärztlichen Selbstverwaltung großzügig entlohnt, einige von ihnen verdienen deutlich mehr als die Bundeskanzlerin. Ihr Einkommen aber stammt zum großen Teil aus Beiträgen gesetzlich versicherter Patienten.

Setzt man all diese Puzzleteile zusammen, formt sich ein recht eindeutiges Bild vom Zustand unseres Medizinbetriebs: Seinem Arzt kann man nicht mehr blind vertrauen. Seit ein paar Jahren haben die Medien dieses Thema für sich entdeckt. In Zeitungsartikeln, Fernsehberichten und Büchern haben Journalisten immer wieder über die ungesunden Auswüchse des Gesundheitssystems berichtet, das die Patienten eigentlich heilen sollte – sie tatsächlich aber viel zu häufig kränker macht als zuvor. Oder ihnen zumindest Geld aus der Tasche zieht. Allerdings geht es in diesen Berichten in der Regel um ein Versagen des Systems an sich: Verantwortlich gemacht werden für gewöhnlich entweder der Gesetzgeber, der es nicht hinbekommt, ein Regelwerk zu schaffen, das es unmöglich macht, sich als Arzt auf unrechte Weise zu bereichern. Oder die Krankenkassen, die mit ihrer strikten Sparpolitik niedergelassene Ärzte und Krankenhäuser – wie Letztere sagen – derart gängeln, dass ihnen kaum etwas andere übrig bleibe, als bei der Abrechnung den Kassen gegenüber „kreativ“ zu sein. Nur so, lautet dann die Argumentation, lohne sich das Geschäft überhaupt noch. Die Verantwortung wird letztlich überall anders gesucht – nur nicht bei den Medizinern selbst.

Zeit für die Frage: Was ist aus dem ärztlichen Berufsethos geworden?

Das Berufsverständnis der Ärzte beruht auf dem Eid des Hippokrates, eines Arztes, der rund 400 Jahre vor Christus auf der griechischen Insel Kos lebte. Die Richtlinien, die er sich selbst und seinen Kollegen auferlegte, gelten als die erste Grundlage, an der Mediziner ihr Wirken ausrichteten. Sie besagten unter anderem, dass man Kranken nicht schaden darf. In Deutschland legen Ärzte zwar keinen Schwur ab, wenn sie ihre Approbation erhalten, auch wenn es an einigen Universitäten Gelöbnisfeiern gibt. Doch das dort Gesagte hat keine Rechtswirkung. Dennoch gilt der ärztliche Berufseid als grundsätzliche Richtlinie für Mediziner in Gewissenskonflikten: Darf ich einem Patienten eine Leistung verkaufen, die er gar nicht braucht? Darf ich ihn zu einem chirurgischen Eingriff überreden, der nicht zwingend nötig ist? Die Antwort ist in vielen Fällen lapidar einfach.

So weit die Theorie. Praktisch nämlich spielen heute im Alltag der Mediziner häufig auch noch ganz andere Überlegungen eine Rolle: Wie schaffe ich es, genügend gesetzlich Versicherte in meine Praxis zu holen, um mein Honorarbudget bestmöglich auszuschöpfen? Wie bekomme ich es hin, möglichst viele Patienten mit meinem neu angeschafften Gerät zu untersuchen oder zu behandeln, damit es sich schon bald amortisiert hat? Wie verkaufe ich möglichst viele Selbstzahler-Leistungen? Und wie überzeuge ich Privatpatienten, ausgerechnet in meine Praxis zu kommen? Wie schaffe ich es, am Monatsende die Raten für meinen Bankkredit abzubezahlen, den ich für meine Praxisübernahme aufnehmen musste – und gleichzeitig genug Geld auf die Seite zu legen und so meine Familie abzusichern, sollte mir als selbstständigem Unternehmer etwas zustoßen? Eine Arztpraxis zu führen ist eben, neben allen moralischen Selbstansprüchen, die ein Mediziner an sich stellen mag, am Ende des Tages: ein Business.

Zwar war das schon immer so – doch es scheint, als habe sich die Wahrnehmung dieser Tatsache in den vergangenen paar Jahren verändert. Als sei der Anspruch vieler Ärzte heute eher, das von ihnen betriebene Geschäft müsse sie nicht nur versorgen, sondern auch reich machen. Das zumindest meinen diejenigen unter den Medizinern, die über die Moralvorstellungen dieses Berufsstands wachen: die Medizinethiker. In den vergangenen zwei, drei Jahren sind prominente Stimmen unter ihnen lauter geworden, die eine zunehmende Ökonomisierung des Gesundheitswesens beklagen. Unter ihnen ist der renommierte Freiburger Professor für Medizinethik Giovanni Maio, der eine in der Branche heftig diskutierte Streitschrift veröffentlichte. Wie kann es sein, fragt Maio, dass ein vom Grunde her soziales System wie das Gesundheitswesen – in dem es eigentlich vorrangig darum gehen müsste, die Schwächsten unserer Gemeinschaft, also Kranke und Pflegebedürftige, zu unterstützen – zu einem Wirtschaftszweig geworden ist, in dem dieselbe Denke herrscht wie in der Versicherungsbranche, der Automobilbranche oder der für Damenoberbekleidung? Dass es dort darum geht, Gewinne zu erzielen, sie abzuschöpfen und – was etwa für große Krankenhaus- und Pflegekonzerne gilt – an Investoren auszuschütten und sie so dem Gesundheitskreislauf zu entziehen, wo sie doch dringend gebraucht würden?

Das Ergebnis dieser Gewinn-Denke ist nämlich dies: Das Vertrauensverhältnis zwischen dem Behandelnden und dem Patienten, der sich vertrauensvoll in seine Hände begibt, scheint momentan nachhaltig Schaden zu nehmen. Dass dem so ist, zeigt etwa eine Umfrage der Beratungsfirma Accenture, die Anfang 2016 veröffentlicht wurde: Mehr als zwei Drittel der 2.000 befragten Patienten sagten, sie fühlten sich von ihrem Arzt nicht gut betreut oder sogar alleingelassen. Das galt vor allem für jene, die schwere Krankheiten wie Krebs, Diabetes, Rheuma oder Bluthochdruck haben und somit stärker als grundsätzlich Gesunde von ihren behandelnden Medizinern abhängig sind.

Unter dem zunehmend zerrütteten Verhältnis leiden aber all jene Ärzte – sicher der überwiegende Teil aller Mediziner im Land –, die ihren Beruf redlich ausüben. Die das Wohl ihrer Patienten im Blick haben, sich für deren bestmögliche Versorgung tagtäglich aufreiben und sich damit am Ende womöglich keine goldene Nase verdienen. Für sie alle macht es eine kleine Gruppe von Berufskollegen, die durch Betrügereien, durch Abzocke und durch das Ausnutzen des Vertrauens der Patienten, die sich auf ihre Expertise verlassen haben, unendlich schwerer.

Eine kleine Gruppe schwarzer Schafe in der Branche hat den Zeitgeist nachhaltig beeinflusst: Ging noch die Generation unserer Großeltern, vielleicht auch unserer Eltern, vorbehaltlos und mit grenzenlosem Vertrauen in die Respektsperson „Doktor“ in die Arztpraxis oder in die Klinik, scheint sich in der Generation der 50-Jährigen und abwärts eine von gesundem Misstrauen geprägte Haltung ausgebreitet zu haben – und das zu Recht. Anstatt sich auf die Empfehlung des ersten besuchten Mediziners zu verlassen, fordern Patienten immer häufiger eine Zweitmeinung ein – was dazu geführt hat, dass der rechtliche Anspruch darauf mittlerweile gesetzlich verbrieft ist. Immer häufiger holen sich skeptische Patienten auch Beratung von Verbraucherzentralen oder Patientenrechts-organisationen, um ihre Rechte zu überprüfen. Beides sind positive Entwicklungen, die dazu beitragen dürften, das Machtungleichgewicht auszugleichen – zwischen dem Arzt, der in den Körper des Patienten „hineinschauen“ kann, und dem Patienten, der dem Mediziner mehr oder weniger glauben muss, was dieser ihm über den eigenen Körper erzählt.

So positiv diese Entwicklungen im Sinne des Verbraucherschutzes jedoch auch sein dürften: Sie werden nicht vollständig verhindern können, dass auch in den kommenden Jahren solche, die das System auf unlautere Weise für ihre Zwecke ausnutzen wollen, immer neue Schlupflöcher für Betrügereien finden werden. So wie die Radiologin aus Frankfurt am Main, die ihre Kollegen offenbar mit Geldumschlägen versorgte.

Das Gesundheitssystem funktioniert offenbar an vielen Enden wie ein Schachspiel: Auf der einen Seite des Tisches sitzen diejenigen, die Gesetze erlassen, um Korruption zu verhindern. Auf der anderen Seite jene, an die sich diese Gesetze richten, also Ärzte, Krankenhausmanager, Apotheker oder Labortechniker – die mit allerlei Tricks versuchen, ebendiese rechtlichen Handlungsbedingungen zu ihrem eigenen Vorteil zu umgehen. Jedes Mal, wenn der Gesetzgeber einen Schachzug macht und eine Lücke für Abrechnungsbetrug oder Bestechung schließt, öffnet sich dadurch eine andere. Und wer die kriminelle Energie hat, diese Lücken aufzuspüren und sie zu seinen Zwecken zu nutzen, der schafft das auch. Denn die Kontrollen durch Aufsichtsbehörden und ärztliche Selbstverwaltung sind an vielen Stellen lasch – deutlich lascher, als man es für einen Zweig des öffentlichen Lebens erwarten würde, in dem es im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod geht.

KAPITEL 2

BESTECHLICHE HEILER

WARUM DIE VERBRECHENSBEKÄMPFUNG SO SCHWIERIG IST

Frust bei der Polizei

Am Stadtrand von Wiesbaden, in einem streng bewachten, schmucklosen Gebäudekomplex, arbeitet eine der wichtigsten Behörden zur Verbrechensbekämpfung: das Bundeskriminalamt (BKA). Eine Abteilung befasst sich mit Wirtschaftskriminalität, also mit all jenen Delikten, bei denen Bürger oder Staat in großem Umfang um Geld geprellt werden. Kurz: Betrug.

Zur Arbeit der Ermittler gehört es auch, Betrügern aus dem Gesundheitswesen auf die Schliche zu kommen. Die Fälle, die bei den Beamten auf dem Schreibtisch landen, haben es in sich. Alles ist dabei, von Medikamentenfälschung über Bestechung bis hin zu Abrechnungsbetrug. Die Täter im Visier der BKA-Ermittler sind Betreiber von ambulanten Pflegediensten, Laborinhaber und Ärzte. Mehrere Hundert Ermittlungsverfahren werden im Jahr 2016 bundesweit gegen Mediziner geführt. Die Beschuldigten sollen zu Unrecht Geld der Sozialkassen abzweigen, anderen wird vorgeworfen, sich gegenseitig zu bestechen oder sich von Pharmafirmen korrumpieren zu lassen. Die Ermittler tragen in Wiesbaden und in den Landeskriminalämtern im ganzen Land Berge von Belegen dafür zusammen.

Und dennoch, sagt ein hochrangiger BKA-Ermittler, komme es nur in einem Bruchteil der Fälle zu Verurteilungen. Schuld, sagt er, sei vor allem die Organisation der Staatsanwaltschaften. Es gebe ein generelles Problem im Gesundheitswesen, erklärt er. Die Ermittlungsergebnisse, die er und seine Kollegen zusammentragen, würden häufig versickern, weil die Staatsanwaltschaften völlig überlastet seien. In vielen Fällen werde deshalb überhaupt keine Anklage erhoben, selbst wenn Beweise für Betrug vorliegen. In anderen Fällen geschehe erst Jahre später etwas. In dieser Zeit, sagt der Ermittler, könnten Betrüger zum großen Teil unbehelligt weiter ihrem Geschäft nachgehen.

Dazu komme ein weiteres Problem: Ein durchschnittlicher Staatsanwalt muss sich mit der gesamten Bandbreite des Verbrechens befassen. Er kennt sich gezwungenermaßen überall ein bisschen aus, nirgendwo aber wirklich. Bekommt er nun einen Fall von Abrechnungsbetrug auf den Tisch, muss er sich erst einmal einlesen. Ein langwieriges und wenig Erfolg versprechendes Unterfangen. Korruption im Gesundheitswesen, sagt der BKA-Mann, habe ganz einfach in vielen Bundesländern keine Priorität bei der Strafverfolgung, und deshalb gebe es dort viel zu wenige Staatsanwälte, die sich mit Korruption im Gesundheitsbereich auskennen. In jedem Satz des Ermittlers schwingt seine Frustration darüber mit.

Nur wenige Bundesländer haben das Problem angegangen und in den vergangenen Jahren Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Korruption im Gesundheitswesen eingerichtet. Die Idee dahinter: Die Staatsanwälte sind Spezialisten und beschäftigen sich täglich mit Abrechnungsdaten aus dem Gesundheitswesen wie der Buchführung von Pflegediensten oder den Abrechnungssystemen der Kassenärztlichen Vereinigungen – und können daher aus dem komplizierten Datenmaterial leichter erkennen, ob alles mit rechten Dingen zugeht.

Ein Leben für die Korruptionsbekämpfung

Einer dieser Experten, von denen es in Deutschland nur wenige gibt, sitzt in Frankfurt am Main. Alexander Badle, Oberstaatsanwalt, ist einer der renommiertesten Ermittler bei der Verfolgung von Betrugsdelikten im Gesundheitswesen. Badle arbeitet im obersten Stockwerk der Generalstaatsanwaltschaft an der belebten Frankfurter Einkaufsstraße Zeil. Sein Büro erinnert von der Einrichtung her an eine Zweitwohnung: Schräg gegenüber dem Schreibtisch steht ein antiker Kleiderschrank aus poliertem Edelholz, daneben eine Garderobe mit bodentiefem Spiegel. Es gibt einen großen Flachbildfernseher, einen Lautsprecher für Musik und einen Sessel zum Entspannen. Wahrscheinlich muss das Büro so komfortabel ausgestattet sein, weil der Staatsanwalt einen großen Teil seines Lebens hier verbringt. Häufig schreibt er noch spät am Abend dienstliche E-Mails.

Badle hat viel zu tun: Er ist für die Verfolgung von Korruptionsdelikten im Gesundheitswesen in ganz Hessen zuständig. Die Straftäter, gegen die er ermittelt, sind meistens Ärzte; immer wieder aber auch Apotheker oder Laborbetreiber. Letztendlich sei ein Maßstab für die Beurteilung der Arbeit der Generalstaatsanwalt in Frankfurt am Main auch eine Kosten-Nutzen-Rechnung, sagt Badle: Wie viel Geld schaffen wir ins System zurückzuholen? 2014, sagt er, sei ein extrem gutes Jahr gewesen. Damals habe seine kleine Zentralstelle acht Millionen Euro durch ihre Ermittlungsverfahren gegen Ärzte und andere Tatverdächtige eintreiben können. Auch 2016 scheine wieder sehr gut zu laufen.

Bis vor Kurzem, erzählt er bei einem Kaffee in seinem Büro, war auch Abrechnungsbetrug in der ambulanten Altenpflege eines der Delikte, die er und seine Kollegin hier zentral für ganz Hessen verfolgten. Damit sei jedoch seit Kurzem Schluss. „Wir schauen uns regelmäßig an, wie viel Aufwand die Verfolgung bestimmter Delikte für uns bedeutet und welchen Ertrag sie bringt – das heißt: wie viel Geld die Straftäter im Falle einer Verurteilung an die Sozialsysteme zurückzahlen müssen.“ Ambulante Pflegedienste seien einfach kein lohnendes „Geschäft“ für seine spezialisierte Einheit, erklärt Badle weiter. „Diese Dienste machen ihre gesamte Logistik, also ihre Personaleinsatzplanung, ihre Tourenpläne und Leistungsdokumentation, in der Regel auf dem Papier. Das bedeutet, dass man alles händisch durchforsten muss. Das ist extrem aufwendig.“

Die Beträge, um die es geht, stünden oft in keinem angemessenen Verhältnis zu diesem Aufwand. „Da geht es typischerweise um Betrugssummen von vielleicht 20.000 Euro im Untersuchungszeitraum. Wenn wir da mehrere Jahre Arbeit reinstecken, ist das einfach ineffizient.“ Deshalb würden diese Delikte in Zukunft wieder bei den neun hessischen Staatsanwaltschaften bearbeitet. Dort machen das allerdings keine Experten. Daher ist die Gefahr groß, dass die Straftaten nicht optimal verfolgt, aus Zeitmangel möglicherweise sogar eingestellt werden – und Abrechnungsbetrug in der Pflege zum Kavaliersdelikt ohne Drohkraft für potenziell betrügerische Betreiber verkommt. Das weiß auch Badle. „Aber man muss diesen Sachverhalt im Verhältnis zu unserer personellen Ausstattung in den Staatsanwaltschaften sehen. Wir machen hier permanent Mängelverwaltung.“ Der Generalstaatsanwaltschaft sei nichts anderes übrig geblieben als „die Notbremse zu ziehen“ und diese vergleichsweise kleinen Delikte an die Generalisten zurückzuverweisen.

Luftrezepte

Die Spezialisten für Gesundheitskorruption brauchen ihre Arbeitskraft für weit größere Betrugsfälle – und auch an diesen besteht kein Mangel. Die größten Geldsummen würden derzeit von Apothekern aus dem Sozialsystem abgezogen, erzählt er. Meistens machen diese demnach Geschäfte mit sogenannten „Luftrezepten“. Sie reichen bei den Krankenkassen Rezepte für Medikamente ein, die in Wahrheit aber nie über die Ladentheken gegangen sind. Da sie die fraglichen Arzneien nie gekauft haben, streichen sie das gesamte Geld, das ihnen die jeweilige Krankenkasse zahlt, als Gewinn ein – nach Abzug der Steuern. Besonders lohnend und deshalb auch entsprechend verbreitet ist das bei Krebs- und HIV-Medikamenten. Diese Betrugsform, erklärt Badle, hat vielfältige Formen. Eine Masche ist, sich einen Patientenstamm aufzubauen, der ebenfalls über kriminelle Energie verfügt. Diese Patienten, meist 20 bis 30 pro Apotheke, lassen sich bei Ärzten gezielt Rezepte ausstellen. Diese übergeben sie dem Apotheker, ohne dafür jedoch die entsprechende Arznei zu erhalten. Von dem Geld, das die Krankenkasse zu Unrecht gezahlt hat, bekommt der Patient vom Apotheker eine Provision.

Es gibt aber auch Patienten, die Rezepte komplett fälschen – was jedoch eine ziemlich plumpe Masche ist, die bei den Kassen schnell auffliegt. Schließlich sind dafür nur ein paar Anrufe bei den entsprechenden Ärzten notwendig. Die Prüfer der Krankenkassen lassen sich bei solchen Verdachtsfällen zuweilen die Lieferscheine der Pharmahändler an die Apotheker zeigen. Doch auch diese Kontrollversuche umgehen einige findige Apotheker. Sie lassen sich die fraglichen Medikamente in diesem Fall tatsächlich zunächst schicken und bekommen so den Lieferschein. Dann aber schicken sie die Waren per Retoure an den Lieferanten zurück – und bekommen von diesem die Einkaufskosten komplett erstattet.

Einer der größten derartigen Fälle, die Badles Abteilung in den letzten paar Jahren bearbeitet hat, verlief so: Eine Ärztin und ein Apotheker, beide aus Frankfurt am Main, machten gemeinsame Sache. Die Allgemeinmedizinerin hatte über Monate hinweg auf die Namen von Patienten aus ihrer Kartei relativ wahllos Rezepte ausgestellt. Die Patienten wussten von nichts. Die Rezepte, insgesamt ging es um mehrere Tausend Stück, brachte der Lebensgefährte der Ärztin regelmäßig beim Apotheker vorbei. Dieser reichte sie bei der Krankenkasse ein. Die Kassen – und somit die Allgemeinheit – wurden dadurch den Ermittlungen zufolge um etwas mehr als 1,6 Millionen Euro betrogen. Der Betrug fiel schließlich über Hinweise von Kassenmitarbeitern auf. Schon im Jahr 2009 ging die Anzeige bei der Staatsanwaltschaft ein. Doch das Ermittlungsverfahren war derart umfangreich, dass erst im Frühjahr 2016 Anklage erhoben wurde.

In einem ähnlichen Verfahren, das Badle zuvor bearbeitet hat, umfasste die Anklageschrift 300 Seiten. Darin waren Seite um Seite Einkaufslisten abgedruckt. Denn, wie der Staatsanwalt erklärt: Um den Betrug im großen Stil nachweisen zu können, mussten die Frankfurter Ermittler erst einmal eine geeignete Ermittlungsmethode entwickeln. Jeden einzelnen Patienten anzuschreiben und zu fragen, ob er das fragliche Medikament überhaupt bekommen hat, wäre deutlich zu aufwendig gewesen.

Deshalb kamen die Staatsanwälte auf die Idee, auf der „Makroebene“ zu ermitteln, wie Badle es nennt: Für 17 besonders hochpreisige Medikamente, mit denen der Apotheker einen Großteil seines Umsatzes gemacht hatte, ließen sie sich von den mehr als 300 Lieferanten der Apotheke die Lieferdaten kommen. Über ein eigens hierfür entwickeltes EDV-Programm glichen sie die Lieferantendaten mit den gegenüber den Krankenkassen abgerechneten Medikamenten ab – und konnten so über den untersuchten Zeitraum von fünf Jahren eine riesige Lücke nachweisen.

Trotz allen Aufwands wird im Verfahren um den Frankfurter Apotheker und die Allgemeinärztin die betrügerische Medizinerin wohl nicht belangt werden können. Denn sie hat sich bereits vor Jahren nach einem anderen Betrugsverfahren, das gegen sie lief, abgesetzt – vermutlich ins Ausland.

Vergebliche Liebesmüh?

War also all die Ermittlungsarbeit vertane Zeit? Staatsanwalt Badle meint: nein. „Bei unserer Arbeit geht es nicht nur darum, den einzelnen Straftäter zu belangen. Wir identifizieren gleichzeitig Sicherheitslücken im System, die Betrug erst möglich machen. Diese Lücken melden wir an die Krankenkassen zurück, die dann darauf reagieren und sie schließen können.“ Dafür, dass dies zu funktionieren scheint, hat er ein weiteres Beispiel. Es heißt „Depothaltung“. Vor ein paar Jahren hätten die Ermittler gemeinsam mit den Krankenkassen einen Trend beobachtet: Orthopäden machten mit Sanitätshäusern gemeinsame Sache, indem diese in den Praxisräumen der Ärzte ihre Waren deponierten. Zum Beispiel ging es dabei um Bandagen für Knie oder Handgelenke. Anstatt extra zum Sanitätshaus gehen zu müssen, bekam der Patient diese Hilfsmittel direkt in der Praxis. „Das war für die Patienten bequemer, und der Arzt bekam vom Sanitätshaus eine Provision“, sagt Badle. Gemäß den Verträgen der Ärzte mit den Kassen – und mittlerweile auch laut Sozialgesetzbuch – war dies allerdings verboten, denn es verschaffte dem jeweiligen Sanitätshaus einen unerlaubten Wettbewerbsvorteil. Nur in Notfällen, hieß es in den Verträgen mit den Kassen, dürfe ein Orthopäde solche Hilfsmittel direkt an den Patienten abgeben. Das Problem: Die betreffenden Ärzte gaben nun gegenüber den Kassen an, dass jeder dieser Fälle ein Notfall sei. „Das Beispiel zeigt, wie schwierig es für uns als Strafverfolgungsbehörde ist, hier systematische Verstöße gegen die Verträge und somit einen Schaden für die Sozialsysteme nachzuweisen“, sagt Badle.

Das Beispiel zeige aber auch, wie sich durch ein Zusammenwirken von Staatsanwaltschaft und Kassen eine illegale Geschäftspraxis letztlich unterbinden lasse. Die Staatsanwaltschaft riet den Kassen, in Zukunft ihre Verträge mit den Sanitätshäusern anders zu formulieren. Dort steht jetzt sinngemäß: „Bei Notfallversorgung mit Sanitätsprodukten durch Arztpraxen müssen die Sanitätshäuser den Kassen einen Preisnachlass von 20 Prozent gewähren.“ Allein diese Änderung machte diese Masche anscheinend so unattraktiv, dass man, wie Badle sagt, heute kaum noch davon hört. Und dort, wo solche Depots noch unterhalten würden, lasse sich ein Tatnachweis leichter führen: Man muss den Patienten nur noch fragen, wo er sein Hilfsmittel bekommen hat, im Sanitätshaus oder in der Arztpraxis? Hat er es in der Arztpraxis erhalten, der Orthopäde aber trotzdem gegenüber der Krankenkasse 100 Prozent abgerechnet, kann ein Betrug nachgewiesen werden. Dann komme es gar nicht mehr darauf an, ob es sich um eine Notfallversorgung gehandelt hat, erklärt Badle.

Privatpatienten abzocken

Gar nicht so selten ist dagegen noch immer die in der Einleitung zu diesem Buch beschriebene Betrugsmasche, bei der Orthopäden und Radiologen auf illegale Weise zusammenarbeiten und damit ihre Patienten betrügen, sagt der Strafverfolger. Allerdings geschehe es heutzutage meistens auf subtilere Weise als mit Geldumschlägen. Allein im Moment, im Frühjahr 2016, würden bei seiner Schwerpunktstaatsanwaltschaft zehn Ermittlungsverfahren gegen Gespanne aus Orthopäden und Radiologen laufen. Die Opfer seien jeweils Privatpatienten.