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NILS FRENZEL: „Warum ich IMMER NOCH lieber mit einem Bauarbeiter in der Badewanne liegen würde als mit einer Jura-Studentin“

2. überarbeitete und erweiterte Auflage, März 2017,

Periplaneta Berlin, Edition MundWerk

© 2015 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe

Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin

www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Lektorat: Marion A. Müller

Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-037-3

epub ISBN: 978-3-95996-047-2

Nils Frenzel

Warum ich immer noch Lieber mit einem Bauarbeiter in der Badewanne liegen würde als mit einer Jura-StudentiN

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Plan zur Rettung der Menschheit

In Zeiten wie diesen kann man schon mal an der Menschheit verzweifeln. Angefangen bei der Frau an der Kasse vor einem, die wirklich jeden von den fünfzehn Eierkartons einzeln auf das Band legt und der Kassiererin, die auch wirklich jeden Karton einzeln einscannt und dann auch noch nachschaut, ob auch wirklich jedes einzelne Ei in jedem einzelnen Karton intakt ist.

Und dann steh ich da und denk, ich hab Tinnitus und dabei piept es doch nur so, weil die Kassiererin so unendlich langsam ist, weil sie alles einzeln einscannt, anstatt einfach fünfzehnmal „Eier“ einzugeben. Und dann ist ein Ei kaputt gegangen und die Kassiererin beugt sich zu der Frau rüber, hält ihr das kaputte Ei unter die Nase und sagt: „Hey. Ihr Ei ist kaputt gegangen.“

Und dann steh ich da, mit meiner Tiefkühlpizza in der Hand und dann nehm ich mir noch den Spiegel mit, weil ich warten muss, und dann steht da wieder irgendwas von ISIS, NSA, CIA-Folterskandal, Pegida und dann denk ich mir nur ‚Boa, Alter, ist die Menschheit kaputt, die ganze Menschheit und nicht nur das eine Ei‘ und in diesen Supermarktmomenten, in denen ich von allem genervt bin, fällt mir immer nur eine Lösung zur Rettung der Menschheit ein: Schildkröten.

Schildkröten sehen gut aus, essen den ganzen Tag nur Salat und antworten nicht, wenn sie nach ihrer Meinung gefragt werden. Weil sie nicht reden können. Niemand würde jemals eine Schildkröte zu „Hart aber Fair“ einladen und diese nach deren Meinung zum Nahost-Konflikt befragen und selbst wenn, dann hätte die Schildkröte sicherlich die besten Argumente, nämlich gar keine, weil sie keine Ahnung hat und auch nicht reden kann. Und damit hat sie den meisten Menschen in Talkshows einiges voraus, nämlich ebenjenen, die immer eine Meinung, aber nie eine Ahnung haben.

Ich verstehe diesen ganzen Hundehalter-Hype nicht, wo es doch auch Schildkröten gibt. Hunde, was können die denn schon? Dummes Zeug nachmachen, das Menschen ihnen beibringen, nur damit diese sich daran erfreuen können, was sie ihrem dummen Hund wieder für dumme Sachen beigebracht haben.

„Ja toll, Bello, toll Sitz gemacht! Und, wer hat’s dir beigebracht, hm?! Das Herrchen, richtig! Ich bin ein gutes Herrchen, oder Bello?! Widersprich mir, falls ich falsch liege, oder mach Sitz, wenn ich recht habe. Bello, Sitz.“

Was soll das?!

Als eine Bekannte von mir von ihrem Freund verlassen wurde, hat sie sich als Erstes einen neuen Hund gekauft, wie ein Snickers am Automaten, auf das man gerade Lust hat. Sie ist ins Tierheim gegangen, hat auf einen Käfig gezeigt und gesagt: „Den da will ich haben!“ Und wie oft hört man von Hunden, die hobbymäßig Kinder auf Spielplätzen aufessen, einfach so, weil sie denken, das wäre ein Snickers. Schildkröten essen keine Kinder, sondern nur Salat.

Schildkröten sind sicher. Kein Land der Welt würde jemals einer Schildkröte vorwerfen, es habe biologische Massenvernichtungswaffen im Garten versteckt, nur um anschließend den Garten zu durchwühlen, um an den frischen Salat von der Schildkröte ranzukommen! Schildkröten haben nur einen Panzer.

Schildkröten provozieren nicht, sie malen keine Karikaturen und tragen keine Kopftücher. Keine traditionsbewusste, christliche Familie in Bayern muss Angst davor haben, dass ihr Kind jemals von einer Schildkröte mit einem Kopftuch unterrichtet wird und kein knackwurstessender, patriotischer Europäer muss Angst davor haben, dass eine Schildkröte ihm jemals den Job, die Rente oder ein Snickers wegnimmt. Und wenn Schildkröten mal ein Problem haben, machen sie genau das, was jeder gute Politiker weltweit macht, geht es um Folterberichte bei der CIA, NSU-Verbrechen oder um Pegida-Aufmärsche in Dresden: Die Schildkröte zieht den Kopf ein.

Warum gibt es weiße Friedenstauben?

Oh, welch Symbolik, denken sich alle, wenn die freigelassen werden und dann scheißen sie die Autos in der Innenstadt voll. Die Tauben, nicht die Menschen. Ich habe noch nie eine Schildkröte gesehen, die ein Auto angekackt hat. Von oben. Das machen die nicht. Das können die auch gar nicht. Schildkröten können nicht fliegen, aber das müssen sie auch gar nicht können, weil dann wären sie auch schon wieder zu krass und man müsste Gemälde von fliegenden Schildkröten in Kirchen aufhängen, um ihnen zu huldigen und ich glaube nicht, dass die katholische Kirche da mit sich reden lässt. Ich meine, die haben ja auch Frauen im Mittelalter verbrannt, nur weil sie rote Haare hatten, da hat doch bestimmt auch mal eine Frau mit roten Haaren gesagt: „Hey, Herr Bischof, ich verrat Ihnen mein kleines Geheimnis, ich bin gar keine Hexe und abgesehen davon, ist das ganze System, mit dem ganzen Wer-wird-verbrannt-und-wer-jetzt- nicht, doch schon ein bisschen willkürlich, oder etwa nicht?“

Und dann hat der Bischof gesagt: „Des basd schoa“, weil er wahrscheinlich Franke war, und hat den Scheiterhaufen errichten lassen. Es ist also nicht gerade realistisch, dass es in den nächsten Jahren Bilder von fliegenden Schildkröten in Kirchen geben wird.

Dabei ist der nächste logische evolutionäre Schritt in der Entwicklung der Menschheit zwangsläufig der Gang zur Schildkröte. Schildkröten stellen in unserer schnelllebigen, globalisierten Welt ein Gegengewicht dar.

Auch in puncto Beziehungen: Dann ist Schluss, nichts mehr mit Tinder und mit Bildern von Selfie-Schießenden – manche Rapper würden sagen: „Bitches“, beziehungsweise nichts mehr mit Bildern von unterhemdtragenden, posenden – manche Rapper würden sagen: „Discopumpern“, ich würd einfach nur sagen: „Vollidioten“, und dann das Bild nach unten rechts zum Herzchen wischen. Und auch nichts mehr mit „Browser im Inkognito-Modus aufmachen“ und Pornoseiten aufrufen, während die eigene Freundin gerade Salat, Snickers oder Hunde einkaufen ist. Nein. Schildkröten bleiben sich ein Leben lang treu. Ich weiß zwar nicht, ob das stimmt. Aber das mit den Hexen im Mittelalter hat ja auch nicht gestimmt und das war der Kirche dann im Nachhinein auch ziemlich egal.

Flamme drüber.

Gut, man könnte jetzt sagen: „Schildkröten sind eigentlich ziemlich langweilig, emotionslos, ungebunden und können eigentlich gar nichts.“ Das stimmt auch, aber immerhin sind sie ehrlich dabei.

Es ist dem Hund doch auch vollkommen egal, wer ihm sein Leckerli gibt, nachdem er Sitz gemacht hat, Hauptsache er bekommt’s, und der weißen Friedenstaube ist es noch viel egaler, dass alle denken: ‚Oh, wow! Welch Symbolik, eine weiße Friedenstaube!‘ Sie will einfach nur weg und in ihrer neugewonnenen Freiheit weiterhin Autos in der Innenstadt vollkacken!

„Zettel?“, fragt die Kassiererin mich und zerknüllt den Kassenbon, noch bevor ich antworten kann.

Auf dem Weg nach Hause knurrt mich ein Hund an. Schildkröten knurren nicht. Die essen den ganzen Tag nur Salat und sehen immer so aus wie Benjamin Button in seinen jungen Jahren, denke ich mir, während ich die Fertigpizza in den Ofen schiebe. Schildkröten sind eigentlich ganz coole Typen, stelle ich fest, setze mich auf den Balkon und schreibe einen Text über sie.

Eine weiße Friedenstaube fliegt vorbei …

… und scheißt mir auf den Kopf.

Bauarbeiter

Alter Falter – wäre ich gern mal Bauarbeiter.

Bauarbeiter sind stark, trinken Bier und schlagen abends ihre Frauen. Voll cool.

Fragt man einen Bauarbeiter, wie sein Tag so war, sagt er nichts anderes außer: „Ganz okay. Ich hab ein Haus gebaut!“

Voll cool.

Der kann dann auch im Neubaugebiet klingeln, wenn irgendeine Familie frisch eingezogen ist, und sagen: „Hey. Das Haus hab ich gebaut.“

Und dann steht da so ein kleines Kind, ungefähr fünf Jahre alt, im Türrahmen und sieht ihn mit großen, runden Augen an und fragt dann den Papa, ob das denn wahr sei. Und der Papa, der kann nichts anderes sagen, außer: „JA! Dieser Mann hat unser Haus gebaut. Und jetzt geh Kind, bring ihm ein Bier und deine Mutter.“

Alter Falter – wäre ich gern mal Bauarbeiter. Dann würde ich im Hochsommer oberkörperfrei am Bau stehen, arbeiten und wäre glücklich. Denn wenn man studiert, verschwendet man seine Lebenszeit damit, wissenschaftliche Texte zu lesen, die eh keinen interessieren, und gelangweilt in Seminaren ehemaligen Studenten zuzuhören, die es nicht über die Uni herausgeschafft haben und über wissenschaftliche Texte reden, die eh keinen interessieren. Und im Hörsaal tippen übermotivierte Erstsemestler sich die Finger wund, lauschen gebannt, obwohl sie der ganze Müll zwar eigentlich gar nicht interessiert, sich aber so ein Bachelor of Arts ganz gut in einem Lebenslauf macht. Jedenfalls besser als Öh … ich wollte studieren, hab aber gemerkt, lesen ist jetzt nicht so meins.

Im Gegensatz dazu sind Bauarbeiter Menschen, die das Leben auf der Straße noch kennen. Und auf Kreuzungen und Verkehrsinseln. Alles haben sie schon gesehen und schon so viel erlebt. Sie müssen kein Erasmussemester in Prag machen, um dann mit irgendwelchen tschechischen Studentinnen zu schlafen, um ihren Horizont mal zu erweitern. Straßen sehen eh überall gleich aus. Und wenn Bauarbeiter mal mit tschechischen Studentinnen schlafen wollen, dann gehen sie in den Puff. Weil Bauarbeiter das so machen! Und genau da treffen sie dann Vorstandsmitglieder von der ERGO oder NKD, die erröten, weil sie Frau und Kind zu Hause haben, und die sich für das schämen, was sie tun. Aber Bauarbeiter schämen sich nie. Wenn die Frau und Kinder haben, dann nehmen sie sie einfach mit. Und ich, ich bin ja schon damit überfordert, meinen Studentenausweis immer mitzunehmen.

Wenn man sich an der Uni auch mal die vollkommen überfüllten Hörsäle anschaut, wird einem unmissverständlich klar: Wir brauchen nicht noch mehr Studenten. Wir brauchen mehr Bauarbeiter. Mehr echte Kerle, die noch mit Lehm, Mörtel, Zement, Hammer und Akkuschrauber, statt mit Prezi arbeiten. Denen der Schweiß von der Stirn tropft, die schuften, die spitzkerbige Sägespäne tief in ihrer Hornhaut spüren, die sich anschreien und zurechtweisen, aber trotzdem zusammenarbeiten und -halten und die in der Mittagspause auf einem umgedrehten Kasten Bier noch Armdrücken machen, weil das ganze Testosteron ja irgendwohin muss. Bauarbeiter sind echte Kerle, ganz im Gegensatz zu mir.

Ich habe mal versucht, einen Ikea-Schrank zusammenzubauen. Das hat nicht funktioniert. Bauarbeiter würden darüber nicht einmal lachen, weil sie Ikea verachten. Pressholz – Pah! Schwule, schwedische Fertig-Bau-Scheiße für schwache Studenten, die ein Streichholz nur so lange hochhalten können, bis sie sich ihren Joint endlich angezündet haben. Denn kiffen, das können wir ja alle. Ein bisschen chillen und runterkommen vom harten Alltag. Ich hatte diese Woche auch schon drei Seminare. Ich weiß echt nicht, wo mir der Kopf steht.

So ein Quatsch. Unser Alltag ist überhaupt nicht hart. Wir hängen nur kiffend im Hofgarten rum und schauen heimlich tuschelnd Mädels im Bikini hinterher, wie alte Waschweiber. Jedenfalls mach ich das. Ein Bauarbeiter macht so was nicht. Der steht morgens im coolen Bauarbeiter-Outfit mit Helm, Zollstock und Hammer in der Hand am Bau und schaut Mädels stolz und offensichtlich hinterher und pfeift auch mal oder sagt so was wie Hey! Geile Sau. Und dann, dann baut er ihr ein Haus. Einfach so. Weil er es kann!

Und ich? Ich sitze in Seminaren wie „Wissenssoziologie“ und weiß nicht mal was das sein soll. Und sehe mir die ganzen anderen Deppen an, die den Kurs auch nur belegt haben, weil er um zwölf Uhr losging und Ausschlafen geil ist, die aber bei der obligatorischen Frage: „Und warum haben Sie dieses Seminar gewählt?“, sagen: „Ja, also Wissenssoziologie hat mich einfach schon immer interessiert. Schon seit dem Kindergarten.“

Die Uni ist verlogen.

„Meine Klausur war voll mies!“, sagen sie immer und haben dann doch eine 1,3. So was gibt es auf dem Bau nicht. Erstens, weil es keine Noten und zweitens, weil es keine Vergleiche gibt. Da arbeiten alle zusammen. Wenn einer versagt, dann sind alle dran. Das ist wahrer Teamgeist. Germany’s next Bauarbeiter – ich würde es mir angucken.

Wir haben zu viele Akademiker und zu wenig Bauarbeiter. Wir brauchen mehr Menschen die schaffen, anstatt Menschen, die sagen, dass sie etwas schaffen, weil sie nach ihrem sechssemestrigen International Business of Management-Baustellen-Facility-Bachelor denken, sie hätten auf der Baustelle was zu melden, obwohl die Lutscher noch nie zehn Stunden in der prallen Sonne gestanden haben und den Geruch von rostigen Nägeln nur von ihren perversen SM-Partys kennen! Wir brauchen mehr Männer mit Brustbehaarung und solche, die diese auch offensichtlich zeigen. Weniger McFit’s und Flatrate-Hochglanz-Fitnesstudios, dafür mehr Baustellen.

Euer Körper ist vielleicht vom Leben gezeichnet. Aber der eines Bauarbeiters, der ist gezimmert. Jeden Morgen, wenn ich die Baustelle vor meinem Haus sehe und die Männer schwitzend arbeiten, stelle ich mir vor, einer von ihnen zu sein, und manchmal, da träume ich auch von ihnen. Aber dann trau ich mich doch nicht, sie anzusprechen, um ihnen zu sagen, wie großartig sie sind, davor hab ich zu viel Angst.

Hätten wir keine Bauarbeiter, hätten wir keine Häuser und Straßen und Verkehrsinseln. Nichts hätten wir ohne sie, und die ganzen bescheuerten Studenten könnten auch keine Schilder mehr klauen, die sie dann auf total witzigen WG-Partys rumzeigen, ganz im Sinne von Hey, guck mal, ich hab ein Schild geklaut, da steht Betreten verboten drauf! Hihihihi.

Bauarbeiter sind attraktiv, weil sie produktiv sind. Ich würde lieber mit einem Bauarbeiter in der Badewanne liegen als mit einer Jurastudentin. Der kann doch vielmehr vom Leben erzählen. Und hat im Zweifelsfall auch größere Brüste.

Bauarbeiter verstehen sich einfach. Ich verstehe sie zwar überhaupt nicht, weil die Menschen in Franken so reden, als hätten sie ständig eine Mettwurst in der Fresse, aber allein ihre Aura sagt schon alles über sie und das Leben aus. Abgesehen davon. Jesus war ja auch Zimmermann. Was kann Gott also anderes sein, außer Bauarbeiter?

„Und Sie? Warum haben Sie dieses Seminar gewählt?“, reißt mich der Dozent aus meinem Tagtraum.

Ich blicke ihm tief in die Augen und sage: „Na, weil mich Wissenssoziologie immer schon interessiert hat.“

Mein Leben als Zivi

Immerhin hat er was mit der Hand gemacht

Die Musterung: Fremde Menschen fassen mich an und ich muss dabei husten. Ungewohnt, aber nicht unangenehm. Ich erzähle dem Arzt, dass auch ich gerne Menschen anfasse. Am liebsten intim. Ich sei jetzt nicht schwul oder so, nur eben neugierig. Und ich mag Uniformen. Und Ärzte. Und Kittel. Und Waffen. Waffen. Ich will in den Krieg. Für mein Vaterland, für Deutschland! Für Bundeswehrärzte, die mir an den Sack packen! Der Arzt durchschaut die Psycho-Nummer und hält mich für tauglich.

Mist.

So wurde ich schließlich Zivildienstleistender in einem Kinderheim und kutschierte neun Monate lang Speckis und Justins, Dustins und Muffins durch die Gegend. Die Speckis zur Garten-, die Dustins zur Burg- und die Justins zur Derletalschule. Die Muffins nirgends hin. Die aß ich einfach auf.

Der Job war eigentlich voll in Ordnung. Wir fuhren im Regelfall zu zweit, einer musste fahren und der andere versuchte, die Kinder festzuhalten, die das Prinzip des Anschnallens und ruhig Sitzenbleibens während der Fahrt zwar verstanden hatten, aber keine Anstalten machten, das Gelernte anzuwenden.

Manchmal kamen wir uns vor wie Feuerwehrmänner, die Verletzte aus einem brennenden Haus retteten. „Endlich seid ihr da, Zivis, Schule war derbst mies!“, wurden wir überschwänglich von den Kindern begrüßt und umarmt, die in unseren blauen Mercedes Vito flüchteten.

Manchmal kamen wir uns aber auch vor wie SEK-Beamte, die sehr sehr kleine Terroristen festnahmen. „Zivis fickt euch, ihr muttergefickten Fickficker! Lasst uns los, ihr Missgeburten“, begrüßten uns die Kinder an diesen Tagen.

Mit den Monaten stieg mein pädagogischer Ehrgeiz und ich versuchte, den Kindern auch etwas von mir mitzugeben, da meine Zeit mit ihnen ja auf neun Monate beschränkt war. Neun Monate. Der Zivildienst war somit etwas wie meine eigene Schwangerschaft und die ist ja immer etwas Besonderes.

Als ich Justin eines Abends zur Belohnung, weil er so ruhig gewesen war, Goethes Faust vorlas, stieß ich sehr schnell an meine pädagogischen Grenzen und er mir mit seiner Faust voll ins Gesicht.

„Naja, immerhin hat er was mit der Hand gemacht“, sagte die Erzieherin aus Haus Sieben stirnrunzelnd, die gerufen worden war, um den Konflikt zu lösen. Ich könne doch stolz darauf sein, dass er auf mich eingegangen sei und auf meine Aktion direkt reagiert hätte.

Pädagogen sind alle gleich: weich und schwul, so was gibt es bei der Bundeswehr nicht. Da sind alle hart und hetero. Wobei hart und hetero jetzt auch irgendwie schwul klingt. Nach einer Boyband, wo der Sänger Jay heißt. Wobei …, bei Boybands gibt es nur Sänger. Und alle heißen irgendwie Jay. Oder Jay Khan.

Als ich eines Morgens Haus Sieben betrat, hörte ich lautes Geschrei. Justin hatte Kekse aus Dustins Zimmer geklaut und sie gegessen, aber nicht ohne vorher Krümel auf Jennifers Bett zu verteilen, um daraufhin lautstark zu verkünden, dass sie die Kekse geklaut habe. Seine Argumentation war lautstark, aber inhaltsleer.

„Jennifer war es! Da sind Krümel auf ihrem Bett. Ich habe sie heute Morgen gesehen, wie sie sie geklaut hat.“

„Justin“, sage ich, „Justin. Jennifer ist in der Schule. DU nicht. DU hast Schulverbot. Die Krümelspuren führen aus Dustins Zimmer, wo die Kekse gelagert waren, in Jennifers Zimmer aber gehen dann weiter in dein Zimmer. Das ist wie bei Hänsel und Gretel. Nur umgekehrt.“

Justin war schockiert von meiner Analyse und wollte von nun an Detektiv werden. Ich klaute Muffins aus seinem Zimmer und beschuldigte dann Jennifer. Er kam nie darauf, wer der Dieb war. Aber irgendwie mochte ich sie alle doch sehr. Und mit den Monaten merkte ich, wie privilegiert mein eigenes Leben eigentlich immer gewesen ist.

Als ich ein Kind war, war meine größte Sorge, zu Weihnachten nicht das Spielzeug zu bekommen, das ich mir gewünscht hatte. Die Sorge der Heimkinder war, zu Weihnachten nicht die Eltern zu bekommen, die sie sich gewünscht hatten. Und die bekamen sie nie. Meistens war es eher Ritalin.

Meine Eltern fuhren mich nachmittags zum Schwimmtraining und holten mich wieder ab, wohingegen die Kinder aus dem Heim zum Anti-Aggressions-Training oder zur Psychologin geschickt wurden, um von ihren Alpträumen zu erzählen. Ich erzählte meinem Schwimmtrainer von meinen Weihnachtsgeschenken und die Heimkinder den Psychologen von den Träumen und Schatten der Nacht. Die Kinder dort hatten nichts, ich hatte als Kind alles.

Der Zivildienst war krass – nie habe ich mehr über das Leben gelernt. Wenn man vier Jahre lang in der Grundschule und neun Jahre lang im Gymnasium mit Kindern von Beamten, Lehrern, Zahnärzten oder gutbezahlten Angestellten spielt und dreizehn Jahre lang in einer intakten Familie lebt, dessen größte Sorge die Auswahl des abendlichen Fernsehprogramms ist, läuft man Gefahr, mit einem Tunnelblick durch sein Leben zu laufen.

Als wir ein Jahr nach dem Zivildienst Zivi-Treffen hatten und wir die ganzen alten Geschichten mit den Kindern wieder aufleben ließen, da fragten wir uns später am Abend nach einigen Bieren, ob die Kids eigentlich auch mal über uns reden. Über uns Zivis. Was wir so gemacht haben. Wie wir insgesamt drei Autos und eine Toreinfahrt kaputtgemacht, unzählige Male einzelne Kinder in den Schulen vergessen haben und nachmittags regelmäßig im Fernsehraum eingeschlafen sind. Und dann fiel uns auf, dass sie diese, ihre lustigen Geschichten kaum jemandem erzählen könnten, der sie nicht schon kennt. Weil sie, bis sie achtzehn Jahre alt sind, sowieso im Heim bleiben werden. Nach einer dieser unangenehmen Pausen, die sich nach solchen Erkenntnissen gern im Raum breitmachen, tranken wir alle unser Bier aus, verabschiedeten uns voneinander und gingen in unsere mittlerweile eigenen Wohnungen.

Irgendwann im Laufe der nächsten Monate hörte ich, als ich mit meinen Eltern Nachrichten sah, dass es den Zivildienst nun nicht mehr geben werde.

„Pech gehabt“, sagte mein Vater und sah mich an: „Wärst du ein Jahr später mit der Schule fertig gewesen, wärst du drum rum gekommen.“

Ich lächelte und sah ihn an. „Kein Pech“, erwiderte ich, „Glück gehabt.“

Rest in Papers

Nie wieder. Nie wieder werde ich mich auf dich, auf deine ganze Perfektion und deine makellose Schönheit einlassen. Wir beide. Wir haben es so lange miteinander ausgehalten. Aber jetzt nehme ich die rosarote Brille ab, spule das Kassettendeck mit dem Soundtrack unseres Lebens zurück und sehe mir das buntbedruckte Bilderbuch unserer Beziehung noch einmal von vorne an. Und jetzt. Jetzt wird mir klar, was für eine Zeitverschwendung das mit dir war.

Immer schon. Ich habe dir die große weite Welt gezeigt. Dir Farben gegeben, die du aber direkt intravenös gespritzt hast und von denen du nie genug kriegen konntest. Ich habe dir die größten Liebesschwüre aufs Papier geschrieben, doch immer dann, wenn ich mich an „Ich liebe dich“-Blättern blutig schnitt, dann hast du nur stumm geschwiegen. Tintenpatronen waren bei dir doch immer schon direkt „halbleer“ statt „halbvoll“. Es war immer ein: „Hier bitte nachfüllen“, anstatt „hier bitte nachfühlen“. Und jetzt fühle ich nach, wie es mich zerreißt. Ich habe dich so oft angemacht, in einsamen Nächten. In denen du bedächtig prächtig surrtest.

Diese Sache mit dem Scannen, ja das fandest du witzig. Und auch wenn wir dieses Bild von meiner eingescannten sabbernden rechten Gesichtshälfte nie zu „Galileo Big Pictures“ geschickt haben, so hatten wir doch immer Spaß an solch lustigen Spielen.

Aber: Nie wieder werde ich noch einmal den Fehler machen und dich an mich ranlassen! Du billiges Produkt! Du Schlampe! Epson Stylus DX5050, was ist das überhaupt für ein Name?

Ständig hast du mich angeblinkt, du wolltest wohl die Welt sehen, mehr als nur mein Zimmer und meine Wohnung, hast heimlich die größten Aquarelle ausgedruckt und so die beschissen teuren Tintenpatronen ausgenutzt.

Ich verrat dir was: Ich hab dich nie betrogen! Aber seit du weg bist … hab ich das schnellste WLAN. Und das, das krieg ich von der Alice!

Aber einen letzten Wunsch erfülle ich dir. Ich kauf mir bald einen neuen Drucker. Aber vorher schick ich dich nach Russland. Und da endest du dann. Genauso wie mein Opa.