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László F. Földényi

HEINRICH VON KLEIST

Im Netz der Wörter

Aus dem Ungarischen
von Akos Doma

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Vorwort

Wörterbuch

Literatur

Inhalt

Personenregister

Inhalt

Vorwort

ACH!

ÄHNLICHKEIT

AUGENBLICK

BASSA MANELKA

BEGIERDE

BESTIMMUNG

BILDUNG

BLICK, ANBLICK

BLITZ

BROCKES

BRUST

CHERUB

DASS

DEMOKRATISCH

DRITTES

EINGEZOGENHEIT

ELEKTRIZITÄT

ENTSETZEN

ERGIESSUNG

FALL

FENSTER

FEUER

FIEBER I.

FIEBER II.

FLÜCHTIG

FURIE

GARTENLAUBE

GEDANKENSTRICH

GEWÖLBE

GOTT

GOTTES SOHN

GRAZIE

GRIMMIG

GÜRTEL

UM DEN HALS FALLEN

HAUPTSACHE

HEFTIG

HEITERKEIT

HIRN

HÖLLE

INNERE

KANTISCHE PHILOSOPHIE

KENTAURIN

KEULE

KUSS

LOGOGRIPHISCH

MÄDCHENHAFT

METAPHER

MITTELSTRASSE

MORDLUST

NATUR

NUSS

OBERLIPPE

OHNMACHT

PARADIES

PARADOXIE

PEITSCHE

PLÖTZLICH

RACHSUCHT

RASSELN

RECHTSCHAFFEN

REFRAIN

RUHIG

SCHACHT

SCHEINEN

SCHLÜSSELLOCH

SCHWEINEKOBEN

SPIEGEL

STARRSINN

STATT

STOCKEN

STOSS

STUHL

TEUFEL

TRÄUMERISCH

TUCH

UMARMEN

UN-

UNAUSSPRECHLICH

UNBEGREIFLICH

UNBEWUSST

UNVERSTÄNDLICH

UNWILLE

VATER

VERSCHLINGEN

VERSEHEN

VERSÖHNUNG

VERTRAUEN

VERWIRRUNG

VERZÜCKUNG

WAHNSINN DER FREIHEIT

WAND

WELT

WERKZEUG

ZERSTREUT

ZIGEUNERIN

ZUFALL

Literatur

Personenregister

Vorwort

Ein schonendes Buch.

Es verschont den Leser, erspart ihm die Mühe des Auslesens. Es befreit ihn von der Last, so zu tun, als ob … Es erlaubt ihm, der Versuchung nachzugeben, umherzublättern, rückwärts zu lesen, kreuz und quer darin zu stöbern. Schließlich gibt es kein Buch, das man mit nie nachlassender, stets gleichbleibender Aufmerksamkeit lesen könnte. Möge also auch das zum Zuge kommen, was sonst keine Erwähnung findet: das dem Nichteinverständnis entspringende, ungeduldige Umherblättern, die Unaufmerksamkeit, das Überspringen von Worten und Gedanken, die zuweilen unüberwindliche Langeweile. Oder gar das Herausreißen der Blätter. Möge das Buch zerfallen. Schließlich ist darin auch die heimliche Freude über seinen eigenen Zerfall mit eingebaut. Möge das, was sonst verhüllt bleibt, in seiner ganzen Nacktheit hervortreten. Ein schonendes Buch. Es lässt der Freude freien Lauf. Befreit die Freiheit des Lesers. Mit gutem Gewissen aufzuhören. Rückwärts zu lesen. Oder es nur in der Mitte aufzublättern. Es erspart dem Leser, das Gähnen zu unterdrücken. Möge er das Buch ruhigen Gewissens nach welchem Artikel auch immer beiseitelegen. Womöglich für immer.

Es verschont Kleist. Vor der bedrückenden Last einer Monographie, dem Schreckgespenst einer Komposition, die sich vornimmt, vom Aufbruch bis zur Ankunft alles umfassend und in einem zu sehen. Vor der Klaustrophobie. Ihrer Gattung gemäß und mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln versucht die Monographie unweigerlich, einen Lebenslauf zu rekonstruieren, ein Lebenswerk von Neuem erstehen zu lassen. Dabei nimmt sie sich vor jenen Labyrinthen, Sackgassen, Misserfolgen, Fiaskos und jenem hysterischen → STOCKEN in Acht, vor denen sie ihren »Helden« keinesfalls bewahrt. Das schonende Buch verschont also Kleist – erspart ihm den monographischen Sadismus, jene lähmende Kälte des Ganzen, unter der er, solange er lebte, ohnehin genug zu leiden hatte. Jene als planmäßig und logisch hingestellte Einheit, jenes Unabänderlichkeit suggerierende »Entwicklungsbild«, das auf alles eine Erklärung sucht (und findet), überall Prämissen und Folgen wittert. Es erspart ihm den Stempel der Unabänderlichkeit. Jenes Phantombild, das der Gattung der Monographie Leben einhaucht, das wirkliche Bild – wie ein Parasit – verstößt und seinen auserwählten Helden unter dem Deckmantel des Verständnisses, der Annahme und der helfenden Deutung suggerierten Ideen zum Fraß vorwirft.

»For Godsake hold your tongue, and let me love«, schreibt John Donne in einem Gedicht, dem er bezeichnenderweise den Titel »The Canonization« gab. Lässt sich die Liebe kanonisieren? Und lässt sich der Genuss, ja die Wonne des Lesens mit der Qual und der mühevollen Arbeit der Deutung vereinbaren? Lässt sich die Kanonisierung eines Werkes mit seiner unwiederholbaren Einmaligkeit in Einklang bringen? Ich meine, ja. Doch muss man dabei ebenso auf die Ausschließlichkeit eines in der Wonne geborenen und darin eintauchenden Lesegenusses verzichten wie auf die Freudlosigkeit der Deutung. Das ist jedoch keine Frage des Kompromisses. Im Gegenteil. Damit die Möglichkeit einer liebevollen Besprechung geboren wird, müssen erst die Extreme bis zur Voreingenommenheit radikalisiert werden. Das Objekt der Liebe muss, damit es wirklich zum Leben erwachen kann, erst zu einem Objekt entarten. Erst auf dem Umweg grenzenloser Fremdheit lässt es sich erobern. Die bloße Fremdheit (die seelenlose Interpretation) entspringt nicht der Liebe zum Werk und führt auch nicht zur Liebe. Genauso wenig eignet sich jedoch die schwärmerische Andacht zur Eroberung. Dafür sind sowohl Egoismus als auch Selbstaufgabe vonnöten. Man muss unverzeihlich objektiv werden und darf zugleich nicht der Versuchung einer Vereinnahmung nachgeben. Man muss das Werk auf eine Stecknadel spießen – aber nicht um der Einreihung, Klassifizierung und Systematisierung willen (damit ich, der Interpret, es umbringe), sondern damit ich, der ich verglichen mit dem Werk ein Halbtoter bin, an seiner rätselhaften Lebendigkeit teilhabe.

Anstelle einer Monographie also eher ein NETZ. Nicht um das Werk und seinen Verfasser darin einzufangen, sondern im Gegenteil: um die Liebe zum Werk bewahren zu können. Genauer: jene Energie, die die Voraussetzung der Liebe (der Bewunderung, der Zuneigung, der Anhänglichkeit, der krankhaften Überwältigung) ist. Um das Werk also kanonisieren zu können, ohne ihm die Fesseln des Kanons anzulegen. Auch deshalb widersetzt sich Kleists Werk der Gattung der Monographie. Denn eines der Geheimnisse von Kleists Stärke liegt gerade in seiner Unfähigkeit, sich in die vorhandenen literarischen Kanons einzugliedern. Statt es »sich« in einem der bereits bestehenden Kanons »bequem zu machen«, schafft er einen neuen Kanon aus dem »Nichts«. Er ist kein parasitärer, sondern ein lebenspendender Schriftsteller. Statt die vorgegebene Tradition auszuschlachten, schafft er selbst eine neue Tradition, die man jedoch – da sie sich als unnachahmlich erwiesen hat – nicht einmal als Tradition bezeichnen kann. Nicht er begibt sich in den Rahmen der Tradition, sondern er holt die Tradition in seinen eigenen selbst geschaffenen Rahmen hinein. Auch deshalb eignet er sich nicht für die Rolle des Helden einer Monographie. Schiller oder Lessing tun es umso mehr; eine Monographie über sie zu schreiben, ist ebenso selbstverständlich wie über Fielding, Balzac, Tolstoi oder Thomas Mann. Nicht als ob nicht auch sie die Tradition umgeformt und neue Kanons geschaffen hätten. Doch sie taten es »aufbauend«, indem sie das System der bereits vorhandenen Traditionen und Kanons weiterentwickelten. Auch Kleist formt die Tradition um – doch er baut sie nicht um, sondern reißt sie nieder. Er schafft einen neuen Kanon, indem er die Kanons zerstört. Den Abbruch und die Zerstörung macht er gleichsam zur Voraussetzung der Literatur. Nicht um die Literatur niederzureißen. Im Gegenteil: um sie noch mehr zu verfestigen. Dabei handelt es sich bereits um eine neue Art Literatur. Um eine, deren Festigkeit nicht mehr auf Kohärenz, sondern auf der schrecklichen Gegensätzlichkeit und Spannung der Elemente beruht und die deshalb so viele Risiken in sich birgt, weil Kleist von vornherein nicht gewillt ist, diese Spannung zu löschen oder abzuleiten. Die Federn jener Autoren, die sich für eine Monographie eignen, gravitieren schon immer einem solchen stillschweigend vorausgesetzten Mittelpunkt entgegen, der gleichsam die Voraussetzung des Werkes ist. Dieser Mittelpunkt ist der Sitz des Autors selbst: sein → RichtSTUHL, von dem er alles überblickt und alles in der Hand hält. Die Widersprüche und Spannungen ebenso wie deren Lösung und Aufhebung. Auch Kleist hat einen solchen → RichtSTUHL. Dieser befindet sich jedoch nicht außerhalb des Werkes, sondern in dem Werk selbst. Auch er sieht alles – aber seine Sicht ist keine Übersicht; auch er hält seine Hand über alles – aber nicht alles in seiner Hand. Auch er registriert die von ihm erzeugten Spannungen und Widersprüche; doch statt sie zu lösen, überlässt er sich ihnen, liefert er sich ihnen aus. Wodurch das Werk jedoch – und darin liegt das Geheimnis dessen, dass er sogar beim Niederreißen einen Kanon errichten konnte – keinesfalls einstürzt. Ja, nicht einmal bruchstückhaft wird. Es ist um nichts weniger fest als irgendein Werk Goethes oder Schillers.

Wie vor ihm Sterne oder nach ihm Kafka, Musil, Proust oder Joyce gehört auch Kleist zu jenen, die durch Zerstören schaffen. Seine Werke werden gerade dadurch kohärent, dass jedes ihrer Elemente auseinanderstrebt. Deshalb widersetzen sie sich dem Zwang einer Monographie: Während die Monographie zwangsläufig unter dem Bann der Hierarchisierbarkeit (dem Bann der Enthüllung der Themen, Motive, Voraussetzungen, Ursachen, Wirkungen, Verwandtschaften, Analogien, Ähnlichkeiten, Gegensätze, Annäherungen, Entfernungen und Entsprechungen) steht, versucht das NETZ die bei Kleist genauso offensichtliche Kohärenz dadurch zu rekonstruieren, dass es sie zerstört – wie auch Kleist die Worte, die die Knoten des vorliegenden NETZES bilden, so in seine Geschichten und Dramen eingewebt hat, dass er diese durch sie auch »zerschrieb«. Eine »konstruktive« Monographie ist zwangsläufig empfänglich für Zusammenhänge, Verknüpfungen und Überbrückungen; hingegen achtet das NETZ auf seine »destruktive« Art vor allem auf das, was unerklärlich, unlösbar, grundlos, irrational, widersprüchlich ist. Auf jene hermetisch abgeschlossene Einheit verzichtend, die noch Kritikern wie Cleanth Brooks vorschwebte, der als Titel seines berühmten Buches einen Ausdruck aus dem oben zitierten Gedicht von Donne wählte (The Well Wrought Urn), versucht das NETZ seine Liebe zu dem Werk gerade dadurch aufrechtzuerhalten, dass es der vermeintlichen Einheit der analysierten Werke keine Beachtung schenkt. Es erachtet die Kohärenz als eine Utopie, die nur dadurch zu erreichen ist, dass man sich zuerst radikal in ihr Gegenteil vertieft. So wie der Weg zur Unschuld nach Meinung des Erzählers in dem Aufsatz über das Marionettentheater nur über einen erneuten Sündenfall führen kann. Entlang der Begriffe des NETZES geht nicht in erster Linie die »Bedeutung« oder »Botschaft« der Kleist-Texte auf (wenn ich eine Botschaft verschicken will, gehe ich zum Postamt, sagte Hemingway), sondern jene Kohärenz, die aus der Inkohärenz errichtet ist. Jene Logik der Leidenschaft, die immer schon unlogisch – und dennoch unfehlbar und unabänderlich ist.

Das NETZ spaltet das Werk in winzige Splitter auf (es vermag dies, da es kein literarisches Werk gibt, das sich nicht infolge seiner unauflöslichen, inneren Gegensätze zu diesem Opfer anböte), liefert jedoch keinen Schlüssel zu seiner erneuten Zusammensetzung. Es bietet keine Mitte (keine letzte Erklärung, eindeutige Lösung oder Konzeption, der sich alles unterordnen ließe), doch gerade deshalb verbannt es auch nichts an die Peripherie. Die Worte, die es untersucht, verweisen nicht nur auf etwas anderes, sondern sind im entsprechenden Augenblick selbst endgültige Äußerungen. Das, was sie »sagen«, ist unanfechtbar. Sie können sich nicht einmal gegenseitig herausfordern. Statt sich einem »Gehalt« zu unterwerfen, werfen sie sich gegeneinander und verdichten sich schließlich zu den straffsten – und gespanntesten – Schriften der Weltliteratur. Es gibt keine »dahinterliegende« Bedeutung, die sie aufrechterhielte – sie halten sich selbst aufrecht. Das NETZ ließe sich endlos weiterknüpfen, da jeder neue Anlauf (jeder neue Artikel) immer neue, noch nicht wahrgenommene Schichten zum Vorschein brächte und die bereits gesichteten zugleich unterminierte. Doch ließe es sich auch jederzeit abbrechen, da es kein absehbares Ende, keine Lösung, kein endgültiges Urteil und keine Schlussfolgerung gibt. Im Gegenteil: Laufend zerfällt alles und überlässt das »Schlusswort« der Heterogenität. So wie Kohlhaas das leidenschaftliche Opfer unversöhnlicher Eigenschaften wird, projiziert auch das NETZ miteinander unvereinbare Elemente übereinander. Wie die barocke Allegorie fühlt es sich an den Bruch- und Passstellen, in den Spalten der Literatur und der Existenz heimisch – im Strudel alles Irreparablen und Unwiedergutmachbaren. Deshalb ist es auch extrem voreingenommen: Es wählt willkürlich aus Kleists Worten aus, übergeht vieles, was andere zum Innehalten zwänge, und verweilt manchmal auch dort, wo es unbegründet ist. Das NETZ tötet (verbannt) den ihm unendlich überlegenen Text. Doch nähme es das nicht auf sich, erschiene nicht auch der Text selbst, Kleists Œuvre, wie ein Gewebe des Todes. Das NETZ: das sich über dem Text ausbreitende Netz des Todes. Geistesverwandte des Kleist-Netzes finden sich nicht unter den literarischen Monographien, sondern unter Wörterbüchern wie dem Dictionnaire Critique, das in den 30er-Jahren als Beilage der von Georges Bataille herausgegebenen Zeitschrift Documents erschien, oder dem von Robert Lebel und Isabelle Waldberg herausgegebenen surrealistischen Encyclopaedia Acephalica (1947). Beide Werke verfolgten das Ziel, sich auf dem Umweg des Todes des Lebens zu bemächtigen.

Ein schonendes Buch. Ich lese Kleist. Das, was er mitteilen will, und das, was er nicht erzählen will. Ich projiziere beides übereinander: Das ist das NETZ. Ich lese ihn – durch-lese ihn – verlese mich. Ich lese ihn zu Ende, lese ihn aus, lese mich in ihn hinein. Ich erwarte von ihm die Befreiung. Ich verschone nicht nur den Leser, sondern auch Kleist, nicht nur die Literatur, sondern auch mich selbst. Ich erspare mir die für das Verfassen einer Monographie zuweilen unerlässlichen geistigen Leerläufe, den Zwang, auch das auszufüllen, was unausfüllbar, das zu überbrücken, was unüberbrückbar ist. Ich verschone mich selbst, erspare mir, den Gesetzen einer Gattung zu gehorchen, die mir in diesem Fall gerade all diejenigen entzöge, denen ich mich nähern möchte: Kleist, den Leser, die Literatur. Ich erspare mir also das im Namen der Literatur ausgeführte Attentat. Dessen einziges Opfer letztendlich nicht Kleist, sondern der Attentäter selbst wäre. Ich verschone mich also und erspare mir die geistige Kastration.

Berlin – Budapest – Feldafing, 1996–1998

ACH!

In Die Verlobung in St. Domingo schießt Gustav seine Geliebte Toni, halb verrückt vor Enttäuschung, dass sie ihn hinters Licht geführt hat, in die → BRUST. Obwohl er gerade dieser scheinbaren Täuschung verdankt, dass sie beide gerettet werden. Ihr bleibt keine Kraft, die Situation aufzuklären. »›Ach!‹ rief Toni, und streckte, mit einem unbeschreiblichen Blick, ihre Hand nach ihm aus: ›dich, liebsten Freund, band ich, weil – –!‹« (II 193) Ein Aufschrei (Ach!) – eine Bewegung (das Ausstrecken der Hand) – ein → BLICK (der → UNBESCHREIBLICH ist) – ein abgebrochener Satz – dann zwei → GEDANKENSTRICHE lang Stille – und schließlich ein Ausrufezeichen. Die Sinnlosigkeit der Situation zeigt auch das Bild des Textes selbst. Die beiden → GEDANKENSTRICHE und das Ausrufezeichen deuten an, was nicht gesagt werden kann, lassen das → UNAUSSPRECHLICHE als Bild spürbar werden. Die versammelte Verwandtschaft macht Gustav inzwischen auf seinen Irrtum aufmerksam, worauf er sein Gesicht verdeckt – er sieht nicht mehr, er hat keine Bilder mehr vor sich! – und aufschreit: »Oh! rief er, ohne aufzusehen, und meinte, die Erde versänke unter seinen Füßen« (ebd.). Dann streckt er die Hände aus diesem Abgrund empor und → UMARMT das Mädchen, das noch einmal, ein letztes Mal, spricht: »›Ach‹, rief Toni, und dies waren ihre letzten Worte: ›du hättest mir nicht mißtrauen sollen!« (Ebd.) Da rauft sich Gustav erst die Haare, wiederholt dann, gleichsam → UNBEWUSST und mechanisch: »[I]ch hätte dir nicht mißtrauen sollen«, und schießt sich am Ende in den Kopf.

Kleists Figuren seufzen nicht dann auf, wenn ihnen die Worte fehlen, sondern wenn sich diese in ihnen so aufgestaut haben, dass sie gar nicht mehr sprechen können. Sie wollen so vieles auf einmal erzählen, dass sie kein Wort mehr herausbringen. Dann wird die Handlung für einen → AUGENBLICK durch ein wortloses (aber umso beredteres) Schweigen unterminiert. Das ACH (zusammen mit einem Ausrufezeichen, → GEDANKENSTRICH oder Komma) unterbricht die Handlung nicht nur in Form eines Seufzers (eines Stöhnens, Jammerns, Röchelns, Jauchzens oder Aufschreis), sondern auch als typographisches Phänomen. Der Seufzer (Ach!) ist ein Ausdruck jenes typisch Kleist’schen Radikalismus, demgemäß sich die Situation nur dann klären kann, wenn sie zuvor unwiderruflich durcheinandergerät. Und die Klärung führt meist zu einer endgültigen → VERWIRRUNG »auf höherer Ebene«, mit Mord und verspritztem → HIRN an den → WÄNDEN. Das bedingungsloseVERTRAUEN, das Gustav von Anfang an Toni gegenüber verspürt und das auch seine Liebe zu ihr bezeugt, und das tiefe Misstrauen, das ihn verblendet, bilden eine Zange, deren Druck man nicht lange aushalten kann. Weder Gustav noch Toni hält ihn lange aus. Diese Unerträglichkeit verdichtet sich im ersten »Ach!«. Darin findet die Unbeschreiblichkeit der Situation, die sich schon in Tonis → BLICK widerspiegelt, ihren Widerhall. Gustav sieht diesen → BLICK, und die Erde unter seinen Füßen gerät ins Wanken. Und während er »oh« ruft, ertönt das zweite »Ach« der tödlich verwundeten Toni gar nicht mehr aus ihrem Hals, sondern aus jenem Schlund, aus dem ihr niemand mehr heraushelfen kann. Das »Ach« ist nicht einfach der Widerhall des Todes, sondern das Geräusch jener Reibung, die das Hinabrutschen in den Schlund des Todes begleitet.

Das war nicht immer so. Im frühen, 1799 entstandenen Aufsatz über das Glück findet sich fünfmal das »Ach«, doch dient es, wie auch der Titel des Aufsatzes zeigt (Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden und ungestört – auch unter den größten Drangsalen des Lebens – ihn zu genießen), jedes Mal zur Stärkung des → VERTRAUENS und Steigerung der Begeisterung. Auch erweitert es nicht den Horizont des Lesers und bleibt somit ein bloßes Füllwort. Das erklärt sich durch Kleists damalige Unselbstständigkeit. Er übernimmt und erlernt die im Aufsatz geäußerten Gedanken mit einer solchen inneren Einfühlung, dass er sich förmlich in sie verliebt; da er jedoch unfähig ist, die Gedanken der Aufklärungsphilosophie, die er als gehorsamer Schüler wiederholt, weiter zu vertiefen, versucht er, Tiefe und Originalität durch Begeisterung und einen sentimentalen Ton zu ersetzen.

»Ach es liegt in der Tugend eine geheime göttliche Kraft, die den Menschen über sein Schicksal erhebt, in ihren Tränen reifen höhere Freuden, in ihrem Kummer selbst liegt ein neues Glück. Sie ist der Sonne gleich, die nie so göttlich schön den Horizont mit Flammenröte malt, als wenn die Nächte des Ungewitters sie umlagern.« (II. 305–6) Ein paar Jahre später wird das »Ach« aus den »Nächten des Ungewitters« erklingen, ja, sich selbst in die Nacht verwandeln, die von der geheimen, göttlichen Kraft nicht mehr zu unterscheiden sein wird.

Eine der Folgen seiner sogenannten → KANT-KRISE wird gerade darin bestehen, dass Kleist lernt, mit den Seufzern sparsam umzugehen. Er gebraucht sie nicht seltener, sondern distinguierter: zumeist in solchen Grenzsituationen, in denen das »Ach!« nicht einfach eine Leere ausfüllt, sondern selbst zur »Leere« wird, zu einer unausfüllbaren Lücke im Gespräch.

Als Agnes in Die Familie Schroffenstein im → AUGENBLICK ihres Todes aufschreit: »Ach!« (2569), handelt es sich um eine theatralische Routinesituation. Doch dieses »Ach!« setzt nicht nur ihrem Leben ein Ende, sondern beschließt auch die Kette von Irrtümern, Missverständnissen, Täuschungen und Verdächtigungen. Am Ende des ersten Aktes von Das Käthchen von Heilbronn verspricht Käthchen dem Grafen, ihm in allem gehorsam zu sein. Als er ihr befiehlt, zu ihrem → VATER heimzukehren, antwortet sie: »Ich habe es dir versprochen« (646) – und fällt sofort in → OHNMACHT. Und als sie nach einigen Minuten zu sich kommt, sagt sie bloß: »Ach!« (65) Ihre Liebe kann sie fürs Erste nur dadurch beweisen, dass sie ihm gehorsam ist, wodurch sie sich jedoch von der Erfüllung ihrer eigenen Sehnsüchte entfernt. Das »Ach!« und die → OHNMACHT sind ein Ausdruck dieser selbstzerstörerischen Geste: Käthchens Seele bricht hier förmlich entzwei. In Prinz Friedrich von Homburg schrickt Natalie (die von Kleist übrigens allzu sehr im Hintergrund gehalten wird), mit der Todesangst des Prinzen konfrontiert, vor seiner Furcht zurück. Natalie, die bis dahin in vielem an die ebenfalls verwirrte Chimène aus Corneilles Cid erinnert, wird mit einer unlösbaren Situation konfrontiert, wie sie der Cid seiner Heldin erspart.

Auch Homburg erinnert an Rodrigo aus dem Cid: Auch dieser siegt in einer Schlacht ohne den Befehl des Königs (IV. Akt, 3. Szene), der ihm genauso verzeiht wie der Kurfürst Homburg.

Nicht die Taktiken zur Bewältigung des Lebens sind für sie unlösbar, sondern der Sinn des Lebens selbst erscheint ihr vorübergehend fraglich. Während sie dem Kurfürsten von der Todesangst des Prinzen berichtet, seufzt sie sieben Mal (!) auf. Sie hätte nicht geglaubt, dass jemand so tief sinken könne, sagt sie und behauptet felsenfest: »[S]o zermalmt, so fassungslos, so ganz / Unheldenmütig träfe mich der Tod, / In eines scheußlichen Leun Gestalt nicht an!« (1171–3) Aber ihre stolze Rhetorik beweist gerade das Gegenteil dessen, was sie sagt: Erst in dem → AUGENBLICK, als sie über den Tod spricht, wird ihr bewusst, dass auch sie einst wird sterben müssen und sie keine Ahnung hat, wie sie sich dann verhalten wird. Es folgt ein → GEDANKENSTRICH (eine Pause) und dann ein mit einem erneuten Ausrufezeichen endender Satz: »– Ach, was ist Menschengröße, Menschenruhm!« (1174) »Ach!«, sagt sie und wächst, während sie glaubt, vom Helden des Dramas noch nie so weit weg gewesen zu sein, zu ihm empor. Das »Ach!« deckt nicht nur die Zerrissenheit der Seele auf, sondern ist auch ein hervorragendes dramaturgisches Mittel.

»Eine Schwäche (fatigue) so alt wie die Welt, die Empfindung der Last des eigenen Körpers, ein Gefühl unglaublicher Zerbrechlichkeit, das ein vernichtender Schmerz wird, ein Zustand schmerzhafter Gefühllosigkeit, eine Art in der Haut lokalisierter Gefühllosigkeit, die mir keine Bewegung verbietet, sondern das innere Gefühl eines Gliedes verändert und der schlichten aufrechten Haltung den Wert einer siegreichen Anstrengung verleiht.« (Antonin Artaud: Der Nabel des Niemandslands, 56)

In Penthesilea »dosiert« Kleist die »Achs« am überlegtesten. In 14 von 16 → FÄLLEN erklingen sie aus dem Mund der Protagonistin, zumeist als Ausdruck abgrundtiefer Erschöpfung.

Die gleichzeitige Bewegung des Stürzens und Steigens macht sie in der Seele so zerrissen (»Ach, meine Seel ist matt bis in den Tod!«, 1237), sie veranlasst sie auch, gerade Achilles zu zerfleischen, der allein sie am Leben erhalten könnte. Indem sie Achilles tötet, zerreißt sie ihre eigene Seele.

Im 24. Auftritt steigert Kleist die Spannung mit einer in der Dramenliteratur beispiellosen Kühnheit bis an die Grenzen des Erträglichen, indem er Penthesilea nicht zu Wort kommen lässt. Obwohl sie ständig anwesend ist, sagt sie nichts, sondern lässt, verzückt und bewusstlos – und doch wach –, die anderen über ihre schreckliche Tat sprechen. Und als sie zum ersten Mal spricht, sagt sie verständlicherweise nur: »Ach Prothoe!« (2828) Und danach vermag sie das Elysium von der hinfälligen und gebrechlichen → WELT ebensowenig zu unterscheiden wie den → KUSS vom Biss und das Leben vom Tod.

Und da ist natürlich noch das berühmteste »Ach!« der Weltliteratur, Alkmenes Seufzer, diese letzte »Äußerung« in Amphitryon, dieses Verstummen, das ebenso beredt ist wie das Schweigen des Volkes am Ende von Puschkins Boris Godunov, das hier jedoch nicht nur eine politische, sondern auch eine existenzielle Bedeutung hat. Schon Jean Paul hat dazu notiert, es »würde zu viel bedeuten, wenn es nicht auch zu vielerlei bedeutete« (LS 177). Bei Molière hätte ein solcher Seufzer einen unmissverständlich erotischen Unterton, was die Harmlosigkeit der Geschichte noch unterstreichen würde. (So wie Lucindes simulierte Seufzer in Der Arzt wider Willen – »Han, hi, hom, han, han, hi, hom« [II. Akt, 4. Szene] – der komischen Wirkung dienen. Vgl. Didi-Huberman, 271–2.)

Beim Erscheinen von Amphitryon 1807 zitiert August Klingemann den Schluss der Molière-Fassung: »Sur telles affaires toujours / Le meilleur est de ne rien dire« und stellt ihn Kleists stillem und tiefsinnigem »Ach!« gegenüber, »wo Unschuld und Sünde in den kleinsten Laut zusammenschmelzen.« (LS 176)

Bei Kleist hingegen handelt es sich um einen Ausdruck totaler → VERWIRRUNG. In diesem Seufzer erlischt ihre Liebe zum sterblichen Gatten, während ihre Liebe zum unsterblichen → GOTT ihr Ziel verfehlt. Das Misstrauen ufert ins Metaphysische aus. Ihre ihr ganzes Wesen zersprengende → BEGIERDE, die von einem → GOTT (genauer: demGOTT) geweckt wurde, hat nach dem Zusammenbruch des → GottVERTRAUENS nichts mehr, worauf sie sich richten könnte.

»[A]ls der Gott oder vielmehr – da es sich um einen christlich umgedeuteten Jupiter handelt Gott in seine Heimat zurückkehrt, verkehrt sich die unnennbare Lust, die er ihr schenkte, in einen ebenso namenlosen Schmerz.« (W. Kittler, 79)

Die → BEGIERDE entweicht ins Nichts (vielleicht in das gleiche Nichts, in das der Kurfürst am Ende des ersten Auftritts von Prinz Friedrich von Homburg den Prinzen → DREIMAL entlässt?), während dieses Nichts Alkmenes Wesen auszufüllen beginnt. Auch daher ist ihr Seufzer wie der Seufzer eines Automaten: mechanisch und bar jeder Seele.

Olympia, das Automatenmädchen in E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann antwortet auf alles mit einem bloßen »Ach, ach, ach …!«, was ein Ausdruck ihrer Leblosigkeit, für Nathaniel jedoch der Beweis allerhöchsten Lebens ist. (Vgl. W. Kittler, 54–5) Es ist nicht ausgeschlossen, dass Hoffmann, der 1811 die Kulissen für die Bamberger Aufführung von Das Käthchen von Heilbronn entwarf, in dem 1815 veröffentlichten Der Sandmann Olympia das inzwischen berühmt gewordene »Ach!« Alkmenes in den Mund legte.

In Alkmenes letztem Seufzer wird nicht einfach die Liebe durch den Schmerz ersetzt. Ginge es nur darum, ließe sich das »Ach!«, wie die vielen »Achs« in der Literatur des Sentimentalismus, bruchlos in die Ordnung der Sprache einfügen. Alkmenes Seufzer jedoch unterminiert die Allmacht der Sprache: Der sterbliche Gatte und der unsterblicheGOTT versuchen gemeinsam, sie davon zu überzeugen, dass sich die → WELT wohl einrichten und bewältigen lässt, also den Regeln der rationalen Logik gehorcht. Für sie lässt sich die → WELT ausdrücken. Aus dieser → WELT stürzt Alkmene am Ende des Stückes heraus – doch es gibt keine andere Welt, in die sie »übergehen« könnte (denn Jupiter setzt – Wittgenstein vorwegnehmend – ein Gleichheitszeichen zwischen der → WELT und ihrer sprachlichen Formulierbarkeit). Aus deren → WELT herausgerissen, ist Alkmene auch der Sprache beraubt. Das macht ihren Seufzer gefährlich und unberechenbar. Alkmene bieten sich mehrere Möglichkeiten (Selbstmord, die Ermordung → GOTTES, Raserei, Hysterie, Katatonie, Paralyse usw.), doch sie alle können sie genauso wenig mit der → WELTVERSÖHNEN, wie ihr Seufzer sich in einen Dialog einfügen lässt.

Die Gegenwart, die der Mensch dem → GOTTESerlebnis verdankt, wird von der Abwesenheit abgelöst. Alkmenes Seufzer ist ein Ausdruck der Selbstentfremdung der Seele. Die Gegenwart ist jener außergewöhnliche → AUGENBLICK, in dem der Mensch dem → GÖTTLICHEN begegnet – und es in sich selbst entdeckt: → GOTT erwacht in ihm selbst zum Leben. »Was du, in mir, dir selbst getan, wird dir / Bei mir, dem, was ich ewig bin, nicht schaden«, sagt Jupiter Alkmene (2321–2), und dieses nicht mehr weiter zu verkomplizierende grammatikalische Labyrinth zeigt genau, dass auch Jupiter nur dadurch zu seinem eigenen göttlichen Wesen findet, dass er in sie eindringt – so wie auch Alkmene ihre → GÖTTLICHKEIT erst durch und in Jupiter erfährt.

Das lateinische Wort praesens (Gegenwart) bezieht sich nicht nur auf die verbale Präsenz, sondern auch auf die Macht der → GÖTTER: »Beistand heischt der Chor und spürt die gnadenreiche Nähe der Allmacht« (praesentia numina sentit), schreibt Horaz (Epistulae II. 1. 134). Das Wort hat sich ursprünglich aus der Bedeutung »ringsherum« gebildet, was auch mit dem sexuellen Charakter von Alkmenes → GOTTESerlebnis im Einklang steht.

Obwohl nach der letzten Regieanweisung der Gipfel des Olymp erscheint, kehrt Jupiter nicht in die göttliche Sphäre zurück, sondern in etwas, was sich am ehesten als Alkmenes Abwesenheit bezeichnen lässt. Und auch Alkmene fällt am Ende der letzten Szene, als Jupiter seine Identität lüftet, nicht deshalb in → OHNMACHT, weil sie als irdische Frau nicht in den Olymp aufsteigen kann, sondern weil sie als Sterbliche zwar die Unsterblichkeit erfahren hat, aber dennoch ihr sterbliches Leben fortsetzen muss. Alkmenes Tragödie besteht nicht darin, dass der → GOTT, in den sie sich verliebt, sie hintergeht und dann verlässt, sondern darin, dass die Liebe, als die am ehesten erfahrbare Offenbarung des → GÖTTLICHEN, nicht imstande ist, das ganze Leben auszufüllen. Man kann das Leben nicht in der ständigen Gegenwart leben, denn das »Natürliche« ist, dass man es in der ständigen Abwesenheit leben muss. Das Natürliche ist gerade das, was von den → GOTTESerlebnissen her betrachtet am wenigsten natürlich ist: dass der Mensch den überwiegenden Teil seines Lebens fern seiner eigenen Mitte lebt, in → UNBEWUSSTER Entzweiung. Und gerade das Erlebnis der Liebe weckt in Alkmene dieses Bewusstsein: dass das Leben selbst (das gebrechliche, irdische Leben) der größte Anschlag auf das Leben (das wahre Leben) ist. Es muss eine Wahrheit geben (in der der Mensch mit sich selbst restlos eins ist), behauptet Kleist – doch Amphitryon wird gerade deshalb zu einer wahren, der Griechen würdigen und in seiner Zeit so einsamen Tragödie, weil es uns mahnt: Der → AUGENBLICK der Wahrheit, die Gegenwart der → GÖTTER ist noch verheerender und entfernt den Menschen noch mehr von sich selbst als das → UNBEWUSSTE Leben fern der → GÖTTER. Kleist wendet sich gegen jene europäische, metaphysische (christliche) Tradition, die den Platz der Wahrheit, als der letzten Instanz, fern des Lebens ausweist und damit den Unterschied zwischen Mensch und → GOTT unendlich vertieft. Der → AUGENBLICK der Gegenwart ist bei Kleist deshalb außergewöhnlich, weil seinen Figuren erst da bewusst wird, wie weit sie sich von allem – vor allem von sich selbst – entfernt haben. Die Entfremdung von ihrem eigenen → INNEREN erreicht ihren absoluten Höhepunkt in der Gegenwart. Wie Jupiters grammatikalisch kaum mehr zu verkomplizierende Aussage mahnt: Die Erfahrung der Zerrissenheit ist die Gewissheit der Gegenwart. Das »Ich« versucht sich in Richtung des »Du« zu öffnen; doch statt im anderen sich selbst zu finden (wie die zeitgenössischen mystischen Deuter der Liebe – Novalis, Franz von Baader, Friedrich Schlegel – annehmen), verliert es den anderen genauso wie sich selbst. Die Gegenwart ist der → AUGENBLICK des Verlustes, die Liebe der der Verstoßung. Beide sind nicht miteinander identisch, aber auch nicht voneinander zu trennen. Noch nie unternahm Alkmene eine solche Anstrengung, das Unüberbrückbare zu überbrücken. Die Gegenwart bedeutet: ständig nach jenem Mittelpunkt zu greifen, der, gleich einer Fata Morgana, da ist und doch uneinholbar bleibt. Sie ist keine Ferne, keine Nähe, sondern ein Taumel, bei dem das Gefühl der Entfernung (des Herausstürzens) zur Bedingung des Gefühls der Heimkunft und der Selbstfindung wird.

Diese entgegengesetzte Bewegung »drückt« jenes »Ach!« »aus«; aber indem Alkmene aus der Sprache herausstürzt, überbrückt sie auch diesen Unterschied. In Amphitryon existiert nur ein einziges Leben, und doch verfügt es über zwei Gesichter, die sich zwar zum Verwechseln ähneln – so wie man auch Jupiter und Amphitryon nicht voneinander unterscheiden kann –, zwischen denen jedoch kein größerer Unterschied bestehen könnte. Das eine ist die Kehrseite des anderen – der → GOTT: ein Mensch, der Mensch: ein → GOTT; doch damit man diese schwindelerregende Einheit erfährt, muss man sich so verlieren, dass man gerade in diese neu entdeckte Einheit nicht mehr zurückkehren kann.

Alkmenes letzter Seufzer kann auch dem Schrecken entspringen. Der Vereinigung von Mensch und → GOTT können nicht nur Helden (Herakles), sondern auch Ungeheuer (Minotaurus) entspringen.

»Nichtswürdiger! Schändlicher!

Mit diesem Namen wagst du mich zu nennen?

Nicht vor des Gatten scheugebietendem

Antlitz bin ich vor deiner Wut gesichert?

Du Ungeheuer! Mir scheußlicher,

Als es geschwollen in Morästen nistet!

Was tat ich, daß du mir nahen mußtest,

Von einer Höllennacht bedeckt,

Dein Gift mir auf den Fittich hinzugeifern?

Was mehr, als daß ich, o du Böser, dir

Still, wie ein Maiwurm, ins Auge glänzte?

Jetzt erst, was für ein Wähn mich täuscht’, erblick ich.

Der Sonne heller Lichtglanz war mir nötig,

Solch einen feilen Bau gemeiner Knechte,

Vom Prachtwuchs dieser königlichen Glieder,

Den Farren von dem Hirsch zu unterscheiden?

Verflucht die Sinne, die so gröblichem

Betrug erliegen. O verflucht der Busen,

Der solche falschen Töne gibt!

Verflucht die Seele, die nicht so viel taugt,

Um ihren eigenen Geliebten sich zu merken!

Auf der Gebirge Gipfel will ich fliehen,

In tote Wildnis hin, wo auch die Eule

Mich nicht besucht, wenn mir kein Wächter ist,

Der in Unsträflichkeit den Busen mir bewahrt. –

Geh! deine schnöde List ist dir geglückt,

Und meiner Seele Frieden eingeknickt.« (2236–62)

»Laß ewig in dem Irrtum mich, soll mir / Dein Licht die Seele ewig nicht umnachten«, bittet Alkmene Jupiter (2305–6) und schreit, bevor sie in → OHNMACHT fällt, auf: »Schützt mich, ihr Himmlischen!« (2312) Sie kann nur jene anflehen, die sie am meisten hintergangen haben. Da wird ihr bewusst, dass → GOTT, wenn er existiert, nur im innersten → INNEREN wohnen kann und dass der Mensch erst dann »lebt«, wenn → GOTT in ihm zum Leben erweckt wird, und »stirbt«, wenn die Seele sich tödlich entleert. Mit dieser Leere wird Alkmene konfrontiert – jener nur an Shakespeare messbare Fluch, den sie kurz zuvor Amphitryon entgegenschleudert (2236–62), beweist, dass sie diese Leere zu erahnen beginnt; und das letzte »Ach!« kündet von der Wüste, die sie erwartet. Es enthüllt nicht nur, dass ihr Leben vor ihrer Begegnung mit Jupiter eine Wüste ist, sondern weist auch nach vorne. Vieles am Schluss des Stückes ist zu Ende, doch manches nimmt erst da seinen Anfang.

»Ach!« Es bleibt ungewiss, ob Alkmene aushalten wird, was sie erwartet.

ÄHNLICHKEIT

Warum sie an jenem gefürchteten → DRITTEN vor ihm wie vor einem → TEUFEL geflohen sei?, fragt Graf F… seine Gattin, die Marquise von O.…, worauf sie ihm um den Hals fällt (statt ihm fest in die Augen zu schauen!) und erwidert: »[E]r würde ihr damals nicht wie ein Teufel erschienen sein, wenn er ihr nicht, bei seiner ersten Erscheinung, wie ein Engel vorgekommen wäre«. (II. 143)

Was unterscheidet einen Engel von einem → TEUFEL? Nichts, denn beide erscheinen in der Gestalt ein und derselben Figur. Beide sind eine Art »Erscheinung«: wirklich, und doch nicht. Sie → SCHEINEN das zu sein, was sie sind, und dennoch erweist sich, dass sie gerade das Gegenteil dessen sind – wobei dieses Gegenteil seinerseits nur → SCHEIN ist, eine Erscheinung, deren Wirklichkeit wiederum eine Erscheinung ist. Durch die Gestalt des → TEUFELS schimmert der Engel hindurch, durch die des Engels der → TEUFEL; und hinter beiden wird Graf F… sichtbar, der beide Gestalten wie Kleider trägt, obwohl die Falten dieser Kleider, die ihn von außen umhüllen, auch mit den innersten Falten seines Herzens identisch sind. Einmal erweisen sich diese Kleider als zu eng, ein andermal sitzen sie lose an ihm. Es verwundert nicht, dass Graf F… die Ereignisse immer weniger begreift. Obwohl er der Auslöser aller → VERWIRRUNG ist, bewegt er sich ziemlich befremdet und ungelenk. Als wäre er zuweilen gar nicht anwesend. Auch seine Schatten, die ihn begleiten, sind bald größer, bald kleiner als er.

Die Ähnlichkeit von → TEUFEL und Engel manifestiert sich in Graf F… gleichsam »ohne sein Zutun«. Zwar steht sein Schicksal auf dem Spiel, doch → SCHEINT er diese seltsame Vereinigung seiner »Schatten« nur zu erdulden. Aber nicht nur er beobachtet erstaunt dieses seltsame Phänomen der → WELT. Bevor er durch das Beil hingerichtet wird, bemerkt der zum Tode verurteilte Michael Kohlhaas beim Gespräch mit der alten → ZIGEUNERIN »eine besondere Ähnlichkeit zwischen ihr und seinem verstorbenen Weibe Lisbeth« (II. 96), woran auch nichts ändert, dass seine Gattin jung verstorben ist. In Die Verlobung in St. Domingo seufzt der Schweizer Gustav beim → ANBLICK der jungen Toni tief auf, da er eine »wunderbare Ähnlichkeit« (II. 173) zwischen der Mestizin (!) und seiner während der Revolution hingerichteten Geliebten, der Französin Mariane Congreve, bemerkt. In Die heilige Cäcilie liegt Schwester Antonia zu Hause mit einem → NervenFIEBER, das sich so verschlimmert, dass sie am Abend des Sturms auf die Kirche stirbt. Doch zu Beginn des Angriffs erscheint sie auf dem Altan, frisch, gesund, wenn auch ein wenig blass, und beginnt auf der Orgel die Messe zu spielen, bei deren Klängen die Bilderstürmer → PLÖTZLICH bekehrt werden. Auf die Frage ihrer Gefährtinnen, wie sie so → PLÖTZLICH zu sich gekommen sei, erwidert sie bloß: »gleichviel, Freundinnen, gleichviel« (II. 218).

Der Findling wiederum beruht von vornherein auf einer »auffallende[n]« (II. 208) Ähnlichkeit zwischen einem lange verstorbenen genuesischen Ritter, dem engelhaften (→ CHERUBINISCHEN) Colino, und Nicolo, der seine Eltern verloren hat und als Adoptivkind den Platz eines weiteren Toten, des kleinen Paolo, in der Familie einnimmt. Eine »starre Schönheit« (II. 200) kennzeichnet den Jungen, sein Gesicht verändert »seine Mienen niemals«. Als er das Bild des toten Colino, dessen großes Auge »ihn starr ansah« (II. 207), entdeckt, erschrickt er, ohne zu wissen, warum, und eine Fülle von Gedanken fährt ihm durch den Kopf So reift in ihm der Entschluss, Elvire zu erobern, deren Gesicht übrigens ebenso starr und »von Affekten nur selten bewegt […]« ist wie seines (und wahrscheinlich einst auch Colinos). Sein Entschluss ist verständlich, denn er sieht Colino zum Verwechseln ähnlich: »›Gott, mein Vater! Signor Nicolo, wer ist das anders, als Sie‹«, ruft auch die kleine Clara, als sie Nicolo neben dem Bild erblickt (II. 208). Und wäre es, wenn die Ähnlichkeit schon so groß ist, nicht natürlich, dass die gemütskranke Elvire sich endlich mit dem vereinigt, über den sie bis dahin nur hinter einer sorgfältig verriegelten Tür, nackt und sich bis zur → VERZÜCKUNG reizend, fantasieren konnte?

»Gott, mein Vater!« – ruft auch die Marquise von O.…, als der Name des Jägers Leopardo als der des möglichen → VATERS, fällt (II. 135). Was sie sich dabei wohl denkt? Dass → GOTT der → VATER sei? Oder fällt ihr, wie Heinz Politzer meint, der eigene → VATER ein? (Politzer, 98) Und die kleine Clara: erblickt sie in Colino → GOTT? Oder sieht sie Nicolo als den Schatten → GOTTES? Oder glaubt sie, mit einer Reinheit, die ihres Namens würdig ist, dass ihr → VATER, wer er auch sein mag, rein ist? – Ähnlich (»Gott, mein Vater!«) ruft auch Margarete in der Idylle Der Schrecken im Bade aus, als sie beobachtet wird, während sie nackt (!) badet. Und auch Johanna in Schillers Die Jungfrau von Orleans (1801) ruft am Ende des 10. Auftritts im IV. Aufzug aus: »Gott! Mein Vater!«, unmittelbar bevor ihr → VATER gegen sie aussagt.

Nicolo gleicht Colino, Toni Mariane Congreve, die → ZIGEUNERIN Lisbeth, Schwester Antonia der unbekannten Antonia. Und vielleicht ähnelt auch Käthchen Kunigunde, die Marquise von O.…, wenn sie wie eine → FURIE tobt, Penthesilea, und Agnes Schroffenstein der Jungfrau Maria, so wie auch die Marquise von O.… gelegentlich wie ein Ebenbild Mariä ist – und dann wagen wir uns noch an die Ähnlichkeit zwischen Penthesilea und der Jungfrau Maria … Sie alle sind sich ähnlich, sind zuweilen sogar identisch miteinander – doch sie sind keine Doppelgänger. Trotz der Ähnlichkeit der Motive besteht ein radikaler Unterschied zwischen Kleists bzw. Gogols oder Hoffmanns Bearbeitung des Themas. Letztere gebrauchen das Motiv in erster Linie, um ihre Helden in den Wahnsinn zu stürzen oder zumindest mit jenem Abgrund zu konfrontieren, vor dem sie stehen. Die Bedrohung der Seele ist die Gefahr, der die Menschen in der neuen, von den Wurzeln der Tradition losgelösten Gesellschaft ausgesetzt sind: Die Wurzellosigkeit führt bei Gogol bzw. Hoffmann dazu, dass ihre Helden durch eine Art zentrifugale Kraft sowohl aus ihren traditionellen Bindungen (Gemeinschaft, Kirche, göttliche Garantie, Kosmos) als auch aus sich selbst herausgerissen werden. Das Motiv des Doppelgängers ist ein Ausdruck psychischer Gleichgewichtsstörung: Ein Teil des Ichs der Figuren »bricht heraus«, und sie beginnen sich selbst als ihr eigenes → SPIEGELbild zu sehen – als ihr Ebenbild. Sie wissen nicht, wie sie wieder mit sich eins werden können. Das Ebenbild ist bedrohlich, erschreckend und schattenhaft – obwohl es doch genauso ist wie das sogenannte »Ich«. Der Abgrund zwischen beiden ist unüberbrückbar; aber nicht deshalb, weil Himmel und Erde (→ HÖLLE) sie voneinander trennen, sondern weil die Figuren selbst ratlos sind, was sie mit ihrem eigenen Schatten anfangen sollen. Damit nämlich wieder eine Einheit entstehen kann, bedarf es auch einer Kraft, die sich weder auf das »Ich« noch auf das »Ebenbild« beschränkt, sondern beide in der Gestalt eines → DRITTEN vereint – und dabei auch in ihnen selbst Wurzeln schlägt. Die Idee einer solchen Einheit taucht bei den Doppelgängern gar nicht erst auf. Was sie kennzeichnet, ist die Unüberbrückbarkeit des Unterschieds zwischen dem »Ich« und dem »Ebenbild«, seine Steigerung ins Unendliche. Das macht sie komisch – im Sinne von Baudelaires »comique absolu« –, was auf den ursprünglich ironischen Charakter der Doppelgänger-Thematik verweist. Baudelaire hält die Verdoppelung (dédoublement) für die Voraussetzung der Ironie: Bewusstwerdung bedeutet hier die Spaltung des Bewusstseins, sodass das Erwachen ein für alle Mal zum Verlust des Ichs führt. (Vgl. de Man, 1993, 212–3)

Hier überwindet Kleist seine Zeitgenossen bzw. die Doppelgänger-Thematik. Auch er führt die psychische Gleichgewichtsstörung vor Augen, doch belässt er es nicht dabei: Die Störung ufert bei ihm ins Metaphysische aus, und die gesellschaftliche, gemeinschaftliche Wurzellosigkeit, der sich auch seine Figuren gegenübersehen, vertieft sich zu einem Abgrund der Existenz. Auch er zeigt die Spaltung, doch statt sie zu stilisieren und »künstlerisch« (»realistisch« oder »fantastisch«) zur Entfaltung zu bringen, richtet sich sein Bemühen vor allem darauf, die Möglichkeit der Vereinigung zu finden. Jedes Mal, wenn er dieses Thema berührt, lässt er sich ohne Umsicht immer tiefer in den gähnenden Abgrund hinunter. Nicht um das »Funktionieren« der Seele zu schildern, sondern um den Boden des Abgrundes zu finden, seinen Grund, auf dem sich die Gegensätze von oben miteinander → VERSÖHNEN lassen und die Persönlichkeit wieder mit sich in Einklang gebracht werden kann. Kleists Figuren geraten zuweilen genauso an den Rand des Wahnsinns wie die Gogols oder Hoffmanns; aber im Gegensatz zu diesen haben sie nichts »Bizarres«, »Außergewöhnliches« oder »Fantastisches« an sich. Die Lage, in die sie geraten, kann ebenso wenig als ironisch bezeichnet werden wie die Struktur, die Sichtweise oder der Ton der Erzählungen selbst. Ob eine Figur (Nicolo) mit ihrem eigenen Ebenbild konfrontiert wird oder die Spaltung anderer beobachtet (Alkmene), sie sehnt sich, sobald sie ihre Furcht, Verblüffung oder Angst niedergerungen hat, sofort nach Gewissheit. Und wenn am Ende alles in → VERWIRRUNG und Tragödie endet, so hat das seinen Grund nicht in der Spaltung der Persönlichkeit, sondern im Zerrinnen der Gewissheit.

»Széthulltam arra az egy darabra, ami mindig is voltam.« (»Ich zerfiel zu dem einen Stück, das ich immer schon war.«) Dezso Tandori: Haiku.

Alkmene vergleicht Jupiter mit einem Bild: mit Amphitryons Ebenbild. »Ich hätte für sein Bild ihn halten können, / Für sein Gemälde, sieh, von Künstlerhand, / Dem Leben treu …« – und es folgt die entscheidende Beobachtung: »… ins Göttliche verzeichnet«. (1189–92) Beide Männer sind sich vollkommen ähnlich (so sehr, dass sie in einer idealen Aufführung von einem Darsteller verkörpert werden müssten).

Der tragische Konflikt der Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen dem idealen und dem gebrechlichen Geliebten wird auch Racines Phädra zum Verhängnis (Phädra, 1677). Phädra sehnt sich zwar nach Theseus, doch da ihr Gatte wankelmütig und flatterhaft ist, verliebt sie sich in seinen Sohn Hippolyt, der seinem → VATER in ihren Augen zum Verwechseln ähnlich ist (II. Akt, 5. Szene). Es ist nicht ausgeschlossen, dass das zu jener Zeit häufig dramatisierte Amphitryon-Thema (Jean de Rotrou, 1636, Molière, 1668) Racine beeinflusst hat.

Und dennoch: man kann sich keinen größeren Gegensatz vorstellen als den, der beide voneinander trennt. Es ist der Gegensatz von Himmlischem und Irdischem, → GÖTTLICHEM und Sterblichem. »Wie soll ich Worte finden […],/ Das Unerklärliche […] zu erklären?« (1122–3), fragt Alkmene. Unerklärlich ist nicht, dass der → GOTT zur Erde hinabgestiegen ist, auch nicht, dass beide Männer sich zum Verwechseln ähnlich sehen, sondern dass zwei Männer miteinander identisch sind, die es trotzdem nicht sind. Oder – aus Alkmenes → BLICKwinkel betrachtet – wie ein und derselbe Mann auf göttliche und nicht göttliche Art existieren kann (das begreift auch die Marquise von O.… an Graf F… nicht), wie er sich gleichzeitig unter- und übertreffen kann. Wenn Goethe schreibt, »das Stück Amphitryon von Kleist enthält nichts Geringeres, als eine Deutung der Fabel ins Christliche« (LS 182a), denkt er, wie andere Zeitgenossen auch, an die Unbefleckte Empfängnis bzw. die Ähnlichkeit zwischen der Empfängnis Jesu und der Herakles’. In Wirklichkeit ist die Geschichte jedoch nicht deshalb christlich, sondern weil die Ähnlichkeit/Identität von Jupiter und Amphitryon den Dualismus der menschlichen Existenz selbst, ihren menschlichgöttlichen, geschöpflich-schöpferischen Charakter in Erinnerung ruft. Das Attribut »christlich« kann sogar in Anführungszeichen gesetzt werden, da es sich nicht nur um eine Grundfrage des Christentums, sondern einer jeden Religion handelt. (Einem ähnlich unlösbaren Problem sieht sich auch Racines Phädra gegenüber, die sich nach eigenem Bekunden deshalb in Hippolyt verliebt, weil er Theseus ähnelt – doch während Theseus zur → HÖLLE fährt, bewahrt Hippolyt sein göttliches Wesen – vgl. Phädra, II. Akt, 5. Szene.) Alkmene wird nicht mit einer bestimmten Religion (der griechisch-römischen Mythologie oder deren christliche Umdeutung) konfrontiert, sondern sie hat am religiösen Erlebnis an sich teil. Darin findet sie zunächst grenzenlose Wonne, dann unerträgliche Qual. »Wie Schaudern jetzt, → ENTSETZEN mich ergreift / Und alle Sinne treulos von mir weichen« (1139–40). Die Betonung liegt nicht darauf, dass zweieineswarum der Mensch nicht restlos mit sich selbst eins sein kannZIGEUNERINeinsDas Käthchen von HeilbronnWELTGÖTTLICHEM