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James Gordon Farrell

Singapur im Würgegriff

Roman

Aus dem Englischen von

Manfred Allié

Mit einem Nachwort von

Derek Mahon

Inhalt

ERSTER TEIL

ZWEITER TEIL

DRITTER TEIL

VIERTER TEIL

FÜNFTER TEIL

SECHSTER TEIL

Für Bob und Kathie Parrish

Vorbemerkung des Verfassers

Es mag auf den ersten Blick kurios erscheinen, einem Roman eine Bibliografie beizufügen, doch dieses Buch verdankt den Arbeiten anderer viel, ebenso den Aufzeichnungen – Meinungen, Erfahrungen – derjenigen, die im Zweiten Weltkrieg oder der Zeit davor den Fernen Osten bereist, dort gearbeitet oder dort gekämpft haben. Trotzdem will das Singapur meines Buches nichts anderes als fiktiv sein: auch wenn viele seiner Ziegelsteine echt sind, ist doch das Bauwerk pure Fantasie.

J. G. F.

ERSTER TEIL

1

Die Stadt Singapur entstand nicht, wie Städte sonst meist, allmählich durch natürliche Ablagerungen des Geschäftslebens an den Ufern eines Flusses oder am Schnittpunkt alter Handelsstraßen. Sie wurde schlicht und einfach erfunden, eines Morgens im frühen neunzehnten Jahrhundert, von einem Mann, der auf eine Landkarte blickte. »Hier«, sagte er sich, »brauchen wir eine Stadt, auf halbem Wege zwischen Indien und China. Das wird der große Haltepunkt auf der Route in den Fernen Osten. Wohlgemerkt, den Holländern wird es nicht gefallen und Penang wird sich nicht freuen, gar nicht zu reden von Malakka.« Der Name dieses Mannes war Sir Thomas Stamford Raffles; vor dem Krieg stand seine Bronzestatue am Empress Place, in einem Alkoven, der etwas von einer Jakobsmuschel hatte (heute steht er in Stein an einer schattigen Stelle am Fluss). Er war ganz und gar nicht der entschlossen dreinblickende Mann, den man sich vorgestellt hätte – eigentlich sah er sogar eher langweilig aus, im Gehrock.

Früher hatten einmal Menschen dort gelebt, doch bei seiner Ankunft war die Insel Singapur so gut wie verlassen, bis auf Ratten und Tausendfüßler, die es in rauen Mengen gab. Raffles vermerkte auch mit einem gewissen Unbehagen die vielen menschlichen Totenschädel und Skelette, Hinterlassenschaften der Piraten dieser Gegend. Trotzdem verlor er keine Zeit, mit einem erschrockenen Einheimischen in Verhandlungen um die Insel zu treten, und stellte anschließend, lesen wir bei seinem Biografen, einen sechsunddreißig Fuß hohen Fahnenmast auf. »Uns geht es«, schrieb er an einen Freund, »nicht um Land, sondern um Handel: einen großen Umschlagplatz, einen Dreh- und Angelpunkt, von dem aus wir auch politischen Einfluss ausüben können, sollten die Verhältnisse dies zu einem späteren Zeitpunkt erfordern.« Als er dort an dem einsamen Ufer stand und zur Flagge hinaufschaute, und die Ratten und Tausendfüßler wimmelten um seine Füße, sah Raffles da den Wohlstand, den die Zukunft Singapur bringen sollte, voraus? Mit Sicherheit tat er das.

Man darf sich, wenn man an die Stadt denkt, wie sie vor vierzig Jahren war, keine unzivilisierte Grenzstadt am Rande des Dschungels vorstellen. Man hätte nur ein einziges Mal durch das Stadtzentrum schlendern müssen, mit seinen breiten Prachtstraßen und Parks, hätte nur die gewaltigen Regierungsgebäude sehen müssen, die luxuriösen Läden, die marmorne Würde der Bankhäuser, dann hätte man gewusst, dass Singapur das Werk einer bedeutenden und kultivierten Nation war. Zugegeben, es gab auch andere Stadtteile, die Viertel der Einheimischen und der Zuwanderer, in denen die Tamilen, Malaien und vor allem die Chinesen wohnten, und die waren nicht ganz so eindrucksvoll. Dort, in den bodenlosen Tiefen, begingen chinesische Geheimgesellschaften zweifellos entsetzliche Verbrechen, entführten ihre eigenen angesehenen Bürger, kämpften gnadenlos um Bezirke, betäubten sich mit Drogen und so weiter. Wären Sie vor dem Krieg einfach nur als Besucher, sagen wir als Seemann hierher gekommen, dann wäre Ihnen Singapur mit Sicherheit nicht weniger großartig, nicht weniger aufregend als jede andere große Hafenstadt Ostindiens vorgekommen. Sie hätten in einer der Vergnügungsstätten getrunken und getanzt, vielleicht sogar im Great World selbst, dessen hallender Tanzsaal mit seinen schier unglaublichen Ausmaßen schon seit vielen Jahren einsamen Seeleuten wie Ihnen Unterhaltung geboten hatte. Hier konnte man für fünfundzwanzig Cent mit den schönsten Taxigirls des Ostens tanzen, konnte die lautesten Kapellen hören und an den Wänden die prachtvollsten gemalten Drachen bewundern. In der guten alten Zeit vor dem Krieg, bevor all die Soldaten kamen, konnte dieser Saal eine ganze Schiffsbesatzung schlucken und wäre einem Besucher immer noch leer vorgekommen, leer bis auf ihn und die zwei oder drei chinesischen Mädchen mit den aufgemalten Puppengesichtern, die mit ihm am Tisch saßen, bereit, ihn mit kleinen, doch kräftigen Händen zu stützen, wenn er, schwer vom Tiger-Bier, zu Boden zu gehen drohte.

Und wäre er dann nach draußen gewankt, hätte ihn jener unvergleichliche Duft umweht, der Geruch von Weihrauch, warmer Haut, Fleisch, das in Kokosnussöl brutzelte, von Geld und Jasminblüten, von Haaröl und Sex und Sandelholz und Gott weiß was sonst noch, ein Aroma wie der Atem des Lebens selbst. Und vom Dach des Seemannsheims oder von einem anderen, weniger respektablen Dach aus hätte er das riesige purpurrote Schild gesehen, das für Tigerbalsam Reklame machte, und daneben, wenn es erst einmal ganz dunkel geworden war, dessen Protagonisten, den großen Tiger mit Reißzähnen wie Dolchen, dessen Streifen orangerot glommen, wenn er sich zu seinem nächtlichen Rundgang über die schlafenden Dächer von Singapur aufmachte. Aber es war nicht zu leugnen, manche Teile der Stadt waren schäbig, andere elend, und es wurde, je weiter diese Vorkriegszeit fortschritt, schlimmer: Schon um 1940 begannen durch die Wände der billigen Hotels und Pensionen, die bis dahin nur dann und wann ein Stöhnen oder einen Seufzer durchgelassen hatten, Radiomusik, Gitarrenklimpern und die Stimmen von Nachrichtensprechern zu dringen. Jede Großstadt hat ihre hässliche Seite. Und so wollen wir uns lieber den schöneren Stadtvierteln zuwenden, der eleganten europäischen Vorstadt Tanglin zum Beispiel, wo Walter Blackett, Präsident des angesehenen Handels- und Maklerhauses Blackett & Webb, mit seiner Familie lebte.

Auf den ersten Blick sah Tanglin nicht anders aus als jede andere europäische Vorstadt, mit seinen geschwungenen baumgesäumten Straßen und den hübschen Bungalows. Es gab einen Golfplatz mit durchaus respektablem Rasen; vielfach sah man Tennisplätze jenseits süß duftender Hecken, sogar einen Swimmingpool oder zwei. Das Leben, das die Menschen hier lebten, war, alles in allem, friedlich und gemächlich. Aber wenn man genau hinsah, sah man, dass diese Vorstadt zum Bersten erfüllt war von einer beängstigend tropischen Energie. Blattwerk wucherte an allen Enden mit einer Entschlossenheit, die unsere schlaffe europäische Vegetation nicht kennt. Dunkles, schimmerndes Grün war über alles wie mit dem Malspachtel gestrichen, und im Halbdunkel (der Dschungel hat eine Tendenz zum Halbdunkel) steckte etwas Sinistres, das eben noch Laut gegeben hatte und nun den Atem anhielt.

Überließ man sein Haus ein paar Monate, während man zum Beispiel Urlaub in der Heimat machte, sich selbst, würde man mit einiger Sicherheit feststellen, dass Ranken um jeden vorstehenden Teil ihr grünes Lasso geschlungen hatten und es zu Boden zerrten, dass kräftige Farne die Fugen zwischen Backsteinen sprengten und dass gefräßige häuservertilgende Insekten, im Grunde nichts weiter als kräftige Kiefer auf Beinen, die hölzernen Partien verspeist hatten. Hinzu kam, dass die Moskitos dieser speziellen Vorstadt nur entfernte Verwandte jener harmlosen Gesellen waren, die uns an einem englischen Sommerabend lästig werden: In Tanglin hatte man es mit der gefürchteten Anophelesmücke zu tun, jede einzelne davon eine kleine fliegende Giftspritze, gefüllt mit einer tödlichen Dosis Malaria. Und wenn man durch einen glücklichen Zufall der Malaria entging, saß immer noch die zweite Moskitoart in den Startlöchern, die mit den gestreiften Fußballsocken, immer auf dem Sprung, einem das Denguefieber einzuimpfen. Wenn ein Kind sich beim Spiel im Garten das Knie aufschürfte, dann passte man besser auf, dass keine Fliege sich auf die Wunde setzte, denn sonst musste man am nächsten oder übernächsten Tag winzige weiße Maden mit der Pinzette herausholen. Zu jener Zeit, als manche Bereiche der Vorstadt noch direkt an den Dschungel grenzten, war es keineswegs ungewöhnlich, dass man im Garten von Affen, Schlangen oder dergleichen Besuch bekam, denen der Sinn nach Obst oder Mäusen stand (oder auch nach einem kleinen Hund, wenn man einen appetitlichen Welpen hatte). Aber lassen wir es genug sein mit dem Hinweis, dass es neben den üblichen Annehmlichkeiten des Vorstadtlebens auch die eine oder andere unvorteilhafte Seite gab.

Nicht weit vom Haus der Blacketts führte die Orchard Road sanft bergabwärts (es war eher ein gefühltes als ein reales Gefälle) und verlief fast schnurgerade über etwa eine Meile, bis sie sich in den Ausläufern von Chinatown und dem Geschäftsbezirk verlor, in dem Walter am Collyer Quay seinen Firmensitz hatte und die Woche über seine Schlachten schlug. Dort in der Innenstadt, wo einst Ratten und Tausendfüßler zu Hause gewesen waren, wimmelte nun das Geschäftsleben; Unternehmen gediehen und gingen nieder, verschlangen einander, kopulierten, schlugen sich gegenseitig die Zähne in die Flanken, schluckten die Bissen, rissen sich los, verschlangen die nächste Firma oder bestiegen einander, um neue zu zeugen, ganz wie sie es auch in anderen großen kapitalistischen Städten taten. Doch hier oben in Tanglin gingen die Leute still und ordentlich ihren täglichen Beschäftigungen nach, schienen weit entfernt von derart grässlichen Begegnungen, weit vor allem von dem dichten Gedränge der Einheimischen dort drunten in der Stadt. Aber sie bewegten sich, könnte man sagen, wie die Zeiger einer Uhr sich bewegen. Stellen Sie sich eine Uhr in einem gläsernen Gehäuse vor: Die Zeiger gehen wie selbstverständlich ihres Weges, aber zugleich können wir auch sehen, wie Federn und Wellen und Zahnräder ihre Arbeit tun. Und in der gleichen Art war das geordnete Leben in Tanglin auf die Stadt zu ihren Füßen angewiesen, auf das Festland jenseits der Dammstraße, dessen Handelshäuser, Bergwerke und Plantagen gleichsam die Wellen und Zahnräder waren, und die stumme, gigantische Masse der Arbeiter war die Feder, die dafür sorgte, dass unaufhörlich Spannung von einem Bestandteil dieses Organismus an einen anderen weitergegeben wurde … und natürlich nicht nur zu jenem Zeitpunkt und nicht nur in Tanglin, sondern viel weiter ausgreifend in Raum und Zeit: bis hin zu Ihnen, Tausende von Meilen weit entfernt, bei Ihrer Lektüre im Bett oder in einem Liegestuhl auf dem Rasen, oder zu mir, der ich am Tisch sitze und dies schreibe.

2

Alles in allem hatten die Blacketts, 1937 in Singapur, guten Grund, mit ihrem ruhigen und immer wohlhabenderen Leben zufrieden zu sein. Nur ein- oder zweimal in den beiden Jahrzehnten seit dem Weltkrieg waren Dinge vorgefallen, die an ihrem Seelenfrieden gerüttelt hatten, und auch da hätte man nicht sagen können, dass es wirklich von Bedeutung war. Sicher, ihre ältere Tochter Joan hatte Anstalten gemacht, sich mit unpassenden jungen Männern einzulassen … aber das sind die Dinge, auf die jede Familie mit heranwachsenden Kindern gefasst sein muss.

Seine Frau, Sylvia, war in heller Aufregung gewesen, doch Walter selbst neigte eher dazu, erst einmal in aller Ruhe abzuwarten. Joan war erst kurz zuvor von einer Schule für höhere Töchter aus der Schweiz zurückgekehrt, und es war ihr nicht leichtgefallen, sich in Singapur wieder einzuleben, fernab von den Freunden, die sie in Europa gefunden hatte. Sie war aufsässig, sie verachtete die provinzielle Art der Kolonie – was, nahm Walter an, nur natürlich war, wenn man von einer solchen Schule kam (die Schule, nebenbei gesagt, war die Idee ihrer Mutter gewesen). Mit ein wenig Zeit würde sie schon darüber hinwegkommen.

Das erste Mal, dass Joan sich mit einem solchen jungen Mann eingelassen hatte, einem mittellosen Hauptmann der Luftwaffe, den sie wer weiß wo aufgegabelt hatte, war es gewiss ein Akt der Rebellion gewesen. Sogar Joan hatte kaum versucht zu leugnen, dass er ein unmöglicher Mensch war. Außerdem wusste sie gut genug, was ihre Eltern, die keine hohe Meinung vom Militär hatten, selbst noch von den Generälen und Generalmajoren hielten, die der Dienst nach Singapur gerufen hatte, von Hauptleuten gar nicht zu reden. Walter hatte den fraglichen jungen Mann nie zu Gesicht bekommen, denn Joan war klug genug gewesen und hatte gar nicht erst versucht, ihn mit nach Hause zu bringen. Er hatte in aller Ruhe abgewartet, bis sie zur Vernunft kam, und hatte, zuletzt schon mit einer Spur Ärger, seiner Frau erklärt, dass sie mit ihren Tränen und ihren Sorgen Kräfte vergeude, die sie nützlicher für anderes anwenden könne, denn Joan werde binnen Kurzem wieder vernünftig sein, mit den Tränen ihrer Mutter oder auch ohne. Am Ende hatte es ein wenig länger gedauert als erwartet, aber schließlich wurde Walter darin bestätigt, dass sein Vertrauen berechtigt gewesen war. Der Hauptmann der Luftwaffe war aus Joans Leben genauso unauffällig wieder verschwunden wie er aufgetaucht war. Ruhe war wieder ins Haus der Blacketts eingekehrt, eine Zeit lang zumindest.

Jetzt aber war Mrs. Blackett, als sie den Stoff von einem von Joans Baumwollkleidern mit Finger und Daumen befühlte, unerwartet auf ein knisterndes Stück Papier gestoßen. Ah, was war denn das? Etwas, das die Wäscherei dort hineingesteckt hatte? Zufällig hatte Mrs. Blackett das dünne Gewebe des töchterlichen Kleides gerade an der Stelle zu fassen bekommen, an der sich eine Tasche befand. Joan, die in besagtem Kleid steckte, errötete und versicherte, es sei nur ein Stück Papier, nichts von Bedeutung. »In dem Falle«, erwiderte Mrs. Blackett, »sollten wir es am besten gleich fortwerfen, denn wir wollen ja nicht unsere Kleider hässlich ausbeulen, nur weil wir unnötige Sachen in unseren Taschen spazieren tragen.« Schnell wie der Blitz schossen ihre Finger zu der Tasche und ergatterten das anstoßerregende Stück Papier (genau wie sie sich gedacht hatte! Ein Liebesbrief!), bevor Joan Zeit hatte, zurückzuweichen. Die darauf folgende Szene, die Schreie, die hysterischen Anfälle, das Füßestampfen, drangen sogar bis zu Walter hinauf, der im oberen Stock in seinem Ankleidezimmer saß und über Geschäftliches nachdachte. Er gab dem Sturm ein wenig Zeit zum Abflauen, doch als dieser keinerlei Neigung dazu zeigte, musste er doch hinuntergehen, damit nicht eine von beiden in ihrer Aufregung noch der Schlag traf. Sein Eintreten ließ Mutter und Tochter sofort verstummen: sie starrten ihn mit glasigen Augen an, tränenüberströmt, ihre Busen wogten noch. Als Erstes schickte er Joan auf ihr Zimmer, und als sie fort war, erinnerte er seine Frau daran, dass sie Order hatte, diese Dinge mit Ruhe aufzunehmen.

»Es ist einfach eine Tatsache, meine Liebe, dass du mit solchen Streitereien nichts bewirkst. Ganz im Gegenteil. Mich würde interessieren, wie viel du mit all deinem Gezeter und Geschrei über den jungen Mann herausgefunden hast. Ich wette … überhaupt nichts.«

Das stimmte. Mrs. Blackett ließ den Kopf hängen. Joan hatte erklärt, dass sie lieber tot sein als etwas über ihn verraten wolle, darüber, wo sie ihn kennengelernt habe, wo er arbeite, ja sogar wie er heiße. »Anscheinend heißt er Barry«, seufzte Walter nach einem Blick auf den Brief, »und ich kann dir auch sagen, wo er arbeitet, denn er schreibt auf dem Briefpapier seiner Firma. Wo sie ihn kennengelernt hat, braucht uns nicht zu interessieren. Du hast nichts weiter bewirkt als dass Joan jetzt störrisch ist. Ich möchte dich bitten, dich in Zukunft zuerst mit mir zu beraten, bevor du mit Joan über ihre Verehrer sprichst. Ich gehe jetzt nach oben und unterhalte mich mit der jungen Dame.«

Nachdenklich stieg Walter die Treppe hinauf. Die Heirat seiner Töchter war ein Thema, mit dem er sich bisher noch nicht viel beschäftigt hatte. Und doch war es ja unzweifelhaft eine gewichtige Sache, von Bedeutung nicht nur für Joan und, wenn die Zeit kam, für die kleine Kate, seine jüngere Tochter, sondern durchaus auch für die Firma. Schließlich konnte man als wohlhabender Mann seine Tochter nicht dem erstbesten Mitgiftjäger geben. Wer eine solche Ehe zuließ, öffnete der Katastrophe Tür und Tor. Ohne jede Frage war es nicht nur für Joan selbst, sondern auch für Blackett & Webb besser, wenn sie jemanden zum Mann nahm, dessen gesellschaftliche Stellung in der Kolonie ihrer eigenen entsprach.

In der Tat gab es zwei oder drei junge Männer in Singapur, mit denen eine in dieser Hinsicht befriedigende Allianz sich schließen ließe und die, wenn man bedachte, wie attraktiv Joan war, auch ganz bestimmt nichts dagegen hatten. Doch als sie ihr nach ihrer Rückkehr aus dem Mädchenpensionat eine solche Verbindung nahegelegt hatten, war Joan entrüstet gewesen. Sie fand die Vorstellung abgeschmackt und altmodisch. Sie werde den heiraten, der ihr gefalle. Das hatte natürlich wiederum die älteren Blacketts entrüstet. Walter wollte wissen, wieso er für so eine Schule gutes Geld ausgegeben habe, wenn sie dort nicht wenigstens ein klein wenig Sinn für die Realitäten des Lebens beigebracht bekommen habe. Aber Joan blieb stur, und Walter war bald zu dem Schluss gekommen, dass Geduld die beste Taktik war. Sie würden abwarten, was sich ergab, und in der Zwischenzeit würden sie zusehen, dass sie die weniger wünschenswerten jungen Männer dezent abservierten. Trotz der Szene, die sich gerade ereignet hatte, vertraute Walter weiter fest darauf, dass Joan ein zu vernünftiges Mädchen war, um sich auf Dauer an jemanden zu binden, den ihre Eltern unpassend für sie fanden.

Auf der Treppe hatte Walter überlegt, ob er seine Tochter tadeln und ihr befehlen sollte, keine Briefe mehr mit dem jungen Mann zu wechseln. Stattdessen beschloss er, sich weiterhin auf ihren klugen Kopf zu verlassen, und sagte nur: »Joan, Liebes, ich habe nichts dagegen, dass du mit jungen Männern flirtest, solange du vernünftig bleibst und nichts tust, was du später vielleicht bereust. Aber ich habe etwas dagegen, dass du deine Mutter aufregst. In Zukunft sei bitte diskreter und verstecke deine Briefe irgendwo, wo sie sie nicht findet.« Joan, die weiteren Streit erwartet hatte, sah ihn verblüfft an, als er ihr den Brief, der all diese Aufregung verursacht hatte, zurückreichte.

Ging Walter, was die Zukunft seiner Tochter anbetraf, ein großes Risiko ein, als er so milde verfuhr? Mrs. Blackett fand, das tat er. Doch Walter beschwichtigte sie. Er war gut mit dem Vorstandsvorsitzenden der Firma bekannt, auf deren Briefpapier der junge Mann seine Liebesbriefe schrieb, und begegnete ihm häufig im Club. Da würde ganz bestimmt, wenn es zum Schlimmsten kam und Joan ein ernsthaftes Interesse entwickelte, ein kleiner Hinweis und ein Schulterklopfen genügen, um den Burschen von Singapur an einen angemessen entfernten Ort (sogar zurück nach England, falls notwendig) versetzen zu lassen. Aber es stellte sich heraus, dass eine solche Intervention überflüssig war: In einem gewissen Alter erstickt nichts schwärmerische Gefühle so zuverlässig wie die Erlaubnis oder das Einverständnis der Eltern. Barry (wer immer er gewesen sein mochte) durfte in Singapur bleiben, wenn auch mit gebrochenem Herzen.

Nun beschloss Mrs. Blackett, die beste Art, ihre Tochter vor dem Umgang mit unpassenden Männern zu bewahren, sei, sie mit passenden zu umgeben. Sicher, davon gab es in Singapur erschreckend wenige, aber sie würde eine Liste aufstellen und sehen, was sich machen ließ … Alle lag nur daran, dass Joan nie mit jemandem von der richtigen Sorte zusammenkam. Dem würde Mrs. Blackett jetzt abhelfen und jede Woche ein oder zwei junge Männer ihrer eigenen Wahl zum Tee einladen. Joan werde als Gastgeberin fungieren, und Walter sollte auch dabei sein und ein Auge auf alles haben. Wie finde Walter das? Sei das nicht eine gute Idee?

Walter hatte seine Zweifel. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Joan Gefallen an einem jungen Mann finden würde, wenn ihre Mutter ihn empfahl. Und noch skeptischer wurde er, als er die Liste sah, die sie zusammengestellt hatte. Aber er erklärte sich doch für einverstanden, zum einen weil seine Frau auch einmal ihren Willen bekommen sollte; zum anderen steckte aber auch eine eigene heimliche Schwäche dahinter. Diese Schwäche, so harmlos und so gutmütig, dass man sie beinahe schon eine Tugend nennen konnte, bestand darin, dass er als Mann mit Erfahrung im Leben den Jüngeren, die eben erst ihre ersten Schritte machten, gern ermunternde Worte mit auf den Weg gab. Und so kam es, dass, als diese wöchentlichen Teegesellschaften erst einmal in Gang gekommen waren und während Joan wortlos und widerspenstig dabeisaß, ihre grünen Augen kalt wie Stein, Walter sehr gesprächig wurde und sich prächtig amüsierte. Mrs. Blacketts Blick wanderte beständig von Ehemann zu Tochter zu jungem Gast, um abzuschätzen, welchen Eindruck jeder jeweils auf den anderen machte. Genau genommen saß der junge Mann meist mit einer etwas besorgten Miene da, wenn Walter ihm seine Erweckungspredigten hielt: schließlich handelte es sich hier um Blackett von Blackett & Webb, einen wichtigen Mann in der Gegend, und seine Eltern hatten ihm eingeschärft, sich nicht zu blamieren und sich einmal im Leben anständig zu betragen.

Schon seit Jahren war es eine liebe Angewohnheit von Walter, seine Besucher beim Arm zu fassen und ihnen auf einem Rundgang die Bilder in seinem Wohnzimmer zu erläutern. So kam es, dass der für Joan bestimmte junge Mann, auch wenn er lieber sitzengeblieben wäre, weil dann die Gefahr geringer war, etwas umzustoßen, sich widerstrebend aus seinem Sessel ziehen ließ, und Joan blieb meuterisch neben ihrer Teekanne sitzen und tat, als höre sie die geflüsterten Ermahnungen ihrer Mutter, auch einmal etwas zu ihrem Gast zu sagen oder gar den beiden Männern bei ihrem Spaziergang Gesellschaft zu leisten, nicht.

Etliche der Bilder, die Walter dem jungen Mann erläuterte, waren im naiven Stil gehalten, von einem einheimischen Künstler vielleicht oder einem begabten Schiffsoffizier in seiner Freizeit gemalt; hier hatten wir einen Dreimaster, der eben mit Gewürzen oder Zucker beladen wurde, und eine Reihe einheimischer Träger marschierte mit Bündeln auf dem Kopf aus dubioser Perspektive über einen armseligen Kai, dahinter der Dschungel. Auf dem nächsten Bild, von gebildeterer Hand, war das Schiff in Liverpool angelangt und wurde wieder entladen; es folgten drei oder vier Ansichten des Hafens von Rangun, und jedes Mal rief Walter: »Sehen Sie! Hier wird Reis geladen. Natürlich noch alles Segelschiffe, und Rangun ist nichts als ein verschlafenes kleines Nest. Aber warten Sie nur!«

In den alten Zeiten, erklärte er dann, und der Knabe neben ihm sah ihn beklommen an, hätte weißer Reis die lange Reise ums Kap nicht überstanden, und so wurde er als »Cargoreis« verschifft, bestehend zu einem Fünftel aus ungeschältem Paddy und zu vier Fünfteln aus in Handmühlen grob von den Spelzen befreiten Körnern. Ging er an Adressen im Osten, hauptsächlich nach Indien, wurde er meist als Paddy – Rohreis – verkauft (»Die Habenichtse haben ihn selber geschält«). Jetzt führte Walter, der die Geschichte in flottem Tempo herunterspulte, seinen Gast (oder besser gesagt Joans Gast) zu einer späteren Ansicht von Rangun. »Hier sehen Sie, wie die Stadt seither gewachsen ist. Und beachten Sie, hier im Hafen, wie Dampfschiffe die Segler verdrängt haben (manche haben natürlich noch beides). Und die großen Gebäude hier mit den Schloten, wissen Sie, was das ist? Dampfbetriebene Reismühlen!«

Denn inzwischen, mit Öffnung des Suezkanals im Jahr 1870, war es möglich geworden, polierten Reis nach Europa zu verschiffen und damit die Betriebe in London, die zuvor den Cargoreis weiterverarbeitet hatten, auszustechen.

»Die waren ruiniert«, pflegte Walter an dieser Stelle mit gerunzelter Stirn zu sagen. »Haben sich nicht schnell genug angepasst. Als Geschäftsmann muss man immer auf der Hut sein.« Und wenn der junge Mann, was ja das Wahrscheinlichste war, gerade selbst seine Karriere im Geschäftsleben begann, schob Walter vielleicht noch einen kleinen Vortrag darüber ein, wie wichtig es war, immer mit der Zeit zu gehen, und niemals durfte man etwas für selbstverständlich nehmen.

»Geh hin, stell dich zu ihnen!«, zischte Mrs. Blackett ihre Tochter in durchdringendem Ton an. »Du bist unhöflich zu deinem Gast.«

»Aber Mutter, ich habe dir doch schon tausendmal gesagt …« Und das stimmte … das hatte sie.

Das letzte Bild von Rangun, gemalt nach der Jahrhundertwende, zeigte, wie der florierende Reishandel dafür gesorgt hatte, dass eine mächtige moderne Stadt entstanden war, unter den ostindischen Häfen nun nur noch von Kalkutta und Bombay übertroffen. Walter zog seinen verzagten Gefangenen näher zu sich heran, und nach einer kurzen Studie des Menschengewimmels an den Kais des Rangunflusses pflegte er dann den Finger auf ein prächtiges Lagerhaus zu legen und zu sagen: »Unser erstes! Das erste, das Blackett & Webb gehörte … oder besser gesagt Webb & Company, denn so hieß die Firma damals noch. Bis heute haben wir ein exakt nach dem gleichen Plan errichtetes hier in Singapur am Fluss. Sehen Sie jetzt, was ein klein wenig Handel für einen Ort ausmacht?« Und mit zufriedener Miene führte er den passenden jungen Mann zu immer weiteren Bildern von Kalkutta, Penang, Malakka und von Singapur selbst, alle in verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung.

»Da sehen Sie, was wir binnen weniger Jahre aus diesen Dörfern gemacht haben. Das haben ein wenig Zinn, ein wenig Kautschuk für Singapur bewirkt!«

Ein allerletztes Bild blieb noch zu sehen, und zwar das bedeutendste von allen, doch inzwischen war Mrs. Blackett ungeduldig geworden und rief Walter und seinen Zuhörer zu einer weiteren Tasse Tee zurück. Diese Teegesellschaften, hatte sie allmählich den Eindruck, zeigten nicht die erhoffte Wirkung. Ein beunruhigender Gedanke kam ihr, und sie beobachtete ihre Tochter misstrauisch. Hatte Joan womöglich deswegen so wenig Interesse an ihrem Gast, weil sie sich insgeheim schon wieder mit einem weiteren unpassenden jungen Mann abgab?