Cover

Wilfried Loth

Fast eine Revolution

Der Mai 68 in Frankreich

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

EIN MYTHOS WIRD ENTZIFFERT

Der Mai 1968 in Frankreich, ein Sehnsuchtsort der Generation der »68er« in ganz Europa, steckt noch immer voller Rätsel. Warum hatten die Proteste linker Studenten hier so eine große Resonanz? Wieso konnten sie von Paris aus ein ganzes Land lahmlegen und an den Rand einer Revolution bringen?

Wilfried Loth, einer der besten deutschen Kenner der französischen Zeitgeschichte, lässt erstmals alle Akteure der dramatischen Geschehnisse zu Wort kommen. Er zeigt zudem, dass in den bewegten Wochen beglückender Erfahrungen und verstörender Momente ein Zyklus in der französischen Geschichte begann, der mit den Präsidentschaftswahlen von 2017 endete. Ein eindringlich erzähltes Buch, spannend wie ein Politkrimi!

Vita

Wilfried Loth, geboren 1948 im Saarland, ist emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen. Er war Vorsitzender des deutsch-französischen Historikerkomitees; die Französische Republik hat seine Arbeit durch die Ernennung zum »Officier dans l’Ordre des Palmes Académiques« gewürdigt.

Inhalt

Einleitung

1 Nanterre oder: Wie eine Bewegung entsteht

2 Die Schlacht des 3. Mai

3 Aufbruch unter Gewalt

4 Die Nacht der Barrikaden

5 Der Generalstreik

6 Ein Land im Arbeitskampf

7 Die Kulturrevolution

8 Die Ohnmacht des Generals

9 Grenelle: Erfolg und Scheitern

10 Rien ne va plus

11 De Gaulle verschwindet

12 Die Wende

13 Besiegte Sieger

Schluss: Kein Ende in Sicht

Nachwort

Anmerkungen

Zeittafel

Abkürzungen

Literatur

Personenregister

23. Juni 1968

An einer Mauer in einem Dorf hängt ein gelbes Plakat: Sie wollen die Mehrheit. Sie haben sie zehn Jahre lang gehabt. Was haben sie damit gemacht? Schluss damit! Wählt die Föderation der Linken Demokraten und Sozialisten, wählt Emile Vivier, und ich denke: Wenn nicht ein paar Studenten vor zwei Monaten auf die Straße gegangen wären, würde dieses Plakat hier nicht hängen. Müßige Überlegung. Sie sind auf die Straße gegangen, zehn Millionen Arbeiter haben gestreikt, es hat eine Revolte gegeben und fast eine Revolution, ich bin dabei gewesen und kann es kaum mehr glauben, und in ebendieser Atmosphäre der Ungläubigkeit, vermischt mit Angst, wird das Alte bestätigt und das Neue verleugnet werden. Und was soll man auch damit anfangen, hier, zwischen all den Wiesen? Die ganze Geschichte bekommt etwas Fernes, Unvorstellbares, der Tiger fühlt sich wieder als Tiger und weiß nicht mehr, dass er einen Tag lang, und zwar in der Öffentlichkeit, für jeden sichtbar aus Papier gewesen ist.

Cees Nooteboom, »Paris, Mai 1968«, in: Ders., Gesammelte Werke,
Band 7, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 702f.

Einleitung

Frankreichs Uhren gehen anders: Dieses Motto, mit dem der Schweizer Historiker und Essayist Herbert Lüthy 1954 einem deutschsprachigen Publikum das Land der 265 Käsesorten erklären wollte,1 gilt auch noch für den studentischen Protest der 1960er Jahre und die Umbrüche, die daraus folgten. In den USA, im westlichen Deutschland, in Italien und anderswo beherrschten neulinker Protest, studentischer Aufruhr und die Praktizierung alternativer Lebensformen schon lange die Schlagzeilen und die Gemüter, bevor sie Frankreich erreichten. Selbst als die verschiedenen Erscheinungsformen des studentischen Protests mancherorts schon ihre Höhepunkte überschritten hatten, war in der Grande Nation noch nichts davon zu spüren.

Im kalifornischen Berkeley kam es bereits im September 1964 zu einem Protest bürgerrechtlich bewegter Studenten, der landesweites Aufsehen erregte. Als sich die Universitätsleitung weigerte, politische Agitation auf dem Campus zuzulassen, reagierten die Studenten mit »Sit-ins« und der Besetzung des Verwaltungsgebäudes der Universität. Sie erkämpften sich damit nicht nur das Recht zur »freien Rede« auf dem Universitätsgelände, sondern schufen auch eine Plattform, um ihre Vorstellungen von einer »partizipativen Demokratie« zu propagieren. Gemeint war damit vor allem die Abschaffung der Diskriminierung der schwarzen Minderheit im amerikanischen Süden. Vom Frühjahr 1965 an verband sich dieses Engagement sowohl mit der Kritik am amerikanischen Kriegseinsatz in Vietnam als auch mit der Hippie-Kultur, die von San Francisco ausgegangen war. Die Bewegung, die daraus entstand, fand in dem »Marsch auf das Pentagon« im Oktober 1967 ihren spektakulärsten Ausdruck. Über 50.000 Teilnehmer verhalfen der Parole »Make love not war« zu weltweiter Popularität.

Parallel dazu machte sich »anti-imperialistischer« und anti-autoritärer Protest seit dem Sommer 1965 in West-Berlin bemerkbar, befeuert von den ebenso entschlossenen wie hochmoralischen Kampfaufrufen des Soziologie-Studenten Rudi Dutschke. Im Herbst 1966 begann in Westdeutschland (wie man die Bundesrepublik von Berlin aus zu nennen pflegte) der außerparlamentarische Kampf gegen die Notstandsgesetze, die die Regierung der Großen Koalition mit Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger und Willy Brandt als Außenminister auf den Weg brachte. Im Juni 1967 sorgte der Tod des Berliner Philologie-Studenten Benno Ohnesorg, erschossen von einem Polizeiobermeister bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien und dessen Regime, nicht nur für eine Radikalisierung, sondern auch für eine beträchtliche Ausweitung der Protestbewegung. Vom Sommer 1967 an beherrschten Demonstrationen, Protestaktionen und erregte Debatten über den revolutionären Kampf die Szenerie in den meisten deutschen Universitätsstädten, und die Medien verschafften ihnen landesweite Resonanz.

In Italien entzündete sich der Protest im Frühjahr 1965 an den Unzulänglichkeiten eines verrotteten Universitäts- und Schulsystems, dem die Mitte-links-Regierung unter Aldo Moro mit einem halbherzigen Reformplan zu begegnen versuchte. Auseinandersetzungen mit den militant auftretenden Neofaschisten und wachsender Einfluss einer neomarxistisch-anarchistischen Linken ließen die Protestbewegung 1966/67 zunehmend gewaltsamer und politischer werden. Am 1. März 1968 kulminierte die Konfrontation in der »Schlacht in der Valle Giulia«: einer gewaltsamen Auseinandersetzung Tausender Studenten der Sapienza-Universität in Rom mit einer hochgerüsteten Spezialeinheit der Polizei. In Anlehnung an Che Guevaras Forderung, »zwei, drei, ja viele Vietnams zu schaffen«, proklamierten die Aktivisten der Bewegung jetzt: »Schafft zwei, drei, viele Valle Giulias«. Radikale Studenten engagierten sich in den Streikbewegungen, die unter den unqualifizierten und gewerkschaftlich nicht organisierten Industriearbeitern um sich gegriffen hatten.

In Amsterdam machten 1965/66 die »Provos« von sich reden: eine anarchistische Aktionsgruppe, die aus der niederländischen Ostermarsch-Bewegung hervorgegangen war und den Zumutungen des Konsumkapitalismus mit bewusstseinsfördernden Happenings und »Weißen Plänen« begegnete. Ein »Weißer Fahrradplan« sah weiß lackierte Fahrräder im Zentrum von Amsterdam vor, die von jedermann kostenlos benutzt werden konnten und so alle Verkehrsprobleme der Stadt lösten; ein »Weißer Frauenplan« befasste sich mit Aufklärung und Sexualberatung; ein »Weißer Wohnungsplan« handelte von der Nutzung leerstehender Häuser und der Rettung alter Wohnbebauung und dergleichen mehr. Auch die Luftverschmutzung war ein Thema, dessen sich die »Provos« mit konkreten Vorschlägen annahmen. Das öffentliche Aufsehen, das sie mit solchen Forderungen und entsprechenden Auftritten erreichten, war groß; die Konfrontation mit der Staatsmacht hielt sich dagegen in engen Grenzen. Nachdem sich der Neuigkeitswert der Bewegung erschöpft hatte, erklärten die Aktivisten im Mai 1967 in einer weiteren ironischen Inszenierung ihren Tod. Die Bewusstseinsveränderungen, die sie angestoßen hatten, ließen sich freilich nicht mehr zurücknehmen.

Nichts von alledem fand Mitte der 1960er Jahre auch in Frankreich statt. Moralisch begründeten Protest hatte es hier in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren gegeben: Protest gegen Frankreichs Verwicklung in den Algerienkrieg. Aber nachdem Staatspräsident Charles de Gaulle den Rückzug aus Algerien durchgesetzt hatte, besiegelt im Vertrag von Évian im März 1962, hatte sich der Grund für diesen Protest erledigt. Engagierte Demokraten und gerade junge Leute unterstützten den Präsidenten im Kampf gegen putschende Militärs und Attentäter, die den Verlust der französischen Siedlungen in Algerien mit allen Mitteln verhindern wollten. Kritik am amerikanischen Imperialismus im Allgemeinen und an dem Krieg in Vietnam im Besonderen besorgte der Präsident höchstselbst; da fanden die Aktionen maoistischer Studentengruppen, die pflichtgemäß Solidarität mit dem Vietcong demonstrierten, kaum Resonanz.

Nachdem der Algerienkrieg beendet war, war Frankreich mit sich im Reinen. Der wirtschaftliche Aufschwung beschleunigte sich und bescherte den Franzosen die Segnungen der modernen Konsumgesellschaft. Die Aussöhnung mit dem deutschen Erbfeind – bekräftigt im Deutsch-Französischen Vertrag vom Januar 1963 – machte rasche Fortschritte, das Präsidialsystem der V. Republik, das de Gaulle bei einer ersten Zuspitzung des Algerienkonflikts 1958 durchgesetzt hatte, stabilisierte sich. Der General, wie seine Mitkämpfer den Präsidenten respektvoll nannten, nutzte einen Anschlag, den die anti-algerischen Untergrundkämpfer im August 1962 auf ihn verübten, um mit einem Referendum die Direktwahl des Staatspräsidenten einzuführen und die »Parteien von gestern«, die das politische Leben in der IV. Republik beherrscht hatten, gründlich zu dezimieren. In den Parlamentswahlen vom 18. und 25. November 1962 konnten die Gaullisten fast die absolute Mehrheit erreichen; zusammen mit den Unabhängigen Republikanern um Valéry Giscard d’Estaing konnten sie bequem regieren. Bei der Direktwahl des Staatspräsidenten im Dezember 1965 musste sich de Gaulle zwar einer Stichwahl stellen; er konnte sich dann aber im zweiten Wahlgang mit 54,5 Prozent gegen seinen Herausforderer François Mitterrand behaupten, der 45,4 Prozent auf sich vereinen konnte. Georges Pompidou, ein Gymnasialprofessor für französische Literatur, der eine Zeit lang als Direktor bei der Rothschild-Bank gearbeitet hatte, war damit in der Lage, den Kurs einer energischen Modernisierung fortzusetzen, den er seit dem Ende des Algerienkrieges als Premierminister de Gaulles betrieb.

Als de Gaulle im Januar 1968 seinen Sozialminister Jean-Marcel Jeanneney empfing, um mit ihm über die Probleme der überbordenden Bürokratie zu diskutieren, meinte dieser, dass, gemessen an den Fieberstürmen, die die USA erschütterten, in Frankreich doch alles ruhig sei.2 Den gleichen Eindruck vermittelte der Politische Redakteur von Le Monde, Pierre Viansson-Ponté, als er am 15. März 1968 eine Betrachtung über ein Land veröffentlichte, das in Langeweile erstarrt war:

»Die Franzosen langweilen sich. Sie nehmen weder von nah noch von fern an den großen Umwälzungen teil, die die Welt erschüttern. Der Vietnamkrieg regt sie auf, gewiss, aber er berührt sie nicht wirklich. […] Das Fernsehen wiederholt uns jeden Abend mindestens dreimal, dass zum ersten Mal seit bald dreißig Jahren in Frankreich Frieden herrscht und das Land nirgendwo auf der Welt in einen Konflikt verwickelt ist. […] Die Jugend langweilt sich. In Spanien, in Italien, in Belgien, in Algerien, in Japan, in Amerika, in Ägypten, in Deutschland und selbst in Polen demonstrieren die Studenten, sie gehen auf die Straße und sie schlagen sich. Sie haben den Eindruck, dass sie Eroberungen zu machen haben, ihrem Protest Gehör verschaffen müssen oder zumindest der Absurdität ein Gefühl für das Absurde entgegensetzen sollten. Die französischen Studenten aber sind damit beschäftigt, herauszufinden ob die Mädchen in Nanterre und Antony freien Zugang zu den Zimmern der Jungs haben, ein doch recht beschränktes Verständnis der Menschenrechte.«3

Dann aber bricht sich in den ersten Maitagen des Jahres 1968 eine Agitation protestierender Studenten Bahn, die an Tempo, Vielfalt und Resonanz alles hinter sich lässt, was in den USA, in Deutschland oder in Italien zu beobachten war. Zehntausende von Studenten gehen in Paris und anderen Universitätsstädten auf die Straße, es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, und die öffentliche Meinung solidarisiert sich mit der studentischen Protestbewegung in einem Ausmaß, das keine andere westliche Industrienation kennt. Mehr noch: Arbeitnehmer aller Kategorien lassen sich von den protestierenden Studenten anstecken und legen in einer beispiellosen Streikbewegung die Wirtschaft und den Verkehr des Landes lahm. Künstler, Ärzte und Architekten fragen sich, was sie für die Revolution tun können. Die Regierung wirkt vollkommen ohnmächtig, Gewerkschaftszentralen und Parteiführungen hinken den Ereignissen hinterher. »Französische Revolution« schreibt der deutsche Spiegel am 27. Mai auf seiner Titelseite.

Als zwei Tage später auch noch de Gaulle mit unbekanntem Ziel verschwindet, scheint nicht nur auswärtigen Beobachtern tatsächlich das Ende der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung in Frankreich gekommen zu sein, zumindest aber das Ende der V. Republik. De Gaulles erneuter öffentlicher Auftritt am 30. Mai bereitet solchen Hoffnungen oder Befürchtungen ein rasches Ende. Er hinterlässt aber die Frage, was da im französischen Mai 1968 eigentlich geschehen war. Es hatte sich eine Bewegung entwickelt, die über die protestierenden Studentinnen und Studenten hinausgriff, so viel ist klar. Aber warum konnte die Revolte solche Ausmaße annehmen? Wohin sollte sie führen? Wohin hat sie geführt? Und was hat sie hinterlassen?

Wo Unklarheit herrscht, bilden sich rasch Mythen. Der französische »Mai 68« bot sich dafür umso mehr an, als dort in greifbare Nähe gerückt schien, was anderswo ein ferner Traum geblieben war: eine grundlegende Umwälzung der Verhältnisse in einer modernen Industriegesellschaft, die den meisten Menschen immer noch ein großes Maß an Entfremdung zumutete. Kein Wunder, dass der französische »Mai 68« bald zu einem Sehnsuchtsort für all diejenigen wurde, die sich einem solchen Traum verpflichtet fühlten. Und kein Wunder auch, dass die Generation, die die studentische Protestbewegung der 1960er Jahre trug, nach diesem ebenso kurzen wie dichten Höhepunkt in Frankreich benannt wurde: die Generation der »68er«, nicht der »67er«, wie man mit Blick auf das Geschehen in Deutschland und in den USA sagen müsste.

Beim Evozieren der 68er-Generation, ob selbstbewusst verteidigend wie bei den meisten Angehörigen dieser Generation oder anklagend-distanziert bei ihren Kritikern, schwingt der Mythos des »Mai 68« stets mit. Wer jenseits von Polemik oder Nostalgie Bilanz ziehen will – und das bietet sich 50 Jahre nach den Geschehnissen eigentlich an –, tut daher gut daran, sich mit den unerhörten Begebenheiten zu beschäftigen, die diesen Mythos produziert haben.

1 Nanterre oder: Wie eine Bewegung entsteht

Am 8. Januar 1968 sucht François Missoffe, seit zwei Jahren Minister für Sport und Jugend in der Regierung Pompidou, den Universitätscampus von Nanterre auf, der mitten im Industriegebiet westlich von Paris gelegen ist, umgeben von alten und neuen Fabrikanlagen, Baracken und Hochhäusern des sozialen Wohnungsbaus. Er will das großzügige Hallenschwimmbad in Augenschein nehmen, das als eines der letzten Bauwerke des neuen, seit 1963 hochgezogenen Universitätskomplexes gerade fertiggestellt wurde. Die Wege zwischen den Universitätsgebäuden sind oft noch nicht befestigt, die Schnellzugverbindung nach Paris (RER A) ist noch im Bau, aber sonst ist alles vorhanden, was zum Funktionieren einer Campus-Universität notwendig ist: Hörsäle, Büros, eine Bibliothek und Wohnheime für Studentinnen und Studenten, die nach amerikanischem Vorbild auf dem Campus errichtet worden sind. Die Regierung, das kann man in Nanterre sehen, macht Ernst mit dem Ausbau der Universitäten, der Teil ihres ambitionierten Modernisierungsprogramms ist. Sie hat 1964 eine Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Sorbonne nach Nanterre ausgelagert; und vergleichsweise junge, engagierte Professoren bemühen sich, das Ideal einer Reformuniversität, die den Bedürfnissen einer modernen Industriegesellschaft Rechnung trägt, mit Leben zu füllen. Hinzu kommt eine kleinere rechts- und wirtschaftswissenschaftliche Fakultät.

Missoffe, der mit 39 Jahren zu den energischen Modernisierern in der Regierung gehört, hat eine ganze Armee von Experten damit beauftragt, ein »Weißbuch der Jugend« zusammenzustellen. Das liegt nun vor; es kommt auf der Grundlage zahlreicher Studien und Meinungsumfragen zu dem Schluss, dass »der berufliche Erfolg das erste Ziel« des jungen Franzosen ist. »Er interessiert sich für alle großen Probleme, aber er verlangt nicht, zu einem früheren Zeitpunkt in das politische Leben einzutreten. […] Er glaubt nicht, dass ein Krieg bevorsteht, und denkt, dass die Zukunft vor allem von der industriellen Effizienz abhängen wird, von der Ordnung im Innern und vom Zusammenhalt der Bevölkerung.«1

Angesichts dieses alles in allem ermutigenden Befunds ist Missoffe einigermaßen überrascht, dass er in Nanterre auf den Unmut von Studierenden stößt. Aber die Orientierung am beruflichen Erfolg gilt auch für die meisten Studentinnen und Studenten, und da sieht es in Nanterre alles andere als gut aus. Die Zahl der Studierenden, die in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern eingeschrieben sind, ist innerhalb von drei Jahren auf fast das Zehnfache angestiegen, von 1.290 im Studienjahr 1964/65 auf 11.430 im Studienjahr 1967/68. Das hat nicht nur die Bemühungen um eine sinnvolle Studienreform ad absurdum geführt, sondern auch die Aussichten auf »angemessene« Arbeitsverhältnisse nach dem Examen drastisch verschlechtert. Mit Spitzenpositionen in Wirtschaft und Verwaltung können jetzt nur noch die Absolventen der Grandes Écoles rechnen, die dank eines strengen Auswahlverfahrens vom Zustrom der vielen Abiturienten der Generation der baby boomer verschont geblieben sind. Die Reform des Universitätssystems, die zu Beginn des Studienjahres 1967/68 in Kraft getreten ist, hat die Kluft zwischen erhofften und realen Optionen noch vertieft: Die Übergangsregelungen für Studierende, die ihr Studium nach dem alten System begonnen haben, laufen darauf hinaus, dass sie ihr Examen erst ein Jahr später ablegen können.

Die Durchsetzung der Universitätsreform per Regierungsdekret hat in Nanterre einen Vorlesungsstreik ausgelöst, initiiert von der lokalen Sektion der Studentengewerkschaft UNEF (Union nationale des étudiants de France). Vom Departement für Soziologie ausgehend haben sich nahezu alle Studierenden und auch viele Professoren und Assistenten daran beteiligt. Vom 17. bis 26. November 1967 fanden keine Lehrveranstaltungen statt; stattdessen diskutierten Lehrende und Lernende über konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Studiensituation, Möglichkeiten studentischer Mitbestimmung und Grundsatzfragen zur Rolle der Universität in der Gesellschaft. Auf Vermittlung von Dekan Pierre Grappin, eines liberalen Germanisten, wurden paritätisch besetzte Kommissionen gebildet, in denen Studierende und Professoren über die Organisation des Studiums berieten und Vorschläge zur Neuorganisation ausgearbeitet wurden, die dem Erziehungsministerium vorgelegt werden sollten. Eine Delegation unter Führung von Grappin hat diese Forderungen im Ministerium vorgetragen. Auf eine Antwort aus Paris hat man in Nanterre aber bislang vergebens gewartet.

Kein Wunder, dass Studierende den Besuch eines Regierungsmitglieds nutzen wollen, den Minister zur Rede zu stellen. »Heute Abend um 18 Uhr Sexorgie im Schwimmbad«, steht ironisch auf einem Handzettel, der am 8. Januar auf dem Campus verteilt wird. In der Tat versammeln sich einige Dutzend Studierende vor der Schwimmhalle, und als Minister Missoffe mit seinen Begleitern, dem Dekan und einer Gruppe von Professoren das Gebäude verlässt, geht einer von ihnen auf den hohen Gast zu. Dekan Grappin packt den Studenten am Kragen; er will ihn in die Reihen der Zuschauer zurückbefördern. Doch das Manöver misslingt: Der Gepackte kommt unmittelbar vor dem Minister zum Stehen. Er bittet Missoffe freundlich um Feuer; der gibt es ihm. Der Student, eine etwas gedrungene Gestalt mit auffälligem roten Haar und einem Gesicht voller Sommersprossen, zieht genüsslich an seiner Zigarette, dann spricht er den Minister an: »Herr Minister, ich habe Ihr Weißbuch über die Jugend gelesen. Da findet man auf 300 Seiten kein einziges Wort über die sexuellen Probleme der jungen Leute.«

Die beiläufige Provokation spielt auf eine Forderung an, die von studentischer Seite schon seit langem erhoben wird. Den männlichen Studenten war der Besuch in den Wohnheimen der Studentinnen strikt untersagt. Studenten, die das Verbot im April 1967 mit einer demonstrativen Hausbesetzung aushebeln wollten, waren von der Polizei festgesetzt worden; die Regierung, die allein über eine Änderung der Hausordnung befinden konnte, hatte nicht reagiert. Auch Missoffe will das jetzt nicht thematisieren. Er sei gekommen, antwortet er, um den Sport zu fördern, und die Jugendlichen sollten sich stärker sportlich betätigen. Als der Student insistiert, warum man denn nie über Sexualität rede, verliert der Minister die Fassung: Mit ihm werde er darüber bestimmt nicht reden, und: »Wenn Sie Probleme dieser Art haben, dann tun Sie besser daran, dreimal ins Schwimmbad zu tauchen.« – »Das ist genau die Art von Antwort, die man in einem faschistischen Regime erhält«, will Missoffe als Replik des Studenten gehört haben. Manche meinen, er habe noch »Heil Hitler!« hinzugefügt.2

Nach dem Zwischenfall, der in der Fakultät alsbald die Runde macht, leitet der Dekan ein Relegationsverfahren gegen den Provokateur ein. Er ist ihm schon öfters aufgefallen: ein 22-jähriger Student der Soziologie, Mitglied der kleinen anarchistischen Studentengruppe LEA (Liaison des étudiants anarchistes), der offenbar Lust an der Provokation hat und über ein ungewöhnliches Maß an Humor, Lebensfreude und Geistesgegenwart verfügt. Im Oberseminar von Alain Touraine vergeht keine Sitzung, ohne dass er nicht mindestens zehn Minuten lang das Wort führt. Daniel Cohn-Bendit, so sein Name, ist Deutscher, aber 1945 in Frankreich geboren, wohin seine jüdischen Eltern 1933 geflohen waren. Französisch ist seine erste Sprache, aber mit seiner Großmutter konnte er sich auch auf Deutsch verständigen. Mit 13 Jahren ist er mit seiner Mutter nach Frankfurt am Main gezogen, wo der an Lungenkrebs erkrankte Vater zu versorgen war. Die weiteren Schuljahre hat er an der Odenwaldschule in Oberhambach bei Heppenheim verbracht, wo er auch lange Zeit das Amt eines Vorsitzenden der Schülermitverwaltung ausübte. Zum Studium ist er dann 1965 wieder nach Frankreich zurückgekehrt. Weltanschaulich ist er zunächst von seinem Vater beeinflusst worden, einem Anwalt, der sich als Trotzkist verstand, dann von dem neun Jahre älteren Bruder Gabriel, der sich nach einem Bruch mit der Kommunistischen Partei der Gruppe Socialisme ou Barbarie um Cornelius Castoriadis und Claude Lefort angeschlossen hatte. Die Entwicklung einer revolutionären Strategie zur sozialistischen Transformation jenseits der Dogmen von Karl Marx war das Anliegen, für das sie seit Beginn der 1950er Jahre mit einer Zeitschrift gleichen Namens warb.

Daniel Cohn-Bendit finanziert sich durch eine Wiedergutmachungs-Beihilfe des Landes Hessen und lebt in kärglichen Verhältnissen zwischen seiner Zweizimmerwohnung im 15. Arrondissement von Paris (einem Erbstück seiner Mutter) und dem Campus in Nanterre. Mit der Relegation droht ihm als Ausländer die Ausweisung, und dann hat Missoffe unter dem Druck des Innenministers auch noch einen Strafantrag gegen ihn gestellt.

Den Strafantrag kann Cohn-Bendit abwenden, indem er, vom Anwalt der UNEF beraten, einen höflichen Entschuldigungsbrief an den Minister schreibt. Der zieht seinen Antrag zurück, möglicherweise unter dem Einfluss seiner Tochter, die ebenfalls in Nanterre studiert und von den Kommilitonen bedrängt wurde, sich für »Dany« einzusetzen. Einige Studenten dichten Cohn-Bendit sogar eine Liebesbeziehung zu dieser Tochter an, der späteren gaullistischen Politikerin Françoise de Panafieu. Aber das ist wirklich nur ein Gerücht; Cohn-Bendit vermutet, dass es von kommunistischen Kommilitonen in die Welt gesetzt wurde, um ihn zu diskreditieren.

Die Relegationsdrohung bleibt jedoch bestehen, und sie trägt auch dadurch zur Radikalisierung unter den Studierenden bei, dass Dekan Grappin zwei weitere Relegationsverfahren gegen Studenten von der Gruppe der »Wütenden« (»les enragés« in Anlehnung an die radikalen Robbespierre-Gegner in der Französischen Revolution) einleitet. René Riesel und Gérard Bigorgne, so ihre Namen, stören schon seit Jahresbeginn systematisch Vorlesungen und Seminare, vor allem in der Soziologie. Die militanten Störer aus dem Verkehr zu ziehen, scheint dem Dekan notwendig zu sein, um den Dialog zwischen Studierenden und Professoren wieder in Gang zu bringen.

Freilich erreicht er damit genau das Gegenteil: Anarchisten und Enragés, die bislang wenig miteinander zu tun hatten, verabreden sich zu gemeinsamen Aktionen; Studierende, die sich für die politischen Zielsetzungen der rivalisierenden linksradikalen Gruppierungen nicht interessieren, solidarisieren sich mit den Wortführern, die von Sanktionen bedroht werden. Um den Kreis der Unterstützer zu erweitern, greifen die Enragés das Thema der »schwarzen Listen« sanktionsbedrohter Studierender wieder auf, die die Universitätsverwaltung einem Gerücht zufolge nach der Wohnheimbesetzung im April 1967 erstellt hat; vom Dekan ist die Existenz solcher Listen immer wieder bestritten worden. Am 26. Januar stellen sie mit Unterstützung der Anarchisten in den Universitätsgebäuden B und C Fotos von angeblichen Polizisten in Zivil aus, die die studentischen Aktivitäten observiert haben sollen, um sie der Universitätsverwaltung zu melden. Gleichzeitig werden »schwarze Gegenlisten« aufgehängt, in die sich die Studierenden selbst eintragen sollen, als Zeichen der Solidarisierung mit denjenigen, die fürchten müssen, auf den gefährlichen Listen zu stehen. Unter der Parole »Gegen die schwarzen Listen und für die Aufhebung der Sanktionen« soll so Druck auf die Fakultätsleitung aufgebaut werden. Journalisten, die zur Beobachtung der Aktion eingeladen wurden, sollen diesen Druck durch ihre Berichterstattung noch verstärken.

Tatsächlich reagiert die Fakultätsleitung fast schon erwartungsgemäß mit dem Versuch zweier Universitätsangestellter, die ausgestellten Fotos zu entfernen. Sie werden von Studenten daran gehindert und beiseite gedrängt. Der Dekan gibt daraufhin dem Ruf nach einem Eingreifen der Polizei nach. Etwa ein Dutzend Polizisten erscheint in den Universitätsgebäuden, um den Dekan bei der Ausübung seines Hausrechts zu unterstützen. Sie werden ebenfalls zurückgedrängt und fordern nun Verstärkung an. Um die Mittagszeit, als die meisten Studierenden aus den Vormittagsveranstaltungen kommen, sind etwa 60 Polizisten im Einsatz. Die kämpfenden Studenten erhalten Unterstützung von Kommilitonen, die in den Vormittagsveranstaltungen waren und sich plötzlich mit der Polizeigewalt konfrontiert sehen. Ein hartnäckiges Ringen setzt ein, mit Verletzten auf beiden Seiten, demolierten Autos und zerschlagenen Fensterscheiben. Nach drei Stunden ziehen die Polizisten ab, ohne gegen die etwa 1.000 Studierenden, die sich an dem Handgemenge beteiligen,3 etwas erreicht zu haben.

Anderntags berichtet die Presse groß über die Ereignisse. Die nationale Studentengewerkschaft UNEF ruft »alle demokratischen Organisationen« zur Solidarität mit den rebellierenden Studenten von Nanterre auf und macht dabei Cohn-Bendit, dessen Namen man schon von der Konfrontation mit Missoffe kennt, kurzerhand zu ihrem Anführer: »Sorgt dafür, dass Daniel Cohn-Bendit weder von der Universität ausgeschlossen noch aus Frankreich ausgewiesen wird, einem Land, das so stolz auf seine demokratischen Prinzipien ist.«4 Damit hat sich die Frontstellung zwischen Studierenden und Fakultätsleitung vertieft, und sie ist auch über Nanterre hinaus landesweit bekannt geworden. Die Leitung der UNEF, einer Organisation, die in den letzten Jahren über die Hälfte ihrer einst 100.000 Mitglieder verloren hat und ideologisch zerstritten ist, versucht sich an die Bewegung anzuhängen, die auf dem Universitätscampus im Westen der Hauptstadt entstanden ist, und so verlorenen Boden wieder wettzumachen. Gleichzeitig wird der Konflikt zu einer Auseinandersetzung zwischen demokratischen Freiheiten und autoritärer Obrigkeit stilisiert.

Die Enragés deuten den Abzug der Polizisten als Sieg und intensivieren ihre Störungen und Attacken. Dekan Grappin wird als »Gummiknüppel-Grappin« und »Nazi« beschimpft – eine Grenzüberschreitung, die umso verletzender ist, als Grappin einst in der Résistance gekämpft hat und der Deportation ins Konzentrationslager nur dadurch entgangen ist, dass er im letzten Moment von dem Zug sprang, der ihn nach Buchenwald bringen sollte. Die engagierten Linken unter den Professoren wie Alain Touraine, Henri Lefebvre und Edgar Morin, die in der Zeitschrift Arguments für einen humanistischen und zugleich realistischen Marxismus geworben hatten, werden als Verräter und verlogene Schwätzer »entlarvt«. In einem »Lied der Polen von Nanterre«, zu singen auf den Melodien der Revolutionslieder »La Carmagnole« und »Ah! Ça ira«, das auf einem Flugblatt am 14. Februar verteilt wird, heißt es:

»Tanzen wir die Grappignole

Das ist das Elend oder der Zorn

Tanzen wir die Grappignole

Das ist der Zorn

In Nanterre

Ah! Wir werden es schaffen

Morin, Lefebvre, den gehen wir auf die Nerven

Ah! Wir werden es schaffen

Und den Touraine, den nehmen wir uns vor.«5

Während die Enragés verstärkt die Vorlesungen der »modernistischen« Professoren stören, organisieren die internationalen Sekretäre der UNEF die Teilnahme französischer Studenten am internationalen Vietnamkongress, den der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) am 17. und 18. Februar in West-Berlin abhält. 300 Studierende aus Paris und Nanterre, darunter auch Cohn-Bendit und die Wortführer der Trotzkisten, Alain Krivine, Henri Weber und Daniel Bensaïd, erleben in Berlin eine Solidaritätskundgebung mit der vietnamesischen Befreiungsfront und einen anschließenden Demonstrationszug, der mit 20.000 Teilnehmern höchst erfolgreich ist. Die Kombination von spektakulären Provokationen durch eine Minderheit und legalen Massendemonstrationen, die der SDS anscheinend perfekt beherrscht, beeindruckt sie sehr. Anschließend veranstaltet die UNEF am 21. Februar, dem »internationalen Vietnam-Tag«, ebenfalls eine Vietnam-Demonstration im Pariser Quartier latin, während ein kleines Vietnam-Basiskomitee, das von Maoisten dominiert wird, über die Champs-Elysées zieht. Beide Veranstaltungen haben freilich nur eine sehr begrenzte Resonanz.

Eine Strukturierung der Protestbewegung erfolgt erst, nachdem die Sympathisanten des Vietcong – neben dem maoistischen Basiskomitee ein konkurrierendes Nationales Vietnamkomitee, das unter dem Einfluss von Trotzkisten steht – zu gewaltsamen Aktionen übergegangen sind. Am 16. und 17. März explodieren Plastikbomben vor drei amerikanischen Bankhäusern in Paris; am Abend des 21. März schlägt eine Gruppe von etwa 200 Demonstranten die Fensterscheiben der Niederlassung von American Express ein. Das Gebäude wird mit roter Farbe und Parolen der vietnamesischen Befreiungsfront beschmiert. Einer der Demonstranten wird verhaftet. Es ist Xavier Langlade, Mitglied des Nationalen Vietnamkomitees aus Nanterre.

Die Verhaftung Langlades lässt die verfeindeten Gruppierungen der Maoisten und Trotzkisten zusammenrücken. Zusammen mit Anarchisten, Enragés und Sympathisanten, die sich in den vergangenen Wochen der Bewegung angeschlossen haben, besetzen sie am Abend des 22. März das Verwaltungsgebäude des Campus von Nanterre, einen achtstöckigen Bau, dem sogleich das Etikett eines »unerträglichen phallischen Symbols der Autorität, die uns unterdrückt«,6 angeheftet wird. Als die Maoisten nicht ausgeschlossen werden, verlassen die Enragés empört den Sitzungssaal in der obersten Etage. Die anderen – nach eigenen Angaben 142, tatsächlich wohl nur 60 bis 100 – arbeiten eine Erklärung aus, in der eine Verschärfung der Unterdrückung durch den Kapitalismus konstatiert wird. Daraus leiten die Autoren ab, dass neue Formen revolutionären Handelns notwendig sind: »Die revolutionäre Kampfeinheit entsteht direkt in der Aktion und nicht um eine politische Linie oder Ideologie.«7 Dann erklären sie sich zur »Bewegung des 22. März«, in ebenso phantasievoller wie anmaßender Anlehnung an die »Bewegung des 26. Juli«, mit der Fidel Castro 1953 den bewaffneten Kampf zum Sturz des autoritären Batista-Regimes auf Kuba begonnen hatte. Für den 29. März wird ein Diskussions- und Aktionstag beschlossen, an dem über die Organisation des revolutionären Kampfes diskutiert werden soll, nicht nur in Nanterre und in Frankreich, sondern weltweit. Der Konsum eines Vorrats von Champagner-Flaschen, den die Universitätsleitung neben dem Sitzungssaal deponiert hat, befördert die euphorische Stimmung.

Die »Erklärung der 142« trägt insofern die Handschrift Cohn-Bendits, als sie den Kampf um bessere Studienbedingungen mit der Perspektive einer nicht näher definierten Aufhebung von kapitalistischer Unterdrückung und Entfremdung verbindet. Eine »zentristische Position« nennt Cohn-Bendit das, »zwischen der Tendenz des radikalen Bruchs und der des radikalen Reformismus, die die Diskussion über die Universität weiterführen wollte«.8 Sie erlaubt es ihm, die ideologischen Differenzen zwischen den rivalisierenden Gruppierungen zurückzustellen und zugleich weitere, ideologisch nicht gebundene Anhänger für konkrete Aktionen zu mobilisieren, die ihre Lebenswirklichkeit betreffen und ihrem Leben zugleich einen idealistischen Sinn geben. Basisdemokratisch soll es dabei zugehen; das hat Cohn-Bendit von den »Situationisten« übernommen, einer intellektuellen Avantgarde-Gruppe, die noch stärker als der Kreis um die Zeitschrift Arguments die Allgegenwart der Entfremdung betont und im »Spiel« den Schlüssel zu ihrer Aufhebung sieht. Es komme darauf an, »Situationen zu schaffen, in denen das Individuum sich spielerisch definieren kann«, heißt es in einem ihrer Pamphlete.9 Entsprechend setzt Cohn-Bendit mit der Betonung der kämpferischen Aktion, die zu seinem Temperament passt, auch ein großes Potential an Kreativität frei.

Die Ankündigung des »Tags der allseitigen Diskussionen« ruft die rechtsradikale Studentengruppe Occident (»Der Westen«) auf den Plan, die schon mehrmals auf dem Campus von Nanterre erschienen ist und für äußerst gewaltsame Krawalle gesorgt hat. Ihre Führer, darunter die späteren konservativen Minister Alain Madelin und Gérard Longuet, kündigen an, die »Marxisten« auszurotten und so dem Chaos in Nanterre ein Ende zu setzen, das nicht zuletzt von politisch rechts stehenden Studenten, vor allem aus der Juristischen Fakultät, beklagt wird. Grappin sieht sich angesichts der erwarteten Zusammenstöße zwischen rechten und linken Extremisten genötigt, die Universität für zwei Tage zu schließen, vom Abend des 28. März, eines Donnerstags, bis zum Samstag einschließlich. Dem begegnen die Organisatoren des »22. März« dadurch, dass sie die große Diskussionsveranstaltung auf den 2. April verschieben und am 29. März ein »Vorbereitungstreffen« auf einer Wiese vor dem Universitätscampus abhalten, der von der Polizei abgeriegelt ist. Bei strahlendem Sonnenschein nehmen immerhin 500 Studierende daran teil, die sich in Diskussionsgruppen aufteilen – für die Journalisten, die über den Fortgang der Konfrontation berichten wollen, eine dankbare Szenerie.

Die Schläger des Occident lassen sich nicht blicken. Dafür ermuntert Cohn-Bendit am Abend Studenten, die an einem Treffen des linken UNEF-Flügels in der Sorbonne teilnehmen wollen, das Versammlungsverbot der Universitätsleitung zu missachten: »In Nanterre halten wir die Hörsäle seit Tagen besetzt. Weil wir jetzt hier sind, machen wir es doch genauso!«10 Die Studenten besetzen den Descartes-Saal der Sorbonne; die Polizei, die von der Universitätsleitung herbeigerufen worden war, greift nicht ein. Der Pariser Polizeipräfekt Maurice Grimaud weiß, dass Aktionen der Polizei auf dem Universitätsgelände kontraproduktiv wären. Grimaud ist das Muster eines französischen Spitzenbeamten: außerordentlich gebildet, höflich und sehr erfahren. Ursprünglich hatte er eine Karriere in den Geisteswissenschaften angestrebt, doch war er bei der harten Konkurrenz um die Aufnahme in die École normale supérieure knapp gescheitert. Vor diesem Hintergrund ist er mit den Eigenheiten des Universitätslebens hinreichend vertraut. Er hält es folglich für klüger, Professoren und Studenten ihre Konflikte selbst regeln zu lassen, ohne Eingreifen der Polizei. Das sagt er auch dem Innenminister.

An der großen Diskussionsveranstaltung am 2. April beteiligen sich nicht weniger als 1.200 Studierende. Grappin hat unterdessen im Fakultätsrat einen Beschluss durchgesetzt, dass Universitätsräume für politische Veranstaltungen zur Verfügung stehen sollen, und sich dafür auch Rückendeckung vom Rektorat der Sorbonne und vom Erziehungsministerium geholt. Für die Veranstaltung des »22. März« hat er den kleinen Hörsaal zugewiesen, der 500 Plätze bietet. Die reichen aber nicht aus, und so besetzen die Teilnehmer kurzerhand den großen Hörsaal. Ein Angestellter der Universitätsverwaltung kappt den Strom in dem fensterlosen Saal. In der Dunkelheit hört man Cohn-Bendits energische Stimme: »Wenn das Licht nicht innerhalb von zwei Minuten wieder angeht, halten wir das Treffen im Sitzungssaal [des Fakultätsrats] ab.« Das genügt, um die Universitätsverwaltung dazu zu bringen, die gezielte Regelverletzung zu akzeptieren. Die »allseitigen Diskussionen« über Themen wie »Der Kapitalismus 1968 und die Kämpfe der Arbeiterklasse«, »Universität und Kritische Universität«, »Der antiimperialistische Kampf« oder »Die Länder des Ostblocks und die Kämpfe der Arbeiter und Studenten in diesen Ländern« führen zwar nicht zu konkreten Ergebnissen, vermitteln den Teilnehmern aber den Eindruck, Teil einer großen Bewegung zu sein, der die Zukunft gehört. Karl-Dietrich Wolff, der Vorsitzende des bewunderten deutschen SDS, hat zu ihnen gesprochen, ebenso Vertreter studentischer Aktionsgruppen aus anderen Ländern. Alain Touraine urteilt später im Rückblick, dass der Protest von diesem Tag an nicht mehr das Anliegen nur einzelner Gruppen gewesen sei; vielmehr sei eine echte Protestbewegung entstanden.11

Wirklich handlungsfähig ist die Bewegung zu diesem Zeitpunkt freilich noch nicht. Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke in Berlin am 11. April findet ein Demonstrationszug auf dem Boulevard Saint-Germain statt, bei der Axel Springer und seine Journalisten als »Mörder« denunziert werden. Bei der abschließenden Kundgebung vor dem Odéon-Theater ruft Cohn-Bendit die Teilnehmer zur »Aktion« auf. Als dann aber die parteitreuen kommunistischen Studenten am 25. April Pierre Juquin vom Politbüro der Kommunistischen Partei einladen, um über »Die Lösungsvorschläge der Kommunisten zur Universitätskrise« zu sprechen, wird Cohn-Bendits Vorhaben, den kommunistischen Abgeordneten durch gezielte Fragen argumentativ in die Enge zu treiben, durch militantes Auftreten der Maoisten vereitelt. Sie schwenken Maos »Kleines rotes Buch«, brüllen den Redner nieder und drängen ihn schließlich aus dem Saal. Die Teilnehmer ziehen dann weiter in den nächsten Saal, wo der berühmte Mathematik-Professor Laurent Schwartz, ein engagierter Antistalinist, und der Sozialphilosoph und Noch-Sartre-Anhänger André Gorz über »Die sozialen Funktionen der Universität« sprechen sollen. Dort wollen die Trotzkisten Schwartz am Reden hindern, weil er ein »Selektionist« sei. Cohn-Bendit versucht, das zu verhindern: »Lasst Schwartz reden. Auch wenn er ein Drecksack ist, werden wir ihm antworten.«12 Da die Maoisten den Trotzkisten nicht den gleichen Erfolg gönnen, den sie in der Juquin-Veranstaltung erzielt haben, kann sich der Wortführer des »22. März« diesmal durchsetzen. Mit einiger Mühe geht die Veranstaltung halbwegs diszipliniert vonstatten.

Am nächsten Tag kann Cohn-Bendit auf einer Versammlung der »Bewegung des 22. März« mit einiger Genugtuung feststellen, dass sich alle linksradikalen Gruppierungen mit Ausnahme der parteitreuen Kommunisten der Bewegung angeschlossen haben. Selbst die Maoisten, die bislang von einer Mobilisierung der Studentenschaft nichts gehalten haben, sind jetzt dabei, wenngleich mit der unterschwelligen Hoffnung, die Bewegung für die Bildung von revolutionären Gruppen in den Betrieben gewinnen zu können. Nach langer Diskussion wird vereinbart, am 2. und 3. Mai zwei »anti-imperialistische Tage« abzuhalten.

Am Morgen des 27. April wird Daniel Cohn-Bendit, der drei Wochen zuvor seinen 23. Geburtstag gefeiert hat, überraschend vor seiner Wohnungstür verhaftet. Bei einer Prügelei vor dem Büro der konservativen Studentengewerkschaft FNEF (Fédération nationale des étudiants de France) in Nanterre ist ein »rechter« Student verletzt worden; die Polizei macht Cohn-Bendit dafür verantwortlich. Vor allem aber legt sie ihm eine mehrseitige Flugschrift zur Last, die eine Arbeitsgruppe des »22. März« vor einigen Tagen erstellt hat. Unter dem Titel »Bulletin n° 5494bis (supplément au n° 5494)« finden sich dort allerlei Informationen zu den Aktivitäten der Bewegung, dann auf der letzten Seite auf rosafarbenem Grund eine Anleitung zur Herstellung eines Molotow-Cocktails, genannt »Le cocktail Dany (inefficace)« – also »wirkungslos«. Die Universitätsleitung hat die Holztür des Verwaltungsgebäudes nach der Besetzung vom 22. März durch eine Stahltür austauschen lassen; dagegen, so die Autoren, soll nun ein Molotow-Cocktail helfen. Die Rezeptur, die dann genannt wird, kann freilich nicht funktionieren: zwei Drittel Benzin, ein Drittel Sand und Seifenpulver.13 Die Beamten verstehen jedoch nicht, dass es sich hier um einen eher missglückten Ulk handelt; sie verhaften Cohn-Bendit wegen des Verdachts auf Aufwiegelung zur Gewalt.

Die Nachricht von der Verhaftung gelangt sogleich in die Presse. Noch während Cohn-Bendit von einem Kommissariat in das andere gebracht wird – aus Angst vor einer Befreiungsaktion der Genossen –, erscheint France-Soir mit der Schlagzeile »Führer der Enragés von der Polizei festgenommen«. Cohn-Bendit wird der Öffentlichkeit als der »rote Dany« präsentiert, bei dem Haarfarbe und politische Gesinnung so plakativ übereinstimmen. Dass die Enragés dem so Etikettierten bei seiner entscheidenden Aktion am 22. März gerade nicht gefolgt sind und er sich, wenn überhaupt, eher mit der schwarzen Fahne der Anarchisten identifiziert als mit der roten Fahne der Sozialisten und Kommunisten, solche Feinheiten entgehen der öffentlichen Wahrnehmung. Auch dass er nach seinem Selbstverständnis kein Führer sein will und jede institutionelle Verfestigung der Bewegung als »bürokratisch« ablehnt, wird nicht verstanden. Das Bild, das sich die Franzosen und Sympathisanten in aller Welt von »Dany« machen, unterscheidet sich wesentlich von der Realität.

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