Originaltitel: ასინქრონი

Asynchrony © Bakur Sulakauri Publishing, 2013

First published by Bakur Sulakauri Publishing, Tbilisi, Georgia

 

 

Dieses Buch wurde mit Unterstützung von Georgian National Book Center

und Ministry of Culture and Monument Protection of Georgia veröffentlicht.

 

 

Bibelzitat zu Beginn: Elberfelder Übersetzung, R. Brockhaus Verlag Wuppertal

 

Die Gedichte in diesem Roman wurden nach der Übersetzung

von Jürgen Schütz, in Zusammenarbeit mit Ekaterine Togonidze und

Nino Kavelashvili, in die hier vorliegende Versform gebracht.

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-61-3

 

 

© 2018, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

Lektorat: Andrea Hörandner

Umschlag und Satz: Jürgen Schütz

Umschlagbild: Quieting Yourself © Brooke Shaden

 

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-74-8

 

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Ekaterine Togonidze

wurde 1981 geboren. 2011 erschien ihre erste literarische Veröffentlichung. Für ihre Arbeiten wurde sie mehrmals ausgezeichnet, zuletzt erhielt sie 2012 den renommierten Saba-Preis. Ekaterine Togonidze war 2013 offizieller Gast der Leipziger Buchmesse, im gleichen Jahr war sie auch Stipendiatin des Literarischen Colloquiums Berlin. 
Ekaterine Togonidze prägt seit über fünf Jahren Georgiens Literaturlandschaft. Mit ihrem ersten Roman Einsame Schwestern war sie die erste Schriftstellerin, die das Thema »Körperliche Behinderung« in Georgien literarisch verarbeitete und zur Diskussion brachte.

 

Klappentext:

Die siamesischen Zwillinge Lina und Diana sterben unter mysteriösen Umständen. Erst danach erfährt ihr Vater Rostom von deren Existenz, und dann, Seite für Seite, über das Leben seiner Töchter und deren unterschiedliche Persönlichkeiten in ihren ergreifenden Tagebucheinträgen.

Die beiden gegensätzlichen Stimmen zeichnen ihre außergewöhnlichen Erfahrungen als zwei getrennte Personen auf, die sich einen Körper teilen müssen. Bis ins Teenager-Alter werden die verletzlichen Zwillinge von der Außenwelt verborgen und von der Großmutter umsorgt, die darum kämpft, die beiden in einem verarmten postsowjetischen Georgien zu beschützen – einer Gesellschaft mit wenig Mitgefühl für Behinderte. Nachdem die Großmutter stirbt, sind Lina und Diana wehrlos und fallen jeder Art von Misshandlung zum Opfer. Sie werden sexuell und psychisch missbraucht, sie werden gezwungen, als Freaks im Zirkus zu arbeiten.

Von der Taille abwärts verbunden, bleibt den Schwestern als einziger Rückzugsort die Welt ihrer Tagebücher: Lina, unbeschwert und glücklich, ist fähig, sich zu verlieben, schreibt Gedichte, hat eine optimistische und romantische Seele und erfreut sich an den kleinen Dingen des Lebens. Diana, angespannt und bodenständig, kann ihre Situation nicht akzeptieren.

Nur von der Großmutter unterrichtet und versteckt vor der Außenwelt, erweitern die beiden ihren Wortschatz durch Fernsehsendungen und dem Blättern in Illustrierten. Die daraus entstehende einfache Sprache in ihren Tagebucheinträgen unterstreicht das Bild der Isolation der Zwillinge und macht diesen einzigartigen Roman authentisch.

 

 

 

Ekaterine Togonidze

Einsame Schwestern

Roman | Septime Verlag

 

 

Aus dem Georgischen von Nino Osepashvili und Eva Profousová

 

 

 

 

 

Nun aber vollbringe nicht mehr ich dasselbe,

sondern die in mir wohnende Sünde.

Römer 7, 17

 

 

 

 

 

 

 

Teil I

 

 

 

Rostom stieg aus dem Fahrstuhl. »Da sind Sie ja! Ich wollte schon wieder gehen«, sagte der Briefträger. Er händigte ihm einen Umschlag aus, ließ ihn unterschreiben und lief rasch die Treppe hinunter.

Das Schreiben kam von einem Krankenhaus: »Sehr geehrter Herr Mortschiladze, für die von uns für Ihre Kinder in Auftrag gegebene …« – Rostom hörte auf zu lesen. Er hatte keine Kinder. Er drehte das Blatt unschlüssig um, sein Blick fiel auf den letzten Satz: »Unser aufrichtiges Beileid.«

»Was soll der Blödsinn?!«, sagte er und beugte sich über das Treppengeländer. Der Briefträger war verschwunden.

Überall in der verstaubten Wohnung lagen Kleidungsstücke auf den Stühlen. In Holzregalen standen dicht an dicht vergilbte Bücher. Dreckiges Geschirr stapelte sich in der schäbigen Küche, Tassen ohne Henkel und Teller mit abgeschlagenen Rändern. An der Wand hing ein großes Schwarzweißfoto von Rostoms Mutter. Rostom wollte den Brief zunächst auf ein Regal legen, dann zerknüllte er ihn aber und warf ihn in den Mülleimer. Er machte den Fernseher an und wärmte sich die gebratenen Kartoffeln vom Vortag auf. In den Nachrichten kam die Meldung, dass der Staatszirkus von Tbilissi geschlossen worden war.

Rostom nahm ein Fläschchen pikante Mirabellensauce aus dem Kühlschrank und schenkte sich einen Schnaps ein. Eine Zeile aus dem Brief ließ ihn nicht los: »… Für die von uns für Ihre Kinder in Auftrag gegebene Leichenaufbewahrung wird ein Deckungsbeitrag in Höhe von …« Er blickte auf das Bild seiner Mutter und schüttelte den Kopf. Sie sah ihn traurig an. Oder vielleicht kam ihm das nur so vor. Jedes Mal, wenn er darüber nachdachte, die Wohnung zu verkaufen, wich er ihrem Blick aus. Das Foto abzunehmen, wagte er jedoch nicht. Schon der Gedanke daran war ihm unangenehm.

 

 

Dianas Tagebuch

 

6. März

Eine Sache kann ich an Lina nicht leiden. Sie füllt eine Schüssel mit Wasser, steckt den Kopf hinein und bleibt dann so. Sie würde sich dabei ausruhen, sagt sie. Sich ausruhen oder nachdenken – so genau weiß ich das nicht, jedenfalls behauptet sie, es würde ihr guttun. Sie pustet dabei so heftig ins Wasser, dass auch ich nass werde! Nach kurzer Zeit hebt sie den Kopf, holt Luft und taucht wieder unter. Einmal habe ich es auch ausprobiert. Nachdem wir doch im gleichen Sternzeichen geboren sind, müssten wir das Gleiche mögen. Aber so ist es nicht. Außerdem will ich nicht, dass Lina denkt, ich würde sie nachmachen. Sie versucht sowieso ständig zu lesen, was ich schreibe. Wahrscheinlich fängt sie selbst bald damit an. Soll sie doch, es hindert sie keiner daran.

Wenn sie ihr Gesicht ins Wasser steckt, macht sie sich auch die Haare nass. Ich sage ihr immer wieder, dass sie wenigstens auf ihre Haare aufpassen soll, aber sie hört nicht auf mich! Das Trocknen dauert ewig.

Beim Schreiben störe ich wenigstens keinen. Wenn sie Bilder aus den Illustrierten ausschneidet, weil ihr das Spaß macht, sage ich ja auch nichts. Soll sie doch alles zerschneiden, was wir an Gedrucktem haben, mir ist das egal!

Dieses Notizbuch habe ich in Großmutters Schrank gefunden. Wenn ich schreibe, fühle ich mich lebendiger als sonst, mein Leben wird auf einmal viel bedeutender. Bis jetzt habe ich zwar gerade eine Seite geschafft, aber in Gedanken habe ich schon viel mehr geschrieben. Nach und nach bringe ich alles zu Papier. Es muss doch einen Beweis geben, dass es einen gab, dass man am Leben war. Die Zeit vergeht und eines Tages sind wir nicht mehr da und dann weiß keiner, dass wir existierten. Es gibt nicht einmal ein Foto von uns, kein einziges. Jeder hat ein Foto von sich, nur wir nicht. Uns wird keiner eine Träne nachweinen. Wie komme ich bloß darauf? Warum rede ich plötzlich wie Großmutter? Die redet immer so. So redet man draußen. Dort gibt es scheinbar unverständliche Regeln, die bestimmen, wann man zu weinen und wann zu lachen hat … Aber woher sollen wir das wissen? Unser Draußen ist der Fernseher. Und Zaza. Der kommt aber auch von dort, von draußen.

Warum sollte uns überhaupt einer nachweinen? Schon die Tatsache, dass es uns gibt, wäre Grund genug … Meine Güte, jetzt höre ich mich wieder an wie Großmutter.

 

9. März

Ich schreibe, um zu leben. Das habe ich schon gesagt, oder? Bloß warum ich leben soll, das weiß ich nicht. Weil es sein muss. Einfach so. Ich lebe, bedeutet für mich, wir leben. Vielleicht ist dieses »Wir« das Problem? Wie ein Blutegel hat es sich an meiner Zunge festgesaugt und ich werde es nicht los. Es lässt mich nicht in der Einzahl reden, nicht mit mir allein sein, es lässt mich nicht leben …

Es gibt Tage, da kommt mir alles furchtbar sinnlos vor.

Manchmal werde ich vor Lina wach und dann freue ich mich über die paar Minuten allein. Als würde mein Leben nur in diesen Momenten stattfinden … und in meinem Tagebuch.

 

 

Rostom war wie immer als Erster in der Arbeit. Eine Putzfrau hastete geschäftig durch den Flur. Das Fenster im Dozentenraum stand offen. Eine leichte Brise raschelte in der Zeitung von gestern, die auf dem Tisch lag. Monster oder Sklaven des 21. Jahrhunderts? – Zirkusdirektor wegen Ausbeutung gesucht. Rostom blätterte sie gelangweilt durch.

Nach dem Unterricht holten seine Kollegen Wurst, Brot und Schnaps aus dem Laden und machten es sich gemütlich. Der Reihe nach brachte jeder einen Trinkspruch aus. »Bei uns an der Fachhochschule weiß man noch zu trinken«, lachten sie, als sich ihnen ein Kollege von der Universität anschloss. Dort galt striktes Trink- und Rauchverbot.

Als Rostom nach Hause kam, fühlte er sich wie gerädert und innerlich leer. Am liebsten wäre er sofort ins Bett gegangen, musste aber noch die schmutzige Wäsche zusammensuchen, die er am nächsten Tag zu seiner Tante bringen wollte. Da klopfte eine Nachbarin an die Tür, man habe bei ihr einen Brief abgegeben.

»Was soll das schon wiederRostom wurde ärgerlich, er erkannte den Umschlag und wollte ihn nicht. »Das ist bestimmt eine Verwechslung.«

»Kann seinDie Frau zuckte mit den Schultern, schob Rostom den Brief in die Hand und wandte sich zum Gehen.

»Sehr geehrter Herr Mortschiladze, für die von uns für Ihre Kinder in Auftrag gegebene …« – Rostom seufzte. »Sie erreichen uns unter folgender Adresse …« Er knallte die Tür zu. Bevor er den Brief in den Mülleimer warf, erhaschte er noch: »Die Aufbewahrungskosten für die Toten werden tageweise abgerechnet …«

 

 

Dianas Tagebuch

 

9. März

Ich hasse März. Der Wind rüttelt am Haus, fegt uns fast weg, die Wände wackeln. Heute hasse ich wirklich alles, auch das Haus! Großmutter schaute ihre Telenovela, ich hätte gerne zu einem Film umgeschaltet, aber das erlaubte sie nicht. Die dumme Lina sagte natürlich nichts dazu. Wie können sich die beiden nur so etwas anschauen? Es ist doch immer dasselbe! Wenn man mit Großmutter darüber redet, findet sie diese Serien schwachsinnig, aber wenn sie dann laufen, bekommt man sie nicht vom Fernseher weg! Mir reicht’s!

Zum Glück habe ich mein Tagebuch! Das ist der Ort, der nur mir gehört! Der Ort, an dem ich ich selbst bin … und ich alles sagen kann, nichts auslassen muss. Hier schränkt mich keiner ein, keiner beleidigt mich, keiner verbietet mir etwas oder tut mir weh! Hier kann ich sagen: Ich mache, und nicht: Wir machen! Oder: Ich möchte, und nicht: Wir möchten. Hier kann ich allein sein, allein, ganz allein!

 

»Auf ein gutes Miteinander! Darauf, dass sich zwei Menschen verstehen! Lieber tot als allein! Sollen meine Feinde allein bleiben, nur ich nicht!« Die Männer ließen erneut ihre Gläser klirren. Sie tranken schon seit Stunden. Aus dem Nachmittag war bereits tiefste Nacht geworden.

»Ihr kennt doch diesen Spruch, ›Arm dran, wer allein essen muss!‹« – »Wie wahr!«, stimmten die Kollegen überein.

Rostom nickte. Die durch den Trinkspruch eingeleitete Unterhaltung ging weiter, jedoch bezog sie sich plötzlich auf ihn.

»Ein Mann wie du darf nicht allein leben, das ist nicht gut! Auch wenn du nie unter Einsamkeit leiden wirst, solange es uns gibt, Bruder. Aber es ist schon eine Schande, wenn so ein Mannsbild ohne gute Frau und Kinder zu Hause sitzt …«

Beim Wort »Kinder« musste Rostom an die Briefe denken, die er in letzter Zeit erhalten hatte, und er verzog das Gesicht; das Wort brannte in seiner Kehle stärker als der Schnaps.

 

 

Dianas Tagebuch

 

11. März

Als uns Zaza die Tasche gebracht hat, murmelte Großmutter vor sich hin, die würden wir wohl kaum brauchen können. Es ist eine knallbunte Wachstuchtasche. Sie hat recht, wir gehen nie aus und brauchen keine Tasche. Ihre Bemerkung kränkte mich aber trotzdem.

Wir haben ein paar Sachen hineingetan, ein schönes Taschentuch, einen Lippenstift, ein paar Haarspangen und eine Handvoll Lutscher, und haben sie dann an den Spiegel gehängt. Manchmal, wenn ich schlechte Laune habe, öffne ich sie und betrachte den Inhalt. An manchen Tagen wird meine Laune dadurch sogar noch schlechter. Auch die Tasche stammt von dort, von »draußen«, und erinnert uns daran, dass wir dort nie hinkommen werden. Draußen gibt es keinen Platz für uns. Wir müssen hier bleiben, mit unsichtbaren Stricken an diesen Ort gefesselt: unser Haus, die beiden Bäume, der Fluss. Hier sitzen wir fest und warten auf Großmutters Rente und Zaza.

Überhaupt ist dieser Ort wie verhext, es scheint ihn auf keiner Karte zu geben, nicht einmal als winzigen Punkt. Auf unseren Karten (wir haben zwei an der Wand hängen, sie sollen die Risse in der Mauer abdecken und den Luftzug stoppen) ist er zumindest nicht zu finden.

Hin und wieder macht mir das alles Angst. Lina heult dann, aber sie kriegt sich auch schnell wieder ein. Für sie ist das leichter so: Sie heult eine Weile und dann ist alles wieder gut. Das kann ich nicht. Mir ist es peinlich zu weinen. Mir ist es peinlich, dass wir anders sind. Manchmal macht mich das alles fast verrückt. Warum passiert so was? Und warum ausgerechnet uns?

 

13. März

Ich hab’s doch gewusst! Lina hat mich nach Papier suchen lassen, sie will auch schreiben. In einer Schublade haben wir ein altes, halbvoll geschriebenes Notizheft gefunden. Mehr Papier gibt es nicht. Erst hat sie gejammert, aber dann hat sie die beschriebenen Seiten herausgerissen und schon hatte auch sie ein Tagebuch. Was schreibt sie wohl hinein? Sie wendet sich beim Schreiben ab, damit ich nichts sehen kann.

Lina ist nämlich die links.

 

Linas Tagebuch

 

Am dreizehnten März

Zwei Zöpfe, zwei Mützen … eine Kette mit silbernem Blatt. – Das sind wir.

Ich bin die links.

Meine Schwester gibt mir ihr Tagebuch nicht zu lesen. Deswegen verstecke ich meines auch. Ansonsten gibt es kaum etwas, was wir voreinander verstecken können. Irgendwann werde ich es schon zu sehen bekommen, es heimlich lesen. Was kann sie denn so Besonderes schreiben? Vielleicht hat sie Gedichte zu Papier gebracht und ist sich nicht sicher, ob sie gut sind. In dem Fall wäre ich ihr gar nicht böse. Ich wollte schon immer Gedichte schreiben. Keine Liebesgedichte, ich war noch nie verliebt. Ich würde ein Gedicht über unseren Vater schreiben und eines über unsere tote Mutter. Ich weiß zwar auch so gut wie nichts über sie, aber da würde ich mir schon etwas einfallen lassen, für mich sind beide sehr lebendig – Mutter auf dem Foto, Vater in meiner Vorstellung.

Auch über mich und Diana würde ich schreiben …

»Zwei Herzen, zwei Münder, zwei Seelen …« So würde ich beginnen. Und danach? Keine Ahnung. Ich habe noch nie etwas geschrieben.

Da fällt mir ein, dass man Menschen mit zwei Herzen Heuchler nennt, und von Menschen mit zwei Mündern heißt es, dass sie doppelzüngig sind. Wie furchtbar! Was für grausame Wörter! Wie sagt man das wohl in anderen Sprachen? Wir sprechen nur Georgisch. Und im Georgischen gefallen mir diese Bilder nicht, sie kommen mir schrecklich vor.

Als Frau mit zwei Seelen bezeichnet man im Georgischen eine Frau, die ein Kind unter dem Herzen trägt …

Nirgends ist Platz für uns. Nicht einmal in der Sprache.

Ich weiß nicht, was ich schreiben soll. Das Tagebuch ist keine gute Idee. Es ist wie Gift. Am besten stelle ich das Denken ganz ein.

Was schreibt denn Diana so viel? Ich bin echt neugierig.

Lieber schneide ich wieder Bilder aus. Seit sie mit ihrem Tagebuch beschäftigt ist, hilft sie mir nicht mehr dabei, sie hat keine Zeit mehr für mich. Das Ausschneiden ist umständlich geworden. Alleine bekomme ich es kaum hin.

 

 

Am Morgen im Fahrstuhl streifte Rostom der Hauch eines starken Parfüms, süßlich und bitter zugleich. Unwillkürlich formte sich eine Frauengestalt vor seinen Augen. Als er im Erdgeschoss ausstieg, sah er eine schlanke Frau mit leicht hängenden Schultern vor sich, mit reiner, blasser Haut, reizendem, ovalem Gesicht und feingliedrigen, langen Fingern. Nur eine Frau wie diese verströmt einen solchen Duft.

Im Dozentenraum war es laut. Die Sekretärin kochte Kaffee. Die Tür ging auf und eine Studentin lugte herein. Als sie Rostom entdeckte, fragte sie schüchtern: »Darf ich kurz?« Rostom sah die grazile junge Frau streng an. Sie reichte ihm ein paar zusammengeheftete Blätter. Er nahm sie entgegen, ohne das Gespräch mit seinem Kollegen zu unterbrechen.

»Warum machst du ihr das Leben schwer? Sie ist doch sehr nett«, sagte der Kollege, nachdem die Studentin den Raum verlassen hatte.

»Was meinst du mit schwer machen?«, antwortete Rostom zerstreut. »Seit wann sind Hausarbeiten etwas Schlimmes?« Er sah verwundert auf das Titelblatt. »Falls ihr verwandt seid, musst du es mir sagen, dann werde ich sie natürlich …«

»Nein, nein, das war nur so dahingesagt, sie ist eine gute Studentin, intelligent. Ich kenne sie, weil sie im letzten Jahr einen Kurs bei mir belegt hat …«

Rostom holte sich die Studentenakten. Er fand den Namen der jungen Frau und sah sich ihre Bewertungen an. Niedrige Punktezahlen, zweimal Zwischenprüfung nachgeholt. Rostom zögerte. Irgendwas an dieser Frau störte ihn. Als er überlegte, was das genau war, tauchten nur ein langer Hals, geschwungene Augenbrauen und ein langes, feines Gesicht vor ihm auf, ein Gesicht, das einer expressionistischen Zeichnung entsprungen zu sein schien.

 

 

Dianas Tagebuch

 

16. März

Beim Aufwachen fällt mein Blick als Erstes auf Elenes Foto. Ich finde das ganz furchtbar. Als würde mir jedes Mal ein Nagel in den Kopf geschlagen werden. Das ovale Gesicht, die gebogenen Augenbrauen … Ich weiß, wem sie ähnlich sieht, wir hatten die Zeichnung früher im Kalender hängen.

Auf dem Bild ist Mutter in etwa so alt wie wir, vielleicht ein bisschen älter. Wusste sie überhaupt, was Kummer bedeutet? Sie ist gestorben, noch bevor sie uns zu sehen bekommen hat. Auch Vater hat uns nie gesehen. Er lebt zwar noch, aber es läuft auf dasselbe hinaus. Dem sind wir scheißegal.

Nein, egal ist nicht das richtige Wort, er wünscht sich bestimmt, wir wären nie geboren! Gibt es überhaupt jemanden, der uns haben will? Wer braucht uns schon?! Ich mag nicht jammern, ich versuche bloß einen Sinn in dem Ganzen zu erkennen. Ich habe doch das Recht zu wissen, warum ich auf der Welt bin und wie lange noch. Wenn ich bloß wüsste, was Lina und mich erwartet: Werden wir für immer hier bleiben? Immer so? Wenn ich jetzt an die Zukunft denke, bekomme ich gleich wieder schlechte Laune.

Als wir noch Kinder waren, hat das nicht so wehgetan. Früher gab es Momente, in denen wir auch glücklich waren.

Kann nicht auch einmal etwas Schönes passieren? Ausnahmsweise? Etwas Schöneres, als wenn Zaza Schokolade aus der Stadt mitbringt oder Großmutter einen Kuchen bäckt, etwas Vergnüglicheres … nicht so ein Kinderkram, der mich nicht mehr glücklich macht. Es wird mir zu eng hier, in diesem kleinen Zimmer, uns fällt allmählich die Decke auf den Kopf. Das alles, diese Leere, macht mich schrecklich müde. Unser Leben besteht nur aus dieser Leere.

Warum hat Elene uns zur Welt gebracht? Warum sind die Menschen so egoistisch? Warum lassen sie sich von ihren Trieben beherrschen?

Und warum hat uns keiner gefragt? Vielleicht wollten Lina und ich gar nicht hier sein.

Wer hat uns verflucht?

 

 

Linas Tagebuch

 

Am siebzehnten März

Richtige Mädchen haben Freundschaftstagebücher, habe ich in einem Interview gelesen. So ein Buch besteht aus lauter Fragen: Was magst du am liebsten? Wovon träumst du? Wer ist dein Lieblingsschriftsteller? – und so weiter. Diese Fragen lassen sie dann von ihren Freundinnen beantworten. Ich hätte gerne auch so ein Tagebuch, aber wem würde ich es geben? Schreibt Diana vielleicht etwas Ähnliches? Ich würde gerne so ein Buch ausfüllen, aber mir würde vermutlich nichts einfallen, was ich antworten könnte:

– Was willst du?

– Was liebst du?

– Was hasst du?

– Was willst du werden?

– Was machst du in deiner Freizeit?

– Welchen Maler magst du am liebsten?

– Welchen Schriftsteller? Schauspieler?

– Wovon träumst du?

Ich weiß nicht, was ich will. Aus irgendeinem Grund wünsche ich mir plötzlich, dass man mir solche Fragen stellt, als wäre ich berühmt und meine Antworten würden in einer Zeitschrift abgedruckt werden. Lina mag das, Lina träumt von … Lina ist das, Lina ist jenes, jetzt lacht Lina … auf diese Frage möchte Lina nicht antworten … Auch meine Schwester soll befragt werden, auch über sie soll geschrieben werden: Diana ist ganz anders – obgleich Zwillinge, sind die beiden sehr unterschiedlich … Deswegen streiten sie sich manchmal, aber sie lieben sich sehr. Sie könnten ohneeinander nicht leben!

Ich liebe Fleisch. Wenn Großmutter ihre Rente bekommt, bringt uns Zaza immer ein bisschen Fleisch und Käse. Es reicht für zwei Tage. Überhaupt, ich mag das, wenn Zaza vorbeikommt. Alles, was er mitbringt, verströmt einen besonderen Geruch. Ab und zu hat er sogar Schokolade dabei, ich glaube, die kauft er selbst, von seinem eigenen Geld. Ich liebe neue Zeitschriften. Manchmal legt man ihnen im Laden Werbebroschüren bei, die schaue ich mir besonders gerne an. Sie riechen anders, nach Stadt. Unser Geburtstag ist auch ein schöner Tag, Großmutter bäckt uns immer einen Kuchen. Sie schenkt uns Haarspangen und Kleider. Einmal haben wir Shampoo bekommen, das roch so gut. Es schäumte ganz toll und die Haare waren danach samtig weich.

Ein anderes Mal hat Zaza uns eine Flasche Seifenblasen mitgebracht. Das war herrlich! Diana und ich haben uns einen Wettkampf geliefert, wessen Blasen größer waren und sich länger in der Luft hielten … Das war so lustig! Am Anfang wollte es bei ihr nicht richtig klappen und sie ärgerte sich. Ich habe mich halb totgelacht! Als die Flüssigkeit aus war, erlaubte uns Großmutter nicht, Spülmittel zu nehmen. Aber Seife allein reicht nicht aus. Also haben wir heimlich doch ein bisschen Spülmittel hineingetan, ohne dass sie es merkte, und haben im Garten hinter unserem Haus regenbogenfarbene Seifenblasen steigen lassen.

Jetzt will ich verraten, was ich hasse: Ich hasse es, im Garten die Erde umzugraben. Lieber wasche ich Wäsche oder spüle ab. Ich hasse es, wenn Großmutter schnarcht oder wenn sie Schmerzen hat und stöhnt. In letzter Zeit stöhnt sie ohne Ende. Das macht mich verrückt! Am liebsten würde ich mir die Ohren zuhalten.

Beruf – Ich möchte Modedesignerin werden. Ich würde schöne Kleider nähen, so wie die, die man in den Zeitschriften sieht. Wir müssen sowieso alle unsere Blusen ändern. Hosen und Röcke tragen wir wie alle anderen, aber die Oberteile müssen neu gemacht werden. Als Modedesignerin würde ich zuerst schöne Kleider für uns nähen, später auch für andere. Ich würde für berühmte Frauen Kleider entwerfen und selbst die Farben und die Schnitte aussuchen.

In meiner Freizeit tauche ich. Ich lege meinen Kopf ins Wasser und wechsle in eine andere Welt. Mittlerweile kann ich dabei sogar die Augen offen halten. Früher hatte ich Angst davor, jetzt brauche ich mir nicht einmal die Nase zuzuhalten, und auch die Ohren bleiben unter Wasser, während ich Blasen aufsteigen lasse. Ich kann lange ohne Luft bleiben. Der Boden der Schüssel ist mit Blumen verziert. Im Wasser verschwimmt alles. Es kommen kaum Geräusche durch. Ich höre nur die Stimme meines Körpers, ich glaube sogar das Rauschen des Blutes in meinen Adern zu hören, und meinen Herzschlag. Meine Schwester ärgert sich, wenn ich tauche, und will, dass ich damit aufhöre. Aber ich mag es. Ich brauche nur den Kopf ins Wasser zu stecken und schon bin ich woanders, in einer ruhigen, friedlichen Welt.

Ansonsten blättere ich gerne in den Zeitschriften, schneide Bilder aus und sammle sie, jetzt habe ich auch noch angefangen Tagebuch zu schreiben.

Ich träume davon, frei zu sein. Um diese Frage zu beantworten, musste ich lange nachdenken. Ich kann nicht genau sagen, was Freiheit heißt, aber ich kann meine Vorstellung davon beschreiben.

Frei zu sein muss sich so anfühlen wie der Moment, in dem ich meinen Kopf ins Wasser tauche … bis mir die Luft ausgeht. Da weiß ich, dass ich Lina bin, nicht Dianas Zwillingsschwester oder ein mit Zaza verwandtes Waisenkind, sondern Lina, einfach nur Lina und Punkt!

Jetzt bin ich müde … und meine Hand auch.

 

Dianas Tagebuch

 

19. März

Als ich Elenes Foto von der Wand nehmen wollte, fing Lina an, mit mir zu kämpfen. Großmutter war in der Stadt, um ihre Rente zu holen, sonst hätte sie sicher Linas Partei ergriffen. Trotzdem gelang es mir, das Foto herunterzuschlagen. Lina ließ es mich nicht in der Schublade verstecken, sie legte es auf den Tisch. An der Wand ist seitdem ein helles Viereck, eine leere Stelle. Lieber sehe ich mir diesen Fleck an als Elenes lächelndes Gesicht, ich kann ihren sorglosen Blick nicht ertragen.

… Obwohl Mama wunderschön war. Ich bin ihr ähnlich.

 

 

Während sich Rostom nach dem Unterricht von den Kollegen verabschiedete, klingelte das Telefon. Man winkte ihn herbei, eine Frau würde nach ihm fragen. Rostom, der nie private Anrufe an seinem Arbeitsplatz bekam, nahm verwundert den Hörer entgegen.

»Spreche ich mit Rostom MortschiladzeEs hätte auch ein junger Mann sein können.

»Ja, ich höre

»Herr Mortschiladze, wir möchten Ihnen unser Beileid …«

»Wie bitte?«, Rostoms Stimme verkrampfte sich.

»Sie haben doch unser Schreiben erhalten? Auch wenn Sie die Aufbewahrungskosten für den Leichnam, Entschuldigung, die Leichname, nicht übernehmen wollen, müssen Sie trotzdem vorbeikommen … Sie müssen zu Protokoll geben, dass Sie Ihre Kinder nicht …«

»Hier liegt ein Irrtum vor, sagte Rostom barsch.

»Spreche ich mit Herrn Mortschiladze?«, wiederholte die Stimme ungerührt.

»Wen wollen Sie sprechen? Ich habe keine KinderVor Wut wurde Rostom laut.

»Entschuldigen Sie bitte …«, die Frau schien den Hörer zugedeckt zu halten und mit einer anderen Person zu sprechen, sodass Rostom nur einzelne Wörter verstand. »Sie können eine DNA-Analyse bean…«

»Was wollen Sie von mir? Wer hat Ihnen diese Nummer gegeben? Woher haben Sie meine Adresse? Was soll das Ganze

Rostoms Stirn war schweißbedeckt, sein Gesicht rot angelaufen. Er legte auf und sah seine Kollegen an.

»Was für Idioten! Was bilden die sich ein …!« Er wischte sich mit einem Tuch übers Gesicht und verließ den Raum.

»Alles in Ordnung?«, rief ihm ein Kollege nach. Im Flur begegnete er wieder der Studentin. In seiner Verwirrung konnte er sich nicht erinnern, ob sie sich heute bereits gegrüßt hatten, also wandte er sich vorsichtshalber ab.

 

 

Dianas Tagebuch

 

29. März

Wir haben keine Binden mehr. Auch die Seife ist bald aufgebraucht. Als ich … nein, als wir das erste Mal unsere Blutung bekommen haben, wusste ich überhaupt nicht, was los war, und hatte unglaubliche Angst. Ich habe Lina geweckt, und ihr blieb fast das Herz stehen. Großmutter hatte uns natürlich nicht aufgeklärt. Später haben wir uns daran gewöhnt. Haben auch endlich die Fernsehwerbung verstanden. Es war uns peinlich, Zaza um Damenbinden zu bitten. Also rissen wir ein Bettlaken in lange Streifen und legten Watte und Toilettenpapier dazwischen … Am Ende setzten wir die Binden aber doch auf die Einkaufsliste. Seitdem bringt er uns immer welche mit.

Ohne unsere Bücher, die Illustrierten und das Fernsehen hätten wir von nichts eine Ahnung. Großmutter schimpft zwar, wozu wir die Illustrierten brauchen würden, hinausgeworfenes Geld sei das, sagt sie, aber Lina ist ganz verrückt danach, sie würde lieber verhungern, als auf ihre Hefte zu verzichten.

Wie gut, dass uns Großmutter das Lesen und Schreiben beigebracht hat. Wahrscheinlich ist sie deswegen auf die Welt gekommen … Ob ohne sie unser Leben anders verlaufen wäre? Vielleicht hätten wir woanders gewohnt, nicht so abgeschottet wie hier, vielleicht hätten wir die Welt da draußen gesehen. Was soll denn so schlimm an ihr sein? Wie oft war ich kurz davor, Zaza zu sagen: »Bitte, nimm uns mit zum Einkaufen! Wir warten auch im Auto auf dich, wenn es dir lieber ist!« Aber jedes Mal, wenn ich ihn bitten wollte, war meine Zunge wie gelähmt. Vielleicht werde ich es mein Leben lang nicht schaffen, ihn zu fragen … Ob er uns überhaupt mitnehmen würde? Vermutlich nicht.

 

 

Linas Tagebuch

 

Am zweiundzwanzigsten März

Inzwischen kann ich schon länger als eine Minute die Luft anhalten … Ich liebe es, im Wasser zu sein. Gerne würde ich ganz eintauchen, aber … Aus dem Fernsehen weiß ich, dass man im Schwimmbad und im Meer baden kann. Ich bin immer ganz neidisch, wenn ich Menschen im Badeanzug sehe, die ins Wasser springen und schwimmen, tauchen oder sich auf dem Rücken treiben lassen. Ich möchte so gern ans Meer … an einen See … Hauptsache Wasser! Ich will ins Wasser! Ich würde hineinspringen und losschwimmen, ich weiß genau, dass ich schwimmen kann, Diana dürfte sich auf mich verlassen, ich würde für uns beide schwimmen.

IchwillinsWasserIchwillinsWasserIchwillinsWasserIchwillinsWasserIchwillinsWasserIchwillinsWasserIchwillinsWasser …

Wasser ist für mich das Gleiche wie der Spiegel für Alice im Wunderland. Ich betrete so eine andere Welt. Die anderen verstehen das nicht und schimpfen mit mir. Aber was geht das die Großmutter an? Wen störe ich denn damit? Das Wasser bringt mich weit weg, an einen anderen Ort … Der vielleicht nicht besser ist, aber anders, ganz anders …

 

 

Die Nachbarin maß Rostom den Blutdruck und gab ihm ein paar Tabletten.

»Du musst auf dich aufpassen … Du siehst ganz furchtbar aus.« Sie verstaute das Blutdruckmessgerät in der Hülle und stand auf.

»Ich weiß Msia, ich weiß … Ich sollte weniger trinken …«

»Ja, das stimmt, Trinken verjagt keine Sorgen, es macht nur krank, und vom Sorgenmachen allein wird die Welt auch nicht besser«

Unter dem vielsagenden Blick seiner Nachbarin kam sich Rostom ganz elend vor.

»Ich weiß, es ist nicht leicht.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Ihr Männer vergrabt eure Sorgen gern, … Sag Bescheid, wenn ich dir helfen kann … falls du Geld brauchst … «

Rostom starrte sie an.

»Wie meinst du das

»Du hättest nichts machen könnenDu weißt doch: Seinem Schicksal kann keiner entrinnenÄhmJedenfalls, wir sind für dich da …«, fügte sie voll Mitleid hinzu und verabschiedete sich.

Rostom brachte kein Wort heraus. Die Kopfschmerzen waren schlimmer geworden. Sein Kopf dröhnte.

Es fiel ihm ein, dass der Briefträger den zweiten Brief bei Msia abgegeben hatte.

 

 

Linas Tagebuch

 

Am sechsundzwanzigsten März

Im Garten hinter unserem Haus stehen zwei Bäume. Ich möchte über sie ein Gedicht schreiben. Der eine sieht aus wie wir, der andere ist eine Kiefer.

Früher war die Kiefer größer als wir, jetzt haben wir sie eingeholt. Sie ist zwar kein Tannenbaum, wie man ihn aus den Illustrierten und aus dem Fernsehen kennt, aber sie kommt ihm ziemlich nahe … Und ich mag die Kiefer. An Neujahr schmücken wir sie mit Spielzeug und bunten Schleifen. Einmal haben wir einen Zweig abgebrochen und ihn im Haus an die Wand gehängt. Aber der Baum tat uns leid und wir haben das nie wieder gemacht, seitdem schmücken wir ihn immer nur draußen. Wir haben sowieso kaum Spielzeug, weil meine tollpatschige Schwester immer alles kaputt macht. Deshalb binden wir meistens nur Schleifen um die Äste. Dann sieht die Kiefer fast so aus wie ein Baum der Tausend Wünsche, für jede Schleife ein Wunsch. Weniger wie ein echter Weihnachtsbaum. Aber auch so ist sie wunderhübsch und macht den Garten schöner. Nach dem Aufstehen fällt unser erster Blick auf sie, und gleich sind wir besser gelaunt.

Im Winter ist alles viel anstrengender. Der Schnee macht die Wände feucht. Manchmal dürfen wir nicht einmal die Heizung aufdrehen, das Gas kostet zu viel. Auch für Zaza ist es nicht leicht, uns zu besuchen. Trotzdem freuen wir uns über den Schnee …

 

 

Dianas Tagebuch

 

26. März

Diesmal habe ich die Illustrierten durchgeblättert, bevor Lina sie zerschneiden konnte. Ein paar Sachen fand ich interessant. Manche Wörter verstehe ich aber nicht, ich muss Großmutter fragen. Sie war Lehrerin und weiß deswegen immer eine Antwort. Ich glaube, auch wenn sie keine wüsste, würde sie sich eine ausdenken. Oder gleich losschimpfen darüber, wie das Georgische verkommt und unter Barbarismen leidet. Oder so ähnlich. Heute habe ich sie nach »synchronisiert« gefragt und sie war überrascht, dass ich das Wort nicht kannte. Es kam mir vor, als hätte etwas in mir die Bedeutung gewusst, aber ich war mir nicht sicher. Sie sagte, das Wort beschreibe eine zeitgleiche Bewegung, wenn zum Beispiel beim Tanzen alle Tänzer gleichzeitig dieselbe Bewegung machen. Oder alle Schwimmer, sagte sie. Wahrscheinlich hat sie das mit etwas anderem verwechselt, in dem Artikel ging es um Filmsynchronisierung, wie soll das mit Tanzen zusammenhängen?

Unser Apfel-Pfirsichbaum blüht noch nicht. Kein Wunder bei diesem Wetter … Es wird und wird nicht wärmer! Großmutters Blutdruck ist ständig zu hoch, das kommt auch vom Wetter. Sie verlässt kaum noch das Bett …

Ich möchte so gerne unseren Baum blühen sehen. Der Apfel springt als Erster auf. Zuerst ist der eine Teil mit weißen Blüten bedeckt, dann der andere mit rosa Blüten. Im Sommer trägt der eine Äpfel und der andere Pfirsiche. Wenn doch der Sommer bald kommen würde! Die Großmutter erklärte uns, man hätte den Baum gepfropft. Dabei würde man dem Baum einen Ast abschneiden, einen anderen an die Stelle drücken und ihn festbinden, damit die beiden zusammenwachsen und zu einem Baum werden, zwei unter einer Rinde.

Vielleicht bedeutet auch das synchronisieren … aber nein, nein … wenn sie erst nacheinander blühen, dann ist das nicht synchron, zumindest nicht im Sinne von Großmutters Erklärung …

Soeben konnte ich endlich einen Blick in Linas Tagebuch werfen. Sie schreibt über unsere Bäume. Ich auch. Das passiert uns oft, wir denken oft gleichzeitig ein und dasselbe, ohne es zu wollen … synchron eben!

Lina hat über die Kiefer geschrieben. Darüber, dass wir einmal an Neujahr einen Zweig zu Hause an der Wand hängen hatten. Wie ist sie bloß darauf gekommen? Damals war der ganze Fußboden mit Nadeln bedeckt, durch die Wärme fielen sie alle ab und verdreckten den Boden. Von da an haben wir nie wieder einen Zweig ins Haus gebracht und haben den Baum nur noch draußen geschmückt. Wir hängen Spielzeug und bunte Schleifen an ihn. Dabei macht Lina jedes Mal mindestens ein Spielzeug kaputt.

 

 

»Lass dich bloß nie wieder hier blicken …!« Rostom sprang dem Briefträger hinterher, aber der Mann hatte bereits erschrocken die Flucht ergriffen. Rostom sah ihm nach und hielt sich mit einer Hand am Treppengeländer fest. »Was zum Teufel soll dieses blöde Spiel?«, keuchte er.

»Wollen Sie finanzielle Unkosten vermeiden, fassen Sie sich in Geduld und nehmen Ihre Probleme an. Passen Sie auf Ihre Gesundheit auf …«, hörte Rostom beim Betreten der Wohnung. Im Fernsehen lief das Tageshoroskop und auf dem Fußboden lag ein weiterer Brief.

 

 

Linas Tagebuch

 

Am achtundzwanzigsten März

In Märchen verwandeln sich Menschen in Bäume. Wenn das stimmt, dann ist die Kiefer vorm Haus unsere Mutter. Deswegen ist sie auch so schön und zart. Unser Mekvle, der Neujahrsbote, der uns für das kommende Jahr Glück bringen soll, ist schon immer unser Zaza gewesen. Allerdings kommt er immer zwei, drei Tage zu spät und meist betrunken, dafür bringt er aber Süßigkeiten mit. Jetzt hätte ich gerne etwas Süßes …

Unser Vater könnte der Baum hinter der Gartenmauer sein … Er passt von Weitem auf, und sollte es uns einmal richtig schlecht gehen, hilft er uns. Früher oder später wird er schon kommen.

Einmal habe ich gehört, wie Zaza zu Großmutter sagte, er würde diesen Dreckskerl finden, der sollte nicht so billig davonkommen. Warum sagt er so etwas? Ich fühlte mich gekränkt. Zaza fügte noch hinzu, das Arschloch sollte keinen ruhigen Schlaf mehr haben, schließlich wäre er ja der Vater.

Großmutter fiel ihm ins Wort und meinte, er solle sich zurücknehmen, wir seien in der Nähe. Diana und ich lagen schon im Bett, und sie war sich wohl nicht sicher, ob wir schliefen. »Hätte der Mann nur einen Funken Anstand im Leib …«, flüsterte sie, brach aber mitten im Satz ab. Sie dürfen nicht so über unseren Vater reden! Vielleicht hat Diana wirklich schon geschlafen, jedenfalls verzog sie keine Miene. Als ich später mit ihr darüber reden wollte, haben wir uns gestritten … Sie mag nicht über unseren Vater sprechen, sie mag auch nicht über unsere Zukunft sprechen, sie findet, das bringe nichts, wir könnten ohnehin nichts ändern. Auch über Elene spricht sie manchmal schlecht. Ich hasse das. Unsere Mama war schön und gut, würde sie noch leben, wäre alles besser. Nur mit äußerster Anstrengung habe ich ihr Foto retten können. Ich könnte durchdrehen wegen Diana …

Würde Mutter noch leben, wäre alles gut. Das weiß ich genau!

 

 

Rostom war noch nie in einem Leichenschauhaus gewesen. Der Sicherheitsdienst wies ihm den Weg nach unten. Im Untergeschoss wurde Rostom von einem ungewöhnlich großen Mann mit riesigen Händen empfangen. Auf dessen glänzendem Schädel klebte schütteres Haar, und der weiße Arztkittel reichte ihm gerade bis zu den Knien. Aus irgendeinem Grund hatte Rostom erwartet, dort eine Person anzutreffen, zu der die komische, geschlechtslose Telefonstimme gepasst hätte – entweder einen sehr jungen, kahlköpfigen Mann oder eine füllige, plumpe Frau. Unschlüssig folgte er seinem Begleiter, als wartete etwas Schreckliches auf ihn. Von den unter der Decke angebrachten Leuchtröhren fiel ein kaltes Licht in den Gang. Am Ende flackerte eine Neonlampe, und Rostoms Herz schien sich ihrem unregelmäßigen Rhythmus anzupassen. Er blieb kurz stehen. Am liebsten wäre er umgekehrt, er fragte sich, was er da überhaupt machte.

»Kommen Sie schonDie Stimme des Riesen erschien Rostom weit entfernt, als hätte er Watte in den Ohren.

Er folgte ihm. Sie durchquerten einen Raum nach dem anderen. In einem saßen Frauen in weißen Kitteln und aßen Schnitzel mit Nudeln. Vor ihnen lag eine Plastiktüte mit kleingeschnittenen Gurken und Tomaten. Rostom fühlte sich wie in einem Traum.

Aus einem überdimensionalen Kühlschrank rollte polternd eine Schublade in der Größe eines ausgewachsenen Menschen auf ihn zu.

»Nein, nein«, sagte Rostom, »das ist ein Missverständnis, ich bin bloß gekommen, um zu klären …«

Der Riese tat, als hörte er nicht, griff nach dem Tuch, das den toten Körper bedeckte, und zog es weg. Rostom wurde schwindelig. Der Leichnam schien sich zu verdoppeln und Rostom verlor das Bewusstsein.

 

 

 

Linas Tagebuch

 

Am dreißigsten März

Manchmal denke ich, das alles hat seine Richtigkeit. Alles ist so, wie es sein soll. Ich habe Lina zu sein – Dianas Zwillingsschwester – und sie Diana – meine Zwillingsschwester. Unsere Mutter konnte friedlich sterben, weil sie uns nicht alleine zurückließ, wir haben einander, und so wird es bleiben. Ich kann ohne Diana nicht leben und sie nicht ohne mich. Diese Worte sind wahr, sie entsprechen den Tatsachen, sind kein romantisches Gefasel.

Im Bett liegen unsere Köpfe auf demselben Kissen und wir sehen durch das Fenster den gleichen kleinen Ausschnitt vom Himmel, nach dem Regen zwitschern die Vögel wieder fröhlich, man hört aber das Wasser noch von der Decke in eine Schüssel tröpfeln. Draußen scheint schon die Sonne. Alles wird gut. Oder: Es ist alles gut.

 

Am einunddreißigsten März

Meine Stimmungen wechseln so schnell. Die von heute Morgen hat nicht einmal bis zum Abend gehalten.

Großmutter meckert ununterbrochen. Vielleicht meckere ich auch und merke es nicht einmal. Sie schimpft, dass alles immer teurer wird, und kündigt an, uns keine Illustrierten mehr zu kaufen.

Neulich hat sie meine Notizen weggeworfen. Aus dem Heft war ein Blatt herausgefallen, und das warf sie mit dem Müll weg. Ich habe geweint und wollte hinuntergehen, um danach zu suchen, aber Diana wollte nicht mit und ich hatte Angst, weil der Boden vor der Müllkippe immer aufgeweicht und matschig ist. Außerdem stinkt es dort fürchterlich.

Das Schlimmste ist, dass auf dem weggeworfenen Blatt Papier mein erstes Gedicht stand. Und jetzt erinnere ich mich nicht mehr genau, wie es ging …

 

Immer zusammen, ein verbundenes Paar.

Trauriges durch zwei geteilt, Träume getauscht ohne Scham.

Die Nacht flicht eine alte Mär in unser Haar,

wir kämmen es durch mit gemeinsamem Kamm …

 

So ungefähr. Es gab noch eine zweite Strophe, die fällt mir aber nicht mehr ein. Darüber könnte ich gleich wieder weinen …

Heute früh bin ich wie gelähmt aufgewacht, ich hatte einen entsetzlichen Traum, von dem ich nicht einmal am helllichten Tag erzählen mag. Wahrscheinlich hatte ich noch meine Abendlektüre im Kopf, zumindest habe ich fast genau das geträumt, was ich vor dem Einschlafen gelesen hatte … Gemeinsam mit Diana kann man so etwas nicht lesen. Entweder bricht sie in Lachen aus oder sie schlägt mir das Buch aus der Hand … Da sie sich aber jetzt nur noch mit ihrem Tagebuch beschäftigt, fühlte ich mich etwas freier … Ich wollte mir die Seite noch einmal ansehen, hielt es aber kaum aus … schamrot griff ich nach einer Illustrierten, schlug sie auf und blätterte darin, ohne genau hinzusehen, denn die Szene aus dem Buch wollte mir nicht aus dem Kopf gehen … Sie verfolgte mich bis in den Traum. Ich spürte deutlich, wie mich jemand berührte, als würde nicht die Frau im Buch gestreichelt werden, sondern ich …

Am Morgen sagte Diana ganz grob zu mir, ich solle aufhören zu träumen. Als würde sie selbst nie träumen.

 

Dianas Tagebuch

 

1. April

Wenn man sich zu sehr auf etwas freut, wird man meist enttäuscht. Aber warum ist das so?

Ich hatte so große Lust auf Fleisch, dass ich den ganzen Monat lang nur noch auf Großmutters Rente und auf Zaza gewartet habe, ich wollte unbedingt ein Schnitzel essen. Einmal habe ich eines im Fernsehen gesehen, es sogar gerochen, ja, mir ist tatsächlich sein Duft in die Nase gestiegen!

Endlich war der Fleischtag. Die Schnitzel schmeckten gut, nicht versalzen, aber in diesem Moment hatte ich überhaupt keinen Appetit. Ich stocherte lustlos auf meinem Teller herum, als würde man mich zwingen zu essen … Das passiert mir immer, ich hasse das! Wenn ich mir etwas zu sehr wünsche und mich lange darauf freue, mich in Geduld übe und brav die Tage zähle, gibt es später nur Enttäuschung. Wann habe ich bloß das letzte Mal etwas Schönes erlebt?

Heute habe ich Großmutter ganz genau beobachtet und weiß jetzt mit Sicherheit: Sie liebt Lina mehr als mich!

Immer wenn bei uns etwas Gutes auf den Tisch kommt, sei es Fleisch, Käse oder Kuchen, legt sie ein größeres Stück auf Linas Teller. Und Lina tut, als würde sie nichts merken … Na ja, auf die paar Bissen mehr oder weniger kommt es nicht an, aber Großmutters Getue macht mich rasend! Irgendwann werde ich ihr sagen, was ich davon halte! Woher nimmt sie das Recht, uns unterschiedlich zu behandeln? Sie weiß doch, dass wir eins sind, ich bin Lina, und Lina ist ich! Wann begreift sie das endlich?

Trotzdem sehe ich Mutter viel ähnlicher! Ich habe einen längeren Hals, ein feineres Gesicht und außerdem auch noch ihre mandelförmigen Augen. Manchmal kommt mir meine Nase zu groß vor, aber wenn ich sie mithilfe von zwei Spiegeln betrachte, ist sie gerade richtig … Lina und ich, wir haben die gleiche Nase, schmal und gerade … Wenn ich mir Lina von der Seite ansehe, finde ich ihre Nase gar nicht so schlimm, im Gegenteil. Mutter hatte auch so eine, und sie stand ihr ausgezeichnet …

 

 

Linas Tagebuch

 

Am ersten April

Warum schmeckt die letzte Nuss eigentlich immer bitter? Man denkt: »Oh, schade … jetzt kommt die letzte«, beißt hinein und ausgerechnet die ist schlecht und verdirbt einem die ganze Freude.

Zu Neujahr machen wir immer Gosinaki mit Honig und Walnüssen. Ich liebe Nüsse, wichtig ist, dass sie nicht ranzig sind, das hasse ich.

Einmal haben wir auch Tschurtschchelas gemacht. Zuerst fädelten wir die Nüsse auf. Dann tauchten wir sie in aufgekochten dickflüssigen Traubensirup und hängten die Nussketten zum Trocknen an den Schrank. Das hat richtig Spaß gemacht. Die Großmutter ärgerte sich, weil wir den Fußboden mit Saft bekleckerten. Ihr war es um den Traubensaft leid.

Sie hatte das Glas Traubensirup von einer alten Freundin aus der Stadt bekommen. Nachdem die Frau gestorben war, bekamen wir keinen Nachschub und konnten keine Tschurtschchelas mehr machen. Einmal brachte uns Zaza ein Stück, aber er war betrunken und aß es schließlich selbst auf.

Ich habe Hunger auf etwas Süßes.

 

 

»Ich brauche etwas gegen Erinnerungen«, dachte Rostom, nahm die Tabletten aus der Hand der jungen Assistenzärztin und schluckte sie gehorsam. Sie sagte, er hätte Glück gehabt und könnte in ein paar Tagen entlassen werden, auf keinen Fall sollte er aber weiterhin rauchen oder Alkohol trinken.

Die Nächte im Krankenhaus waren unruhig. Immerzu wachte er auf. Jedes Einschlafen war begleitet von Erinnerungen: seine erste Liebe, Elas Gesichtszüge, ihr schlanker Körper, ihre leicht gebeugten Schultern … In der dritten Nacht mischte sich die Studentin plötzlich dazu und sein verwirrter Verstand stattete ihr längliches Gesicht mit Elas geschmeidigem Körper aus.

 

 

Linas Tagebuch

 

Am vierten April

Heute war Großmutter nicht zu Hause, und im Fernsehen lief einer der Filme, den – wäre sie daheim gewesen – wir nie hätten schauen dürfen. Wir saßen beide ganz nah vor dem Bildschirm. Ich hatte Angst, Großmutter könnte jederzeit kommen, und bei jedem Geräusch blieb mir fast das Herz stehen. Obwohl mein Puls viel schneller war als sonst. Ein seltsamer Zustand, als schämte ich mich für die Frau im Fernsehen. Ich kann mein Gefühl nicht genau beschreiben … Einerseits fürchtete ich, von Großmutter erwischt zu werden, andererseits breitete sich eine unbekannte Wärme in meinem Bauch aus. Diana beobachtete mit düsterem Blick, wie sich der Mann und die Frau mit ihren Zungen berührten. Dann knöpfte der Mann der Frau die Bluse auf und ihre Brüste wurden sichtbar. Mir stockte der Atem. Zu der Wärme in meinem Bauch gesellte sich ein Kribbeln … Ihre Brüste waren rund, größer als unsere, und der Mann küsste sie, er benahm sich dabei mehr … wie ein Kind, wie ein kleines Baby, das an der Brust der Mutter saugt … In dem Moment legte mir Diana ihre Hand vor die Augen, sie wollte nicht, dass ich so etwas sah. Das fand ich ungerecht und wir fingen an, uns zu schlagen, Diana lachte … Plötzlich stand Großmutter im Zimmer. Durch unseren Streit hatten wir ihr Kommen überhört und auf einmal war sie direkt vor dem Fernseher. Wir erstarrten, aber auf dem Bildschirm war nur eine Straße zu sehen und Großmutter hatte nichts mitbekommen. Wir hatten Glück.

Vor dem Einschlafen dachte ich daran, wie der Mann an der Brust der Frau gesaugt hatte. Und mein Bauch spannte wieder, mein Herz klopfte wie wild. Plötzlich brüllte mich Diana an, ich solle sie schlafen lassen.

 

 

Dianas Tagebuch

 

5. April

Großmutter findet manchmal den einen oder anderen Mann im Fernsehen sympathisch oder gut aussehend. Dabei sehen sie alle ganz schrecklich aus … Von sich selbst behauptet sie auch, schön gewesen zu sein. Auf dem Foto, das ich von ihr kenne, sieht sie allerdings nicht besonders gut aus! Aber unsere Mutter war wirklich schön!

Heute habe ich schlechte Laune.

Ich lese schneller als Lina und muss immer warten, bis sie die Seite zu Ende gelesen hat, damit wir umblättern können. Wenn wir ein gutes Buch lesen, kann ich es kaum erwarten, bis wir endlich mit dem Haushalt fertig sind und ich gemeinsam mit Lina weiterlesen kann. Der Fernseher steht momentan komplett unter Großmutters Fuchtel. Seit sie bettlägerig geworden ist, döst sie nur noch vor sich hin, aber sobald man das Programm umschaltet, wacht sie auf und schimpft. Ansonsten geht es ihr schlecht, man kann geradezu mitansehen, wie sie immer schwächer wird … Keine Ahnung, wie sie das machen will, wenn ihre Rente kommt. Sie sagte, sie würde Zaza ihren Ausweis geben, vielleicht kann er das Geld holen …

Hin und wieder, ohne bestimmten Grund, fängt mein Herz an zu rasen. Das ist ganz seltsam. Als würde es gleich vor Erwartung und Aufregung platzen. Dabei gibt es nichts Besonderes, worauf ich mich freuen würde. Dann wieder bin ich ganz ruhig, wie die Natur vor starkem Regen. Das Herzrasen kommt vermutlich von der Angst. Wovor? Alles, was man nicht kennt, jagt einem doch Angst ein.