Der kleine Fürst – 202 – Unter schwerem Verdacht

Der kleine Fürst
– 202–

Unter schwerem Verdacht

Ferdinand gerät in ein falsches Licht

Viola Maybach

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-088-2

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»Sehr lange werde ich nicht mehr hierbleiben«, sagte Emilia von Hohenbrunn. »Ich denke, in ein paar Wochen kann ich nach Hause zurückkehren.«

»Aber Sie sind doch gerne hier, oder?«, fragte Christian von Sternberg. »Sie könnten hierher umziehen. Steffi und Caro würden sich sehr darüber freuen würden. Ich mich auch, übrigens.«

Sie lächelte ihn voller Sympathie an. Einige Wochen zuvor waren sie gemeinsam in einen Banküberfall geraten, verübt von vier bewaffneten Männern. Viele Stunden hatten sie mit anderen in deren Gewalt ausharren müssen. Ein solches Erlebnis schweißte zusammen. Emilia hatte Christian schon vorher gemocht, jetzt hatte sie ihn insgeheim als Enkel adoptiert, aber das wusste niemand außer ihr. Kurz nach dem Banküberfall – als wäre dieses Erlebnis nicht schon schlimm genug gewesen! – war bei ihr Brustkrebs diagnostiziert worden. Sie bekam in diesen Tagen die letzten Bestrahlungen, danach war die Behandlung erst einmal abgeschlossen.

Sie wurde in der Privatklinik von Dr. Walter Brocks in Sternberg behandelt. Während dieser Zeit wohnte sie bei ihrem Sohn Phillip, seiner Frau Florentine und deren beiden Töchtern Stephanie und Caroline. Stephanie war seit kurzem Christians Freundin, deshalb bekam sie ihn häufiger zu Gesicht. Je besser sie ihn kennenlernte, desto mehr freute sie sich über seine Verbindung zu ihrer Enkelin. Die beiden taten einander gut.

Christian wurde in der Bevölkerung ›der kleine Fürst‹ genannt, was sie rührend fand. Einerseits unpassend, denn klein war er keineswegs und ein Fürst war er auch noch nicht, andererseits drückte der Name so viel Zuneigung aus, dass er wohl doch irgendwie passend war. Christians Eltern waren im vergangenen Jahr durch ein tragisches Unglück ums Leben gekommen. Sein Vater, Fürst Leopold von Sternberg, war ein gut aussehender, sehr großer Mann gewesen, der Christian als kleinen Jungen bereits mit auf seine Reisen genommen hatte. Nach kurzer Zeit bereits waren die beiden ›der große und der kleine Fürst‹ für die Leute gewesen, und bis heute war Christian der Name geblieben.

»Ich bin gerne hier«, bestätigte sie, »aber ich bin auch gern bei mir zu Hause. Ich vermisse meine eigenen vier Wände, kannst du dir das nicht vorstellen?«

»Doch«, gab er zögernd zu. »Aber Sie sind doch allein. Fühlen Sie sich nicht manchmal einsam? Ich meine, wäre es nicht schön für Sie, hier mit Ihrer Familie zusammenzuwohnen?«

Sie betrachtete ihn prüfend. Er war reifer als andere Sechzehnjährige, das war ihr gleich aufgefallen, als sie ihn kennengelernt hatte. Natürlich hing das mit dem frühen und tragischen Tod seiner Eltern zusammen, den er mit Hilfe seiner Verwandten zum Glück recht gut bewältigt hatte. Mit seinen Eltern hatte er im Sternberger Schloss den Ostflügel bewohnt, nach dem Unglück war er zur Familie seiner Tante Sofia von Kant in den Westflügel gezogen. Sofia war eine Schwester seiner Mutter. Mit ihrem Mann, Baron Friedrich von Kant, und ihren beiden Kindern Anna und Konrad wohnte sie schon lange ebenfalls im Schloss. Die drei Kinder waren auch vorher schon wie Geschwister aufgewachsen, nun waren sie noch enger zusammengerückt.

»Ich fühle mich nicht einsam«, erwiderte Emilia nach einer längeren Pause, und das entsprach der Wahrheit. Sie war fünfundsiebzig Jahre alt und bis jetzt nie ernsthaft krank gewesen. Die Entdeckung, dass in ihrer Brust ein bösartiger Tumor wuchs, hatte sie vorübergehend aus der Bahn geworfen, doch jetzt war sie wieder ganz die Alte: Sie würde sich ganz gewiss von dieser Krankheit nicht unterkriegen lassen.

»Nein, wirklich«, bekräftigte sie, »ich fühle mich nicht einsam, Chris. Ich kann gut allein sein. Und wenn ich Gesellschaft brauche, gibt es genügend Leute, mit denen ich mich treffen kann. Außerdem entwickelt man im Alter gewisse Eigenheiten, die man lieber für sich behält.«

»Ja?«, fragte Christian erstaunt. »Sie kommen mir gar nicht so vor.«

Sie lachte. »Das will ich auch hoffen!«, sagte sie mit Nachdruck.

»Ich fände es auch klasse, wenn Sie hier wohnen würden. Ich … ich habe ja keine Oma mehr, und deshalb …« Er unterbrach sich erschrocken. »War das jetzt unverschämt? Ich wollte damit nicht sagen, dass Sie meine Oma sein sollen, ehrlich nicht.«

»Ich hätte nichts dagegen«, erklärte sie gerührt.

»Ehrlich nicht?«, fragte er aufrichtig erfreut. »Dann wären Sie so etwas wie meine Adoptiv-Oma, falls es das gibt«

Damit sprach er aus, was sie selbst fühlte, und das rührte sie noch mehr. Wenn es eines Beweises bedurft hatte, dass es ein festes Band aus Vertrauen und Sympathie zwischen ihnen gab, dann war er hiermit erbracht.

Sie hielt ihm die Hand hin. »Einverstanden«, sagte sie. »Schlag ein.«

Während er das tat, kam Stephanie herein. »Was macht ihr da?«, fragte sie verwundert.

Emilia zwinkerte Christian zu. »Sollen wir es ihr verraten?«, fragte sie.

Stephanie kam näher. Sie war ein sehr hübsches Mädchen mit zarter weißer Haut, die um die Nase herum von Sommersprossen gesprenkelt war, großen grauen Augen und rotbraunen Haaren. Der schlanke dunkelhaarige Christian mit den ernsten Augen und sie waren ein schönes Paar. »Was verraten?«, fragte sie.

»Deine Oma hat mich als Enkel adoptiert«, sagte Christian. »Weil ich ja keine Oma mehr habe.«

Emilia sah, dass er in Gedanken hinzufügte: ›Und keine Eltern‹, aber das sprach er nicht aus.

»Gute Idee, Omi«, sagte Stephanie.

»Ja, der Ansicht bin ich auch. Hört mal, ihr beiden, mir fällt seit Tagen auf, dass Caro so still ist. Hat sie Kummer?«

»Still?«, fragte Christian. »Mir ist nichts aufgefallen, aber ich sehe sie ja auch nicht so oft.«

Stephanie dachte länger über die Frage ihrer Großmutter nach. »Jetzt, wo du es sagst … Stimmt, sie ist stiller als sonst, aber von Kummer weiß ich nichts. Ich frage sie, mir erzählt sie sicher, wenn es etwas gibt, was sie bedrückt.«

Caroline war Stephanies neunjährige Schwester, die zu ihrem Kummer blond und blauäugig war, wo sie doch viel lieber ausgesehen hätte wie Stephanie, an der sie nicht nur mit großer Liebe hing, sondern die sie auch von ganzem Herzen bewunderte. Sie war ein quirliges, aufgewecktes Mädchen, das gern und viel redete und gelegentlich zu Eigensinn neigte. Größeren Kummer hatte sie ihren Eltern bis jetzt noch nicht bereitet.

»Ja, tu das«, bat Emilia.

Die beiden Teenager verließen das Zimmer, weil sie sich noch mit Freunden treffen wollten, Emilia blieb allein zurück und dachte über das nach, was Christian zuvor gesagt hatte. Würde sie gern in Sternberg leben, bei ihrer Familie?

Zu ihrer eigenen Überraschung fiel die Antwort nicht mehr so eindeutig aus wie noch vor wenigen Monaten. Da hätte sie ganz klar ›nein‹ gesagt, aber seitdem war viel passiert, und ihr war klar geworden, wie schnell ein Mensch in ihrem Alter seine Selbstständigkeit verlieren konnte. Die Aussichten, dass der Brustkrebs vollständig geheilt werden konnte, standen gut, aber bei dem Banküberfall war auf sie geschossen worden, seitdem konnte sie ihren rechten Arm nur noch eingeschränkt bewegen. Sicher, sie arbeitete daran, es würde besser werden, vielleicht sogar wieder richtig gut. Aber die Genesung dauerte länger, der Weg dahin war mühsam und mit Schmerzen verbunden, und sie begann zu ahnen, dass es jetzt mit allem so sein würde: Alles würde mehr Zeit kosten und schwieriger werden.

Sie schob diese Gedanken beiseite. Fünfundsiebzig war kein Alter heutzutage, noch war sie nicht bereit, ihr Leben, wie sie es bisher geführt hatte, aufzugeben. Aber immerhin war ihr klar geworden, dass sie sich mit der Möglichkeit beschäftigen musste und dass sie das besser jetzt als später tat, damit sie vorbereitet war auf eine Veränderung ihrer bisherigen Lebensumstände.

»Was machst du denn für ein Gesicht?«, fragte ihre Schwiegertochter Florentine, die den Kopf zur Tür hereinstreckte.

»Ich habe über das Alter nachgedacht und was es mit sich bringt, Flora. Kein angenehmes Thema zurzeit.«

Florentine setzte sich zu ihr. »Du hast dich gut erholt«, stellte sie fest. »Besser, als wir zunächst dachten. Du warst immer topfit, und du wirst es wieder werden. Und wenn du es eines Tages nicht mehr bist, dann kommst du zu uns. Wir alle würden uns freuen, dich bei uns zu haben, aber ich schätze, wir müsse noch eine Weile warten, bis es so weit ist.«

Emilia griff nach ihrer Hand. »Ich hoffe es«, erwiderte sie. »Aber immerhin kann ich den Gedanken jetzt zulassen, dass ich eines Tages nicht mehr allein leben kann. Das war vorher nicht so.«

»Natürlich nicht. Wenn man so gesund ist, wie du es all die Jahre warst, muss man über solche Dinge nicht nachdenken.«

Emilia nickte und stellte ihrer Schwiegertochter nach einigen Sekunden des Schweigens die gleiche Frage wie zuvor Stephanie und Christian: »Sag mal, Flora, hat Caroline Kummer? Sie kommt mir stiller vor als sonst.«

»Ja, das ist mir auch aufgefallen. Ich glaube, sie hat sich mit einer ihrer Freundinnen gestritten. Du weißt ja, in dem Alter kommt das einer Tragödie gleich.«

Emilia lächelte erleichtert. »Wenn es weiter nichts ist! Das wird sich ja hoffentlich bald wieder einrenken.«

»Hast du Lust, einen kleinen Spaziergang mit mir zu machen? Das Wetter ist so schön, viel zu schade, um sich hier im Haus zu vergraben.«

»Gerne«, erwiderte Emilia, und so verließen die beiden Frauen wenig später das Haus.

*

Ferdinand von Hauck spähte vorsichtig um die Ecke, bevor er das Gebäude verließ und stieß erleichtert die Luft aus, als er sah, dass niemand davor stand und auf ihn wartete. Sie war nicht da, das bedeutete eine Sorge weniger. Eilig machte er sich auf den Weg. Der Brief hatte ihm schon wieder gereicht. Er wusste nicht, was er noch tun sollte, um ihr klarzumachen, dass sie damit aufhören musste, denn bisher waren alle Gespräche erfolglos geblieben. Ob er sich einem Kollegen anvertrauen sollte? Bestimmt war er doch nicht der Einzige, der solche Erfahrungen machte?

Aber als er darüber nachdachte, mit wem er reden könnte, wurde ihm bewusst, dass er hier im Sternberger Land noch niemanden gut genug kannte, um ein solches Thema mit ihm zu besprechen. Er war noch nicht lange genug hier, hatte sich noch keinen Freundeskreis aufbauen können. Sicherlich, es gab bereits ein paar gute Bekannte, aus einigen würden vielleicht Freunde werden, aber noch war es nicht so weit.

Er schob die unerfreulichen Gedanken beiseite. Wenn er sich beeilte, schaffte er es vielleicht, wie zufällig den Weg der schönen Ariane von Holdern zu kreuzen, die ungefähr um diese Zeit in einem der Bistros rund um ihr Büro zu Mittag zu essen pflegte. Sie gehörte zu den ›guten Bekannten‹, von denen er hoffte, sie bald näher kennenzulernen. Im Fall von Ariane hoffte er sogar, dass es nicht nur eine Freundschaft wurde. Sie hatte ihn vom ersten Moment an fasziniert, aber es war nicht leicht, ihr näherzukommen. Sie hielt die Leute erst einmal auf Abstand, bevor sie sich mit ihnen befreundete, das war ihm gleich aufgefallen.

Sie arbeitete in einem großen Medienkonzern, wo sie für Programmeinkäufe zuständig war. Offenbar war sie in ihrem Beruf überaus erfolgreich, man traute ihr zu, eines Tages die Leitung eines Fernsehsenders zu übernehmen. Jedenfalls hatte er es erst kürzlich in einem Artikel über den Konzern so gelesen.