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Inhalt

Die Wohnungskommission ist in Rendsburg unterwegs (1945)

Die Sehnsucht der Liebenden

Frieda Erichsen ist krank

Rolf kehrt zurück aus der Gefangenschaft und sucht den Neuanfang (1945/46)

Die Engländer besetzen das Haus in der Gartenstraße

Rolf Erichsen beginnt bei der Stadt und wird entnazifiziert

Die junge Familie fasst Fuß in Rendsburgs Neuwerk (1947)

Johannes Erichsen lernt, sein Schicksal zu relativieren

Ein Junge sollte wie ein Junge aussehen

Besatzungsoffizier Cornell hat Interesse am Rudern

Elise Krezek hält ihre Tochter für verwöhnt

Das große Bauernsterben in Rendsburg (Juni 1949)

Wie bändigt man ein dreijähriges Kind?

Johannes und Frieda Erichsen dürfen wieder zurück in ihr Haus (1949)

Kieler Augenklinik

Große Suchaktion: Peter und Norbert gehen verloren (1950)

Der Leichtsinn der jungen Eltern

Die Währungsreform hat das Vermögen aufgefressen (Juni 1951)

Zelten am Strand von Altenhof

Ein Garten für den Enkel (1952)

Karl Krezek schreibt Verse (Sommer 1952)

Die Wohnung in der Münzstraße wird zu klein (Advent 1952)

Wie Anna Engeling sich weiter unentbehrlich macht

Der Sohn wird nun Moltkeschüler (2. Mai 1953)

Die Drehbrücke ist ein Ärgernis

Der Geruch von Hühnersuppe

Urlaub in Büsum (1953)

Gedenktage in der Neuwerker Knabenschule (September 1953)

Baden bei den Großeltern

Ist der Junge noch zu klein für ein eigenes Zimmer?

Klaus Möller marschiert immer mit (1955)

Besuch bei der Verwandtschaft in Schacht-Audorf

Vogelschießen im Schützenhof (1955)

Der Kampf der Brillenschlange

Spielen im Nachtjackenviertel (1955/56)

Bei Zigarren und Kalter Ente wird eine umwälzende Idee geboren (1956)

Die Krezeks wollen ihrem Enkel ein Fahrrad schenken (1957)

Abschied vom Nachtjackenviertel (1957)

Zeitenwende für die Alten

Der Sohn wird ins Kinderheim geschickt (Sommer 1958)

Wie Rolf seine Kinder erzieht

Wie Johannes leidet und an sein Ende kommt (1959)

Weihnachtsfeier in der Patengemeinde Broager (1959)

Ein Sonntagmorgen

Jubiläumsregatta an der Obereider (Juni 1960)

Rolf leistet sich einen Zelt-Urlaub in Dänemark (1961)

Hansen ist sauer

Weihnachtliches Familientreffen in der Alten Kieler (Dezember 1961)

In der freien Wirtschaft verdient man besser (September 1962)

Wie eine Gitarre helfen kann, erwachsen zu werden (1963)

Hilke ist nicht mehr die unkomplizierte Tochter (Februar 1964)

Rolf zeigt Symptome der Überforderung (1964)

Zwei Freunde mit Familienanschluss verschwinden langsam (1965)

Rolfs Sohn geht eigene Wege

Wie die Selles in die Gartenstraße kommen (1963 bis 1966)

Eine kümmerliche Existenz in der Nachbarschaft (Herbst 1966)

Die Gesellschaft wandelt sich – ein Problem für die Eltern (1967)

Zwei Familien lernen sich kennen (1967/68)

Wenn Rolf dabei ist, gibt es immer Spaß (1969)

Die Nazi-Vergangenheit holt Rendsburg ein (1969/70)

Die Verwaltung tanzt in Welmbüttel

Rolf lässt sich am Fuß behandeln (1971)

Rolf ist dienstunfähig (1971/72)

Rendsburger Bürger kämpfen um ihr altes Rathaus (1973)

Eine Ehe scheitert

Rolf verliert sein Gebiss in der Nordsee (1973)

Niemand sagte das Wort (1973/74)

Zum Schluss

Anmerkungen

Benutzte Literatur

Weitere Romane aus dem Boyens Buchverlag

Die Wohnungskommission ist in Rendsburg unterwegs (1945)

Sadrinna war nicht gut gelitten.

Es lag auch an seinem Äußeren. Er war klein von Statur, aber aufrecht. Sein Gesicht verjüngte sich nach unten und hatte dennoch einen breiten Mund mit ledrig gemusterten Lippen. Auf der nackten Schädelplatte waren die wenigen langen Strähnen der Haare wie Jahresringe sorgfältig im Halbkreis angeordnet – die Vergeblichkeit dieses hartnäckigen Kampfes war rührend. Wenn sich hier eine Schwäche zu zeigen schien, so sprachen die braunen Augen, die wir bei vielen Menschen als bohrend empfinden, eine andere Sprache: Sie schienen die Schwächen ihres Gegenübers genauestens zu kennen, und die steilen Falten über den Mundwinkeln zeigten eine eingebildete Überlegenheit, die erschreckend war.

Obwohl die Zeiten mehr als schlecht waren, machte seine Kleidung einen guten Eindruck, zumindest auf den ersten Blick. Sadrinna war Stadtinspektor im Wohnungsamt. Anzug, weißes Hemd und Langbinder gehörten zu seiner Berufskleidung und wurden sorgfältig gepflegt. Und gegen übermäßige Abnutzung geschützt, wie die Stoffflicken an den Jackettärmeln zeigten.

Helmut Sadrinna betrat mit seinen beiden Begleitern den Flur des Hauses in der Gartenstraße 27, klingelte an der Wohnungstür und wollte, da er kein Klingeln hörte, gerade klopfen, als seine wachen Augen hinter dem milchigen Ornamentglas eine Bewegung wahrnahmen. Langsam öffnete sich die Tür, und vor der Dunkelheit des Wohnungsflurs erschien der Stadtrentmeister Johannes Erichsen, einen halben Kopf größer, schlank, mit eindrucksvoller Stirnglatze und Nickelbrille.

„Komm rein, Helmut“, sagte er müde.

„Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, dass wir in offizieller Mission unterwegs sind und Bekanntschaft keine Rolle spielt!“

„Ich weiß“, sagte Erichsen. Er öffnete die Tür weit und machte eine Armbewegung.

„Treten Sie ein!“

Doch Sadrinna machte keine Anstalten. Er hatte einen heiklen Auftrag, und er hatte die Form zu wahren. Natürlich kannte er Johannes Erichsen, der bis vor kurzem noch Leiter der Stadtkasse gewesen war. Er kannte ihn, wie man Kollegen kennt, aber Freundschaft wäre zu viel gesagt. Gott sei Dank hatte er der Versuchung widerstanden, Mitglied der Partei zu werden! Wie oft war ihm das nahe gelegt worden, nicht zuletzt vom Bürgermeister! Er weigerte sich, das zu tun, was die anderen wollten, egal ob gut oder schlecht, es war ein Charakterzug von ihm. Wahrscheinlich war er deshalb immer noch Stadtinspektor, er mit seinen doch schon 41 Jahren. Aber jetzt kam ihm das zugute, jetzt wurde er gebraucht, weil er sich nicht hatte überreden lassen.

„Ich bin von der Militärregierung beauftragt, eine Bestandsaufnahme der Wohnraumversorgung in Rendsburg durchzuführen, um die Flüchtlinge optimal unterzubringen. Ich darf Ihnen vorstellen: Sergeant Crompton, verantwortlich für diese Wohnungskommission. Corporal Springfield, Dolmetscher.“

„How do you do?“, sagte Sergeant Crompton und führte lässig seine Hand an die schwarze Baskenmütze.

Corporal Springfield salutierte, trat einen Schritt vor und gab Johannes Erichsen die Hand. „Guten Tag, Herr Erichsen!“ sagte er mit übertriebener Betonung.

Sergeant Crompton reagierte verärgert, man sah es an seinem Gesicht. Es war besser, Distanz zu den Germans zu halten. Er machte einige Ausführungen auf Englisch.

„Die Militärregierung hat befohlen, Sie mussen alle Räume melden“, übersetzte Springfield. „Die Lage ist sehr ernst wegen die viele Fluchtlinge. Sie, Herr Erichsen, sind Mitglied von die NSDAP gewesen. Sie haben mehr Pflicht als andere.“

„Kommen Sie doch erst mal rein!“, antwortete Erichsen.

„Wir sind so frei“, sagte Sadrinna und marschierte voran.

„Ist hier kein Licht?“

„Stromsperre.“

„Ach so! Ist doch noch gar nicht Abend!“

„Ist aber so. Wurde nicht angekündigt.“

„Na. Dann zeigen Sie mal Ihre Wohnung.“

*Stadtrentmeister Erichsen wird bestraft

Johannes Erichsen hatte den Besuch erwartet. Die Kunde von der Tätigkeit der Wohnungskommissionen hatte sich verbreitet wie die Nachrichten im afrikanischen Busch.

Normal war nichts mehr, eigentlich schon seit Jahren. Es gab nicht einmal mehr eine Tageszeitung – nur Schaukästen und jedes Wochenende das amtliche Nachrichtenblatt des Kreises Rendsburg.

Dass Sadrinna in der Eiderstraße, der Feldstraße und im Sommerkamp sein Unwesen trieb, hatte sich schnell herumgesprochen. Dazu brauchte Erichsen nicht einmal seine Kontakte zum Rathaus. Die Gartenstraße gehörte auch zu diesem jungen Stadtteil am Kaiser-Wilhelm-Kanal – ein Gebiet mit tiefen Gärten und etlichen Baulücken, weit ab von der dichten Bebauung der Stadt.

Sein ehemaliger Kollege war bisher wenig in Erscheinung getreten. Bei einem Betriebsfest hatten sie am gleichen Tisch gesessen und waren ins Gespräch gekommen. Seitdem duzten sie sich – nicht weil Erichsen einen Seelenverwandten entdeckt zu haben glaubte, sondern weil es angenehm war, sich einer Familie zugehörig zu fühlen. Das entsprach seinem Harmoniebedürfnis.

Das war wohl eine seiner Schwächen. Er wollte mit jedem gut auskommen.

In seiner Jugend in dem Dorf Gammelby1 hatte er die Sau raus gelassen. Aber er gehörte zu den Menschen, die durch ihre Hormone zu Rüpeln werden, und die, sobald sich wieder ein Gleichgewicht bildet, schnell feststellen, dass es sich viel angenehmer leben lässt, wenn man die Normen der Gesellschaft akzeptiert. So wurde Johannes Erichsen fast über Nacht ein strebsamer, sparsamer Mensch, der Gefallen daran fand, anderen zu gefallen. Er sah blendend aus und versäumte keinen Tanz, nahm sich lieber mehrere Stehkrägen mit, schwitzte sie durch und wechselte sie.

Von den Ideen der Nationalsozialisten fühlte er sich herzlich umarmt, die nach innen gerichtete Harmonie in der Volksgemeinschaft war ein Ziel, das sein Lebensgefühl traf. Dass der Staat dabei eine dominierende Rolle spielen wollte, war ihm nur recht, hatte er doch selbst erlebt, wohin zügelloses Leben führen kann. Und die einfachen Urteile, die sich um das Für und Wider nicht scheren, die auf dem Lande leichter gedeihen als in der Stadt, die wurden ihm in die Wiege gelegt.

Als die Nationalsozialisten den alten Bürgermeister der Stadt Rendsburg absetzten und der neue seinen Mitarbeitern im Rathaus eifrig das Parteibuch empfahl, sah Erichsen die Gelegenheit, als kleiner Mann am Aufbau eines neuen Deutschland mitzuwirken. Im ersten Überschwang ließ er sich sogar zum Blockleiter machen, nahm an Schulungen teil und gab seine Kenntnisse weiter, half, das Winterhilfswerk zu organisieren, und hatte ein Auge auf Mitbürger, die noch Schwierigkeiten mit der neuen Zeit hatten. Oft war er am Wochenende durch die Straßen gegangen, um die 50 Pfennig einzusammeln, die jede Familie spenden musste, die sie beim Kochen von Eintopfgerichten angeblich sparte. Das war eine große Sache. Auf diese Weise unterstützte die Volksgemeinschaft die Armen und Bedürftigen.

Das war ihm aber genug. Als 1939 der Krieg begann, schob er seine beruflichen Pflichten und seine kränkelnde Frau vor und ließ sich von seinen Aufgaben entbinden.

Nach Stalingrad2 kamen ihm Bedenken. Es war nicht die große Idee, an der er zweifelte, nicht das System. Aber er hatte Angst um seinen Sohn Rolf, der sich begeistert schon mit 18 an die Front gemeldet hatte, obwohl er noch drei Jahre hätte warten können, und der jetzt in einem Krieg stand, der verloren zu gehen drohte. Mit unabsehbaren Folgen für die große Idee.

Ein heftiger, noch nie vorher da gewesener Streit mit Rolf war die Folge, als der 1943 auf Heimaturlaub im Elternhaus weilte. Vater und Sohn schienen sich zu entzweien. Des Vaters Zweifel stieß auf helle Empörung: Der Dolchstoß aus der Heimat werde die kämpfenden Soldaten entmutigen und zu ihrem Tod führen! Ob sein Vater das wolle?

Bei Kriegsende war Johannes Erichsen immer noch Parteimitglied. Zur Politik der Besatzungsmacht gehörte die Entnazifizierung des täglichen Lebens, der gesamten geschlagenen, zerbrochenen Gesellschaft. Wer NSDAP-Mitglied war, konnte deshalb keine wichtigen gesellschaftlichen Funktionen mehr wahrnehmen. Der Stadtrentmeister und Beamte der Stadt Rendsburg wurde in den Ruhestand versetzt. Und Sadrinna hatte Oberwasser.

Erichsen hatte auf seinem Lieblingsplatz an der Fensterfront des Wohnzimmers in einem wulstigen Sessel gesessen, als er an den Blumentöpfen vorbei die beiden Uniformierten entdeckte. Ein dritter, etwas kleiner an Statur, war Sadrinna. Er stemmte sich gegen die weiße Grundstückspforte, bis sie mit einem dumpfen Schlag nachgab.

„Du weißt eben nicht, wie das geht!“, dachte Erichsen mit leichtem Spott. Aber die Pforte konnte das Fremde nicht aufhalten.

Er drehte sich um. „Wir kriegen Besuch“, sagte er in Richtung Bett. Seine Stimme klang gleichgültig.

„Wer denn?“, antwortete seine Frau.

„Das weißt du doch! Wir haben heute Morgen darüber gesprochen.“

„Sadrinna?“

„Ja.“

„Oh Gott!“

Die drei Männer reckten die Hälse, als sie auf dem Plattenweg diagonal durch den Vorgarten zur linken Seite des Hauses gingen, wo sich der Hauszugang befand.

*Die Wohnungskommission begutachtet das Haus in der Gartenstraße

Die Küche wirkte vollgestellt, was insbesondere an dem Gartentisch lag, der mit einem bestickten Tischtuch bedeckt in der Mitte auf dem schwarzweißen Terrazzofußboden stand, um ihn herum einige Stühle. Auf einem saß eine junge Frau und las.

„Hilde, das ist die Wohnungskommission der Stadt“, sagte Erichsen. „Sie wollen alle Räume sehen. – Meine Herren, das ist meine Schwiegertochter. Sie bewohnt das Zimmer vorne links. Mein Sohn ist noch in amerikanischer Kriegsgefangenschaft in Frankreich.“

„Guten Tag“, sagte Sadrinna, ohne der Schwiegertochter, die aufgestanden war, die Hand zu geben.

„Und wo führt die hin?“, fragte er stattdessen und zeigte geradeaus auf die Tür zwischen Gasherd und NARAG-Heizung3.

„Kannst du gerne sehen“, erwiderte Erichsen und ging ein paar Schritte und öffnete die Tür. „Die Waschküche. Da kann nun wirklich keiner wohnen.“

„Wenn Sie wüssten, wo Menschen heutzutage überall wohnen können!“

Ab und zu ließ sich Sergeant Crompton die Unterhaltung übersetzen. Ein Blick in die Waschküche schien ihn zu überzeugen. Er schüttelte stumm den Kopf.

Erichsen führte die Gruppe wieder aus der Küche und klopfte an die nächste Tür links.

„Dr. Schulz? Fräulein4 Schulz? Darf ich Sie mal stören?“

Als keine Antwort kam, erklärte er: „Das ist unser Schlafzimmer, jetzt bewohnt von Dr. Schulz mit seiner Tochter, Flüchtlinge aus Neustrelitz. Etwa seit vier Monaten. – Dr. Schulz? Machen Sie mal auf, bitte?“

Es polterte, schrammte Holz auf Holz, als wenn eine schief sitzende Schublade geschlossen würde. Dann drehte sich ein Schlüssel im Schloss, und die Tür wurde energisch geöffnet. Dr. Schulz erschien, kahl rasiert und mit einer Gesichtshaut, die sich mühsam über die Schädelknochen spannte, so dass sein Kopf geschrumpft aussah.

„Sie müssen entschuldigen! Ich war gerade … ich hatte mich hingelegt.“

Die Besucher hatten keine Entschuldigung verlangt und gingen nicht näher darauf ein. Sie schauten sich um. Es gab einen Schrank und einige Gepäckstücke an der Wand sowie ein Metallbett, daneben ein Matratzenlager auf dem Boden.

Sergeant Crompton zeigte Interesse. Es stellte sich heraus, dass Schulz wohl nicht Teil der kämpfenden Truppen gewesen war, sondern als Sanitätsoffizier gearbeitet hatte. Auf dem Rückzug der Truppen von der Oderfront hatte er sich nach Neustrelitz abgesetzt, um seine Familie mitzunehmen. Sein Haus hatte durch eine Fliegerbombe in der Nachbarschaft Feuer gefangen und war nicht mehr bewohnt, niemand wusste etwas über seine Frau. Seine Tochter fand er im örtlichen Gymnasium, das als Lazarett diente und wo sie als Krankenschwester tätig war und dabei half, einen Notbetrieb aufrecht zu erhalten.

Crompton verlangte, Papiere zu sehen. Schulz bedauerte. Sie hätten gemeint, besonders schlau zu sein, als sie ihre persönlichen Sachen in den Koffer steckten. Aber ein Tiefflieger hätte sie auf der Landstraße von Röbel nach Malchow beschossen, immer wieder sei er zurück gekommen. Bei ihrer wilden Flucht in Todesangst hätten sie den Koffer aufgeben müssen und später nicht den Mut gehabt, wieder umzukehren, um ihn zu suchen.

Von einem Sammellager in der Nähe von Lübeck sei er zusammen mit seiner Tochter nach Rendsburg verfrachtet worden. Erst hier hätten sie sich Ersatzdokumente beschaffen können. Wenn die Herren bitte einen Blick hinein werfen möchten!

Nein, seine Tochter sei momentan nicht hier. In der Königstraße gebe es eine Sonderlieferung für Kohl, wo sie sich gleich nach Dienstschluss habe anstellen wollen. Ja, sie arbeite im Krankenhaus gegenüber dem Kleinbahnhof. Als Bewohner der Gartenstraße 27 seien sie im Wohnungsamt der Stadt ordnungsgemäß gemeldet.

Hierauf nickte Sadrinna und zeigte auf seine Unterlagen im Klemmbrett.

Crompton verbarg seine Skepsis nicht. Aber es war nicht seine Aufgabe, die Identitäten der Flüchtlinge zu überprüfen und die Schmarotzer von den wahren Hilfsdürftigen zu unterscheiden. Die wenigen Monate nach dem Einmarsch der Besatzungstruppen hatten ihn gelehrt, dass ein zuweilen gnadenloser Kampf ums tägliche Überleben herrschte, in dem nur die einfachen Instinkte Erfolg versprachen.

Natürlich überwog die Wut auf das verbrecherische System, das so viel Leid über die Welt gebracht hatte. Aber wenn er ein Volk von unbeugsamen, arroganten Nazis erwartet hatte, so war er enttäuscht worden. Wie gern hätte er diesen Feind aus einer Position der moralischen Überlegenheit heraus prügeln mögen! Quälen mögen! Würgen, bis er um Vergebung winselt!

Leider war das nicht mehr nötig. Dieses Volk war bereits am Boden. Was er in Hamburg bei der kurzen Vorbeifahrt in den Norden gesehen hatte und was er jetzt von dort hörte, war an Not und Zerstörung kaum zu übertreffen, eine Unterwelt, die Hölle. Dagegen war Rendsburg nichts.

Aber auch hier war die Not unübersehbar. Crompton hatte gerade einen Brief an seine Frau in Brighton geschrieben und geschildert, wie ihn die hohlwangigen Kinder rührten, die sich auf den Straßen Rendsburgs ganz unbefangen den fremden Soldaten näherten und wie Straßenköter um ein Weißbrot kämpften, das einer von seinen Kameraden „aus Versehen“ zurückgelassen hatte.

Trotz alledem: Irgendwo mussten die Nazis ja sein. Und der Erichsen und seine Schwiegertochter und der Schulz – hatten die nicht auf der Straße gestanden und mit ausgestreckten Armen den Nazis zugejubelt? Die Wochenschauen waren auch in England gezeigt worden!

Es war seine Pflicht, misstrauisch zu bleiben und das verderbte Gedankengut auszumerzen, wo immer es ging, damit die Welt besser werde. Darum waren sie hier.

Er gestattete sich den Hinweis, dass Dr. Schulz für die Linderung der Not als Arzt gebraucht werde. Warum er dann nicht arbeite? Schulz hatte auch hierfür eine Erklärung, aber Crompton hörte nur halb auf die Übersetzung und winkte dann ab. Er konnte sich nicht um alles kümmern. Unbefriedigend, aber es war so.

Die Besichtigung wurde fortgesetzt: der Keller, die beiden vorderen Räume für Erichsen Junior und Erichsen Senior, die obere Wohnung mit der dreiköpfigen Familie Sauer, der Ehemann Wilhelm war noch in der Gefangenschaft – insgesamt laut Sadrinna eine Wohnfläche von 110 Quadratmetern, jetzt bewohnt von acht Personen. Sollten die Kriegsgefangenen zurückkehren, wären es zehn.

Das war vergleichsweise komfortabel. Im letzten Kriegsjahr waren es vierzehn gewesen.

Zum Schluss standen die drei Männer in dem kleinen Hausflur, und Sadrinna hielt einen kurzen Schlussvortrag, während Johannes Erichsen noch auf der untersten Treppenstufe zur oberen Wohnung stand.

„Ich weise pflichtgemäß darauf hin, dass jeder Auszug oder Zuzug dem Wohnungsamt gemeldet werden muss. Die Situation in Ihrem Haus, Herr Erichsen, ist so, dass es für eine weitere Belegung in Frage kommt. Die bisherige Regelung, wonach pro Person zehn Quadratmeter zur Verfügung stehen müssen, wird nicht mehr zu halten sein. Der Zuzug nach Rendsburg ist enorm. Also richten Sie sich darauf ein. Auf Wiedersehen.“

Die Wohnungskommission verließ das Haus. Die gelbe Glasscheibe im Holzrahmen der Haustür schepperte. Nicht zum ersten Mal wunderte sich Erichsen, dass sie nicht zersplitterte. Er sah die Gestalten schemenhaft, wie sie sich entfernten.

Einen Moment blieb er auf der Stufe stehen, dann setzte er sich stumm in Bewegung, trat in den dunklen Flur seiner Wohnung und öffnete die Tür zu dem einzigen Zimmer, das ihm wirklich zu gehören schien.

„Sind sie weg?“, fragte seine Frau, die angezogen im Bett lag. Nähzeug und Strümpfe lagen vor ihr auf der Häkeldecke, in der Hand hielt sie ein Ei aus Holz.

„Ja“, sagte Erichsen. Er ging zur Fensterfront und sah hinaus.

Die Wohnungskommission war nicht weit gekommen. Sie stand auf halbem Wege zur Straße mitten im Vorgarten und schien erregt. Die drei Männer hatten sich dem Haus zugewandt und schauten nach oben zum Giebel. Sadrinna fuchtelte mit den Armen und machte sich dadurch größer als er war. Er sah Sergeant Crompton fragend an. Der nickte.

Sie setzten sich wieder in Bewegung, zurück zum Haus.

Erichsens Herz klopfte heftig und signalisierte Gefahr. Als er zurück in den Flur ging, schloss er die Zimmertür wieder hinter sich. Frieda sollte sich nicht beunruhigen. Ihre Gesundheit war labil.

Er kam dem Klopfen zuvor.

Sadrinna hielt sich mit keiner Vorrede auf: „Was ist das für ein Fenster da oben am Giebel? Über der Wohnung von Sauer?“

Erichsen wusste nicht gleich, was er meinte.

„Über Sauer!“

„Ach so, Sie meinen den Boden!“

„Den haben Sie uns nicht gezeigt!“

Ja, aber das ist doch bloß ein Boden!“

„Kein Zimmer?“

„Nein. Nur eine Kammer, vollgestellt. Was man so hat, auf dem Boden.“

„Mein Gott, Erichsen! Hören Sie denn nicht zu? Sie müssen uns jeden Raum zeigen! Das ist Ihre Pflicht! Zimmer, Kammer, Zimmer, Kammer … das spielt doch keine Rolle!“ Sadrinna wurde laut.

„Aber da kann doch keiner wohnen!“ Erichsen spürte das leichte Zittern in seinen Händen nicht mehr. Das war doch nur lächerlich! Er spürte jetzt Wut. Was nahm sich dieser Kerl heraus! Ein kleiner, ein ganz kleiner Stadtinspektor! Bis vor kurzem hinterm Schreibtisch gesessen, und jetzt der Speichel leckende Erfüllungsgehilfe der Besatzungsmacht! Ein mieser Verräter, was denn sonst!

Sadrinna sah den Zorn an der Gesichtsfarbe und den Schläfenadern seines ehemaligen Kollegen. Erichsens sonst so freundliche Augen, von leichten Schlupflidern abgeschrägt, blickten starr, und die feinen Lachfältchen an den Augenwinkeln waren verschwunden.

„Nun regen Sie sich nicht so auf, Herr Erichsen“, sagte Sadrinna etwas verbindlicher. „Sowas kann ja mal passieren. Aber das sind nun mal die Vorschriften. Jeder Raum! Sonst machen Sie sich strafbar. So ist das.“

Und als ihn Erichsen unterbrechen wollte: „Ich weiß, ich weiß! Ohne Heizung, ich weiß. Aber das geht! Das muss gehen! Viele wohnen so, glauben Sie mir!“

Als die Männer nach Öffnen der Tapetentür die steile Bodentreppe erklommen und die tatsächlich winzige Bodenkammer besichtigt hatten, machte sich Sadrinna auf seiner Liste eine Notiz.

Die Sehnsucht der Liebenden

„Allerliebstes Frauchen! Wenn ich nun heute wüsste, dass Du Nachricht hast, wäre ich überglücklich. Mir geht es wirklich gut, nur keine Sorgen und den Kopf hoch, nicht mit dem Leben hadern. Ich will Dich doch gesund und fröhlich wiederfinden. Nur mit tapferem, fröhlichem Herzen können wir unser Leben aufbauen, hörst Du, Liebstes? Vor allen Dingen auch zu Haus: Kopf hoch, komme, was da wolle. Ich hoffe, dass noch alles gesund und heil ist. Meine Gedanken sind nur bei Dir, Liebstes, ich schmiede Pläne und mein ganzes Trachten gilt unserer Zukunft. Wie wird es mit unserer Wohnung? Hoffentlich kann sich etwas einrichten lassen. In der Garten- oder Obereiderstraße? Hauptsache aber, Ihr bleibt alle gesund, dann ist alles andere gleichgültig. Meine Sachen hole vom Schneider, wie sie sind, möglichst viel unserer Sachen in die Kisten. Ich arbeite hier sehr viel für mein Studium. Mir fehlt nur eine Kladde. Möglichst viel Pakete, viel Keks senden. Ist in der Gartenstraße alles gesund? Brief ist immer für alle. Wie geht es Vati? Ich werde lange auf Post warten müssen. Trotz allem lasse ich aber nicht den Mut sinken und glaube fest an unser Leben, und Du hältst es ebenso, ja, mein Liebstes? Du willst mir doch auch keine weiteren Sorgen machen. Liebster Mensch, immer bin ich bei Dir und bei unseren lieben Eltern. Tröste auch sie mit Deinem fröhlichen Herzen. Über alles liebe ich Dich. Küsse! Dein Rolf“

Es war eine tränenreiche Lektüre, immer wieder ließ Hilde den eng beschrieben, vom „U. S. ARMY EXAMINER“ zensierten Brief aus Frankreich sinken, um sich zu fassen. Seine Worte … waren … so voller Liebe, so einfühlsam. Was musste er sich für Sorgen machen! Er schrieb, dass es ihm gut gehe, aber wollte er ihr nur Mut machen? Ein Gefangenenlager! Die Leute erzählten immer wieder schreckliche Sachen! Aber sie schob die Zweifel zur Seite, sie wollte auch an die Zukunft glauben. Aber dann wieder … ein leises inneres Beben, eine dumpfe Angst, die sie bis in die Haarspitzen spürte.

Sie sehnte sich so sehr nach ihrem Mann.

Ihr Mann! Welch glückselig machende Vorstellung! Rolf war ihr Mann, seit einem Jahr. Aber Ehefrau zu sein, war immer noch so ungewohnt. Und verwirrend: Mal hatte sie das unbeschwerte Gefühl, ein kicherndes junges Mädchen zu sein, das mit ihren Freundinnen Geheimnisse teilt, und dann schlug ihr auf einmal das Herz bis zum Halse, als ihr klar wurde, dass sie einem Mann verbunden war!

Einem so guten Mann wie Rolf. Er war fürsorglich, forsch, tatkräftig und schien sich seiner Sache immer sicher zu sein. Sie bewunderte ihn dafür, und sie genoss die Blicke der anderen, die, da war sie sicher, nicht ohne Neid waren.

Es hatte andere Bewerber gegeben. Hilde lächelte, als sie an Fiffi Beisenkötter dachte, der eines Tages unten auf der Straße pfiff und sang: „Clothilde, Clothilde, ich bin über dich im Bilde!“ Aber irgendwie war sie damals noch nicht so weit gewesen, der Gedanke an eine Heirat schien zu groß und viel zu erwachsen. Sie stand im Wettbewerb mit den anderen Mädchen. Einen Freund zu haben, war das Größte.

Aber ihre Eltern behüteten sie, um Zehn war Zapfenstreich in der Obereiderstraße 19, wo sie mit ihren Eltern und beiden Schwestern über der Schlachterei wohnte. Es galten moralische Regeln, jeder Anschein von Zügellosigkeit war zu vermeiden. Dass Elise Krezek, die Mutter, selbst Opfer ihrer Unerfahrenheit geworden war, als sie mit 17 Jahren ihr erstes Kind unehelich gebar, war ein Geheimnis, ein Tabu. Ihre drei Töchter wussten nichts davon, und sie kamen auch nicht auf die Idee nachzurechnen.

Dieses erste Kind war, 16-jährig, an Tuberkulose gestorben. In dem Schmerz wuchs der Glaube an ein vorbestimmtes Schicksal, an eine höhere Fügung. Fortan war das gestorbene Kind kein Thema mehr. Aber es lebte fort in der Angst vor TBC und der Angst vor einer Wiederholung der Tragödie. Kontrolle war das Mittel, Aufklärung kam nicht in Frage, und noch mit elf Jahren behauptete Hilde voller Überzeugung, sie sei hingefallen, als ihre erste Blutung geschah.

Als sie zusammen mit ihrer Schwester Elfriede Mitglied im Rendsburger Ruderverein wurde, entstand ein Freiraum, über den Vater und Mutter keine Kontrolle hatten. Das gesellige Zusammensein mit den Jungs, die große Reden schwangen, darunter besonders Rolf, in deren Augen Aufbruchsstimmung glänzte! Ihr unbändiger Optimismus hatte auch die jungen Frauen erfasst.

Ohne dass sie es sich recht eingestanden, war der Ruderbetrieb etwas ungemein Erregendes. Der Geruch von Schweiß und Schmiere war nicht unangenehm, er setzte sinnliche Empfindungen frei, ja die Sinnlichkeit selbst, mühsam gebändigt vom Tuscheln und Kichern über die Breite und die Muskulatur der männlichen Heldenbrüste. Die Fantasie der Männer stand dem in nichts nach.

Und wenn die jungen Leute in ihren Trainingsanzügen nach Geschlechtern getrennt die heilige Handlung des Flaggenappells zelebrierten, indem sie am großen Wimpelmast stramm standen und wie selbstverständlich ihre Arme zum deutschen Gruße streckten, trafen sich die Blicke der Liebenden und der sehnsuchtsvoll nach Liebe Dürstenden.

Rolf und Hilde hatten sich dort gefunden und mussten sich doch ein paar Jahre gedulden, denn der Krieg hatte für viele nur Entsetzen übrig, und so schlich sich große Angst in die Träume.

Rolf nutzte seinen Urlaub von der Front, um zielstrebig seine Zukunft vorzubereiten, lernte für seine Hochschulzulassung, hatte sogar zwei Semester Volkswirtschaft studieren dürfen, bevor er wieder in den Kampf geschickt wurde. Damit war eine gute Grundlage gelegt.

Wenn nur der Krieg gnädig mit den Menschen wäre! Das Schicksal war zu ungewiss. Viele Männer waren verschollen oder tot. – Wer weiß, was wird! Lasst uns heiraten in diesen unsicheren Zeiten, trotzig unser Versprechen einlösen, solange wir es noch können!

Das war vor einem Jahr, eine materielle Kraftanstrengung beider Familien in einer verzweifelten Zeit des Mangels. Lebensmittelkarten wurden getauscht und geschenkt, Elises eiserne Reserven aus dem „Wunderschrank“ wurden geplündert, Beziehungen zu Geschäftspartnern wurden genutzt, und Schlachtermeister Karl Krezek nahm jede Möglichkeit der Manipulation wahr, um beim Zerlegen der Tiere den Ertrag von Fett, Muskelfleisch, Knochen und Innereien gewichtsmäßig herunter zu rechnen, damit das Wirtschaftsamt nichts merkte.

Es war eine bemerkenswerte Hochzeit im Lager der Möbelfirma Bergemann in der Grünen Straße. Bohnenkaffee, Hochzeitstorte von Bäcker Klingsör mit zwei Tauben aus Marzipan und dazu Musik. Die Not war vergessen, für ein paar Stunden blieb die Welt stehen und das Leben feierte sich.

Frieda Erichsen ist krank

Hilde schrak auf.

Eine Stimme, die sie noch nie gehört. Eine Stimme, die klagend an- und abschwoll und nach kurzer Pause erneut ansetzte, melodramatisch wie in einem billigen Theater. Sie kam von vorn aus dem Zimmer ihrer Schwiegereltern.

Wenn Hilde nicht gewusst hätte, dass es nur Frieda Erichsen sein konnte – sie hätte es nicht geglaubt. Sie stürzte in das Zimmer und sah ihre Schwiegermutter, die sich in ihrem Bett stöhnend von einer Seite auf die andere wälzte.

„Mutti, Mutti, was ist denn?“, rief Hilde. Sie beugte sich leicht herab, als wolle sie die Stöhnende packen und festhalten, und hielt auf halbem Wege hilflos inne. Frieda stand Schweiß auf der Stirn, ihr Haarnetz war verrutscht und gab dünne blonde Strähnen frei.

Jetzt drückte ihr Hilde die Schultern doch ins Kissen, und Frieda schlug die Augen auf und sah ihre Schwiegertochter gepeinigt an.

„Ich halt das nicht aus! Hilde, Hilde! Ich halt das nicht aus!“

„Mutti, wo denn? Wo denn?“

„Hier an der Seite, am Rücken, überall!“, wimmerte Frieda und begann wieder laut zu stöhnen und sich zu wälzen. „Es ist die Niere, glaub ich. Ich hab das schon mal gehabt“, stieß sie hervor. „Hol Hanne!“

„Ist gut! Ich komm gleich wieder!“, antwortete Hilde und lief auf den Flur, schlug, einer Eingebung folgend, mit der flachen Hand krachend gegen die Tür von Dr. Schulz und seiner Tochter und eilte, da sie von innen keine Antwort auf ihr Rufen vernahm, durch die Küchentür über die Waschküche in den Garten.

„Vati, komm schnell! Mutti geht’s schlecht!“

Johannes Erichsen stand im hinteren Teil des Gartens mit dem Spaten in der Hand und blickte auf. Er hatte die letzten Kartoffeln des Jahres geerntet und bereitete das Land auf den Herbst vor. Reihe für Reihe hatte er die Erde umgegraben und den Hühnermist, den er den Sommer über gesammelt, eingearbeitet.

Er ließ den Spaten stecken und lief zum Haus, zog hastig seine Gummistiefel aus und rutschte gefährlich auf dem Küchenfußboden, als er zu seiner Frau eilte. Frieda saß auf der Bettkante, ihre plumpen Beine baumelten, und sie bog ihren Oberkörper rhythmisch vor und zurück.

Es stellte sich heraus, dass ihre Selbstdiagnose stimmte. Lotte, die Tochter von Dr. Werner Schulz, kam fünf Minuten später nach Hause und ordnete heiße Umschläge aus Kartoffelbrei an, um, wie sie sagte, die Muskulatur zu entspannen.

In der Küche stand eine Emaille-Schüssel, in die Hilde am Vortag rohe Kartoffeln hinein gerieben und sich dabei ihre Fingerkuppe verletzt hatte. Das weißliche Mus wurde schnell in ein Sieb gegeben, die milchige Flüssigkeit aufgefangen. Sie würde noch eine Weile stehen bleiben, bis sich am Boden die weiße Stärke absetzte, die nach der Trocknung zusammen mit Brotresten und Kaffee-Ersatz und einem Hühnerei einen passablen Backteig ergab.

Ob der Brei auch ohne Stärke wirksam war? Lotte Schulz wusste es nicht. Johannes Erichsen schob den Topf mit den ewigen Steckrüben zur Seite, die seit einer halben Stunde für schwüle Küchenluft sorgten, zog mit dem Feuerhaken die Eisenringe von der Feuerstelle und legte ein paar Aststücke nach. Gas hatte es zum letzten Mal vor drei Wochen gegeben, und das auch nur für wenige Stunden, der Gasherd diente jetzt als Abstellfläche.

Sodann hütete er die Kartoffelmasse, damit sie nicht anbrannte.

Besorgt registrierte er das Jammern seiner Frau. Er hatte keine Distanz zu ihrem Leiden, er litt mit jedem Schrei und jedem Heulen. Besonders erschreckte ihn diese fremde Stimme, die so gar nicht zu seiner Frieda passte.

Hilde hatte sich in der Zwischenzeit das Rad aus dem Stall geholt, um die Hausärztin zu holen. Es stellte sich heraus, dass Frau Dr. Firgau selbst erkrankt war, und so alarmierte Hilde Dr. Ida Behre, die Ärztin von Johannes, die in der Nobiskrüger Allee wohnte. Sie hatte Medizin studiert, fand aber dabei nicht die Antworten auf ihre Fragen und machte Zusatzausbildungen in Homöopathie und Biochemie. Damit durfte sie sich ab 1939 auch Heilpraktikerin nennen, und sie war es gerne und in erster Linie.

Als Ida Behre am späten Abend doch noch erschien, waren die Schmerzattacken abgeklungen. Frieda lag erschöpft und ließ eine gründliche Befragung und Untersuchung über sich ergehen. Behre interessierte sich besonders für die Gesichtshaut der Kranken und nahm besorgt die Schwellungen in den Füßen und Beinen zur Kenntnis.

Lotte Schulz wurde hinzugezogen, sie konnte als Krankenschwester wertvollen Beistand leisten. Sie war etwa 30 Jahre alt, und ihr Gesicht unter den dicken blonden Haaren war von durchschnittlicher Schönheit, wären da nicht die Hasenzähne gewesen, die in grotesker Größe ständig über der Unterlippe lagen.

Sie war sehr hilfsbereit und patent. Vielleicht zeigte sie auf diese Weise auch ihre Dankbarkeit – schließlich wohnte sie als Flüchtling hier umsonst und profitierte zusammen mit ihrem Vater von der Ernährungslage im Hause Erichsen. Die Hühner, der Garten, die Erweiterung der Familie durch den Schlachtermeister Krezek – das alles linderte die Not, die woanders schier unerträglich war.

Dr. Schulz kam spät nach Haus und schleppte einen staubigen Jutesack in sein Zimmer, dann steckte er den Kopf zur Tür herein. Es wäre sehr merkwürdig gewesen, wenn er sich als Arzt nicht hätte blicken lassen. Er entschuldigte sich für seine Abwesenheit und verwickelte Ida Behre in einen kurzen Diskurs über die Wirksamkeit von Schüßler-Salzen und zog sich dann mit den besten Wünschen für eine weitere Erholung der Kranken zurück.

Behre verordnete kräftiges Trinken und empfahl, den Urin mit einem Teesieb zu filtern, um mögliche feste Bestandteile zu sichern, die Aufschluss geben könnten über die weitere Behandlung. Dann zog sie aus ihrer ledernen Arzttasche ein braunes Fläschchen und ließ eine abgezählte Menge von weißen Kügelchen heraus rollen. Frieda nahm sie in den Mund, nahm einen Schluck Wasser dazu und kippte den Kopf nach hinten wie ein Huhn, das trinkt.

Behre lächelte. „Die Globuli hätten sich auch so im Mund aufgelöst“, meinte sie milde.

„Ach ja“, sagte Frieda Erichsen. Jetzt kicherte sie sogar: „Ich hab mir das so angewöhnt. Tabletten krieg ich einfach nicht anders runter!“

Draußen setzte sich die Ärztin noch eine Weile mit Ehemann und Schwiegertochter an den Küchentisch.

„Die Wasseransammlungen in den Beinen Ihrer Frau müssen wir sehr ernst nehmen“, raunte sie verschwörerisch. „Ihr Herz ist weiterhin schwach, besonders die rechte Seite. Ich schreibe Ihnen hier etwas auf, damit der Körper entwässert wird. Viel trinken für die Niere, aber auch viel auf die Toilette gehen. Kopf hoch! Wenn wir Glück haben, ist der Stein schon raus!“

Behre steckte vorsichtig ein frisches Hühnerei in ihre Tasche. Sie wollte morgen im Laufe des Tages noch einmal vorbeikommen.

Für ihre Dienste stellte Erichsen ihr zusätzlich eine Lebensmittelkarte in Aussicht. „Mit Abschnitt K der Eierkarte können Sie Ei-Sparpulver vorbestellen.“

„Seit letzter Woche bei Lübker in der Obereiderstraße“, fügte Hilde hinzu.

„Da, wo Ihre Eltern die Schlachterei haben?“, fragte Behre.

„Genau da!“, lächelte Hilde.

„Danke. Das kann ich gut gebrauchen“, sagte Ida Behre und stand auf.

Rolf kehrt zurück aus der Gefangenschaft und sucht den Neuanfang (1945/46)

Die überraschende Entlassung von Rolf aus der Kriegsgefangenschaft in Frankreich war wie ein Leuchten aus grauem Himmel, wie ein tiefer, Leben spendender Atemzug, der die bleierne Decke der Gleichgültigkeit für einen kurzen Moment anhob und frische Luft in die Straßen sog.

So empfanden jene, die ihn kannten, und sie vergaßen ihre Sorge um ihre Familien und den oft rücksichtslosen Kampf um ihr tägliches Brot, indem sie vom Leben sprachen, das es neben dem Tod doch noch gab.

Rolf war an Ruhr erkrankt, mit seiner Entlassung entledigte man sich eines Problems. Man genehmigte ihm einen Bahntransport. Doch die Züge fuhren, wenn überhaupt, nur äußerst unregelmäßig. Zerstörte Streckenabschnitte hielten die Heimfahrt auf und mussten zu Fuß bewältigt werden, freundliche LKW-Fahrer zeigten Erbarmen – aber der Weg zeigte stetig nach Norden.

Und so stand Rolf eines Tages im Herbst 1945 vor seinem Elternhaus in der Gartenstraße, als sei er nur eben mal weg gewesen. Aber etwas hatte sich doch verändert: Dieses Heimkommen war anders, es war wie ein Anfang, der ihn trotz seiner verschmutzten Landser-Kleidung, trotz seiner heruntergekommenen körperlichen Verfassung mit Tatendrang erfüllte. Er wollte alles anders und besser machen. Er hatte eine Zukunft.

Das Wiedersehen war voller Tränen. Gefühle, lange Zeit nicht zugelassen, weil sie ein Gegenüber brauchten, weil der Mensch, dem sie galten, nicht da war – sie konnten sich jetzt entfalten und in wohliger Wärme miteinander verschmelzen. Nicht wie eine wilde Woge, die vergeblich anrennt gegen die festen Mauern, sondern die freiwillig bricht und sanft in den Strandsand sinkt.

Seine Eltern hatten ihren einzigen Sohn wieder. Ihr Albtraum, nach dem Tod ihres ersten Kindes im Alter von zwei Jahren nun auch ihren zweiten Sohn zu verlieren, hatte ein Ende. Und Hilde musste ihn immer wieder anfassen, umarmen und liebkosen und mit den Fingern durch seine strohblond gewordenen Haare streifen.

„Iiiih! Bist du dünn geworden! Überall nur Knochen!“, neckte sie ihn. Und er legte ihr seinen knochigen Finger auf die Lippen und rief lachend: „Dann gib dir Mühe, kleine Hexe, dass ich wieder fett werde!“

In der Tat hatte sich die Familie auf seine Ankunft vorbereitet, wenn sie auch nicht wusste, wann genau er kommen würde. Köstlichkeiten waren aufgespart, Kuchen waren gebacken worden, Bohnenkaffee wurde gemahlen. Doch als Rolf das frische Weißbrot mit der braungelben Kruste erblickte, das morgens gerade beim Bäcker auf Marken gekauft worden war, da spürte er seinen übermächtigen Hunger, der seit Monaten tief in seinen Eingeweiden nagte und der jetzt unerträglich wurde, als er daran roch.

„Darf ich davon essen?“, fragte er und hatte schon entschieden, dass er es essen müsse. Die erste Scheibe wurde noch andächtig geschnitten, doch dann verloren alle guten Regeln ihre Bedeutung, und während Frau und Eltern ihn lachend anfeuerten, hielt Rolf schützend seine Hände über das Brot und kroch mit der Nase hinein und brach einen Brocken nach dem anderen heraus, schaute fasziniert auf seine Finger, die den Teig wendeten und kneteten und schließlich in die feuchte Mundhöhle schoben, wo er lustvoll eingespeichelt wurde. Rolf mochte kaum schlucken, zu ungern trennte er sich von der sinnlichen Freude. Aber da war ja noch mehr!

Der Verzehr des ganzen Brotes war der Höhepunkt des Wiedersehens. Maria Sauer kam mit ihren beiden Jungs herunter, angelockt von dem Trubel; Schulz und seine Tochter wurden hereingebeten, andere Nachbarn und Freunde zeigten ihre Verbundenheit, und zur großen Freude von Rolf tauchte auch sein Schwiegervater Karl Krezek auf, Hildes Mutter Elise war im Laden unabkömmlich. Alle mussten sich erst mal anhören, was der entlassene Kriegsgefangene mit dem Brot gemacht hatte.

Allmählich geriet das Gespräch in ruhigere Zonen und wurde ernst. Dicht gedrängt saßen sie alle in der Küche mit den Ohren möglichst nah an der Hauptperson. Für Rolfs Mutter war ein Stuhl besonders bequem hergerichtet worden, damit sie nicht ausgeschlossen war. Es gab viele Fragen, die Rolf gern beantwortete. Er erzählte von dem kleinen Büchlein mit Gedichten von Goethe, das ihm fürs Überleben sehr wichtig gewesen, von einem guten Freund, der auch jetzt frei und wohl zur gleichen Stunde mit seinen Lieben in Schleswig sei, und von dem Kameraden, der in Friedenszeiten Schlachtergeselle gewesen sei und ihm allerhand beigebracht habe.

Zum Beweis ließ er sich seine alte Uniformjacke geben und zog ein Päckchen abgerissener Papiere heraus. In beschädigten, verblichenen Farben waren Bohnen und Karotten darauf zu sehen, zur Bestätigung mit „Beans“ und „Carrots“ beschriftet, auch andere Gemüse und Suppen und „Cornedbeef“.

„Und was, meine sehr verehrten Herrschaften, haben diese entzückenden Landschaftsaufnahmen mit meinem Metzgerlehrgang zu tun? Hokus, pokus, fidibus! Dreimal schwarzer Kater!“ Und er drehte die Blätter um.

Die Rückseiten waren mit Bleistift eng beschrieben, auch Umrisszeichnungen von Rind und Schwein gab es, in Körperzonen eingeteilt und beschriftet. Rolf fing an zu referieren, bis er sich selbst unterbrach und – an seinen Schwiegervater gewandt – Augen zwinkernd fragte: „Na, Vati, reicht das, um bei dir in die Lehre zu gehen?“

Karl Krezek, ein kleiner stämmiger Mann mit wenigen dünnen Haaren, grinste hinter seiner Brille etwas verlegen und meinte dann: „Du wirst bestimmt etwas Besseres finden!“

„Nein, nein! Ich mein das ernst!“, sagte Rolf, und wie zum Beweis erlosch jedes Lachfältchen in seinem Gesicht. Er löste damit ein allgemeines Geplapper aus, das recht fröhlich klang, hier und da wurde gelacht, und es schien, als habe sich das Bedürfnis durchgesetzt, das Thema zu variieren oder zu wechseln. Lange genug hatte man zugehört, nun sollte Rolf sich einfach nur wohlfühlen und richtig zu Hause ankommen.

Doch der schien keinen Gefallen an der neuen Stimmungslage zu finden, die Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, und es dauerte nicht lange, dass er hastig in Richtung Flur verschwand. Hilde, die ihn kaum aus den Augen gelassen und neugierig an seinen Lippen gehangen hatte, auch immer auf der ängstlichen Suche nach Veränderungen in seinem Gesicht, seinem Wesen – Hilde also folgte ihm sofort.

Das lebhafte Durcheinander der vielen Stimmen in der kleinen Küche setzte sich noch eine Weile fort, bis Frieda fragte: „Wo ist denn Rolf?“ und die Frage die Runde machte und Johannes schließlich ging, um nachzusehen.

Als er die Küche wieder betrat, wandten sich ihm alle Köpfe zu. „Rolf geht es nicht gut“, sagte Johannes. „He hett woll dat Eeten nich affkunnt.“

Er hat das Essen nicht vertragen, übersetzte man für Maria Sauer von oben, die aus Hessen stammte. „Des wunnert mich gar net!“, rief sie aufgekratzt in die Runde, was ungewöhnlich war, da sie sonst eher hinter der vorgehaltenen Hand tuschelte. „Des ganze Weißbrott! Un denn uff nüchtern Mage!“

*Unerwartete Probleme in der Schlachterlehre

Der Geruch von Blut.

Zuerst diese Ruhe in der Märzsonne auf dem Granit. Ihr wärmt euch die nackte Brust und raucht genüsslich eine Zigarette. Unten herum murmelt und blitzt das fließende Wasser wie flüssiges Glas in Weiß und Grün und Braun. Du stellst dir vor, wie hier im Sommer die Kinder baden und kreischen und lachen. In der Flussbiegung im Schutze des Felsens, auf dem du gerade liegst, ist eine winzig kleine Sandfläche, ein kleiner Strand, während doch sonst alles bewaldet ist und grün ins Wasser hängt.

Eineinhalb Tage später zwei aufgeschlitzte Kameraden in der warmen Märzsonne auf der Granitbank am Ufer des Flusses. Die Köpfe mit den starrenden Augen zur Seite gedreht und durch die hoch geschobenen Uniformjacken halb verdeckt. Die Bauchdecken an rot-verschmierten Schnittstellen auseinander klaffend, gelblich-weiße Därme mit schwarzen Fliegen. Darunter im Schritt zwischen den nackten Oberschenkeln ein roher Krater, gebettet auf geronnenem Blut. Die Geschlechtsteile als blutige Klumpen achtlos neben den Kadavern.

Der Soldat erblickte die Schlachtbank erst, als er die Sträucher zur Seite bog, um den winzigen Sandstrand am Ufer der Luech zu betreten. Augenblicklich reagierte sein Körper und sonderte einen tierischen Schrei ab. Dann holte er heftig Luft für einen zweiten Schrei, und dann für einen dritten, bis das Zwerchfell wellenartig krampfte und ein Schluchzen den ganzen Körper erfasste und schüttelte. Dann brach er zusammen und würgte seinen Mageninhalt in den kalten, klaren Fluss.

Das war vor zwei Jahren in Südfrankreich östlich von Lezignan.

Rolf hatte viele Verwundete und Leichen gesehen. Wenn der Krieg überhaupt etwas Positives hervorbrachte, dann war es die Erfahrung, wie verletzlich ein menschlicher Körper war und wie dankbar man sein konnte, selbst unverletzt zu sein. Rolf glaubte daran, dass der Krieg eine „Feuertaufe“, ein „Stahlgewitter“ war, das den jungen Kerl erst zu einem ernsten jungen Mann machen konnte, der ihn „stählte“ für das künftige Leben, wenn es denn noch eins geben sollte.

Auch die Schlachtbank am Fluss hatte er in seinen Erfahrungsschatz eingefügt wie ein Foto in das Album. Das Entsetzen und die zunächst hilflose Wut fanden schnell ein Ziel: Die erbarmungslose Jagd nach Partisanen, diesen erbärmlichen Verbrechern, die schlimmer als Tiere waren. Raubtiere schlugen ihr Opfer und zerrissen es auch, aber sie taten es, weil sie es fressen mussten. Fressen und gefressen werden, das war das Gesetz. Aber diese Menschen mordeten und schändeten, sie fraßen ihre Opfer nicht, sondern wollten ihre Feinde demütigen. Kein Tier war so grausam.

Als Rolf an diesem Morgen selbstgewiss das Schlachthaus seines Schwiegervaters betrat, glaubte er an seine eigene Härte und Unverwundbarkeit. Er meinte zu wissen, was ihn erwartete, hatte er sich doch in der Gefangenschaft gewissenhaft mithilfe eines Schlachters aus seinem Lager auf diese Berufsperspektive vorbereitet.

Aber er wusste nichts von seiner verletzten Seele, die sich wund gescheuert hatte, immer wieder aufs Neue am Hass und Gegenhass und an Gewalt und Angst. Sie durfte sich nicht zeigen und wurde betäubt von starken Sprüchen und rohem Soldatengeschwätz.

Rolfs erster Blick fiel auf das sauber rasierte Schwein, das in der Mitte des Raums mit ausgebreiteten Hinterläufen an zwei Haken hing, dem der Geselle, geschützt von der langen blutigen Schlachterschürze, den Bauch aufschlitzte, so dass augenblicklich die gelblich-weißen Gedärme heraus stürzten und pendelnd auf halber Höhe hängen blieben.

Rolf erstarrte in seiner forschen Bewegung, zitternd ruckte sein Kopf in den Nacken und er sog dabei so verzweifelt die Luft ein, als drücke ihm jemand den Hals zu. Dann schüttelten ihn lautlose Weinkrämpfe, und während er zu Boden ging, nahm er undeutlich wahr, dass der Geselle sich grinsend umdrehte und dass es ekelhaft nach Blut roch. Aber es war nicht nur Blut, es war noch etwas anderes, es war verbranntes Haar und Kot und Verwesung.

Rolf fand sich wieder auf dem Hof, auf einer roh gezimmerten Holzbank sitzend, neben ihm der andere Lehrling, 16 Jahre alt, ein blasser Blondschopf vom Lande, der ihn besorgt ansah.

„Geht’s wieder?“, fragte er.

„Na klar!“, sagte Rolf tapfer, obwohl er sich unglaublich schwach fühlte.

„Was war denn los?“

„Nicht, was du denkst.“ Der Lehrling über ihm sah ihn fragend an.

„Ich war fünf Jahre Soldat! Weißt du, was das heißt?“ Der Lehrling nickte.

„Ich hab genug Leichen gesehen. Und schwer verletzte Menschen! Und Blut! – Das ist es nicht. Es ist … mir geht es nicht so gut … der Kreislauf.“ Wieder nickte der Lehrling. Was sollte er auch sagen? Dieser Mann da vor ihm auf der Bank war 24 Jahre alt, ein Mann, zu dem er aufsah. Er glaubte ihm.

Rolf versuchte, diesen Vorfall zu verdrängen, aber er konnte ihn nicht ungeschehen machen. Er wusste, dass ihm das jetzt anhängen würde, zumindest im Betrieb. Er hatte eine Schwäche gezeigt, eigentlich hatte er sich blamiert.