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Titel

 

 

Liebe Leser,

wenn Sie bei der Sieverstedter Kirche dem Wegweiser nach Stenderup folgen und auf der schmalen Straße zur Brücke über die Bollingstedter Au gelangen, dann werden Sie dort nur grüne Wiesen vorfinden und vergeblich nach einem Gasthof Ausschau halten. Den Landgasthof Aubrück gibt es nicht, und alle dort ein- und ausgehenden Personen sind ebenso frei erfunden.

Aubrück steht jedoch stellvertretend für die vielen schönen Gasthöfe zwischen Nord- und Ostsee, wo man auch heute noch echte, traditionsreiche Gastlichkeit erfahren kann; ihnen allen sei diese Geschichte gewidmet.

R.P.

http://www.renata-petry.de

Personenübersicht

Frieda Lüders
Mathilde Lüders
Annelie Lüders
Eva Lüders
die vier Inhaberinnen des Landgasthofs Aubrück
LineHausangestellte mit einem Hang zu schicksalshaften Auftritten
Wieland Schlotterstud.jur. im 2. Semester, Verehrer von Annelie und Eva (nacheinander)
Hortense de Molinero-Büxeltoft alias
Frau Möller
Gräfin auf Abwegen
Greta Hansenehemalige Zofe von Hortense, gleichfalls auf Abwegen
Else HansenGretas Stieftochter, ausschließlich in der Geisterwelt auf Abwegen
Adolf von RothsponBaron mit schlechtem Gewissen
Auguste von RothsponBaronin mit schlechter Laune, aber gutem Gewissen
Victor von RothsponAdolfs Neffe und leider nicht ganz beanstandungsfreier Erbkandidat
Dietrich von KesselsteinAugustes Neffe und Victors Freund, aus gewissen Gründen zunehmend begeisterter Landgasthofurlauber
Ferenc und PeterFreunde von Victor und Dietrich, in Champagnerlaune talentierte Sänger
Max Hollmannradelnder Apotheker, großzügiger Verteiler von Veilchenpastillen und guten Ratschlägen
Lord George Walthamschwer geprüfter Verlobter von Hortense
Doktor Justus KleinJurist und ziviler Nachrichten-Offizier, gleichfalls schwer geprüft (obgleich nicht verlobt)
Alfred SorgenfreiUntergebener von Doktor Klein, verdeckter Ermittler und Sportangler, in letzterer Funktion erfolgreicher
Otto VossPolizei-Hauptmeister mit gastroenterischen Problemen und einer Neigung zu vorschnellen Verhaftungen

Sowohl Oberstleutnant Karl Brose, Leiter der Abteilung IIIb im Großen Generalstab, als auch Captain Vernon Kell, Nachrichtenoffizier im britischen War Office, sind historische Personen.

1

Wenn man Annelie Lüders später fragte, wie die Frau ausgesehen hatte, konnte sie immer nur das Kleid beschreiben: raschelnde fliederfarbene Seide, mit langen Ärmeln und einem bodenlangen, verschwenderisch weiten Rock, dessen Saum von makelloser Sauberkeit war, und das, obwohl die Fremde über den vom letzten Regenschauer noch nassen Gartenweg gekommen war. Annelie, die auf ihrer Lieblingsbank neben der Verandatür saß, mit den Beinen baumelte und sich mit ihrer Puppe unterhielt, hatte in den vier Jahren ihres Lebens jedenfalls nichts Herrlicheres gesehen als dieses Kleid. Ihre Augen hingen wie gebannt daran, als die Pforte, die zur Au hinunter führte, sich öffnete und die Fremde den Garten betrat. Eine zweite Frau war dabei, die jedoch an der Pforte stehen blieb, nach allen Seiten um sich blickte und dann sagte:

„Hier ist es. Machen Sie besser schnell.“

Dies schien die Fremde nicht sonderlich zu beeindrucken. Als habe sie alle Zeit der Welt, so gemächlich schritt sie durch den regenfeuchten Garten, vorbei an den grün gestrichenen Holztischen mit den dagegen lehnenden, zusammengeklappten Stühlen, die deutlicher alles andere belegten, dass man an diesem Abend nicht mehr mit Gästen rechnete. Die Fremde entdeckte Annelie auf ihrer Bank und lächelte.

Annelie starrte weiter auf das Kleid und entschied blitzschnell, dass es sich bei der Frau nur um eine Prinzessin handeln konnte. Sie beugte sich über ihre Puppe und flüsterte in deren Porzellanohr:

„Schau mal, Evelina, da kommt eine Prinzessin.“

Die Prinzessin kam seidenraschelnd näher und blieb vor Annelie und Evelina stehen. Sie duftete unbeschreiblich gut, nach Sommerrosen, Lilien und Vanilleeis, wie eben Prinzessinnen dufteten.

„Was hast du nur für eine schöne Puppe“, sagte sie lächelnd.

Annelie strahlte zurück. Und dann sah sie, dass auch die Prinzessin eine Puppe im Arm hatte, das heißt, es war keine Puppe, sondern ein richtiges kleines Kind – eingewickelt in eine weiche Decke und ein Mützchen auf einem Kopf, der kaum größer als der von Evelina war.

„Oh“, sagte Annelie entzückt und vergaß das schöne Kleid über diesem neuen Wunder, „ein kleines Kind – Sie haben ein kleines Kind!“

Die Fremde beugte sich vor und ließ sie einen Blick auf den schlafenden Säugling werfen. Dann fragte sie, immer noch lächelnd: „Möchtest du es gern einmal halten?“

Und ob, hätte Annelie fast geantwortet, aber ihr fiel zum Glück ein, dass man so nicht mit Erwachsenen sprach, und erst recht nicht mit so feinen Damen. Also setzte sie Evelina ab, erhob sich und knickste brav.

„Dankeschön – das möchte ich nur zu und zu gern!“

„Dann setz dich nur wieder hin“, sagte die Prinzessin freundlich, „das geht nämlich besser im Sitzen. Es ist doch etwas schwerer als deine Puppe, das wirst du gleich merken. Hier –“, und mit diesem einen Wort legte sie Annelie das warme kleine Bündel in die Arme.

Annelies Entzücken kannte keine Grenzen. Sie legte ihre Wange gegen die winzige Wange des Kindes und wiegte es behutsam in den Armen.

„Weißt du was“, sagte die Prinzessin, „du machst das so schön, da kann ich dich sicher für einen Augenblick allein lassen. Ich bin gleich wieder da – paß gut auf sie auf!“

Sie lächelte Annelie nochmals zu, wandte sich um und schritt zwischen den Tischen hindurch zurück zur Pforte, die von der anderen Frau, die immer noch unruhig nach allen Seiten blickte, für sie offen gehalten wurde. Dann schloss sich die Pforte, die Prinzessin und ihre Begleiterin verschwanden hinter der hohen Ligusterhecke, die den Garten des Gasthofs Aubrück vom Uferweg trennte, und Annelie war mit dem Kind im Arm allein. Sie wiegte es weiter, summte ihm etwas vor, ganz so, wie sie dies auch mit Evelina zu tun pflegte. Da fiel ihr ein, dass die Prinzessin „sie“ gesagt hatte – es war also ein Mädchen. Sie hat bestimmt einen wunderschönen Namen, dachte Annelie, ich muss nachher unbedingt danach fragen, wenn die Prinzessin zurückkommt. Doch die Prinzessin kam nicht zurück.

*

Annelie konnte es natürlich nicht wissen, aber im Grunde war es kein geringerer als Seine Kaiserliche Majestät Wilhelm II., der schuld daran war, dass sie an diesem kühlen Aprilabend im Jahr 1891 mit einem fremden Kind im Arm auf der Gartenbank saß. Der Kaiser war es nämlich gewesen, der eine Augustenburgerin geheiratet hatte, und das war so eine Sache für sich. Familie Lüders hielt es in jeder Hinsicht mit den Augustenburger Herzögen, die ja weiß Gott etwas Unterstützung gebrauchen konnten: Erst hatte man ihnen Doktor Struensees Fehltritt mit der dänischen Königin in Form einer ziemlich strapaziösen Herzogin ins Nest gesetzt, danach folgte mehr als ein halbes Jahrhundert ständige Rauferei mit der königlich-dänischen Verwandtschaft, und schließlich waren sie von Bismarck schandbar um ihr schönes Land betrogen worden, indem er selbiges schlichtweg dem preußischen Kaiserreich einverleibt hatte. Der Reichskanzler hatte sich nicht einmal gescheut, den tobenden Augustenburger Herzog von seinem repräsentativen Familiensitz am Fördestrand weit, weit ins Landesinnere auf dessen schlesische Güter zu verbannen, was natürlich der reine Hohn für einen Fürsten war, in dessen Adern noch zwei, drei Tropfen Wikingerblut pulsierten. Die schöne blau-weiß-rote Trikolore von 1844 wurde erbarmungslos durch die weit weniger schöne schwarz-weiß-rote ersetzt, und welches Schleswig-Holsteiner Herz zieht schon einen schwarzen Himmel dem blauen vor? Vater Fritz Lüders tat dies jedenfalls nicht, und er hatte es sich auch nicht nehmen lassen, vor dem Friedrichsruher Mausoleum einen Trauerstrauß mit einer auffälligen Schleife in den blau-weiß-roten Schleswig-Holstein-Farben zu deponieren, als der Reichskanzler Jahre später endlich verschieden war. Hüte dich vor der Rache eines geduldigen Menschen!

Familie Lüders hielt es also mit den Augustenburgern und war dementsprechend erfreut, als der Kaiserspross Wilhelm nach letzten heißen Fesselspielen mit einer Liebesdienerin reiferen Alters auf heftiges Anraten des besagten Reichskanzlers zwar nicht unbedingt sein Herz, aber doch ganz entschieden seinen 22-jährigen Korpus der ältesten Augustenburger Herzogstochter zuwandte. Es gab eine wunderbare Hochzeit, monatelang DAS Gesprächsthema nördlich und südlich der Flensburger Förde, und Lüders und Gleichgesinnte nahmen befriedigt zur Kenntnis, dass sich die Augustenburger auf diese Weise zuletzt doch noch das Deutsche Reich einverleibt hatten, wenn man es denn so wollte. Sieben Jahre und fünf eheliche Söhne später war der Prinz jedenfalls deutscher Kaiser, und die Augustenburger und alle ihre Freunde damit auch.

Noch etwas anderes war durch diese sensationelle Eheschließung geschehen, etwas äußerst Bemerkenswertes, das weitreichende Folgen für das ganze Land und somit auch für Annelie Lüders haben sollte: Von Stund an standen die vom Schicksal bis dahin so schmählich behandelten Augustenburger im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Prompt gab es das väterliche Schloss zurück, vor dem der kaiserliche Schwiegersohn künftig besonders gern den Anker seiner Yacht auswerfen sollte. Die jüngeren Schwestern der Kaiserin wurden hofiert und von der Presse wohlwollend auf die vordersten Seiten der Gesellschaftsblätter platziert, bis die beiden nächsten mit passenden fürstlichen Ehemännern versorgt waren. Ihr Bruder konnte sich in den maßgeblichen Kreisen nunmehr wiederum als Herzog präsentieren, was seinen gesellschaftlichen Marktwert trotz sprichwörtlich schlechten Benehmens erheblich hob. Das ganze Fördeland fand sich plötzlich im Lichterglanz des Berliner Stadtschlosses wieder; die vernachlässigte Gegend am nördlichen Rande des Reiches war gewissermaßen in dessen Zentrum gerutscht – zumindest in das Zentrum des Interesses. Schleswig-Holstein war quasi über Nacht absolut en vogue geworden. Der Name Augustenburg hatte wieder jenen gewissen sonoren Klang von einst; der gesamte preußische Hoch- und Höchstadel fand sich ein, es gab Gesellschaften, Jagdpartien, Bälle, Konzerte, Segelregatten, und noch viel mehr. Man amüsierte sich – und man amüsierte sich bisweilen auch bei gewagteren Spielchen.

Es war naturgemäß eins dieser gewagteren Spielchen, dessen Auswirkungen bis in den Gastgarten von Aubrück und in die Arme von Annelie Lüders führen sollten. Eine gut gebaute rotblonde Baronesse mit dem blumigen Namen Hortense hatte in sehr jungen Jahren in eine bedeutsame und vermögende gräfliche Familie spanischer Abstammung eingeheiratet, und alles hätte in schönster Ordnung sein können, wenn nicht der betreffende Gatte nach wenigen Monaten ehelicher Freuden höchst unpassend an einem entzündeten Blinddarm verschieden wäre. Noch unpassender war allerdings, dass sich beim Erbfall offenbarte, dass es mit dem Vermögen nicht ganz so gut stand, wie sowohl Ehefrau als auch Öffentlichkeit gedacht hatten. Es wurde nun allgemein angenommen, dass sich die schöne junge Witwe – nach einem schicklichen Intervall – abermals vermählen würde. Aber derzeit war auf dem Heiratsmarkt ein gewisses Überangebot an schönen Gräfinnen, die deutlich mehr an den Füßen hatten als die rotblonde Hortense, sodass die Offerten trotz der allgemein sehr gelobten Figur der Dame auf sich warten ließen.

Da die junge Witwe nun eine gewisse regelmäßige Betätigung gewohnt war und zudem allen Veranstaltungen prinzipiell gewogen war, auf denen man die Bekanntschaft von Herren machen konnte (die, wenn auch nicht immer auf Freiersfüßen, so doch zumindest auf Bocksfüßen wandelten), ließ sie sich im Rahmen einer beschwingten Sommersaison in der formidablen Heimat der Kaiserin auf eine äußerst gewagte, diskrete Einladung ein, die sie in einer hellen Mittsommernacht in eine abgelegene Villa am Ufer der Flensburger Förde führte. Motto des Abends war „Gesellschaftsspiele für Erwachsene“, und der große, mit üppigen Diwanen und Chaiselongues ausgestattete Raum war vom Kerzenschein eher spärlich beleuchtet. Ähnlich spärlich war die Bekleidung der Anwesenden; man trug Halbmasken vor dem Gesicht und ansonsten allenfalls noch Stiefeletten. Mit soviel Verspieltheit hatte die junge Witwe nun doch nicht gerechnet, auch wenn ihr, wie sie sich später ehrlich eingestand, die Zärtlichkeiten der anwesenden Damen noch mehr überraschende Freude bereitet hatten als die Aufmerksamkeiten der Kavaliere. Sie kam jedenfalls kaum dazu, mehr als zwei der anwesenden Herrenreiter zu erproben, bevor die Dynamik des Geschehens den Sieg und sie selbst davontrug.

Später schwor sie sich, sich nie wieder auf derartige Veranstaltungen einzulassen – aber die Reue kam zu spät. Denn gerade, als sie auf einem zauberhaften Ball am Sedantag einen wirklich geeigneten ehelichen Nachfolger kennengelernt hatte, der ihr bereits unter dem Weihnachtsbaum Herz und Titel zu Füßen legen sollte und sich im übrigen keinen Deut um ihre beklagenswerte Vermögenssituation scherte, da wurde das nagende Gefühl, dass etwas anders war als sonst, zur bitteren Gewissheit: Sie trug eine Frucht jener Mittsommernacht unter dem Herzen, und zwar ganz gewiss keine, die sie den Zärtlichkeiten der Damen zu verdanken hatte. Wie gesagt, passende Heiratskandidaten waren gerade dünn gesät, und die beliebte Möglichkeit, dem künftigen Gatten das Kind unterzuschieben, scheiterte an der Fortgeschrittenheit ihres Zustandes, wie es ein kurzes Abzählen an den Fingern der linken Hand offenbarte. Da es absolut ausgeschlossen war, dass er – eine moralische Stütze der preußischen Gesellschaft – diesen Stand der Dinge akzeptieren würde, gab es nur einen Ausweg: Das Kind musste weg.

So geschah es, dass sie sich unter dem Vorwand eines längeren Kuraufenthalts in den ersten Monaten des Jahres 1891 an die See zurückzog, wo sie – nur in der Gesellschaft ihrer verschwiegenen Zofe Greta – am Ostermontag eine gesunde Tochter entband. Greta war es auch, die die Frage nach dem Wohin klärte, da Hortense aus einer postnatalen Gefühlswallung heraus das Kind ungern beim nächsten Waisenhaus in Havetoft abliefern wollte. Anstandshalber – und da man überdies ja nie wissen konnte, wie das Schicksal spielte – erhielt der höchstwahrscheinliche Vater des Kindes ein diskretes Billet, in welchem man ihn von der Existenz seiner Tochter unterrichtete und von deren künftigem Aufenthaltsort: Landgasthof Aubrück.

*

Dort saß an dem bewussten Aprilabend Annelie Lüders noch ein Viertelstündchen mit dem fremden Kind im Arm, wiegte und summte, und machte ansonsten einen langen Hals in Richtung Gartenpforte, ob sich die Prinzessin nun nicht bald wieder blicken ließe. Aus gutem Grund, wie wir jetzt wissen, tat diese das jedoch nicht, aber dafür erschien aus Richtung Veranda Line, das frisch konfirmierte jüngste Dienstmädchen des Gasthofs, um Annelie ins Haus zu holen. Ein Blick auf die Szene auf der Gartenbank genügte, und Line erstarrte zu Stein. Dann schrie sie so laut, dass nicht nur die Kleine in Annelies Armen schreiend erwachte, sondern so gut wie der gesamte Hausstand in den Garten gerannt kam. Mathilde und Frieda, die um fünf und sechs Jahre älteren Schwestern Annelies, stürzten links und rechts an ihre Seite und überhäuften sie mit Fragen, die sie nicht beantworten konnte, und das tat auch Vater Fritz Lüders, dem nach dem frühen Tod seiner Frau die Oberaufsicht über die drei Töchter oblag – wobei es nun allerdings so aussah, als sollte noch eine vierte Tochter hinzukommen.

„Wo hast du das Kind her?“

„Wer hat es dir gegeben?“

„War das jemand, den du kennst?“

„Woher ist sie gekommen?“

„Was hat sie gesagt?“

„Wie sah sie aus?“

Und zum wiederholten Male beschrieb Annelie das fliederfarbene Seidenkleid.

Schließlich sah man ein, dass man weder so noch auf andere Weise weiterkam. Das Kind musste dringend versorgt werden; es galt, eine Amme zu finden und ein Dutzend anderer Dinge zu regeln.

„Wir nehmen sie erstmal bei uns auf“, entschied Vater Lüders aufgrund der weisen Erkenntnis, dass keine seiner Töchter eine anders lautende Entscheidung geduldet hätte, und drei bezopfte Köpfe in unterschiedlichen Blond- und Brauntönen bekundeten kopfnickend ihre Zustimmung, während – abgesehen von Line – das Hauspersonal hinter seinem Rücken die Augen verdrehte.

„Wie soll sie denn heißen?“, fragte er.

Annelie schaute kurz zu ihrer Puppe. Dann sagte sie in sehr bestimmten Ton: „Evelina!“, und diesmal verdrehten alle die Augen.

Es bedurfte einiger Überzeugungsarbeit, aber schließlich kam Frieda mit dem einleuchtenden Argument, dass, wenn beide so hießen und man von Evelina sprach, niemand wisse, ob die Puppe oder die neue Schwester gemeint sei, und das musste Annelie einsehen.

„Vorschlag zur Güte“, sagte Vater Lüders, „wir nennen sie Eva – das ist doch fast so schön wie Evelina, und dann weiß jeder, dass wir nicht von deiner Puppe sprechen, Annelie!“

Dies fand allgemeine Billigung, und so hielt Eva Lüders Einzug in Aubrück.

2

Siebzehn Jahre später war alles anders. Baron Adolf von Rothspon, der agile Herrenreiter von einst, sah auf seinem schönen Gutshof in der Landschaft Schwansen dem silbernen Jubiläum seiner Eheschließung entgegen und gönnte sich nur noch sehr gelegentlich kleinere Ausschweifungen, und das ausschließlich in so gepflegten Etablissements wie am Hamburger Gänsemarkt, wo bisweilen sogar königlich-dänischer Besuch unterhalten wurde, wie man hinter der vorgehaltenen Hand raunte. Adolf und seiner silbernen Ehefrau Auguste war ein stattlicher Sohn vergönnt gewesen, ein einziges Kind, das sich zu einem vielversprechenden jungen Herrn entwickelt hatte – bis zu jenem unglückseligen Tag im Februar 1908, an dem der junge Rothspon bei einem winterlichen Ausritt wieder einmal die scharfen Sporen zu tief in die Flanken des Pferdes gebohrt hatte, sodass dieses in hellem Schmerz ein paar unbedachte Sätze nach vorne machte, auf einer glattgefrorenen Böschung ins Straucheln geriet und schließlich, in ein Brombeerdickicht stürzend, seinen Reiter unter sich begrub. Es war das Pferd, das überlebte.

Dieser traurige Vorfall hatte die allergrößte Bedeutung für die Rothsponsche Erbfolge, denn auf einmal befand sich der Neffe des Barons im Suchlicht – ein Neffe, dessen einziger Vorzug es war, lebendig zu sein, sogar allzu lebendig nach dem Geschmack des verwaisten Elternpaares, die den schicken Junker, der auf geradezu verdächtige Weise Herrengesellschaften bevorzugte, noch nie hatten leiden können.

„Dass Victor nach mir erbt, bringt mich ins Grab“, sagte der Baron zugegebenermaßen reichlich unlogisch, denn es verhielt sich ja genau anders herum: Nicht der erbende Victor machte den Baron zum Toten, sondern der tote Baron den lebenden Victor zum Erben. „Dass wir aber auch nur dieses eine Kind hatten!“

„Das war gewiss nicht meine Schuld“, sagte die Baronin giftig. „Wärst du nicht jedem Rock nachgestiegen – also, als du noch etwas … rühriger warst!“

Da sie diese Unterhaltung schon unzählige Male geführt hatten, war jedem von ihnen die Replik des anderen im Voraus bekannt. Jetzt würde der Baron sagen: „Das hat noch nie der Männlichkeit geschadet!“ Woraufhin sie sagen würde, seitlich über die Schulter und mit deutlicher Verachtung: „Offenbar doch!“ „Du vergisst dich, Auguste!“ lautete seine Antwort darauf. „Und du – du hast dich oft genug vergessen!“ würde sie das letzte Wort haben und mit raschelnder Schleppe hinausrauschen, während er in Gedanken den nächsten Besuch am Gänsemarkt in mittelfristige Planung nahm.

Doch an diesem Frühlingsnachmittag war, wie gesagt, alles anders. Die Baronin hatte gerade giftig gesagt: „Das war gewiss nicht meine Schuld! Wärst du nicht jedem Rock nachgestiegen …“, als sie plötzlich innehielt, und das auch noch vor ihrer Lieblingsbeleidigung „als du noch etwas rühriger warst“. Sie starrte ihn mit offenem Mund an, und er starrte ebenso zurück, zunächst, weil er schlichtweg verblüfft über das Ausbleiben der vertrauten Worte war. Doch dann, als sie immer noch nichts sagte, sondern nur weiter starrte, begann eine vage Ahnung dessen in ihm aufzusteigen, was sein ihm in all den Jahren nicht nur angetrautes, sondern auch vertrautes Weib im Sinne haben mochte. Jetzt galt es nur, äußerst vorsichtig zu sein, falls sie doch nicht an das dachte, an das er dachte, denn eine entsprechende verkehrte Äußerung seinerseits würde unweigerlich diverse Wochen ehelicher Eiszeit zur Folge haben. Also sagte er behutsam:

„Ja, Auguste …?“

Offenbar hatte sie ähnliche Erwägungen wie er, denn auch sie antwortete äußerst zurückhaltend:

„Also, Adolf …“

Dann schwieg sie wieder, strich allerdings mit großem Eifer ein imaginäres Stäubchen vom Oberteil ihres der Trauer wegen schwarzen Kreppkleides. Adolf wartete, wohlwissend, dass seine brave Ehefrau nichts so schlecht vertrug wie Schweigen, und siehe da: Nach einer letzten wischenden Bewegung über ihre stattliche – und staubfreie – Büste nahm sie den Faden wieder auf.

„Wir haben ja seither nie wieder davon gesprochen“, sagte sie, „aber ich frage mich – ich frage mich –“

Adolf faltete die Hände über der goldenen Uhrkette auf dem Bauch und wartete abermals. Jetzt war er sich seiner Sache sicher; seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen. Er wollte schon den Mund aufmachen, besann sich aber eines Besseren und hielt gerade noch ein. Es war wesentlich günstiger, wenn der Vorschlag von ihr kam, denn wenn die Sache schief gehen sollte, dann konnte er immer noch sagen, dass es ihre Idee gewesen war.

Der armen Auguste fiel es offenbar schwerer als sonst, zum Kern ihres Anliegens vorzudringen.

„Selbst, wenn uns nur der eine Sohn vergönnt war …“, nahm sie einen neuen Anlauf und vergaß sogar, wie sonst die Augen zu betupfen, wenn von dem verstorbenen Erben die Rede war, „ich meine, du hattest doch noch … da war doch noch … Es ist schon so lange her, aber da war doch noch … da war doch noch – dieses KIND!“

Dieses Kind. So, es war heraus. Adolf beschloss, sie noch ein wenig länger zappeln zu lassen, eine winzig kleine Revanche für die unzähligen Sticheleien ihrerseits, die er in langen Ehejahren still und mit angemessen schlechtem Gewissen ertragen hatte. Er spielte mit der goldenen Uhrkette und beobachtete zufrieden, wie sie auf dem roten Samtpolster des Barock vortäuschenden Stuhls hin und her rutschte. Schließlich erbarmte er sich zu einem gedehnten „Ach ja …“.

„Du weißt doch – das Kind – dein Kind …“

„Ach so, DAS Kind … Ja, und?“

„Was wird wohl daraus geworden sein?“

„Woher soll ich das wissen?“

„Ich dachte ja nur –“

„So, du dachtest … Wann war das eigentlich nochmal?“

„Oh, das war in jenem Frühling, in dem unser Hugo sein erstes Reitpony bekam …“ Prompt musste Auguste wieder zum Taschentuch greifen.

„Stimmt“, sagte Adolf um eine Spur lebhafter, „ich weiß noch ganz genau, wie …“

„In der Tat, ich weiß auch noch, wie … Und damit meine ich nicht das Pony!“ Auguste ließ das Taschentuch sinken und unterbrach die angenehmen Reminiszenzen ihres Gatten mit gewohnter Giftigkeit: „Weiß Gott, ich werde den Morgen nicht vergessen, an dem dieser absolut geschmacklose Brief kam, in welchem diese … diese Person auch noch die Stirn hatte, dich davon in Kenntnis zu setzen, dass …“

„Das muss vor fast zwanzig Jahren gewesen sein“, versuchte Adolf mit fester Stimme die Wortbeiträge seines Eheweibes zu versachlichen.

„Es war ein Mädchen“, kam Auguste auf das Thema zurück, zwar noch erkennbar vorwurfsvoll, aber doch um einiges ruhiger. „Das heißt, sie könnte den Titel nicht erben, wenn …“

„Der Titel geht auf jeden Fall an Victor“, stimmte Adolf zu, auf das Wörtchen „wenn“ erstmal nicht eingehend.

„Aber in allem anderen wäre sie doch unsere Erbin, wenn …“

„Das wäre sie in der Tat, wenn …“

Beide schwiegen und blickten sich an. Das Vermögen ginge an meine höchsteigenen Abkömmlinge, dachte Adolf. Viele niedliche Enkel, selbst wenn es nur Halbenkel sind, dachte Auguste.

„Wie sie wohl ist – ob sie dir ähnelt?“

„Warum sollte sie nicht“, sagte Adolf, sich nunmehr behaglich im Sessel zurücklehnend.

„Sie hat natürlich keine standesgemäße Erziehung erhalten“, warf Auguste ein, den ominösen Brief mit der Ortsangabe „Landgasthof Aubrück“ noch in bester Erinnerung.

„Dem kann sicher abgeholfen werden“, erwiderte Adolf, abermals in sehr festem Ton. „Aber ich gebe dir insofern Recht, als dass es sicher eine vernünftige Maßnahme wäre, wenn wir sie erst einmal näher in Augenschein nehmen … uns sozusagen von der ganzen Person einen Eindruck verschaffen … ganz diskret natürlich, ohne dass jemand davon erfährt.“

„Ja, das halte ich auch für erforderlich. Und wenn sie nicht unseren Erwartungen entspricht –“

„Ich bin zwar überzeugt, dass sie das tut“, sagte der stolze Vater leicht gekränkt, „aber es stimmt, es empfiehlt sich unbedingt, genauer hinzuschauen, bevor man jemanden … jemanden … an Kindes statt annimmt.“

An Kindes statt annehmen – die Worte waren ausgesprochen. Die Idee war ein Plan geworden, und in den nächsten Tagen ging man daran, den Plan – mit aller gebotenen Diskretion – in die Tat umzusetzen.

*

Das erste, was der Baron anstandshalber tat, war, seinen von der vermögensmäßigen Ausbootung bedrohten Neffen von der neuen Situation in Kenntnis zu setzen, mit dem schönen Hintergedanken, dass die schwindende Aussicht auf die Rothsponschen Millionen bei selbigem vielleicht die Charakterbildung etwas fördern könnte. Aber wie so häufig bei einer von den besten Intentionen bestimmten Handlung ging der Schlag nach hinten los.

Victor von Rothspon war soeben von einem seiner üblichen Frühjahrsaufenthalte auf der lieblichen Insel Capri zurückgekehrt, wo er einige überaus anregende Wochen im Freundeskreis verbracht hatte. Victor, ein entschieden gutaussehender junger Mann, tiptop gepflegt vom Scheitel bis zur Sohle, in allen vornehmen Sportarten bewandert, modebewusst und kunstliebend, war permanentes Mitglied eines gediegenen Herren-Quartetts, welches man in den gemeinsamen Tagen in der Plöner Kadettenanstalt ‚Die vier Musketiere‘ genannt hatte, und, als der militärische Glanz zivilem Wohlleben gewichen war, ‚Das quirlige Quartett‘, was der Sache sicher näher kam. Es versteht sich von selbst, dass die Aktivitäten des Quirligen Quartetts eine gewisse Solvenz voraussetzten, zumal es sich bei den drei anderen Mitgliedern durchweg um betuchte Söhne des preußischen Landadels handelte. Victor hatte nun vorübergehend die schöne Hoffnung gehegt, dass das vorzeitige Ableben seines so unglücklich vom eigenen Pferd erschlagenen Cousins ihm zumindest mittelfristig die dreiviertelleeren Taschen füllen würde, und er hatte sich im Bewusstsein dieses erfreulichen Umstands in den letzten Wochen besonders großzügig gezeigt – wer wollte ihm das schon verdenken. Und nun saß er in seiner eher bescheidenen Kieler Junggesellenbude (welche er in Gedanken schon gegen eine wesentlich repräsentablere Behausung ausgetauscht hatte), die Koffer mit den bunten Aufklebern von Capri, Neapel, Rom, Florenz und Bad Ischl waren noch nicht mal ganz ausgepackt, und er hielt das schicksalsträchtige Schreiben mit dem geprägten Familienwappen in den Händen. Hätte er sich nicht gerade mit viel Aufwand frisieren lassen, er hätte sich die Haare gerauft. So aber gab es nur einst zu tun: Die restierenden Dreiviertel des Herrenclubs zusammenzutrommeln und von den dräuenden Wolken am Rothspon-Horizont zu berichten.

Am selben Abend kam das Quirlige Quartett also bei Victor zusammen. Die drei anderen Mitglieder waren – auch bei der Wahl ihrer Spitznamen der Vorliebe für Alliterationen frönend – der dicke Dietrich, welcher zudem die Ehre hatte, der Neffe von Auguste von Rothspon zu sein, der putzige Peter sowie der flotte Ferenc, der zwar eigentlich auf den schlichten Vornamen „Franz“ getauft war, es aber für angezeigt gehalten hatte, seinen Vornamen ungarisch-schneidig aufzupolieren.

Victor schlug mit der Faust auf den Tisch und zeigte sich rechtschaffen empört über die Kapriolen seines Erbonkels – denn was war der Titel schon wert, wenn nicht die Millionen mitfolgten?

„Und – du könntest dich nicht durchringen, das Mädchen zu heiraten?“ fragte Dietrich, der einen Hang zu pragmatischen Lösungen hatte.

„Dido!“, rief Victor mit allen Anzeichen des Entsetzens. „Das kann doch nicht dein Ernst sein! Ich dachte, du seist mein Freund!“

„Schon gut, schon gut“, sagte der gescholtene Dido. „Ich dachte ja nur, sozusagen pro forma … Das wird doch häufig so gemacht.“

„Du und Ferenc, ihr könntet das vielleicht“, sagte Victor, Vorwurf in der Stimme, „und zwar vermutlich noch nicht einmal pro forma! Aber ich – ausgeschlossen. Oder willst du, dass es mir so ergeht wie Aribert?“

Das war nun in der Tat der Exitus aller pragmatischen Lösungen, denn Aribert von Anhalt, der treue Freund des Kaisers, war vor einigen Jahren ausgerechnet von der eigenen Ehefrau mit einem hübschen Lakaien im Bett erwischt worden, und sein eigener Vater war gezwungen gewesen, die Ehe kraft Hausrechts zu annullieren.

„Trist“, sagte Ferenc.

„Trist“, echote der putzige Peter, der die etwas unglückliche Angewohnheit hatte, mangels eigener Geistesgröße die Worte seiner Vorredner zu wiederholen.

„Trist!“ meinte auch Victor, diesmal vor allem an die Millionen denkend.

Ja, es sah wahrhaftig trist aus für den Rothspon-Erben, und es würde noch trister werden, wenn sie nicht schleunigst einen wirklich gangbaren Ausweg fänden.

„Hat dein Onkel sich denn schon endgültig entschieden?“, fragte Ferenc, mit dem Kinn auf sein Weinglas weisend. Victor füllte umgehend nach. Es war dies seine drittletzte Flasche 1905er Monbazillac. Er würde auf Riesling umsteigen müssen – abermals trist.

„Er hat geschrieben, dass er davon ausgeht, dass … seine Tochter …“, Victor brachte diese beiden Worte nur mit großer Überwindung hervor, „also, er geht davon aus, dass sie seinen Erwartungen entspricht. Er will sich wohl noch ein Bild davon machen, aber das dürfte reine Formsache sein.“

„Wieso?“ fragte Dido.

„Ja, wieso?“ kam es von Peter.

„Wieso WAS?“ fragte Victor leicht entnervt zurück. „Wieso er sich ein Bild machen will oder wieso er davon ausgeht, dass sie seinen Erwartungen entspricht?“

„Aber nein, Stupido“, brachte Dido seine sprachlichen Errungenschaften der Capri-Reise an den Mann, „doch nicht das! Ich meine vielmehr, warum du so sicher davon ausgehst, dass dein Onkel seine Tochter sozusagen nur aus Spaß an der Freude besichtigen will?“

„Genau!“ sagte Ferenc. „Das ist es! Warum noch so einen Aufwand treiben, wenn er sich eh schon für sie entschieden hat?“

„Ja, genau“, war Peters Beitrag.

Hierüber musste Victor erst einmal einen Moment nachsinnen. „Ihr meint also –“, sagte er nach einem großen Schluck Monbazillac, „ihr meint, dass das Ganze vielleicht doch noch nicht endgültig feststeht?“

„Natürlich nicht“, sagte Ferenc, „Dido hat vollkommen recht – wenn das Dämchen sich als unzulänglich erweist, wird dein gestrenger Onkel den Teufel tun und sie der Welt offiziell als seine Tochter präsentieren!“

„Von der guten Auguste ganz zu schweigen“, sagte Dido wissend, „ich kenne sie doch – schließlich ist sie die ältere Schwester meine Mutter! Nein, Victor, sei beruhigt, wenn an dem Mädel irgendetwas suspekt ist, dann bist du so schnell wieder Erbe, wie du noch nicht einmal eine Weinflasche entkorken kannst – was du übrigens jetzt gerne veranlassen könntest, da diese leer ist; Peter hat ihr den Rest gegeben!“

Victor entkorkte die vorletzte Flasche und stellte dann die berechtigte Frage:

„Ja, aber was ist, wenn sie wirklich so ist, wie er sich das denkt?“

„So ein Ausbund von Tugend wäre ein Fall fürs Raritäten-Kabinett“, sagte Ferenc aufmunternd. „Wo hält sie sich eigentlich auf?“

„Offenbar an einem Ort namens Aubrück – das soll ein Landgasthof sein, irgendwo in der Wildnis zwischen Flensburg und Schleswig.“

„Ein LANDGASTHOF??“ fragten Dido und Ferenc in gleichzeitiger Fassungslosigkeit.

„Landgasthof?“ schloss sich Peter an.

„Deine Erb-Konkurrentin wächst in einem Landgasthof auf, und da machst du dir noch ernstliche Gedanken, alter Knabe?“ fragte Ferenc.

„Ganz so einfach ist das offenbar nicht“, sagte Victor, mit Sorge die sinkenden Pegel in den Gläsern der Freunde beobachtend, „sonst würde mein Onkel sich doch wohl nicht die ganze Mühe machen, oder? Und meine Tante erst recht nicht – schließlich kenne ich die auch, Dido!“

„Jetzt verstehe ich immerhin, warum die guten Rothspons ihrem künftigen Töchterchen erstmal etwas auf den Zahn fühlen wollen“, sagte Dido verständig, „wenn sie nämlich schon beim Notar mit ihr gewesen sind, dann ist es hinterher etwas spät … Also wirklich, ein Landgasthof! Wie mag sie da wohl sein?“

„Genau das wüsste ich auch gern“, sagte Victor.

„Fahr doch hin und schau sie dir an“, sagte Ferenc, „das macht dein Onkel ja offenbar auch.“

„Das glaube ich nicht“, sagte Victor, „er schrieb furchtbar viel von Diskretion und allem möglichen, vermutlich wird er irgendeine Vertrauensperson damit beauftragen, wie ich ihn kenne.“

„Und je nachdem, wie deren Urteil ausfällt, dann über die weiteren Schritte entscheiden“, sagte Dido nachdenklich. „Na, dann lasst uns mal hoffen, dass sich das Mädel daneben benimmt!“

„Man könnte vielleicht mehr tun als nur hoffen“, sagte Victor und warf einen bedeutungsschweren Blick in die Runde.

„Wie meinst du das?“

„Nun – man könnte ihr Verhalten unter Umständen in die richtige Richtung beeinflussen“, sagte Victor, das fast leere Glas in den Händen drehend, „oder zumindest den Bericht …“

Das mussten die drei Freunde erst einmal sacken lassen. Der dicke Dido, der nicht nur schnell zu speisen, sondern mitunter auch recht flott zu denken verstand, war der erste, der die Stimme erhob:

„Du meinst – gewissermaßen dafür sorgen, dass dein Onkel ein schlechtes Bild von ihr bekommt?“

Esatto“, sagte Victor, denn auch er hatte auf Capri unter anderem etwas Italienisch gelernt.

„Ja, aber –“, sagte Dido.

„Ja, aber – wie soll das gehen?“ vervollständigte Ferenc den Gedankengang.

„Ja, wie soll das gehen?“ fügte Peter hinzu, einen langen Blick in Richtung Weinflasche werfend.

Victor schenkte nach. „Ich dachte“, begann er vorsichtig, „also, ich dachte, einer von euch könnte das vielleicht bewerkstelligen …“

Drei laute Protestrufe führten dazu, dass er die letzten kostbaren Tropfen Monbazillac neben das Glas schüttete, was seine Stimmung nicht gerade hob.

„Wieso einer von uns?“ rief Ferenc empört.

„Warum machst du das nicht selbst?“ fragte Dido, nicht minder empört.

„Ja, warum nicht?“ sagte Peter und fügte ein völlig überraschendes „Prosit!“ hinzu, sein Glas in die Runde hebend.

„Denkt doch mal nach“, sagte Victor, „stellt euch vor, mein Onkel und meine Tante tauchen dort auf und ich bin ebenfalls da, das ist doch völlig unmöglich! Es ist wesentlich klüger, wenn man mich nicht – nun, jedenfalls nicht allzu direkt mit dem Ganzen in Verbindung bringt. Das ist doch einleuchtend, oder?“

Diesem Argument vermochten sich die drei anderen Herren nicht zu verschließen, selbst wenn es ihre eigenen Chancen, dem Landgasthof zu entgehen, deutlich verschlechterte. Es ging noch eine Weile hin und her, wobei jeder den anderen für den erfolgversprechendsten Kandidaten für das Unternehmen vorschlug, bis auch die letzte Flasche Monbazillac ziemlich zur Neige gegangen war. Da schlug Victor abermals mit der Faust auf den Tisch und sagte:

„Wie könnt ihr euch nur so anstellen! Man könnte glauben, ihr sollt in den Krieg ziehen!“

„Ja, aber ein Landgasthof –“, meldete Dido seine Bedenken an.

„Meine ganze Zukunft steht auf dem Spiel, und du willst nicht für ein paar Tage aufs Land!“

„Auch ein paar Tage können sehr, sehr lang sein“, schloss sich Ferenc Didos Sichtweise an.

„Andere würden sich reißen um etwas Urlaub in der Heimat unserer Kaiserin“, sagte Victor listig.

„Die sind aber bestimmt nicht gerade aus Capri zurückgekommen“, sagte Dido.

„Und die haben sicherlich auch keine Einladung von Prinz Waldemar zur Kieler Woche“, fügte Ferenc hinzu.

„Bis dahin ist das doch alles längst erledigt“, rief Victor, zunehmend echauffiert über die mangelnde Opferbereitschaft seiner Gefährten. „Na, ich sehe schon, es wird keinen Freiwilligen geben – schöne Freunde, die ich habe! Wisst ihr was, dann wird eben gewürfelt, jeder dreimal, und die niedrigste Augenzahl verliert.“

„Ja, aber wenn es Peter ist, der verliert?“ fragte Ferenc gemeinerweise.

„Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand“, sagte Victor würdevoll und schaffte etwas Raum zwischen den leeren Flaschen und Gläsern, bevor er den ledernen Würfelbecher in die Mitte stellte. „Außerdem kannst du ja Peter begleiten, wenn dich irgendetwas bekümmert!“

„Normalerweise habe ich aber Glück im Spiel“, sagte Peter und überraschte die anderen damit, dass er zumindest den wesentlichen Teil der Aktion verstanden hatte.

„Na also“, sagte Dido und seufzte.“ Was will man mehr … Wer macht den Anfang?“

Kurz darauf seufzte er abermals, nur sehr viel tiefer. Er hatte verloren. Gut, dass er in diesem Moment noch nicht wusste, dass es noch schlimmer kommen sollte.

*

Drei Tage später, als Dido gerade dabei war, mit seinem Diener zu besprechen, was man für einen Aufenthalt in höchst fraglicher ländlicher Umgebung zweckmäßigerweise in die Koffer packen sollte, wurde ein Brief für ihn abgegeben. Als er das Rothsponsche Familienwappen auf dem Umschlag entdeckte, musste er sich vor Schreck erst einmal setzen, und das war gut so, denn der Schreck sollte sich zu absolutem Schrecken steigern.

Seine gefürchtete Tante Auguste teilte ihm nach einer knappen Frage zu seinem Befinden nämlich mit, dass man ihn in einer äußerst diskreten Angelegenheit auf Gut Rothspon zu sehen wünsche, und das lieber heute als morgen. Ohaueha, dachte Dido, das kann ja heiter werden. Er erwog einen kurzen Moment, den Rest des Quirligen Quartetts von dieser neuen Entwicklung in Kenntnis zu setzen, entschied sich dann aber dagegen. Besser, er hörte sich erstmal an, was Tante und Onkel eigentlich zu sagen hatten, bevor er hier die Pferde scheu machte.

Am folgenden Montagmorgen waren die Koffer hinten im Automobil festgeschnallt, und er klemmte sich in sportlicher Aufmachung hinter das Lenkrad, mit einem flauen Gefühl in der gut gepolsterten Magengegend seinem Abenteuer in dem ominösen Landgasthof entgegen steuernd. Da er nun ja auch noch Adolf und Auguste auf dem Programm hatte, fuhr er hinter Eckernförde nicht weiter nach Schleswig, sondern bog von der Landstraße in Richtung Ostsee ab, vorbei an der Abzweigung zu Prinz Heinrichs Gut Hemmelmark, bis er nach einem halben Stündchen immer schlechter werdender Straße fürchterlich durchgeschüttelt auf dem kopfsteingepflasterten Hof von Gut Rothspon zum Stehen kam. Tante Auguste und Onkel Adolf, denen er seine Ankunft depeschiert hatte, zeigten wenig Mitgefühl mit seinem malträtiertem Zustand, ließen den Sonntagnachmittagskaffee zu allem Überfluss auch noch auf der Terrasse mit den scheußlich unbequemen Sitzmöbeln servieren, und kamen sodann zur Sache.

Zunächst gab es noch etwas weitschweifiges Gerede, soweit es um die überraschende Existenz einer bis dato unbekannten Rothspon-Tochter ging, dann aber wurde das Gespräch schnell konkreter. Ob Dietrich nicht verstehe … Man wisse ja nicht, wie sich das Kind entwickelt habe … Natürlich müsste man erstmal sehen … Eine reine Familienangelegenheit … Einen Fremden könne man damit wohl kaum betrauen …

„Womit?“ fragte Dido und richtete sich kerzengerade auf. Seine Gedanken, die in den letzten Minuten um die erfreulich gute Buttercremetorte gekreist waren, kamen zu einem jähen Absturz. Onkel und Tante wechselten einen kurzen Blick, und dann legte Auguste ihm schmeichelnd ihre Rechte auf den Arm.

„Dietrich, du bist ein guter Junge“, sagte sie wohl zum ersten Mal in ihrem Leben, „obwohl – nun, obwohl du in deinem Umgang mitunter etwas wählerischer sein könntest …“

An dieser Stelle schien es, als habe sie unter dem Tisch ein warnendes Trittsignal von ihrem Gatten bekommen, denn sie räusperte sich und sagte schnell: „Aber wie dem auch sei, das ist schließlich deine persönliche Angelegenheit.“

Das will ich meinen, dachte Dido und verhalf sich zu einem dritten Tortenstück.

Die Tante fuhr indessen fort: „Wir wissen ja, dass auch Victor zu deinen Kameraden zählt …“

Kameraden, das ist gut, dachte Dido, mal sehen, was sie als nächstes auf Lager hat.

„Selbstverständlich ist es unser Anliegen, ihn als Onkel Adolfs einzigen männlichen Erben in allem gerecht zu behandeln, und so wirst du sicher verstehen, dass wir uns erst einmal einen Eindruck von der Persönlichkeit dieser … der Tochter verschaffen wollen. Und da dachten wir, dass du –“, hier kam sie ins Stocken, und der Baron übernahm.

„Wir dachten, dass du … als vertrauenswürdiges Familienmitglied … sozusagen vor Ort mal schauen könntest, ob … also, kurz gesagt, ob du für uns herausfinden könntest, wie sie eigentlich ist.“

Dido ließ die Gabel sinken. Aufgrund des Briefes hatte er ja mit einigem gerechnet, aber damit dann doch nicht.

„Tut mir leid“, sagte er, „aber das ist völlig ausgeschlossen.“

„Wieso?“ fragte Auguste und zog ihre Hand zurück.

„Wir bezahlen dir auch den Aufenthalt – also, dort wo sie sich befindet“, sagte Adolf, „offenbar wolltest du doch ohnehin ein paar Urlaubstage hier oben verbringen, wenn ich mir so dein Gepäck ansehe.“

Teufel auch, dachte Dido, daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Das dürfte jetzt schwierig werden. „Trotzdem kann ich das nicht machen“, sagte er fest.

„Wieso nicht?“ fragte Auguste abermals, allerdings schon etwas drohender.

Dido zermarterte sich den Kopf. Er konnte ja schlecht sagen, weil ich genau dorthin unterwegs bin, um dem armen Victor das Erbe zu retten. Also drückte er es etwas anders aus: „Nun, weil ich schon andere Pläne habe.“

„Dietrich, Junge –“, jetzt war es Adolf, der ihm diesmal von der anderen Seite her die Pranke auf den Arm legte, „das dürfte doch ganz schnell erledigt sein! Höchstens ein paar – ach was, allenfalls zwei, drei Tage, und danach kannst du machen, was immer du willst! Das wirst du deiner Tante und mir ja wohl nicht abschlagen wollen.“

Doch, am liebsten schon, dachte Dido, dem die ganze Argumentation verteufelt bekannt vorkam. „Es ist wirklich unmöglich“, sagte er schließlich.

„Ach was, nichts ist unmöglich“, sagte Tante Auguste, „man muss es nur wollen. Hier, probier mal den Erdbeerkuchen!“

Dietrich seufzte. „Ich kann schlichtweg nicht – nein, ich meine nicht den Erdbeerkuchen, Tante, du kannst mir gern ein Stück geben!“

Da hatte der Baron eine Eingebung. „Ist es etwa wegen Victor? Du wirst ja ganz rot, Junge – dachte ich mir’s doch! Das ehrt dich, Dietrich, willst deinem Kameraden nicht in den Rücken fallen – aber das sollst du doch gar nicht! Stell dir einfach vor, meine … Tochter würde wider Erwarten nun doch nicht in unsere Familie passen, und du fändest das heraus – da würdest du doch nicht nur uns, sondern auch Victor einen Gefallen tun, oder?“

So hatte Dido das allerdings noch nicht gesehen. In der Tat, das wäre die Ideallösung.

„Und wenn du zu der Auffassung gelangen solltest, dass sie geeignet ist, was wir ja hoffen wollen, nun, dann kommen Tante Auguste und ich, und verschaffen uns erstmal selbst einen Eindruck, sodass du auch insofern nicht befürchten musst, dass du Victor in irgendeiner Weise schaden könntest.“

Zumal ich dafür zu sorgen habe, dass es bei der ersten Alternative bleibt, dachte Dido.

Der Baron interpretierte sein Schweigen fast richtig. „Dann ist das also abgemacht?“

Dido nickt ergeben.

„Mein Junge, das werden wir dir nie vergessen“, sagte Tante Auguste überschwänglich und belegte erneut den noch freien Arm. „Na, du ruhst dich morgen noch ein bisschen aus, und übermorgen geht’s dann los, nach Aubrück!“

3

Für Greta Hansen, die verschwiegene Zofe von einst, war das Abonnement der Berliner Illustrierten Zeitung ein Luxus, im Prinzip der einzige, den sie sich gönnte. Seit diversen Jahren verwitwet, mit einer unverheirateten, zur Hysterie neigenden Stieftochter von gut dreißig Jahren am Hals, musste man sparen wo man konnte. Sie hatte schon einige Male erwogen, die BIZ abzubestellen, aber das auf teurem Glanzpapier gedruckte Blatt war die einzige noch bestehende Verbindung zu dem vornehmen Leben, das sie einst geführt hatte – in den feinen Kreisen der Hauptstadt, wo sie heutzutage eine gut bezahlte, angesehene Hausdame hätte sein können, wenn sie nicht so dämlich gewesen wäre, sich im fortgeschrittenen Alter von sechsunddreißig Jahren in einen leichtfüßigen blonden Marineoffizier namens Egon Hansen zu vergucken. Vergucken wäre ja auch noch gegangen, aber sie hatte ihn partout ehelichen müssen, nicht ahnend, dass er nur drei Jahre und viele Flaschen Schnaps später mit einer handfesten Leberentzündung aus dem Leben zu scheiden gedachte. Außer seinem Nachnamen hinterließ er ihr dreierlei: das kleine, zum Glück nur mäßig verschuldete Häuschen in Mürwik, eine schmale Pension und die besagte Tochter Else aus seiner ersten Ehe, eine traurige Gestalt, die schon im lieblichen Alter von siebzehn die hoffnungslose Aura einer alten Jungfer verströmt hatte. Inzwischen war Else einunddreißig, und an der Aura, die sie wie eine unsichtbare Ritterrüstung umgab, hatte sich nicht das Geringste geändert. Greta konnte es nach all den Jahren immer noch nicht fassen, dass Else so rein gar nichts mit ihrem leichtfüßigem Vater gemeinsam hatte – die flachsblonden Haare ausgenommen, die auf ihrem runden Schädel, der auf einem langen, dünnen Hals saß, allerdings bei weitem nicht so spektakulär wirkten wie bei dem flotten Egon.

Statt dem väterlichen Hang zu Spirituosen hatte Else einen ausgeprägten Hang zum Spiritismus entwickelt, wogegen Greta im Prinzip nichts hatte, so lange es erstens nichts kostete und zweitens die Möglichkeit bereit hielt, dass der eine oder andere Geisterseher vielleicht doch noch Gefallen an Else fand und sie ehelichte. Aber Elses Ausstrahlung hatte bisher sogar die meisten Geister abgeschreckt (zumindest diejenigen, die ästhetische Ansprüche stellten) und lediglich zu einem Sammelsurium ähnlich verschrobener Freundinnen geführt. Greta blieb also nichts anderes übrig als zu hoffen, zu warten und Tee zu trinken. Zur Abrundung der letzteren Beschäftigung brauchte sie zweierlei: Zum einen die aufgrund ihrer Wohlfeilheit immer vorrätigen, am Rande gezahnten Butterkekse aus Hannover, zum anderen – und damit schließt sich der Kreis – die Lektüre der Berliner Illustrierten Zeitung, welche ihr dazu verhalf, halbstundenweise aus dem bescheidenen Mürwiker Ambiente in höhere Regionen zu entfliehen.

So war es auch an diesem Frühlingsabend. Im Käfig am offenen Fenster sang der Kanarienvogel, Else war zu einer kleinen Séance unterwegs, Greta nippte am zweiten Aufguss ihres Tees, knabberte gedankenverloren an einem der rechteckigen Kekse und durchblätterte mit sorgfältig angefeuchtetem Zeigefinger das Journal. Und da geschah es.

Fast hätte sie das wohlbekannte Gesicht übersehen, welches ihr auf einer elegant aufgemachten Photographie an der Seite eines eindeutig aristokratischen Herrn entgegen lachte. Zugegeben, es lagen viele Jahre und ihre eigene Eheschließung dazwischen, und sie hatte schon lange nicht mehr an sie gedacht. Aber sie war es, daran bestand kein Zweifel; sicher nicht mehr dieselbe junge Schönheit von damals, aber eine elegante, äußerst attraktive Dame, obwohl sie – Greta rechnete an den Fingern nach – auch schon kurz vor der Vierzig stehen musste. Sie seufzte, dann las sie, und noch während sie las, bildete sich eine tiefe Falte auf ihrer Stirn.

Es war doch schlichtweg nicht zu fassen. Manche Menschen fielen tatsächlich immer wieder auf die Füße, ganz gleich, was sie im Leben anstellten. So war es schon damals gewesen, und anscheinend hatte sich nichts Wesentliches daran geändert. Hortense wie immer en plein soleil, der Rest der Welt – sie selbst eingeschlossen